Sokrates erzählt:
Sokrates · Glaukon · Polemarchos · Thrasymachos · Adeimantos · Kephalos · Kleitophon
Erstes Buch
Gestern ging ich in den Peiraieus hinab mit Glaukon, dem Sohne des Ariston, um zur Göttin zu beten und zugleich das Fest zu schauen, wie sie es begehen würden, da sie es jetzt zum ersten Male feiern. Wirklich fand ich den Zug der Einheimischen schön; doch nicht minder gut nahm sich der aus, welchen die Thraker bildeten. Nachdem wir gebetet und uns satt gesehen, kehrten wir zur Stadt zurück. Da sah uns von weitem Polemarchos, Kephalos’ Sohn, heimeilen und gab seinem Burschen Befehl, zu laufen und uns auf ihn warten zu heißen. Der Bursche faßte mich hinten am Rocke und sagte: “Polemarchos wünscht, daß ihr wartet!”
Ich drehte mich um und fragte, wo sein Herr denn sei? Dort hinten kommt er nach, gab er zur Antwort; aber wartet! Nun, so wollen wir warten, sagte Glaukon. Und bald darauf kam Polemarchos und Adeimantos, Glaukons Bruder, und Nikeratos, Nikias’ Sohn, und einige andere, weil der Festzug sie zusammengeführt hatte.
Polemarchos begann: Sokrates, ich glaube ihr wollt fort, der Stadt zu? Nicht unrichtig vermutet, sprach ich. Siehst du aber, zu wie viel wir sind? fragte er. Freilich. Entweder also müßt ihr uns überwältigen, oder ihr müßt hier bleiben, meinte er.
Da gibt es, sagte ich, noch ein Drittes: die Möglichkeit, daß ihr uns fortlassen müßt. Vermögt ihr, fragte er, auch Leute zu überzeugen, die nicht hören? Das nicht, versetzte Glaukon. So richtet euch darauf ein, daß wir nicht hören werden, erwiderte er.
Und Adeimantos sagte: Am Ende wißt ihr nicht einmal, daß auf den Abend ein Fackelrennen zu Roß der Göttin zu Ehren stattfinden wird? Zu Roß? sagte ich; das ist neu. Werden sie die Fackeln im Wettlauf zu Roß einander weitergeben? Oder wie sonst meinst du? Wie du gesagt hast, antwortete Polemarchos; und dazu werden sie eine Nachtfeier halten, welche zu sehen der Mühe wert ist. Wir wollen darum nach dem Mahle uns erheben und der Nachtfeier zusehen und werden auf dem Platze viele junge Leute treffen und mit ihnen uns unterhalten. So bleibt denn also und sträubt euch nicht!
Da meinte Glaukon: Ich denke, wir müssen bleiben. Nun, wenn du meinst, antwortete ich, so soll es geschehen. Wir gingen nun zurück ins Haus des Polemarchos und trafen dort den Lysias und Euthydemos, Polemarchos’ Brüder, und dann auch Thrasymachos aus Chalkedon und Charmantides aus Paiania, und Kleitophon, Aristonymos’ Sohn. Auch Kephalos war drinnen, der Vater des Polemarchos. Er kam mir sehr alt vor; denn es war auch schon lange her, daß ich ihn gesehen hatte. Bekränzt saß er auf einem Kissen auf dem Stuhle; denn er hatte eben im Hofe geopfert. Wir setzten uns nun zu ihm, denn es standen daselbst einige Stühle im Kreise herum.
Gleich wie mich Kephalos sah, grüßte er mich und sagte: Sokrates, du kommst auch gar nicht oft zu uns herunter in den Peiraieus, und solltest doch. Denn wäre ich noch imstande, ohne Anstrengung in die Stadt zu gehen, so brauchtest du nicht hierher zu kommen, sondern wir kämen zu dir. So aber mußt du häufiger hierher kommen; denn wisse nur, in demselben Maße als sonst die sinnlichen Genüsse für mich absterben, wächst mein Verlangen und meine Freude an Gesprächen. Tu’ mir also den Gefallen, schenke diesen jungen Leuten deinen Umgang und komme oft hierher zu uns als zu Freunden und ganz guten Bekannten?
Wirklich, Kephalos, antwortete ich, unterhalte ich mich gern mit besonders alten Männern; denn ich meine, man muß sich bei ihnen erkundigen als Vorgängern auf einem Pfade, den auch wir vielleicht werden gehen müssen, wie derselbe beschaffen ist, ob rauh und beschwerlich oder leicht und bequem. Und so möchte ich auch dich fragen, was du davon hältst, da du bereits die Jahre erreicht hast, welche die Dichter als »Schwelle des Alters« bezeichnen, ob für einen beschwerlichen Teil des Lebens, oder was du sonst darüber aussagst?
Ich will dir, Sokrates, versetzte er, bei Gott sagen, wie es mir vorkommt. Oftmals kommen unser mehrere zusammen, die in gleichem Alter stehen, das alte Sprichwort in Ehren haltend. Bei diesen Zusammenkünften nun jammern die meisten von uns, indem sie sich nach den Freuden der Jugend sehnen und der Liebesgenüsse gedenken und der Trinkgelage und Schmause und was es sonst noch ähnliches gibt, und sind verdrießlich, weil sie etwas Großes verloren und damals ein glückliches Leben geführt haben, jetzt aber eigentlich gar keines. Einige beklagen auch die Mißhandlungen des Alters durch die Angehörigen und stimmen deshalb über das Alter ein Lied an, was es ihnen alles für Unglück bringe. Mir scheint aber, Sokrates, als würden diese nicht den wahren Schuldigen beschuldigen; denn wäre das Alter schuldig, so müßte auch ich um seinetwillen dieselbe Erfahrung gemacht haben, und die übrigen alle, welche diese Lebensstufe erreicht haben. Nun aber habe ich auch schon andere getroffen, bei denen es nicht so war; namentlich war ich einmal dabei, wie jemand an den Dichter Sophokles die Frage richtete: »Wie sieht’s bei dir aus, Sophokles, mit der Liebe? Vermagst du noch einem Weibe beizuwohnen?«
Der antwortete: »Nimm deine Zunge in acht, Mensch; bin ich doch herzlich froh, daß ich davon erlöst bin, wie ein Sklave, der von einem tobsüchtigen und wilden Herrn erlöst worden ist!« Schon damals deuchte mir das wohlgesprochen und auch jetzt nicht minder: denn immerhin hat man im Alter in diesen Beziehungen vollkommenen Frieden und Freiheit. Wenn nämlich die Anspannung durch die Begierden aufgehört hat und sie nachgelassen haben, so wird allerdings das Wort des Sophokles wahr: von sehr zahlreichen tollen Gebietern kommt man los. Aber in dieser Beziehung und in betreff des Verhältnisses zu den Angehörigen ist die Ursache dieselbe, und zwar nicht das Alter, Sokrates, sondern der Charakter der Menschen. Sind sie geordnet und verträglich, so sind auch die Beschwerden des Alters mäßig; wo nicht, – so ist für einen solchen, Sokrates, Alter wie Jugend beschwerlich.
Ich hatte meine Freude daran, ihn so sprechen zu hören, und da ich wollte, daß er weiter rede, so stachelte ich ihn mit den Worten: Kephalos, ich meine, die Menge wird dich nicht ankommen lassen, wenn du so sprichst, sondern meint, du tragest leicht am Alter nicht wegen deines Charakters, sondern weil du ein großes Vermögen besitzest: denn die Reichen, heißt es, haben viele Tröstungen.
Du hast recht, antwortete er; freilich lassen sie’s nicht gelten; und etwas ist daran, aber so viel nicht, als sie meinen; sondern das Wort des Themistokles trifft zu, der dem Seriphier, der ihn schmähte und meinte, nicht sich selbst, sondern seiner Heimat habe er seinen Ruhm zu verdanken, die Antwort gab: »Ich wäre als Seriphier nicht berühmt geworden, und du nicht als Athener.« Und das paßt ganz gut auf die, welche nicht reich sind und schwer am Alter tragen: weder wird der Brave, wenn er arm ist, das Alter vollkommen leicht ertragen, noch wird der Nichtbrave, auch wenn er reich ist, je mit sich zufrieden sein.
Hast du, Kephalos, fragte ich, dein Vermögen zum größeren Teile überkommen oder selbst erworben? Was soll ich erworben haben, Sokrates? erwiderte er; ich habe in bezug auf das Geschäftsglück die Mitte gehalten zwischen meinem Großvater und meinem Vater: mein Großvater, dessen Namen ich trage, hat ungefähr so viel Vermögen, als ich besitze, geerbt und hat es vervielfacht: mein Vater Lysanias aber hat es noch kleiner gemacht, als es jetzt ist: ich bin zufrieden, wenn ich diesen da nicht weniger hinterlasse, sondern ein bißchen mehr, als ich überkommen.
Nun, weshalb ich dich fragte, fuhr ich fort, war, weil es mir schien, als ob du auf das Geld keinen besonderen Wert legtest. So machen es gewöhnlich solche, welche es nicht selbst erworben haben; wer es erworben hat, der hat es doppelt so lieb als die anderen.
Denn wie die Dichter ihre Gedichte und die Väter ihre Kinder lieb haben, so ist es denen, welche das Geld erworben haben, Ernst mit dem Gelde, als ihrem eigenen Werke, und dann noch überdies wegen seiner Nützlichkeit, wie den andern auch. Daher ist es auch unangenehm, mit ihnen umzugehen, weil sie nichts loben mögen als den Reichtum.
Das ist wahr, sagte er.
Immerhin, sprach ich; aber sage mir noch so viel:
Was hältst du für den bedeutendsten Vorteil, den du
von deinem großen Vermögen gehabt hast?
Etwas, antwortete er, was mir vielleicht nicht viele
glauben werden. Denn wisse nur, Sokrates, wenn man
nahe daran ist, daß man glaubt sterben zu müssen, so
wandelt einen Furcht und Sorge an über Dinge, an die
Platon: Der Staat 9
man vorher nicht gedacht hat. Denn die bekannten
Sagen vom Zustand in der Unterwelt, daß, wer hier
Unrecht getan, dort Strafe leiden müsse, über die man
sich bis dahin lustig gemacht, beunruhigen nunmehr
einen innerlich, ob sie nicht am Ende doch wahr
seien, und entweder aus Altersschwäche oder auch,
weil man jenerWelt jetzt näher ist, beschaut man sie
mehr. Da wird man voll Unruhe und Furcht und besinnt
sich und prüft sich, ob man einmal jemandem
Unrecht getan.Wer nun in seinem Leben viele ungerechte
Handlungen findet, der fährt sogar oft erschrocken
aus dem Schlafe auf, wie die Kinder, und
lebt in schlimmer Erwartung; dem aber, der sich keines
Unrechts bewußt ist, dem steht immer frohe Hoffnung
zur Seite, und die gute Alterspflegerin, wie Pindar
sich ausdrückt. Denn anmutig, Sokrates, sagt er,
wer gerecht und heilig das Leben verbringe,
Von solchem weicht nie des Herzens Labsal, die
freudvolle Alterspflegerin
Hoffnung, die am allermeisten der Erdensöhn’
unstäten Sinn lenkt.
Das ist ausgezeichnet schön gesprochen; und in
dieser Beziehung, behaupte ich, ist der Besitz von
Geld sehr viel wert, jedoch nicht für jedermann, sondern
nur für den Braven. Denn daß man auch nicht
Platon: Der Staat 10
unfreiwillig jemand betrogen oder belegen hat, noch
auch einem Gotte Opfer oder einemMenschen Geld
schuldig ist und deshalb sich fürchtet, dorthin abzugehen,
dazu trägt einen bedeutenden Teil der Besitz von
Geld bei. Es hat auch noch viele andere nützliche Seiten;
aber, eins mit dem andern verglichen, möchte ich
als nicht das Unbedeutendste aufstellen, daß hierzu,
Sokrates, für einen verständigen Mann der Reichtum
von größtem Nutzen ist. Sehr schön gesprochen, Kephalos,
sagte ich. Dieses eben aber, die Gerechtigkeit,
sollen wir es nur so einfach als dieWahrhaftigkeit bezeichnen
und als das Zurückgeben, wenn man etwas
von jemand bekommen hat, oder heißt dieses selbst
bald gerecht, bald ungerecht handeln? Ich meine z.B.
einen Fall wie folgenden:Wenn jemand bei gesundem
Verstande einem FreundeWaffen übergäbe und im
Zustande desWahnsinns sie zurückforderte, so wird
wohl jedermann sagen, daß man weder zur Zurückgabe
von dergleichen verpflichtet sei, noch der Zurückgebende
gerecht wäre noch auch einer, der einem
Menschen von diesem Zustande die volleWahrheit
sagen wollte.
Du hast recht, antwortete er.
Also ist nicht dies die Begriffsbestimmung der Gerechtigkeit,
daß man dieWahrheit sagt und das Anvertraute
zurückgibt.
O ja, doch, Sokrates, sprach Polemarchos, das
Platon: Der Staat 11
Wort ergreifend, wofern man wenigstens dem Simonides
recht geben darf.
Nun ja, sagte Kephalos, gern übergebe ich euch
das Gespräch; denn ich muß jetzt nach dem Opfer
sehen.
Du setzest also, fragte ich, den Polemarchos zu deinem
Erben ein?
Jawohl, antwortete er lachend und ging damit zum
Opfer.
So sage denn also, begann ich, du Erbe des Gesprächs,
welches ist die Äußerung des Simonides
über die Gerechtigkeit, die du richtig findest?
Daß gerecht ist, jedem geben, was man ihm schuldig
ist, antwortete er; mit diesem Satze scheint er mir
wenigstens recht zu haben.
Freilich, sagte ich, dem Simonides ist es nicht
leicht den Glauben zu versagen: denn es ist ein weiser
und göttlicher Mann; indessen was das heißt, was er
da sagt, verstehst vielleicht du, Polemarchos, – ich
aber begreife es nicht; denn offenbar ist, daß er nicht
das meint, wovon wir eben gesprochen, das Zurückgeben
anvertrauten Gutes an wen auch immer, wenn
er es bei getrübtem Verstande zurückfordert; und
doch ist man schuldig, was man uns anvertraut hat, –
nicht wahr?
Freilich.
Man darf also schlechterdings nicht zurückgeben,
Platon: Der Staat 12
wenn jemand bei getrübtem Verstande zurückfordert?
Du hast recht, antwortete er.
Es scheint also, daß Simonides etwas anderes
meint als derartiges, wenn er sagt, daß es gerecht sei,
zurückzugeben, was man schuldig sei.
Freilich, bei Zeus, etwas anderes, erwiderte er: er
meint nämlich, daß Freunde schuldig seien. Freunden
Gutes zu tun und nichts Böses.
Ich verstehe, sagte ich: denn der tut nicht seine
Schuldigkeit, welcher jemandem, der ihm Gold anvertraut
hat, es zurückgibt, wofern das Zurückgeben und
Inempfangnehmen nachteilig ist und der Zurücknehmende
und der Zurückgebende Freunde sind; meinst
du nicht, daß Simonides so es versteht?
Allerdings.
Wie aber – den Feinden muß man geben, was
immer man ihnen gerade schuldig ist?
Jedenfalls, antwortete er, was man ihnen schuldig
ist; schuldig aber ist, denke ich, ein Feind dem Feinde,
wie billig, etwas Böses.
So hat denn also, sagte ich, wie es scheint, Simonides
nach Dichterart angedeutet, was das Gerechte sei:
er dachte nämlich, wie sich herausstellt, gerecht sei,
daß man jedem gebe, was ihm gebühre, und hat dies
als Schuldigkeit bezeichnet.
Was ist aber deine Ansicht? fragte er.
Bei Zeus, erwiderte ich, wenn nun jemand die
Platon: Der Staat 13
Frage an ihn richtete: »Simonides, wem gibt die
Kunst, welche man Arzneikunst nennt, das Schuldige
und Gebührende, und was gibt sie?«- was glaubst du,
daß er uns antworten würde?
Offenbar, antwortete er, diejenige, die den Körpern
Heilmittel gibt und Speise und Trank.
Und wem gibt die als Kochkunst bezeichnete
Kunst das Schuldige und Gebührende, und was gibt
sie?
Den Speisen denWohlgeschmack.
Nun ja; wem gibt nun aber die als Gerechtigkeit zu
bezeichnende Kunst etwas, und was gibt sie ihnen?
Wenn man sich an das früher Gesagte anschließen
soll, Sokrates, erwiderte er, – gibt sie den Freunden
und den Feinden Nutzen und Schaden.
Also den Freunden Gutes und den Feinden
Schlechtes tun nennt er Gerechtigkeit?
So deucht mir.
Wer vermag nun am meisten, kranken Freunden
Gutes zu tun und kranken Feinden Schlechtes in
bezug auf Krankheit und Genesung?
Der Arzt.
Und wer den zu Schiff Fahrenden in bezug auf die
Gefahren der See?
Der Steuermann.
Wie ist’s nun mit dem Gerechten? In welcher Lage
und in welcher Beziehung vermag er am meisten
Platon: Der Staat 14
Freunden zu nützen und Feinden zu schaden?
Im Bekriegen und im Beistandleisten, deucht mir.
Gut; für Nichtkranke ist nun aber doch, mein lieber
Polemarchos, der Arzt unbrauchbar?
Allerdings.
Und für Nichtschiffahrende der Steuermann.
Freilich.
So ist denn also auch für Nichtkriegführende der
Gerechte unbrauchbar?
Das meine ich durchaus nicht.
Also ist die Gerechtigkeit auch im Frieden brauchbar?
Sie ist es.
Das ist auch der Ackerbau; oder nicht?
Ja.
Und zwar zur Gewinnung von Frucht?
Ja.
Aber auch die Schusterkunst?
Ja.
Und zur Gewinnung von Schuhen, wirst du wohl
sagen?
Natürlich.
Was ist nun aber das, zu dessen Gebrauch oder Gewinnung
die Gerechtigkeit dir im Frieden brauchbar
zu sein scheint?
Zum Verkehr, Sokrates.
Unter Verkehr verstehst du gemeinschaftliches
Platon: Der Staat 15
Treiben; oder etwas anderes?
Ja, gemeinschaftliches Treiben.
Ist aber der Gerechte gut und brauchbar zur Gemeinschaft
im Setzen der Steine des Brettspiels, oder
der Brettspielkundige?
Letzterer.
Aber zur Gemeinschaft im Setzen der Ziegel und
Bausteine ist wohl der Gerechte brauchbarer und besser
als der Baukundige?
Keineswegs.
Zu welcher Gemeinschaft ist nun also der Gerechte
ein passenderer Teilnehmer als der Zitherkundige, wie
der Zitherkundige ein besserer als der Gerechte ist in
bezug auf die im Saitenschlagen?
Zu der im Gelde, deucht mir.
Ausgenommen etwa, Polemarchos, zum Gebrauchen
des Geldes, wenn man für Geld gemeinsam ein
Pferd kaufen oder verkaufen muß? In diesem Falle
ist’s, meine ich, der Pferdekundige; ist’s so?
Offenbar.
Und wenn ein Fahrzeug – der Schiffsbauer oder der
Steuermann?
So scheint’s.
Bei welcher Art von gemeinschaftlichem Gebrauche
des Silbers oder Goldes ist nun also der Gerechte
brauchbarer als die übrigen?
Wenn es aufbewahrt und erhalten werden soll.
Platon: Der Staat 16
Du meinst also, wenn es nicht gebraucht, sondern
hingelegt werden soll?
Allerdings.
Wenn also das Geld unbrauchbar ist, dann ist die
Gerechtigkeit bei ihm brauchbar?
So scheint’s.
Und wenn ferner eine Hippe aufbewahrt werden
soll, ist die Gerechtigkeit brauchbar, gemeinschaftlich
und für den Einzelnen; wenn sie aber gebraucht werden
soll, dann dieWinzerkunst?
Offenbar.
So wirst du auch sagen, daß, wenn ein Schild und
eine Leier aufbewahrt werden soll und nicht gebraucht,
– die Gerechtigkeit brauchbar ist; wenn aber
gebraucht, dann die Fechtkunst und die Tonkunst?
Notwendig.
Und so ist auch bei allen andern Dingen die Gerechtigkeit
zum Gebrauch eines jeden unbrauchbar,
bei dessen Nichtgebrauch aber brauchbar?
So scheint es.
Da wäre nun also, mein Lieber, die Gerechtigkeit
nichts besonders Wertvolles, wenn sie zum Nichtgebrauch
brauchbar ist. Wir wollen aber folgendes in
Betracht ziehen: Ist nicht derjenige, welcher am kräftigsten
dreinschlägt im Kampfe, sei es nun im Faustkampf
oder in einem anderen, auch am kräftigsten,
sich zu schützen?
Platon: Der Staat 17
Allerdings.
Und wer befähigt ist, vor einer Krankheit sich zu
schützen und sie nicht zu bekommen, der ist auch besonders
fähig, sie jemandem beizubringen?
Ich glaube.
Dann ist der ein guter Hüter eines Heeres, der auch
der Feinde Pläne und sonstige Angelegenheiten wegzustehlen
vermag?
Allerdings.
Wovon also jemand ein geschickter Hüter ist,
davon ist er auch ein geschickter Stehler.
So scheint’s.
Wenn nun also der Gerechte geschickt ist, das Geld
zu bewahren, so ist er auch geschickt, es zu stehlen?
Das folgt wenigstens aus der Entwicklung.
Als ein Dieb wäre demnach, scheint es, der Gerechte
erwiesen, und du scheinst das von Homer gelernt
zu haben; denn der hat an Odysseus’ mütterlichem
Großvater Autolykos seine Freude und sagt, er habe
alle Menschen überboten im Stehlen und Schwören.
Es scheint demnach die Gerechtigkeit nach dir und
nach Homer und nach Simonides eine Fertigkeit im
Stehlen zu sein, nur zum Vorteil der Freunde und zum
Nachteil der Feinde; hast du nicht so gesagt?
Nein, bei Zeus, antwortete er; aber ich weiß selbst
nicht mehr, was ich gesagt habe: doch das meine ich
immer noch, daß die Gerechtigkeit ist, den Freunden
Platon: Der Staat 18
nützen und den Feinden schaden.
Verstehst du unter Freunden diejenigen, welche
jeder für rechtschaffen hält, oder diejenigen, welche es
sind, auch ohne daß sie es scheinen? Und unter Feinden
ebenso?
Es ist doch wohl natürlich, daß man diejenigen
liebt, die man für rechtschaffen hält, und haßt, wen
man für schlecht hält.
Täuschen sich aber nicht die Menschen in dieser
Beziehung, so daß sie viele für rechtschaffen halten,
die es nicht sind, und viele umgekehrt?
Allerdings.
Für diese also sind die Guten Feinde, die Schlechten
Freunde?
Freilich.
Dennoch aber ist es dann für diese gerecht, den
Schlechten zu nützen und den Guten zu schaden?
Offenbar.
Nun sind aber doch die Guten gerecht und nicht
von der Art, daß sie Unrecht tun.
Das ist wahr.
Nach deinenWorten wäre es also gerecht, denen
Schlechtes zu tun, die nicht Unrecht tun.
Beileibe nicht, Sokrates, erwiderte er: denn eine
schlechte Rede scheint das zu sein.
So ist es also, sagte ich, gerecht, den Ungerechten
zu schaden und den Gerechten zu nützen.
Platon: Der Staat 19
Das ist offenbar besser als vorhin.
Vielen also, Polemarchos, die sich in den Menschen
getäuscht haben, wird es begegnen, daß für sie
es gerecht ist, ihren Freunden zu schaden – denn sie
haben schlechte – und ihren Feinden zu nützen – denn
sie haben gute; und so kommen wir auf das gerade
Gegenteil von dem, was wir als Meinung des Simonides
bezeichnet haben.
Freilich, antwortete er, geht es so; doch wir wollen
eine Abänderung vornehmen: denn es scheint, als hätten
wir den Freund und den Feind nicht richtig bestimmt.
Inwiefern, Polemarchos?
Sofern wir annahmen, daß Freund der sei, den man
für rechtschaffen halte.
Wie wollen wir’s nun abändern? fragte ich.
Daß Freund derjenige sei, antwortete er, wer rechtschaffen
scheine und es auch sei, und daß der, welcher
es scheine, aber nicht sei, gleichfalls nur Freund
scheine, aber nicht sei; und in betreff des Feindes
gelte dieselbe Bestimmung.
Freund wäre dann also, wie es scheint, nach diesen
Worten der Gute, Feind aber der Schlechte?
Ja.
Du heißt uns also dem Gerechten etwas beifügen,
was wir zuerst nicht sagten, indem wir als gerecht bezeichneten,
dem Freunde Gutes zu erweisen und dem
Platon: Der Staat 20
Feinde Schlechtes; jetzt aber sollen wir außerdem
noch sagen, daß gerecht ist, dem Freunde, als einem
Guten, Gutes zu erweisen und dem Feinde, als einem
Schlechten, zu schaden?
Allerdings, erwiderte er; so scheint es mir richtig
gesprochen. Es gehört also, sagte ich, zu einem gerechten
Manne, daß er irgend jemandem schade?
Allerdings, antwortete er; den Schlechten und Feinden
muß man schaden.
Werden Pferde, denen man Schaden antut, besser
oder schlechter?
Schlechter.
In bezug auf das, was die Tüchtigkeit der Hunde
ausmacht, oder was die der Pferde ausmacht?
Letzteres.
Werden also auch Hunde, denen man Schaden tut,
schlechter in bezug auf ihre Tüchtigkeit als Hunde,
aber nicht als Pferde?
Notwendig.
Von den Menschen aber, mein Freund, werden wir
nicht sagen müssen, daß sie, wenn man ihnen Schaden
antut, schlechter werden in bezug auf die menschliche
Tugend?
Freilich.
Ist aber die Gerechtigkeit nicht eine menschliche
Tugend?
Auch das ist notwendig.
Platon: Der Staat 21
Die Menschen also, mein Lieber, denen man schadet,
müssen notwendig ungerechter werden?
So scheint es.
Können nun aber die Tonkünstler jemand durch die
Tonkunst zum Tonkunstlaien machen?
Unmöglich.
Aber die Reitkünstler durch die Reitkunst zum
Nichtreiter?
Kann nicht sein.
Aber also die Gerechten durch die Gerechtigkeit
zum Ungerechten? Oder überhaupt die Guten durch
die Tugend zum Schlechten?
Unmöglich.
Denn nicht der Hitze Sache ist es, denke ich, kalt
zu machen, sondern des Gegenteils.
Ja.
Und nicht der Trockenheit, feucht zu machen, sondern
des Gegenteils.
Allerdings.
Also auch nicht des Guten, zu schaden, sondern des
Gegenteils.
Offenbar.
Der Gerechte aber ist doch gut?
Allerdings.
So ist es also, Polemarchos, nicht des Gerechten
Sache, zu schaden, weder einem Freunde noch sonst
jemandem, sondern des Gegenteils, des Ungerechten.
Platon: Der Staat 22
Du scheinst mir vollständig recht zu haben, Sokrates,
erwiderte er.
Wenn also jemand sagt, gerecht sei, daß man jedem
gebe, was man ihm schuldig sei, und darunter das versteht,
daß der gerechte Mann den Feinden Schaden
schuldig sei und den Freunden Nutzen, so war der
nicht weise, der so gesprochen hat; denn er hat etwas
gesagt, was nicht wahr ist, da wir nirgends gefunden
haben, daß gerecht sei, irgend jemandem zu schaden.
Ich gebe es zu, sagte er.
So wollen wir also, sprach ich, gemeinsam kämpfen,
ich und du, wenn jemand behauptet, Simonides
habe es gesagt oder Bias oder Pittakos oder sonst
einer der weisen und gepriesenen Männer.
Ich bin jedenfalls bereit, am Kampfe teilzunehmen,
sprach er.
Aber weißt du, sagte ich, wem nach meiner Ansicht
die Äußerung angehört, dasWort, es sei gerecht, den
Freunden zu nützen und den Feinden zu schaden?
Nun? fragte er.
Ich glaube, daß sie von Periandros herrührt oder
Perdikkas oder Xerxes oder dem Thebaner Ismenias
oder einem anderen sich für mächtig haltenden reichen
Manne.
Du hast ganz recht, sagte er.
Gut, fuhr ich fort; da nun aber auch dies weder als
die Gerechtigkeit noch als das Gerechte sich erwiesen
Platon: Der Staat 23
hat, als was anderes soll man es dann bezeichnen?
Noch während unseres Gespräches hatte Thrasymachos
öfters einen Anlauf genommen, uns zu unterbrechen
und dasWort zu ergreifen, war aber von seinen
Nebensitzern daran gehindert worden, weil diese das
Gespräch zu Ende hören wollten; als wir aber eine
Pause machten und ich jeneWorte gesprochen hatte,
konnte er nicht mehr ruhig bleiben, sondern sich zusammenkrümmend
stürzte er wie ein wildes Tier auf
uns los, um uns zu zerreißen. Ich und Polemarchos
gerieten in Angst und Bestürzung; er aber schrie mitten
unter uns hinein: Was für Unsinn treibt ihr da
schon lange, Sokrates? Und wie mögt ihr so einfältig
euch anstellen und einander selbst ausweichen? Wenn
du wirklich erfahren willst, was das Gerechte ist, so
mußt du nicht bloß fragen und deine Eitelkeit damit
kitzeln, es zu widerlegen, wenn dir jemand eine Antwort
gibt, weil du wohl weißt, daß es leichter ist, zu
fragen, als zu antworten, sondern du mußt auch selbst
antworten und sagen, was du als das Gerechte bezeichnest.
Und daß du mir nur nicht sagst, es sei das
Pflichtmäßige oder das Nützliche oder das Vorteilhafte
oder das Gewinnbringende oder das Zuträgliche;
sondern deutlich und genau mußt du mir sagen, was
du sagst: denn ich werde es nicht gelten lassen, wenn
du mir mit solchem Zeuge kommst.
Wie ich das hörte, erschrak ich und blickte ihn voll
Platon: Der Staat 24
Angst an, und ich glaube, hätte ich ihn nicht eher angesehen
als er mich, so hätte ich die Stimme verloren.
So aber blickte ich ihn zuerst an, als er sich in die
Hitze hineinzusprechen anfing, und infolgedessen war
ich imstande, ihm zu antworten, und sprach denn mit
einigem Zittern: Thrasymachos, sei nicht böse auf
uns; denn haben wir uns verfehlt in der Erörterung
des Gesprächs, ich und dieser da; so wisse nur, daß
wir es nicht absichtlich getan haben! Denn glaube nur
nicht, daß wir zwar, wenn wir nach Gold suchten, einander
nimmermehr mitWillen höflich aus demWege
gingen beim Suchen und das Finden vereiteln würden,
aber beim Suchen nach der Gerechtigkeit, die doch
wertvoller ist als viele Goldhaufen, so unverständig
vor einander ausweichen und uns nicht ernsthaft bemühen,
daß sie möglichst zutage komme. Das glaube
ja nicht, mein Lieber! Sondern ich glaube, an unsern
Kräften fehlt es. Darum solltet ihr Starken billigerweise
viel eher Mitleid mit uns fühlen als uns böse
werden!
Und wie er das hörte, schlug er ein ganz höhnisches
Gelächter auf und rief: Ach du lieber Herakles,
da haben wir wieder die gewöhnliche Ironie des Sokrates!
Und das habe ich wohl gewußt und diesen da
vorausgesagt, daß du eine Antwort nicht werdest
geben wollen, sondern dich unwissend stellen und
alles eher tun, als eine Frage beantworten.
Platon: Der Staat 25
Drum bist du auch einWeiser, Thrasymachos,
sagte ich. Demgemäß mußtest du wohl wissen, daß,
wenn du jemanden fragtest, wieviel zwölf sei, und
dabei im voraus erklärtest: »Daß du, Mensch, mir
aber nur nicht sagst, zwölf sei zweimal sechs oder
dreimal vier oder sechsmal zwei oder viermal drei, –
denn ich werde es nicht gelten lassen, wenn du mir
mit solchem Zeuge kommst« – da wußtest du, denke
ich, doch wohl, daß auf eine solche Frage niemand
eine Antwort geben wird. Aber wenn er zu dir sagte:
»Thrasymachos, wie meinst du? Keine von den Antworten,
die du vorausbezeichnet, soll ich geben?
Auch nicht, du Unbegreiflicher, wenn eine von diesen
etwa die rechte ist? Sondern soll ich etwas anderes
sagen als dasWahre? Oder wie sonst meinst du« –
was würdest du ihm darauf erwidern?
Schön, erwiderte er; dieser Fall hat mit jenem wirklich
ungeheure Ähnlichkeit!
Das macht nichts, sagte ich; wenn er nun aber auch
keine Ähnlichkeit hat, der Gefragte aber glaubt einmal,
er habe eine solche, – meinst du, er werde weniger
antworten, wie es ihm vorkommt, ob wir es ihm
verbieten oder nicht?
Du wirst es also auch so machen? fragte er; du
wirst eine von den Antworten geben, die ich verboten
habe?
Es würde mich nicht wundernehmen, erwiderte ich,
Platon: Der Staat 26
wenn meine Untersuchung auf dieses Ergebnis führte.
Wie ist’s nun, sprach er, wenn ich in betreff der Gerechtigkeit
eine Antwort zum besten gebe, die anders
ist als alle diese und besser als sie: wozu erbietest du
dich dann?
Zu was anderem, erwiderte ich, als was gebührendermaßen
der Nichtwissende zu leiden hat? Und das
ist: zu lernen von demWissenden. Dem will denn
auch ich mich unterziehen.
Du bist sehr liebenswürdig, erwiderte er; aber
außer dem Lernen mußt du auch Geld zahlen.
Nun ja, wenn ich habe, sagte ich.
Oh, da fehlt’s nicht, sprach Glaukon; wegen des
Geldes sage es immerhin, Thrasymachos: wir alle
werden dem Sokrates beisteuern.
Ja, ja, das glaube ich, antwortete er: damit Sokrates
es wieder macht wie gewöhnlich und selbst keine
Antwort gibt, sondern die Antworten anderer aufgreift
und widerlegt.
Wie könnte denn auch, mein Bester, sagte ich, jemand
Antworten geben, der erstens nichts weiß und
auch nichts zu wissen behauptet, und dem zweitens,
wenn er auch darüber etwas glaubt, verboten ist, zu
sagen, was er meint, von einem nicht schlechten
Manne? Aber an dir ist’s vielmehr zu sprechen; denn
du behauptest ja, etwas zu wissen und sagen zu können.
Mache es denn also so: tue mir den Gefallen und
Platon: Der Staat 27
gib die Antwort, und mißgönne auch dem Glaukon da
und den andern die Belehrung nicht ?
Als ich so sprach, baten ihn Glaukon und die andern,
darauf einzugehen. Dem Thrasymachos sah man
wohl an, wie begierig er sei, zu sprechen, um Ruhm
zu ernten, da er eine ausgezeichnete Antwort zu haben
glaubte; indessen stellte er sich, als bestände er eigensinnig
darauf, daß ich antworte.
Zuletzt gab er jedoch nach und sprach: Das ist eben
dieWeisheit des Sokrates, daß er selbst nicht belehren
will, sondern bei den andern herumgehen und von
ihnen lernen und dafür nicht einmal sich bedanken.
Daß ich von den andern lerne, antwortete ich, darin
hast du recht, Thrasymachos; daß du aber behauptest,
ich danke dafür nicht, damit sagst du eine Unwahrheit;
denn ich danke, so sehr ich kann; ich kann aber
nur loben, weil ich Geld nicht habe.Wie gern ich aber
das tue, wofern ich glaube, daß jemand gut spreche,
das sollst du gar bald erfahren, falls du antwortest;
denn ich glaube, daß du gut sprechen wirst.
So höre denn, sagte er: Ich behaupte, daß das Gerechte
nichts anderes ist als das dem Überlegenen
Zuträgliche. – Nun, warum lobst du nicht? Du wirst
eben nicht mögen!
Sobald ich verstehe, was du meinst, erwiderte ich;
denn für jetzt weiß ich’s noch nicht. Das dem Überlegenen
Zuträgliche, behauptest du, sei das Gerechte.
Platon: Der Staat 28
Wie verstehst du das nun, Thrasymachos? Denn du
meinst es wohl jedenfalls nicht so: wenn der Pankrationsleger
Pulydamas uns überlegen ist und ihm Rindfleisch
für den Leib zuträglich ist, sei diese Nahrung
zugleich auch uns, die wir schwächer sind als er, zuträglich
und gerecht?
Du bist ein abscheulicher Mensch, Sokrates, sagte
er, und faßt dieWorte immer von der Seite auf, wo du
sie recht schlecht machen kannst.
Keineswegs, mein Bester, sagte ich; aber sprich
deutlicher aus, was du meinst!
Weißt du denn nicht, sprach er, daß von den Staaten
die einen durch Tyrannen beherrscht, die andern
demokratisch und wieder andere aristokratisch eingerichtet
sind?
Wie sollte ich nicht?
Ist denn nun nicht dieses, das Regierende, in jedem
Staat das Überlegene?
Freilich.
Jede Regierung gibt doch die Gesetze mit Rücksicht
auf das, was ihr zuträglich ist: die Demokratie
demokratische, die Tyrannis tyrannische und die andern
ebenso.Wenn sie sie gegeben, so haben sie
damit ausgesprochen, daß dies, das ihnen Zuträgliche,
für die Regierten gerecht sei, und den, der das übertritt,
bestrafen sie als einen Gesetzesübertreter und
Frevler. Das also, mein Bester, ist das, was ich meine:
Platon: Der Staat 29
daß in allen Staaten das nämliche gerecht ist, nämlich
das der bestellenden Regierung Zuträgliche. Diese
aber ist in Überlegenheit, so daß richtiges Nachdenken
ergibt, wie das Gerechte überall dasselbe ist:
nämlich das dem Überlegenen Zuträgliche.
Jetzt, sagte ich, habe ich verstanden, was du
meinst; ob es aber richtig ist oder nicht, darüber will
ich versuchen, mich zu unterrichten. Das Zuträgliche
also, Thrasymachos, hast auch du mir zur Antwort gegeben,
sei das Gerechte; und doch hast du mir verboten,
diese Antwort zu geben; es steht aber dabei noch:
dem Überlegenen.
Vermutlich ein unbedeutender Zusatz? sprach er.
Es ist mir noch nicht klar, auch nicht ob ein bedeutender;
aber das ist klar, daß man untersuchen muß,
ob du recht hast. Denn da auch ich zugebe, daß etwas
Zuträgliches das Gerechte ist, du aber einen Beisatz
machst und behauptest, das dem Überlegenen Zuträgliche
sei es, ich aber das nicht weiß, so muß man also
eine Untersuchung anstellen.
So stelle sie eben an, sagte er.
Das soll geschehen, sagte ich. So sage nur denn:
Nicht wahr, du erklärst für gerecht, daß man den Regierenden
auch jedenfalls gehorche?
Allerdings.
Sind nun die in den einzelnen Staaten Regierenden
fehlerfrei, oder gleichfalls imstande, Fehler zu
Platon: Der Staat 30
machen?
Freilich sind sie imstande, Fehler zu machen.
Indem sie also Gesetze zu geben unternehmen, machen
sie die einen richtig, andere aber nicht richtig?
So glaube ich.
Richtig gemacht sind dann wohl die, welche für sie
zuträglich sind, nicht richtig aber die nicht zuträglichen?
Oder wie meinst du?
Ebenso.
Was sie aber auch verordnen, müssen die Regierten
tun, und das ist das Gerechte?
Wie sollte es nicht?
Also heißt nach deinenWorten gerecht nicht nur
das dem Überlegenen Zuträgliche tun, sondern auch
das Gegenteil, das nicht Zuträgliche.
Was sagst du da? sprach er.
Was du selbst sagst, deucht mir. So wollen wir’s
denn besser untersuchen! Ist nicht zugestanden, daß
die Regierenden, indem sie den Regierten vorschreiben,
dies und das zu tun, manchmal sich gegen ihr eigenes
Beste verfehlen, und daß für die Regierten gerecht
sei, zu tun, was auch immer die Regierenden befehlen?
Ist das nicht zugestanden?
Ich glaube, ja, antwortete er.
Nun, so glaube auch, fuhr ich fort, daß du zugestanden
hast, gerecht sei, auch das den Regierenden
und Überlegenen nicht Zuträgliche zu tun, wofern die
Platon: Der Staat 31
Regierenden gegen ihrenWillen etwas für sie selbst
Nachteiliges befehlen und nach deiner eigenen Behauptung
für die Regierten gerecht ist, das zu tun,
was jene befehlen. Tritt dann, mein weisester Thrasymachos,
nicht die Notwendigkeit ein, daß es auf die
bezeichnete Art geht, daß gerecht ist, das Gegenteil
von dem zu tun, was du sagst? Denn es wird ja den
Schwächeren befohlen, das dem Überlegenen nicht
Zuträgliche zu tun.
Ja, bei Zeus, das ist ganz klar, Sokrates, sprach Polemarchos.
Freilich, wenn du es ihm bezeugst! fiel Kleitophon
ein.
Was bedarf es da eines Zeugen? erwiderte jener;
Thrasymachos gibt ja selbst zu, daß die Regierenden
manchmal ihnen selbst schädliche Befehle geben, und
daß für die Regierten gerecht ist, danach zu handeln.
Ja, Polemarchos; denn Thrasymachos hat als gerecht
bezeichnet, das von den Regierten Befohlene zu
tun.
Andererseits, Kleitophon, hat er als gerecht bezeichnet,
das den Überlegenen Zuträgliche zu tun.
Indem er dieses beides aufstellte, hat er hinwiederum
zugestanden, daß manchmal die Überlegenen die
Schwächeren und Regierten heißen, das ihnen selbst
Unzuträgliche zu tun. Nach diesen Zugeständnissen
wäre das dem Überlegenen Unzuträgliche ebensosehr
Platon: Der Staat 32
gerecht als das ihm Zuträgliche.
Aber, wendete Kleitophon ein, er hat ja gesagt, das
dem Überlegenen Zuträgliche sei, was dieser selbst
dafür halte: dies müsse der Schwächere tun, und das
hat er als das Gerechte bezeichnet.
Nein, so ist nicht gesagt worden, erwiderte Polemarchos.
Tut nichts, Polemarchos, sagte ich; wenn Thrasymachos
jetzt so sagt, so wollen wir es so von ihm annehmen.
– So sage mir denn, Thrasymachos, war es
das, was du von dem Gerechten sagen wolltest, es sei
das, was dem Überlegenen, als dem Überlegenen, zuträglich
erscheine, mag es nun wirklich zuträglich
sein oder nicht? Dürfen wir annehmen, daß das deine
Meinung sei?
Durchaus nicht, erwiderte er: vielmehr glaubst du
denn, ich nenne überlegen den Fehlermachenden in
dem Augenblicke, wo er Fehler macht?
Ich meinte, antwortete ich, du sagest das, als du zugestandest,
daß die Regierenden nicht fehlerfrei seien,
sondern auch Fehler machten.
Du bist halt ein Chikaneur, Sokrates, bei den Gesprächen,
erwiderte er. Heißt du denn z.B. einen Arzt
denjenigen, der in Bezug auf die Kranken Fehler
macht, eben insofern er Fehler macht? Oder einen Rechenmeister,
wer im Rechnen Fehler macht, eben
dann, wenn er Fehler macht, in Rücksicht auf diesen
Platon: Der Staat 33
Fehler? Vielmehr, denke ich, drücken wir uns nur so
aus: der Arzt oder der Rechenmeister oder der Schreiber
hat einen Fehler gemacht; inWahrheit aber macht
keiner von diesen insoweit, als er das ist, was wir ihn
nennen, je einen Fehler, so daß, scharf ausgedrückt –
denn du bist ja auch haarrspalterisch – kein Meister
einen Fehler begeht. Denn wer Fehler begeht, begeht
sie infolge einer Mangelhaftigkeit seinesWissens in
solchem, worin er nicht Meister ist. Folglich macht
kein Meister oder Weiser oder Regierender dann
einen Fehler, wenn er Regierender ist. Dennoch aber
sagt jedermann, der Arzt hat einen Fehler gemacht
und der Regierende hat einen Fehler gemacht. In solcherWeise
mußt du auch meine jetzige Antwort auffassen;
das Genaueste aber ist, daß der Regierende,
sofern er Regierender ist, nicht Fehler macht und, weil
er nicht Fehler macht, das für ihn Beste verordne, und
daß dies der Regierte zu tun habe. Und so bleibe ich
denn bei dem, was ich von Anfang an sagte: Gerecht
ist, das dem Überlegenen Zuträgliche zu tun.
So, so, Thrasymachos, sagte ich, du hältst mich für
einen Chikaneur?
Jawohl, versetzte er.
Du meinst wohl, ich habe in hinterlistiger Absicht,
um dich im Gespräche zu übervorteilen, dich so gefragt,
wie ich gefragt habe?
Ja, das weiß ich gewiß; aber es soll dir nichts
Platon: Der Staat 34
nützen: denn du wirst weder versteckt mich übervorteilen
können noch auch offene Gewalt mir durch die
Rede anzutun vermögen.
Ich würde es auch nicht wagen, mein Bester, erwiderte
ich. Aber, damit es uns nicht wieder so geht, bestimme,
in welchem Sinne du den Regierenden und
den Überlegenen verstehst: ob nach der gewöhnlichen
Sprechweise, oder nach dem genauen Ausdruck, wie
du eben ihn bezeichnetest, denjenigen, dem – als dem
Überlegenen – der Schwächere, wenn er gerecht sein
will, tun muß, was diesem zuträglich ist?
Den, der nach dem genauesten Ausdruck Regierender
ist.
Daran laß deine Bosheit und deine Schikanen aus,
wenn du kannst; ich hindere dich nicht; aber es ist mir
nicht bange, daß du’s kannst.
Hältst du mich, sagte ich, für so wahnsinnig, daß
ich es versuchte, einen Löwen zu scheren und einen
Thrasymachos zu schikanieren?
Eben hast du’s doch versucht, sagte er, obwohl
deine Sache auch dabei nichts ist.
Genug jetzt von diesen Dingen, sprach ich; aber
sage mir: Der Arzt in dem strengen Sinne, von dem
du eben gesprochen, – ist er einer, der Geld erwirbt,
oder einer, der Kranke heilt? Dabei nimm den wirklichen
Arzt!
Der, welcher Kranke heilt, versetzte er.
Platon: Der Staat 35
Und der Steuermann – ist der richtig gefaßte Steuermann
ein Regierer der Mitfahrenden, oder ein Mitfahrender?
Ein Regierer der Mitfahrenden.
Es ist also keine Rücksicht darauf zu nehmen, daß
er in dem Schiffe mitfährt, und er ist nicht Mitfahrender
zu nennen; denn nicht in bezug auf das Mitfähren
heißt er Steuermann, sondern in bezug auf die Kunst
und das Regieren der Mitfahrenden.
Richtig, sagte er.
Jeder von diesen hat nun wohl etwas, das ihm zuträglich
ist?
Freilich.
Ist nicht auch die Kunst, fragte ich, dazu da, das
einem jeden Zuträgliche zu suchen und zu verschaffen?
Allerdings, antwortete er.
Ist nun auch jeder einzelnen Kunst etwas anderes
außer ihr Liegendes zuträglich als dies, daß sie möglichst
vollkommen sei? Und bedarf sie dessen noch,
um möglichst vollendet zu sein, oder ist dazu jede
sich selbst genug?
Wie verstehst du diese Frage?
Wenn du, versetzte ich, z.B. mich fragen würdest,
ob es dem Leibe genug sei, Leib zu sein, oder ob er
noch eines andern bedürfe, würde ich antworten: Allerdings
bedarf er eines andern. Eben darum ist jetzt
Platon: Der Staat 36
auch die Heilkunst erfunden, weil der Leib mangelhaft
ist und es ihm nicht genügt, Leib zu sein. Um
nun ihm das Zuträgliche zu verschaffen, dazu ist die
Kunst da. Hältst du das für richtig oder nicht?
Für richtig, erwiderte er.
Wie steht’s nun? Ist die Heilkunst selbst auch mangelhaft,
oder bedarf irgend eine andere Kunst noch
einer weiteren Tüchtigkeit, wie die Augen des Sehens,
die Ohren des Hörens, und ist daher bei ihnen noch
eine Kunst erforderlich, welche das, was zu eben diesen
Zwecken zuträglich ist, zu untersuchen und herbeizuschaffen
hat? Ist also auch in der Kunst selbst
eine Mangelhaftigkeit, und bedarf jede Kunst einer
andern, die das für sie Zuträgliche zu untersuchen hat,
und die untersuchende hinwiederum einer andern derartigen,
und so ins Unendliche fort? Oder wird sie
selbst das ihr Zuträgliche untersuchen? Oder bedarf
sie weder ihrer selbst noch einer andern zu ihrer Mangelhaftigkeit
hin, um das Zuträgliche zu erkennen?
Denn weder ein Mangel noch ein Fehler haftet irgend
einer Kunst an, noch auch kommt es einer Kunst zu,
für einen andern das Zuträgliche zu suchen, als für
den, dessen Kunst sie ist: und sie selbst ist, sofern sie
die rechte ist, unversehrt und ungetrübt, solange eine
jede genau ganz das ist, was sie ist. Betrachte es in
jenem strengen Sinne und sage, ob es so ist oder anders?
Platon: Der Staat 37
Es ist offenbar so, antwortete er.
Also nicht für sich selbst erforscht die Heilkunst
das Zuträgliche, sondern für den Leib?
Ja, erwiderte er.
Und die Reitkunst nicht für sich, sondern für die
Pferde, und auch keine andere Kunst für sich selbst –
denn sie bedarf nichts weiter -, sondern für das, dessen
Kunst sie ist?
Offenbar ist’s so, versetzte er.
Sind nun, Thrasymachos, die Künste in bezug auf
das, dessen Künste sie sind, regierend und überlegen?
Hier war er nur mit großer Mühe dazu zu bringen,
daß er es zugab.
Demnach erforscht und verordnet keineWissenschaft
das dem Überlegenen Zuträgliche, sondern das
dem Schwächeren und von ihm Regierten Zuträgliche.
Auch das gab er endlich zu, machte aber einen Versuch
es anzufechten.
Nachdem er es aber zugestanden, fuhr ich fort:
Also auch kein Arzt, sofern er Arzt ist, erforscht und
verordnet das dem Arzt Zuträgliche, sondern das dem
Kranken Zuträgliche? Denn es ist zugegeben, daß der
Arzt im strengen Sinne ein Regierer der Leiber ist,
nicht aber einer, der Geld erwirbt; oder ist’s nicht zugegeben?
Er bejahte es.
Also ist auch der Steuermann, genau gefaßt,
Platon: Der Staat 38
Regierer der Mitfahrenden, nicht aber selbst Mitfahrender?
Zugegeben.
Also wird ein solcher Steuermann und Regierer
nicht das dem Steuermanne Zuträgliche untersuchen
und gebieten, sondern das demMitfahrenden und Regierten
Zuträgliche?
Nur ungern stimmte er bei.
Also, sage ich, auch kein anderer, Thrasymachos,
der irgend etwas regiert, erforscht und gebietet, sofern
er Regierer ist, das ihm selbst Zuträgliche, sondern
das dem Regierten und dem, für welchen er arbeitet.
Zuträgliche; und auf ihn hinblickend und auf das, was
ihm zuträglich und geziemend ist, spricht und tut er
alles, was er spricht und tut.
Als wir nun mit dem Gespräche so weit waren und
es allen einleuchtend war, daß die Begriffsbestimmung
des Gerechten ins Gegenteil umgeschlagen sei,
hob Thrasymachos, statt zu antworten, an: Sage mir,
Sokrates, hast du eine Amme?
Wieso? sagte ich; solltest du nicht eher Antwort
geben als eine solche Frage stellen?
Nun – weil sie deine Nase überlaufen sieht und sie
dir nicht putzt, wie sie sollte, da du ihr Schafe und
Hirten nicht auseinanderkennst.
Inwiefern denn das? fragte ich.
Weil du glaubst, die Schaf- oder Rinderhirten
Platon: Der Staat 39
sehen auf das Beste ihrer Schafe oder Rinder und
haben, wenn sie sie mästen und pflegen, etwas anderes
im Auge als das Beste ihrer Herrn und ihr eigenes
Bestes, und ebenso glaubst, die in einem Staate Regierenden
– wenn sie wahrhafte Regierer sind – seien
gegenüber den Regierten anders gesinnt, als man es
Schafen gegenüber ist, und denken Tag und Nacht an
etwas anderes, als wie sie sich selbst nützen können.
Und so sehr bist du auf dem Irrwege in bezug auf das
Gerechte und die Gerechtigkeit und das Ungerechte
und die Ungerechtigkeit, daß du nicht einsiehst, wie
die Gerechtigkeit und das Gerechte inWahrheit das
Beste eines andern ist, nämlich das dem Überlegenen
und Regierenden Zuträgliche, für den Gehorchenden
und Dienenden aber der eigene Schaden, und wie die
Ungerechtigkeit das Gegenteil ist und die inWahrheit
Einfältigen und Gerechten regiert, und wie die Regierten
das ihm Zuträgliche tun, weil er überlegen ist, und
ihn durch ihr Dienen glücklich machen, sich selbst
aber schlechterdings nicht. Und daß der Gerechte dem
Ungerechten gegenüber allenthalben im Nachteil ist,
davon muß man, du einfältiger Sokrates, auf folgende
Weise sich überzeugen: Fürs erste im gegenseitigen
Verkehr wirst du, wenn ein solcher mit einem solchen
Gemeinschaft hat, bei Auflösung der Verbindung niemals
finden, daß der Gerechte gegen den Ungerechten
im Vorteil ist, sondern vielmehr im Nachteil; dann in
Platon: Der Staat 40
den Beziehungen zum Staat zahlt der Gerechte, wenn
es sich um Steuern handelt, vom Gleichen mehr, der
andere weniger; und wenn es sich ums Einnehmen
handelt, so macht der eine keinen, der andere vielen
Gewinn. Und wenn beide ein Amt bekleiden, so trifft
den Gerechten wenn kein anderer so jedenfalls der
Nachteil, daß sein Hauswesen infolge der Vernachlässigung
in schlimmeren Stand kommt und er aus der
Staatskasse keinen Nutzen zieht, weil er gerecht ist,
und daß er außerdem verhaßt wird bei seinen Angehörigen
und Bekannten, wenn er ihnen nicht dem Rechte
zuwider dienen will; bei dem Ungerechten aber ist
alles dieses umgekehrt: ich meine nämlich denjenigen,
von dem ich eben gesprochen, den, welcher imstande
ist, seinen Vorteil in großemMaßstabe zu verfolgen.
Diesen mußt du in Betracht ziehen, wenn du beurteilen
willst, um wie viel mehr es ihm persönlich zuträglich
ist, ungerecht zu sein, als gerecht. Am allerleichtesten
aber wirst du es einsehen, wenn du an die vollendetste
Ungerechtigkeit herangehst, die den, der Unrecht
begeht, ganz glücklich macht, die aber, welche
Unrecht leiden und nicht Unrecht tun mögen, ganz unglücklich.
Das heißt aber Tyrannei, die das fremde
Gut nicht stückweise wegnimmt, sowohl heimlich als
mit offener Gewalt, Heiliges und Erlaubtes, Persönliches
und Öffentliches, sondern alles zusammen.
Wenn jemand von diesen Ungerechtigkeiten eine
Platon: Der Staat 41
einzelne begangen hat und es an den Tag kommt, so
wird er gestraft und hat die größte Schande; denn Kirchenräuber
und Seelenverkäufer und Einbrecher und
Räuber und Diebe heißen diejenigen, welche solche
Freveltaten einzeln verüben.Wenn aber jemand außer
der Habe der Bürger auch noch ihre Personen knechtet,
so bekommen sie statt jener beschimpfenden Benennungen
die Titel »glücklich« und »preiswürdig«,
nicht bloß von den Staatsangehörigen, sondern auch
von allen andern, die vernehmen, daß er die Ungerechtigkeit
im Großen treibt; denn nicht weil sie das
Ungerechte zu tun, sondern weil sie es zu leiden
fürchten, schmähen auf die Ungerechtigkeit die, welche
sie schmähen. So ist denn also, Sokrates, die Ungerechtigkeit,
wenn sie auf tüchtige Weise geschieht,
etwas Stärkeres und Edleres und Gewaltigeres als die
Gerechtigkeit, und wie ich von Anfang an sagte: das
dem Überlegenen Zuträgliche ist das Gerechte, und
das Ungerechte ist das, was einem selbst nützlich
und – zuträglich ist.
Nach diesenWorten wollte Thrasymachos weggehen,
nachdem er uns wie ein Bademeister einen dichten
und reichen Strom vonWorten über die Ohren gegossen
hatte. Aber die Anwesenden gaben es nicht zu,
sondern nötigten ihn, zu bleiben und über das Gesprochene
Rede zu stehen. Und ich selbst auch bat ihn
dringend und sagte: O wunderlicher Thrasymachos,
Platon: Der Staat 42
was hast du da für eine Rede unter uns geschleudert
und willst jetzt fortgehen, ehe du recht gelehrt oder
gelernt hast, ob es sich so verhält oder anders? Oder
glaubst du, daß es etwas Unbedeutendes sei, was du
zu bestimmen suchst, und nicht vielmehr die Lebensweise,
durch deren Befolgung ein jeder von uns das
nutzenbringendste Leben führen würde?
Bin ich denn in dieser Beziehung anderer Ansicht?
erwiderte Thrasymachos.
Es scheint in der Tat, sagte ich, als ob du nicht für
uns sorgtest und dich nicht darum bekümmertest, ob
wir schlechter oder besser leben werden infolge
davon, daß wir nicht wissen, was du zu wissen behauptest.
Aber, mein Guter, entschließe dich, auch
uns es zu zeigen: es wird dir wahrlich nicht übel angelegt
sein, was du uns, die wir so zahlreich sind.
Gutes erweist. Denn ich meinerseits sage dir, daß ich
nicht überzeugt bin und nicht glaube, daß Ungerechtigkeit
gewinnbringender sei als Gerechtigkeit, auch
nicht, wenn man sie gewähren läßt und sie nicht hindert,
zu tun, was sie will. Sondern, mein Guter, es sei
jemand ungerecht und imstande. Unrecht zu tun, entweder
weil er nicht entdeckt wird oder weil er es
durchfechten kann: dennoch überzeugt er mich nicht,
daß sie gewinnbringender sei als die Gerechtigkeit.
Und so geht’s vielleicht noch andern unter uns, nicht
allein mir. Überzeuge uns nun, mein Bester,
Platon: Der Staat 43
genügend, daß wir nicht richtig denken, wenn wir die
Gerechtigkeit über die Ungerechtigkeit stellen!
Wie soll ich dich aber überzeugen? entgegnete er;
wenn dich das nicht überzeugt hat, was ich eben gesagt
habe, was soll ich denn weiter mit dir anfangen?
Soll ich dir etwa die Vernunft eintrichtern?
Nein, bei Zeus, antwortete ich, das laß sein; statt
dessen bleibe vor allem bei dem, was du jedesmal
sagst, oder wenn du’s abändern willst, so ändere es
offen ab und täusche uns nicht! So aber siehst du,
Thrasymachos, – wir wollen nämlich das Frühere noch
in Betracht ziehen -, wie du zuerst den Arzt im strengen
Sinne aufgestellt hast, aber nachher den Hirten
nicht mehr genau im strengen Sinne festhalten zu
müssen glaubtest, sondern du glaubst, er sehe, sofern
er Hirt ist, beimMästen der Schafe nicht auf das
Beste der Schafe, sondern – wie einer, der eine Mahlzeit
halten und schmausen will, – auf die Schmauserei,
oder auch auf das Verkaufen, wie ein Geschäftsmann,
aber nicht wie ein Hirte. Aber die Hirtenkunst sorgt
doch wohl für nichts anderes, als dem, wofür sie aufgestellt
ist, das Beste zu verschaffen; denn für das auf
sie selbst sich Beziehende, daß sie vollkommen gut
sei, dafür ist doch wohl hinreichend gesorgt, solange
ihr nichts dazu fehlt, daß sie Hirtenkunst sei. So,
glaubte ich denn auch, müssen wir jetzt notwendig
zugestehen, daß jede Regierung, sofern sie Regierung
Platon: Der Staat 44
ist, auf keines andern Bestes sehen müsse als auf das
jener, der Regierten und ihrer Sorge Anvertrauten, im
Regieren des Staates wie der Einzelnen. Und glaubst
du denn, daß die, welche in den Staaten regieren, die
Regierenden im strengen Sinn, freiwillig regieren?
Nein, bei Zeus, erwiderte er, sondern ich weiß es
gewiß.
Wie, Thrasymachos? sagte ich; denkst du nicht
daran, daß die anderen Regierungsstellen niemand
freiwillig übernehmen mag, sondern sie fordern Belohnung,
weil ja das Regieren nicht ihnen selbst Vorteil
bringen werde, sondern den Regierten? Dann sage
mir so viel: Behaupten wir denn nicht, daß jede Kunst
dadurch jedesmal eine andere sei, daß sie eine andere
Wirkung hat? Und, mein Bester, gib nicht eine Antwort,
die nicht hierher gehört, damit wir auch etwas
zustande bringen!
Nun ja, erwiderte er, dadurch ist sie eine andere.
Also bietet auch jede uns einen besonderen Nutzen
und keinen gemeinsamen, z.B. die Heilkunst Gesundheit,
die Steuermannskunst Sicherheit im Schiffahren,
und die andern ebenso?
Allerdings.
Also auch die Kunst Lohn zu erwerben – den
Lohn? Denn das ist ja ihre Wirkung. Oder behauptest
du, daß die Heilkunst und die Steuermannskunst dieselbe
sei? Und wofern du, wie du dir vorgenommen,
Platon: Der Staat 45
scharf unterscheiden willst, so wirst du, wenn jemand
vom Steuern gesund wird, weil ihm das Seefahren zuträglich
ist, darum dennoch nicht sie Heilkunst nennen?
O nein, antwortete er.
Auch nicht, denke ich, die Kunst Lohn zu erwerben,
wenn jemand beim Lohndienst gesund ist?
O nein.
Wie nun? Nennst du die Heilkunst eine Lohnerwerbekunst,
wenn jemand durchs Heilen Lohn erwirbt?
Nein, sagte er.
Nun haben wir aber zugegeben, daß der Nutzen
jeder Kunst ein besonderer sei?
Allerdings, sagte er.
Wenn also alle Künstler gemeinsam einen Nutzen
haben, so haben sie ihn offenbar davon, daß sie das
nämliche gemeinsam noch zu ihrer Kunst hin anwenden?
So scheint’s, erwiderte er.
So behaupten wir denn, daß der Nutzen, den die
Künstler haben, indem sie Lohn gewinnen, ihnen
davon werde, daß sie dazu noch die Lohnerwerbekunst
anwenden.
Ungern gab er’s zu.
Also nicht von seiner eigenen Kunst hat jeder diesen
Nutzen, das Gewinnen von Lohn; sondern, genau
genommen, schafft die Heilkunst Gesundheit und die
Platon: Der Staat 46
Lohnerwerbekunst Lohn; die Baukunst ein Haus und
die an sie sich anschließende Lohnerwerbekunst
Lohn; und von den übrigen allen wirkt so jede ihr
Werk und schafft den Nutzen, zu dem sie geordnet ist.
Falls aber zu seiner Kunst kein Lohn hinzukommt,
hat dann der Künstler Nutzen von ihr?
Offenbar nicht, antwortete er.
Nützt er also auch nicht, wenn er umsonst arbeitet?
Ich glaube doch.
So ist also, Thrasymachos, das jetzt klar, daß keine
Kunst noch Regierung das ihr selbst Nützliche
schafft; sondern, wie wir schon längst gesagt haben,
sie schafft und gebietet das dem Regierten Mißliche,
indem sie das ihm als dem Schwächeren Zuträgliche
ins Auge faßt, nicht das dem Stärkeren Zuträgliche.
Und deshalb, mein lieber Thrasymachos, habe ich
auch vorhin gesagt, daß niemand Lust habe, freiwillig
zu regieren und sich mit der Verbesserung der
schlechten Lage anderer zu befassen, sondern Lohn
verlange, weil der, welcher recht nach der Kunst handelt,
nie für sein eigenes Bestes handelt noch es gebietet,
wenn er kunstgerecht gebietet, sondern für den
Regierten; und darum, scheint’s, müsse Belohnung
gereicht werden denen, die zum Regieren Lust bekommen
sollen, entweder Geld oder Ehre, oder aber
Strafe für den Fall, daß er nicht regiert.
Wie meinst du das, Sokrates? fragte Glaukon. Die
Platon: Der Staat 47
beiden Belohnungen verstehe ich; was du aber mit der
Strafe meinst, und wiefern du sie neben den Belohnungen
aufgeführt hast, habe ich noch nicht begriffen.
So verstehst du also die Belohnung der Besten
noch nicht, die, um deren willen dieWackersten regieren,
wenn sie regieren mögen? Oder weißt du
nicht, daß Ehrsucht und Geldgier für eine Schande
gelten und es auch sind?
O ja, erwiderte er.
Darum also, fuhr ich fort, mögen die Guten weder
um des Geldes willen regieren noch der Ehre wegen;
denn weder wollen sie offen für das Regieren Sold
nehmen und sich Söldlinge nennen lassen, noch ihn
infolge ihres Regierens selbst heimlich sich aneignen
und Diebe heißen: andererseits auch nicht um der
Ehre willen, denn sie sind nicht ehrsüchtig. Es muß
denn also bei ihnen eine Nötigung hinzukommen und
eine Strafe, wenn sie sollen regieren wollen; und deswegen
scheint’s, gilt es für schmählich, freiwillig,
ohne eine Nötigung abzuwarten, an das Regieren zu
gehen. Die größte Strafe aber ist, daß man von einem
Schlechteren regiert wird, wofern man nicht selbst regieren
mag; aus Furcht vor diesem scheinen mir die
edlen Männer zu regieren, wenn sie regieren. Und
dann gehen sie an’s Regieren nicht als an etwas
Gutes, noch in der Erwartung, daß sie es dabei gut
haben werden, sondern als an eine Notwendigkeit und
Platon: Der Staat 48
weil sie keine Besseren, als sie selbst sind, und auch
keine ebenso Guten haben, denen sie’s anvertrauen
könnten. Denn es scheint, wenn ein Staat aus lauter
guten Männern bestände, so würde man sich um das
Nichtregieren ebenso streiten wie jetzt um das Regieren,
und da würde es dann an den Tag kommen, daß
inWahrheit ein wahrhafter Regierer nicht die Art hat,
auf das zu sehen, was ihm selbst zuträglich ist, sondern
auf das, was dem Regierten zuträglich ist: so daß
jeder, der Einsicht hätte, es vorzöge, sich von einem
andern nützen zu lassen, statt sich damit zu bemühen,
andern zu nützen. Das also gebe ich dem Thrasymachos
schlechterdings nicht zu, daß das Gerechte das
dem Überlegenen Zuträgliche ist. Doch das wollen
wir ein anderes Mal untersuchen. Viel wichtiger
scheint mir zu sein, was Thrasymachos jetzt sagt,
indem er behauptet, das Leben des Ungerechten sei
besser als das des Gerechten; wie wählst nun du,
Glaukon? fragte ich; und welches von beiden hältst du
für das Richtigere?
Ich, erwiderte Glaukon, glaube, daß das Leben des
Gerechten vorteilhafter ist.
Hast du gehört, sagte ich, wie viele Vorteile Thrasymachos
eben an dem des Ungerechten aufgezählt
hat?
Gehört habe ich’s, versetzte er, aber ich glaube es
nicht.
Platon: Der Staat 49
Willst du nun, daß wir, wofern wir ein Mittel ausfindig
machen können, ihn überzeugen, daß er nicht
recht hat?
Wie sollte ich’s nicht wollen? antwortete er.
Falls wir nun, fuhr ich fort, seiner Rede gegenüber
die unsrige Punkt um Punkt entfalten, wie viele Vorteile
andererseits das Gerechtsein hat, und dann wieder
er, und dann wieder wir, so wird man die Vorteile
zusammenzurechnen und zu messen haben, die wir
beide an beidem angegeben haben, und wir werden
dann irgendwelche Richter zur Entscheidung nötig
haben; wenn wir aber, wie vorhin, bei der Untersuchung
denWeg der gegenseitigen Verständigung einschlagen,
so werden wir selbst zugleich Richter und
Redner sein.
Allerdings, sagte er.
Welche von beidenWeisen gefällt nun dir? fragte
ich.
Die letztere, erwiderte er.
Wohlan denn also, Thrasymachos, sagte ich, antworte
uns von neuem: Behauptest du, daß die vollendete
Ungerechtigkeit vorteilhafter sei als die vollendete
Gerechtigkeit?
Allerdings behaupte ich das, erwiderte er, und aus
welchen Gründen, habe ich angegeben.
Nun denn – wie sprichst du über sie in dieser Beziehung:
Nennst du das eine von beiden Tugend, das
Platon: Der Staat 50
andere Schlechtigkeit?
Wie sollte ich nicht?
Also die Gerechtigkeit Tugend und die Ungerechtigkeit
Schlechtigkeit?
Natürlich, du Schalk! erwiderte er: weil ich ja sage,
daß die Ungerechtigkeit nützlich sei, die Gerechtigkeit
aber nicht ?
Nun, wie denn?
Umgekehrt, antwortete er.
Also die Gerechtigkeit sei Schlechtigkeit?
Das nicht, aber eine sehr gründliche Gutmütigkeit.
Die Ungerechtigkeit also nennst du Bösartigkeit?
Nein, sondern Gescheitheit im Handeln, versetzte
er.
Du hältst also, Thrasymachos, die Ungerechten für
klug und gut?
Diejenigen allerdings, antwortete er, welche imstande
sind, in vollkommenerWeise Unrecht zu tun,
die ganze Staaten und Völker sich zu unterwerfen vermögen,
– während du, scheint es, meinst, ich rede von
Beutelschneidern. Es ist nun zwar auch das nützlich,
wofern es nicht entdeckt wird; indessen ist es nicht
der Rede wert, sondern nur das, was ich eben genannt
habe.
Was du sagen willst, erwiderte ich, verstehe ich
ganz wohl; aber darüber wundere ich mich, daß du
die Ungerechtigkeit zur Tugend undWeisheit
Platon: Der Staat 51
rechnest, die Gerechtigkeit aber zum Gegenteil.
Allerdings tue ich das.
Das ist nun schon unverdaulicher, mein Bester, bemerkte
ich, und es ist nicht mehr leicht, was man dazu
sagen soll. Denn hättest du behauptet, die Ungerechtigkeit
sei nützlich, jedoch wie andere Leute zugegeben,
daß sie eine Schlechtigkeit und Schmach sei, so
wüßten wir etwas zu sagen, indem wir uns an die gewöhnlichen
Begriffe hielten; nun aber willst du offenbar
behaupten, daß sie gar etwas Schönes und Dauerhaftes
sei, und willst ihr alles das beilegen, was wir
dem Gerechten beizulegen pflegen, indem du gewagt
hast, sie sogar zur Tugend undWeisheit zu rechnen.
Ganz richtig geweissagt, versetzte er.
Indessen, sagte ich, darf man kein Bedenken tragen,
der Behauptung untersuchend nachzugehen, solange
ich annehmen darf, daß du deine wirkliche Ansicht
aussprichst. Denn es scheint mir, Thrasymachos,
daß du jetzt wirklich nicht scherzest, sondern deine
Überzeugung in betreff der Gerechtigkeit aussprichst.
Was macht es dir aus, erwiderte er, ob es meine
Überzeugung ist oder nicht, und warum widerlegst du
nicht das Gesagte?
Nichts macht es mir aus, versetzte ich; aber versuche
mir nur noch auf folgendes Antwort zu geben:
Glaubst du, daß ein Gerechter vor dem andern etwas
voraushaben will?
Platon: Der Staat 52
Durchaus nicht, antwortete er; denn dann wäre er ja
nicht so höflich und einfältig, wie er ist.
Wie? Auch nicht im Gerechthandeln?
Auch darin nicht, erwiderte er.
Vor dem Ungerechten aber etwas vorauszuhaben
wird er für angemessen und gerecht halten, oder wird
er es nicht für gerecht halten?
Er wird’s wohl glauben und für angemessen halten,
versetzte er, aber es nicht vermögen.
Aber danach frage ich nicht, sagte ich, sondern ob
der Gerechte zwar vor dem Gerechten nichts vorauszuhaben
begehrt und will, wohl aber vor dem Ungerechten?
Nun, so ist’s, antwortete er.
Und der Ungerechte – begehrt er, vor dem Gerechten
etwas vorauszuhaben auch in dem Gerechthandeln?
Wie sollte er nicht? erwiderte er; denn er begehrt in
allem etwas vorauszuhaben.
Also auch vor dem ungerechten Menschen und
Handeln wird der Ungerechte etwas voraushaben wollen
und mit ihm wetteifern, damit er von allem am
meisten bekommt?
So ist’s.
Wir behaupten also, fuhr ich fort; der Gerechte will
vor dem Gleichen nichts voraushaben, wohl aber vor
dem Ungleichen, der Ungerechte aber sowohl vor dem
Platon: Der Staat 53
Gleichen wie vor dem Ungleichen?
Vortrefflich ausgedrückt, sagte er.
Und der Ungerechte, sprach ich, ist klug und gut,
der Gerechte aber keines von beiden.
Auch das muß ich loben, versetzte er.
Also, sagte ich, gleicht der Ungerechte auch dem
Klugen und Guten, der Gerechte aber nicht?
Es versteht sich von selbst, erwiderte er, daß, wer
ein derartiger ist, auch den derartigen gleicht, und wer
es nicht ist, ihnen auch nicht gleicht.
Schön; also jeder von beiden ist so wie die, denen
er gleicht.
Was denn? versetzte er.
Gut, Thrasymachos; nennst du einen Menschen
tonkundig und den andern tonunkundig?
Ja.
Welchen von beiden nennst du verständig und welchen
unverständig?
Natürlich den Tonkundigen verständig und den
Tonunkundigen unverständig.
Also gut in bezog auf das, worin er klug, und
schlecht in bezug auf das, worin er unverständig ist?
Freilich.
Und mit dem Heilkundigen ist’s ebenso?
Allerdings.
Glaubst du nun, mein Bester, daß ein tonkundiger
Mann, wenn er sich die Leier stimmt, vor einem
Platon: Der Staat 54
tonkundigen Manne etwas vorauszuhaben wünscht
und begehrt in bezug auf das Anspannen und Herablassen
der Saiten?
Ich glaube nicht.
Wie? Aber vor einem Tonunkundigen?
Notwendig, versetzte er.
Und der Heilkundige – will er im Essen und Trinken
etwas voraushaben vor einem heilkundigen
Manne oder dessen Verfahren?
Nein.
Aber vor einem nichtheilkundigen?
Ja.
Nun betrachte einmal alle Kunde und Unkunde, ob
du glaubst, daß irgend ein Kundiger mehr als ein anderer
Kundiger wird haben wollen sowohl im Tun als
im Reden, und ob nicht dasselbe wie der ihm Ähnliche
in bezug auf dieselbe Handlung?
Es wird wohl letzteres der Fall sein müssen, antwortete
er.
Wie nun – will der Unkundige nicht etwas voraushaben
auf gleicheWeise vor dem Kundigen wie vor
dem Unkundigen?
Wahrscheinlich.
Ist der Kundige weise?
Ja.
Und der Weise gut?
Ja.
Platon: Der Staat 55
So wird also der Gute undWeise vor seinesgleichen
nichts voraushaben wollen, wohl aber vor dem
Ungleichen und Entgegengesetzten?
So scheint’s, versetzte er.
Und der Schlechte und Unkundige sowohl vor dem
Gleichen als vor dem Entgegengesetzten?
Offenbar.
Nun will uns aber, Thrasymachos, sagte ich, der
Ungerechte etwas voraushaben vor dem Gleichen sowohl
als vor dem Entgegengesetzten. Oder hast du
nicht so gesagt?
Allerdings, erwiderte er.
Der Gerechte aber wird vor seinesgleichen nichts
voraushaben wollen, wohl aber vor dem Ungleichen?
Ja.
So gleicht also, sagte ich, der Gerechte demWeisen
und Guten, der Ungerechte aber dem Schlechten
und Unkundigen?
So scheint es.
Nun haben wir aber zugegeben, daß jeder von beiden
dasjenige auch sei, dem er gleiche?
Freilich haben wir’s zugegeben.
So haben wir denn also erwiesen, daß der Gerechte
gut und weise ist, der Ungerechte aber unkundig und
schlecht.
Thrasymachos gab das alles zu, aber nicht so
leicht, wie ich es jetzt erzähle, sondern sich sperrend
Platon: Der Staat 56
und mit Mühe, unter unsäglichem Schweiße, weil es
ohnehin ein Sommertag war; damals sah ich auch
zum erstenmal in meinem Leben den Thrasymachos
rot werden. Nachdem wir nun mit einander darüber
völlig einig geworden waren, daß die Gerechtigkeit
Tugend sei undWeisheit, die Ungerechtigkeit aber
Schlechtigkeit und Unverstand, fuhr ich fort: Nun ja,
das hätten wir denn also abgemacht; wir haben aber
auch behauptet, daß die Ungerechtigkeit etwas Dauerhaftes
sei; oder erinnerst du dich nicht, Thrasymachos?
Ich erinnere mich wohl, erwiderte er; aber ich bin
auch mit dem, was du eben sagst, nicht einverstanden
und wüßte darüber zu sprechen. Spräche ich aber, so,
weiß ich wohl, würdest du sagen, ich glaubte mich
auf der Rednerbühne. Entweder also laß mich sprechen,
soviel ich will, oder, wenn du fragen willst, so
frage: ich will dir, wie den altenWeibern, wenn sie
ein Märchen vorerzählen, »Ja, ja« sagen und mit dem
Kopfe nicken und ihn schütteln.
Nur ja nicht wider deine Überzeugung, sagte ich.
Nun ja, dir zu Gefallen, versetzte er, da du mich
nun einmal nicht reden läßt. Aber was willst du weiter?
Nichts, bei Zeus, antwortete ich: sondern wenn du
das tun willst, so tue es: ich will dich fragen.
Nur zu!
Platon: Der Staat 57
So frage ich dich also, wie zuvor, damit wir das
Gesagte auch in geordneter Reihenfolge untersuchen,
von welcher Art die Gerechtigkeit ist im Vergleich
mit der Ungerechtigkeit? Es ist nämlich behauptet
worden, daß die Ungerechtigkeit mächtiger und stärker
sei als die Gerechtigkeit; wenn aber nunmehr die
Gerechtigkeit Weisheit und Tugend ist, so wird sich
leicht zeigen, daß sie auch stärker ist als die Ungerechtigkeit,
da ja die Ungerechtigkeit Unverstand ist:
das wird jetzt jedermann einsehen. Indessen will ich’s
nicht auf so einfacheWeise untersuchen, Thrasymachos,
sondern etwa folgendermaßen: Von einem Staat
behauptest du, daß er ungerecht sei und andere Staaten
ungerechterweise zu knechten suche und geknechtet
habe und infolge davon auch wirklich viele unter
sich habe?
Wie sollte ich nicht? erwiderte er; und zwar wird
der beste Staat dies am ehesten tun und derjenige, der
am vollendetsten ungerecht ist.
Ich verstehe, sagte ich, das war deine Behauptung;
aber erwäge in bezug auf sie folgendes:Wird der
einem andern überlegen gewordene Staat seine Macht
ohne Gerechtigkeit behaupten, oder bedarf es dazu
notwendig der Gerechtigkeit?
Wenn, antwortete er, die Gerechtigkeit, wie du
eben behauptet hast,Weisheit ist, dann mit Gerechtigkeit;
wenn aber so, wie ich sagte, dann mit
Platon: Der Staat 58
Ungerechtigkeit.
Ich bin sehr erfreut, Thrasymachos, sagte ich, daß
du nicht bloß Ja und Nein nickst, sondern sogar ganz
gut antwortest.
Das tu’ ich eben dir zu Gefallen, versetzte er.
Das ist schön von dir; aber tue mir nun auch den
Gefallen und sage: Glaubst du, ein Gemeinwesen oder
ein Heer, oder Räuber oder Diebe, oder sonst eine
Menschenschar, die gemeinsam ungerechterweise auf
etwas ausgeht, könne etwas ausrichten, wenn sie einander
Unrecht tun?
Natürlich nicht, erwiderte er.
Wenn sie aber nicht Unrecht tun, geht es nicht
eher?
Allerdings.
Darum wohl, Thrasymachos, weil die Ungerechtigkeit
Zwiespalt und Haß und gegenseitigen Kampf verursacht,
die Gerechtigkeit aber Eintracht und Freundschaft.
Ist’s nicht so?
Meinethalben, sagte er, damit ich nicht Händel mit
dir bekomme.
Schön von dir, mein Bester. Nun sage mir dies:
Wenn also dies dasWerk der Ungerechtigkeit ist,
Haß zu erregen, wo sie immer ist, wird sie nicht auch,
wenn sie unter Freien und Knechten einkehrt, unter
diesen gegenseitigen Haß und Zwietracht entflammen
und sie unfähig machen, gemeinsam mit einander zu
Platon: Der Staat 59
handeln?
Allerdings.
Und wie? Wenn sie in zweien sich befindet, – werden
sie nicht in Zwist geraten, einander hassen und
Feinde werden sowohl gegen einander als gegen die
Gerechten?
Das werden sie, antwortete er.
Wenn nun aber, mein Vortrefflichster, die Ungerechtigkeit
einem Einzigen einwohnt, – wird sie dann
ihre Wirkung verlieren oder um nichts gemindert sie
behalten?
Sie mag sie ungemindert behalten, versetzte er.
So hat also offenbar die Ungerechtigkeit dieWirkung,
daß sie jeden, dem sie einwohnt, mag es nun
ein Staat sein oder ein Geschlecht oder ein Heer oder
was sonst immer, für’s erste unfähig macht, mit sich
selbst zu handeln infolge von Zwietracht und Uneinigkeit,
und überdies mit sich selbst und jedem Gegner
und dem Gerechten verfeindet? Ist’s nicht so?
Allerdings.
Auch wenn sie einem Einzigen einwohnt, wird sie,
denke ich, das alles schaffen, was sie ihrer Natur nach
bewirkt: für’s erste wird sie ihn unmächtig machen,
weil er mit sich in Zwiespalt und uneinig ist, sodann
sich selbst und den Gerechten verhaßt. Nicht wahr?
Ja.
Gerecht sind aber, mein Lieber, auch die Götter?
Platon: Der Staat 60
Meinetwegen, sagte er.
Also auch den Göttern verhaßt, Thrasymachos,
wird der Ungerechte sein, der Gerechte aber ihnen befreundet.
Fahre getrost fort und laß dir’s schmecken, sagte er:
ich werde nicht gegen dich auftreten, um nicht diese
da zu Feinden zu bekommen.
Nun so komm, sagte ich, trage vollends auch den
Rest der Bewirtung auf, indem du antwortest wie bisher!
Denn daß die Gerechten offenbar weiser und besser
und zum Handeln fähiger sind, die Ungerechten
aber unfähig etwas miteinander auszurichten – und
wenn wir auch je einmal von Ungerechten sagen, sie
haben etwas gemeinschaftlich mit einander kräftig
ausgeführt, so ist das nicht vollständig richtig ausgedrückt;
denn wenn sie ganz und gar ungerecht wären,
so hätten sie einander nicht verschont, sondern offenbar
wohnte ihnen ein Teil Gerechtigkeit ein, der bewirkte,
daß sie nicht gleichzeitig einander und denjenigen,
wider welche sie auszogen. Unrecht zufügten,
durch den sie ausgeführt haben, was sie ausführten,
daß sie durch die Ungerechtigkeit nur halb verdorben
auf das Ungerechte ausgegangen sind, da die ganz
Schlechten auch vollkommen ungerecht sind und zum
Handeln unfähig, – daß das sich so verhält, nicht aber
so, wie du es anfangs aufstelltest, begreife ich. Ob
nun aber auch die Gerechten besser leben als die
Platon: Der Staat 61
Ungerechten und glücklicher sind, was wir später zu
untersuchen uns vorgenommen haben, müssen wir
jetzt untersuchen. Zwar erhellt es, wie mir dünkt, auch
diesmal aus dem Gesagten; dennoch müssen wir es
noch besser untersuchen. Denn nicht von etwas
Gleichgültigem ist die Rede, sondern davon, wie man
leben müsse.
So untersuche es denn, sprach er.
Sogleich, erwiderte ich; so sage mir denn: Glaubst
du, daß es ein Geschäft des Pferdes gibt?
Ja.
Nimmst du das als Geschäft eines Pferdes oder irgend
eines anderen an, was man entweder ausschließlich
oder doch am besten mit jenem verrichtet?
Ich verstehe dich nicht, sagte er.
Oder so: Siehst du mit etwas anderem als mit den
Augen?
Natürlich nein.
Und hörst du mit etwas anderem als mit den
Ohren?
Keineswegs.
So werden wir also mit Recht sagen, daß dies dieser
Geschäft sei?
Allerdings.
Und wie? Könntest du nicht auch mit einem
Schwerte und einem Federmesser und vielem anderen
einen Zweig von einerWeinrebe abschneiden?
Platon: Der Staat 62
Wie sollte ich nicht?
Aber mit nichts, denke ich, so gut wie mit einer
hierzu gearbeiteten Hippe?
Richtig.
Werden wir also nicht dies als ihr Geschäft bezeichnen?
Das werden wir freilich.
Jetzt, denke ich, wirst du besser verstehen, was ich
eben meinte, als ich fragte: ob nicht das eines jeden
Dinges Geschäft sei, was es entweder allein oder besser
als alle andern verrichtet?
O ja, antwortete er, ich verstehe es, und ich glaube,
daß dies jedes Dinges Geschäft ist.
Schön, sagte ich. Glaubst du nun auch, daß jedes
Ding, dem ein Geschäft zugewiesen ist, auch eine Tugend
habe? Halten wir uns wieder an dieselben Beispiele:
Die Augen, sagen wir, haben ein Geschäft?
Ja.
Haben nun die Augen auch eine Tugend?
Auch dies.
Und die Ohren – hatten sie ein Geschäft?
Ja.
Also auch eine Tugend?
Auch dies.
Und ist’s mit allem anderen nicht ebenso?
O ja.
Gib acht: Können die Augen je ihr Geschäft gut
Platon: Der Staat 63
verrichten, wenn sie nicht ihre eigentümliche Tugend
haben, sondern statt der Tugend Schlechtigkeit?
Wie wäre das möglich? erwiderte er: denn du
meinst wohl Blindheit anstatt des Sehens.
Was immer, sagte ich, ihre Tugend ist; denn danach
frage ich noch nicht, sondern danach, ob das
Verrichtende mit seiner eigentümlichen Tugend sein
Geschäft gut verrichten wird, mit Schlechtigkeit aber
schlecht?
Damit hast du recht, versetzte er.
So werden also auch die Ohren, wenn sie ihrer Tugend
beraubt werden, ihr Geschäft schlecht verrichten?
Allerdings.
Nehmen wir dasselbe nun auch von allem andern
an?
Ich denke.
So komm und erwäge nach diesem folgendes: Gibt
es ein Geschäft der Seele, welches du schlechterdings
mit nichts anderem in der Welt verrichten kannst?
Zum Beispiel folgendes: Das Sorgen und Regieren
und Beraten und alles Derartige – können wir es mit
Recht etwas anderem als der Seele zuteilen und behaupten,
daß es jenem eigen sei?
Nein, nichts anderem.
Und wie ist’s mit dem Leben – werden wir es als
Geschäft der Seele bezeichnen?
Platon: Der Staat 64
Ganz wohl, erwiderte er.
Also behaupten wir, daß es auch eine Tugend der
Seele gebe?
Jawohl.
Wird nun, Thrasymachos, die Seele ihre Geschäfte
gut verrichten, wenn sie ihrer eigentümlichen Tugend
beraubt ist, oder ist das unmöglich?
Es ist unmöglich.
Es muß also notwendig eine schlechte Seele
schlecht regieren und sorgen, die gute aber in allen
diesen Beziehungen gut verfahren.
Notwendig.
Nun haben wir aber zugegeben, daß Gerechtigkeit
Tugend der Seele sei und Ungerechtigkeit ihre
Schlechtigkeit?
Allerdings haben wir’s zugegeben.
Die gerechte Seele und der gerechte Mensch wird
also gut leben, und der ungerechte schlecht.
Es folgt dies offenbar aus deinenWorten, versetzte
er.
Nun ist aber doch derjenige, welcher gut lebt, selig
und glücklich, und wer nicht – das Gegenteil?
Wie wäre es anders möglich?
Der Gerechte ist also glücklich, der Ungerechte unglücklich.
Meinethalben, sagte er.
Unglücklichsein ist nun aber doch nicht vorteilhaft,
wohl aber das Glücklichsein.
Platon: Der Staat 65
Wie wäre es anders möglich?
Nimmermehr also, mein bester Thrasymachos, ist
die Ungerechtigkeit nützlicher als die Gerechtigkeit.
Das soll denn also, Sokrates, dein Festschmaus
zum Bendistage sein, sagte er.
Den hab’ ich dir zu danken, Thrasymachos, versetzte
ich, weil du freundlich gegen mich geworden bist
und das Schmollen aufgegeben hast. Doch habe ich
nicht ordentlich geschmaust, durch meine eigene,
nicht durch deine Schuld; sondern wie Naschsüchtige
rasch nach jedem Gerichte, das aufgetragen wird,
greifen und davon kosten, ehe sie noch das vorhergehende
gehörig genossen haben, so komme auch ich
mir vor, indem ich, noch ehe wir das zuerst Betrachtete
gefunden hatten, was nämlich das Gerechte sei, dies
fahren gelassen und mich darauf gestürzt habe, zu untersuchen,
ob dasselbe Schlechtigkeit ist und Unverstand,
oder Weisheit und Tugend, und dann, als später
die Behauptung dazwischenkam, daß die Ungerechtigkeit
vorteilhafter sei als die Gerechtigkeit, mich
nicht enthalten konnte, von jenem weg auf dieses
überzugehen, so daß jetzt für mich das Ergebnis aus
dem Gespräche ist, daß ich gar nichts weiß. Denn da
ich ja nicht weiß, was das Gerechte ist, so kann ich
unmöglich wissen, ob es eine Tugend ist oder nicht,
und ob der, der es hat, unglücklich ist oder glücklich.
Platon: Der Staat 66
Zweites Buch
Wie ich das gesagt, glaubte ich, mit dem Reden
fertig zu sein; es war aber vielmehr, wie es schien,
erst der Anfang. Denn Glaukon, der allezeit bei jedem
Anlasse höchst tapfer ist, nahm auch jetzt Thrasymachos’
Zurücktreten nicht an, sondern sagte: Sokrates,
willst du uns überzeugt zu haben scheinen oder wirklich
überzeugen, daß es unbedingt besser ist, gerecht
zu sein als ungerecht?
Wirklich davon zu überzeugen zöge ich vor, wenn
es in meiner Kraft stände, antwortete ich.
Dann tust du nicht, versetzte er, was du willst.
Denn sage mir: Glaubst du, daß es ein Gutes gibt, das
wir zu haben wünschen nicht aus Verlangen nach dem
daraus sich Ergebenden, sondern weil wir es selbst
um seiner selbst willen lieb haben? Wie z.B. das
Frohsein und die Genüsse, die unschädlich sind, und
aus denen für die Folgezeit nichts erwächst, als daß
man froh ist, wenn man sie hat.
Ich glaube, erwiderte ich, daß es derartiges gibt.
Und wie? Was wir sowohl selbst und um seiner
selbst willen lieben als auch wegen des aus ihm Hervorgehenden?
Dergleichen hinwiederum das Verständigsein
und das Sehen und das Gesundsein ist; denn
das derartige haben wir ja wohl aus beiden Gründen
Platon: Der Staat 67
lieb.
Ja, sagte ich.
Siehst du auch noch eine dritte Art von Gutem,
worunter das Turnen gehört und das Arzneinehmen in
Krankheiten und das Arzneiverordnen und womit man
sonst noch Geld verdient? Denn von diesem werden
wir sagen, daß es zwar lästig ist, aber nützlich für
uns, und es selbst um seiner selbst willen würden wir
wohl nicht zu haben wünschen, wohl aber um des
Lohnes willen und wegen alles anderen, was daraus
entsteht.
Es gibt auch dieses Dritte, sagte ich; aber was nun
weiter? Unter welches von diesen, fragte er, rechnest
du die Gerechtigkeit?
Ich denke, antwortete ich, zum Besten, zu dem, was
sowohl um seiner selbst willen als wegen des daraus
sich Ergebenden liebhaben muß, wer glücklich werden
will.
So scheint es aber nicht der Menge, versetzte er,
sondern daß sie zu der lästigen Art gehöre, die man
wegen des Lohnes und des guten Namens der öffentlichen
Meinung zuliebe treiben, an sich selbst aber als
beschwerlich fliehen müsse.
Ich weiß, antwortete ich, daß man sie so ansieht,
und längst wird sie von Thrasymachos als solche getadelt
[, die Ungerechtigkeit aber gelobt]; aber ich
bin, wie es scheint, hartköpfig.
Platon: Der Staat 68
Nun denn, so höre auch mich, versetzte er, falls du
damit einverstanden bist. Denn Thrasymachos hat
sich meines Bedünkens früher als er sollte von deiner
Zauberkraft wie eine Schlange einschläfern lassen;
mir aber ist der Nachweis in bezug auf beides noch
nicht nach meinem Sinne erfolgt: denn ich wünsche
zu hören, was beides (Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit)
ist und welcheWirkung es an und für sich hat,
wenn es in der Seele ist; die Belohnungen aber und
was aus beiden hervorgeht, die will ich beiseite lassen.
Ich will es nun folgendermaßen machen, falls du
damit einverstanden bist: Ich will den Faden des Gesprächs
von Thrasymachos aufnehmen und zuerst
sagen, was man als dasWesen und den Ursprung der
Gerechtigkeit bezeichnet; zweitens, daß alle, welche
sie treiben, ungern sie treiben, als etwas Notwendiges,
nicht aber als etwas Gutes; drittens, daß sie recht
daran tun, weil ja, wie sie sagen, das Leben des Ungerechten
viel besser ist als das des Gerechten. Mir freilich,
Sokrates, kommt es nicht so vor; indessen weiß
ich mir nicht zu helfen, weil Thrasymachos und tausend
andere mir die Ohren vollgeschwatzt haben; dagegen
die Ausführung für die Gerechtigkeit, wie sie
besser sei als die Ungerechtigkeit, habe ich noch von
niemand vernommen, wie ich möchte; ich möchte es
aber an und für sich selbst gepriesen hören, und von
dir glaube ich am ehesten Auskunft zu erhalten. Ich
Platon: Der Staat 69
will denn also in ausgedehnter Darstellung das ungerechte
Leben loben und dann dir zeigen, auf welche
Weise ich von dir die Ungerechtigkeit getadelt und
die Gerechtigkeit gelobt hören möchte. Aber sieh zu,
ob dir mein Vorschlag recht ist!
Ganz und gar, erwiderte ich; denn über was anderes
könnte ein Verständiger mit größerem Vergnügen
oft sprechen und hören?
Sehr schön, versetzte er; so höre denn, was ich zuerst
darüber ausführen zu wollen erklärte, was und
welcher Art und woraus entstanden die Gerechtigkeit
ist.
SeinemWesen nach, sagt man, sei das Unrechttun
etwas Gutes, das Unrechtleiden ein Übel; dabei aber
sei das Unrechtleiden ein größeres Übel als das Unrechttun
ein Gut: wenn sie daher einander Unrecht tun
und von einander Unrecht leiden und von beidem zu
kosten bekommen, so finden es diejenigen, die nicht
imstande sind, dem einen zu entfliehen und das andere
zu wählen, vorteilhafter, sich mit einander dahin zu
vertragen, daß man weder Unrecht tue noch leide; und
infolgedessen hätten sie begonnen, sich Gesetze zu
machen und Verträge unter einander zu schließen, und
hätten das vom Gesetze Gebotene das Gesetzliche
und Gerechte genannt. Und das sei denn die Entstehung
und dasWesen der Gerechtigkeit, die die Mitte
halte zwischen dem größten Gute, dem straflosen
Platon: Der Staat 70
Unrechttun, und dem größten Übel, der Unfähigkeit,
erlittenes Unrecht zu rächen: das Gerechte aber, als
das zwischen diesen beiden in der Mitte Stehende,
habe man lieb nicht als etwas Gutes, sondern man
ehre es, weil man zum Unrechttun zu schwach sei.
Denn wer Unrecht zu tun vermöge und ein rechter
Mann sei, der werde nie mit jemand sich dahin vertragen,
weder Unrecht zu tun noch sich antun zu lassen:
er müßte sonst ein Narr sein. Dies und von dieser Art
wäre nun also, Sokrates, dasWesen der Gerechtigkeit,
und dies das, woraus sie entsteht, nach der gewöhnlichen
Auffassung.
Daß aber auch die, welche sie üben, nur aus Unfähigkeit,
Unrecht zu tun, gegen ihre Neigung sie üben,
werden wir am ehesten wahrnehmen, wenn wir es mit
unserer Erwägung so machen:Wir wollen beiden,
dem Gerechten und dem Ungerechten, Freiheit geben
zu tun, was sie nur wollen, und dann nachgehen und
zusehen, wohin seine Neigung jeden von beiden treiben
wird. Da werden wir denn den Gerechten ertappen,
wie er mit dem Ungerechten zusammengeht aus
Sucht mehr zu bekommen, was jede Natur an sich als
etwas Gutes verfolgt, und wovon sie erst durch Gesetz
und Nötigung zur Achtung der Gleichheit herübergebracht
wird. Die Freiheit, die ich meine, wäre
ungefähr in der Art, daß ihnen eine Kraft würde, wie
sie einst [Gyges,] der Ahnherr des Lydiers besessen
Platon: Der Staat 71
haben soll. Er sei nämlich ein Hirte im Dienste des
damaligen Herrschers von Lydien gewesen, und infolge
starken Regens und eines Erdbebens sei ein Riß in
der Erde entstanden und eine Öffnung an dem Orte,
wo er weidete.Wie er das sah, habe er sich gewundert
und sei hinabgestiegen und habe da, unter anderem
Wunderbaren, von dem die Sage erzählt, auch ein
hohles ehernes Pferd erblickt, mit Türen, zu denen er
hineingeguckt und innen einen Leichnam, wie es
schien, von mehr als menschlicher Größe gewahrt
habe. Dieser habe sonst nichts gehabt als an der Hand
einen goldenen Ring, den er sich an den Finger gesteckt
habe, und dann sei er herausgestiegen. Bei der
gewöhnlichen Zusammenkunft der Hirten, um dem
Könige den Monatsbericht über die Herden zu erstatten,
habe darauf auch er sich eingefunden, mit dem
Ring am Finger.Wie er so unter den übrigen saß,
habe er zufällig den Ringkasten gegen sich, dem Innern
der Hand zu, gedreht; infolgedessen sei er seinen
Nebensitzern unsichtbar geworden, und sie haben von
ihm als einem Abwesenden gesprochen. Er habe sich
gewundert, wieder den Ring angefaßt und dessen Kasten
nach außen gedreht, und darauf sei er sichtbar geworden.
Als er dies bemerkt, habe er mit dem Ringe
den Versuch gemacht, ob er diese Kraft besitze: und
wirklich sei es ihm immer so gegangen, daß, wenn er
den Kasten nach innen gedreht, er unsichtbar
Platon: Der Staat 72
geworden sei, und sichtbar, wenn er ihn nach außen
gedreht. Nach dieser Entdeckung habe er sogleich es
dahin zu bringen gewußt, daß er einer der an den
König Abgesendeten wurde. Da habe er denn dessen
Weib zum Ehebruch verführt, habe in Gemeinschaft
mit ihr dem Könige nachgestellt, ihn ermordet und
sich der Herrschaft bemächtigt. Wenn es nun zwei
solcher Ringe gäbe und den einen der Gerechte sich
ansteckte, den andern der Ungerechte, so wäre, wie
mir scheint, wohl keiner von so eherner Festigkeit,
daß er bei der Gerechtigkeit bliebe und es über sich
gewänne, fremden Gutes sich zu enthalten und es
nicht zu berühren, trotzdem daß er ohne Scheu sogar
vorn Markte weg nehmen dürfte, was er wollte, und in
die Häuser hineingehen und beiwohnen, wem er wollte,
und morden und aus dem Gefängnis befreien, wen
er wollte, und überhaupt handeln wie ein Gott unter
den Menschen.Wenn er aber so handelte, so würde er
nicht verschieden von dem andern verfahren, sondern
beide gingen denselbenWeg. Und doch wird man
dies als ein sicheres Zeichen betrachten, daß niemand
freiwillig gerecht ist, sondern infolge von Nötigung,
weil es für den Einzelnen nichts Gutes ist; denn
glaubt sich jeder imstande. Unrecht zu tun, so tut er’s.
Jedermann meint nämlich, daß die Ungerechtigkeit für
den Einzelnen weit vorteilhafter sei als die Gerechtigkeit,
und diese Meinung ist richtig, wie derjenige
Platon: Der Staat 73
behauptet, der über einen solchen Gegenstand sich
ausspricht. Denn wenn jemand im Besitze solcher
Freiheit nie Unrecht tun wollte und fremdes Gut nicht
berühren würde, so würde er allen, die es bemerkten,
höchst unglücklich und unverständig erscheinen; einander
gegenüber aber würden sie ihn loben, indem sie
einander täuschten, aus Furcht, Unrecht zu erleiden.
Damit verhält es sich nun also.
Sodann das Urteil selbst über das Leben derjenigen,
von denen wir reden, werden wir nur dann imstande
sein richtig zu fällen, wofern wir den Gerechtesten
und den Ungerechtesten einander gegenüberstellen,
sonst nicht.Wie stellen wir sie nun einander gegenüber?
Folgendermaßen: Nehmen wir weder dem
Ungerechten etwas von seiner Ungerechtigkeit noch
dem Gerechten etwas von seiner Gerechtigkeit, setzen
wir vielmehr beide als vollendet in ihrem Treiben.
Fürs erste nun der Ungerechte handle wie die großen
Meister: wie z.B. ein ausgezeichneter Steuermann
oder Arzt das in seiner Kunst Mögliche und das Unmögliche
zu unterscheiden weiß und jenes unternimmt,
dieses unterläßt und überdies, wenn er je einmal
einen Mißgriff gemacht hat, imstande ist, ihn zu
verbessern,- ebenso muß der Ungerechte, wenn er
ganz ungerecht sein soll, seine ungerechten Handlungen
so geschickt angreifen, daß man sie nicht bemerkt;
einen, der sich ertappen läßt, muß man für
Platon: Der Staat 74
einen schlechten halten; denn die äußerste Ungerechtigkeit
ist: gerecht zu scheinen, während man es nicht
ist. Man muß nun dem vollendeten Ungerechten die
vollendetste Ungerechtigkeit zuteilen und nichts
davon nehmen, sondern zugeben, daß er, während er
die größten Ungerechtigkeiten begeht, sich den größten
Ruf hinsichtlich der Gerechtigkeit erworben hat,
und falls er je einen Mißgriff begeht, ihn zu verbessern
imstande ist, indem er überzeugend zu sprechen
vermag, wenn etwas von seinen Ungerechtigkeiten zur
Anzeige kommt, und Gewalt anzuwenden, wo immer
Gewalt erforderlich ist, durchMut und Stärke und den
Besitz von Freunden undMitteln. Nachdem wir diesen
in solcher Art aufgestellt haben, wollen wir den
Gerechten in der Erörterung neben ihn stellen, einen
geraden und edlen Mann, der, wie Aischylos sagt,
nicht gut scheinen, sondern sein will. Das Scheinen
also muß man wegnehmen. Denn wenn er gerecht
scheint, so werden ihm als einem so Scheinenden
Ehren und Geschenke zufallen, und es ist dann ungewiß,
ob er wegen des Gerechten oder um der Ehren
und Geschenke willen so ist. Man muß ihn also alles
andern außer der Gerechtigkeit entkleiden und seine
Lage als der des Vorigen entgegengesetzt darstellen:
während er nämlich keine Ungerechtigkeit begeht,
soll er den größten Schein der Ungerechtigkeit haben,
damit er hinsichtlich der Gerechtigkeit geprüft sei, ob
Platon: Der Staat 75
er sich nicht erweichen lasse von der Verleumdung
und deren Folgen; und er bleibe unwandelbar bis zu
seinem Tode, sein Leben lang ungerecht erscheinend,
inWirklichkeit aber gerecht, damit beide, wenn sie
die äußerste Grenze erreicht haben, der eine in der
Gerechtigkeit, der andere in der Ungerechtigkeit, beurteilt
werden, wer von beiden der glücklichere sei.
Ei, ei, sagte ich, mein lieber Glaukon, du säuberst
ja die beiden Leute für die Beurteilung so gründlich
wie Bildsäulen!
So sehr ich nur kann, versetzte er. Sind beide so
beschaffen, so ist es, glaube ich, nicht mehr schwer,
darzulegen, was für ein Leben beider wartet. Also
heraus damit; und falls es etwas plump ausfällt, so
glaube, Sokrates, daß nicht ich rede, sondern die, die
die Ungerechtigkeit mehr preisen als die Gerechtigkeit.
Sie werden denn sagen, daß der Gerechte unter
diesen Umständen gegeißelt, gefoltert, gebunden werden
wird, daß ihm die Augen ausgebrannt werden,
und daß er zuletzt nach allen Mißhandlungen gekreuzigt
werden und einsehen wird, daß nun gerecht nicht
sein, sondern scheinen muß. DasWort des Aischylos
würde also viel richtiger auf den Ungerechten angewendet.
Denn inWahrheit werden sie sagen, daß der
Ungerechte, sofern er etwas treibt, das mit der Wahrheit
zusammenhängt, und nicht nach dem Scheine
lebt, nicht ungerecht erscheinen wolle, sondern sein,
Platon: Der Staat 76
Und eine tiefe Furche zieht er durch den Geist,
Aus der hervorsproßt wohlbedachter Rat,
zuerst zu regieren im Staat, weil er als gerecht erscheint,
dann zu heiraten, aus welchem Hause er will,
und zu verheiraten, an wen er will, sich anzuschließen
und zu verbinden, mit wem er Lust hat, und über das
alles Vorteil und Gewinn zu haben, weil er sich das
Unrechttun nicht verdrießen läßt. Infolgedessen wird
er in Kämpfen, persönlichen und öffentlichen, über
die Feinde siegen und die Oberhand gewinnen, infolge
davon reich werden, seinen Freunden wohltun und
seinen Feinden schaden können und den Göttern
Opfer undWeihgeschenke in großer Zahl und aufglänzendeWeise
darbringen und viel besser als der
Gerechte den Göttern und denjenigen Menschen,
denen er will, dienen, so daß er natürlich auch auf die
Liebe der Götter einen größeren Anspruch hat als der
Gerechte. So sagen sie, Sokrates, daß von Göttern
und Menschen dem Ungerechten das Leben angenehmer
gemacht werde als dem Gerechten.
Nachdem Glaukon dies gesprochen, hatte ich im
Sinne etwas darauf zu erwidern; sein Bruder Adeimantos
aber sagte: Du glaubst doch wohl nicht, Sokrates,
daß über den Gegenstand schon hinreichend
gesprochen sei?
Nun, warum denn nicht? fragte ich.
Platon: Der Staat 77
Gerade das, versetzte er, ist nicht gesagt, was am
ehesten hätte gesagt werden sollen.
Nun, wie es im Sprichwort heißt: Jedem stehe ein
Bruder zur Seite, so hilf auch du aus, wenn hier noch
etwas mangelt! Wiewohl schon das von diesem Gesagte
ausreicht, mich niederzuringen und außerstand
zu setzen, der Gerechtigkeit zu Hilfe zu kommen.
Nichts da, erwiderte er; du muß auch folgendes
noch hören; wir müssen nämlich auch die Darstellungen
durchgehen, welche den von diesem gegebenen
entgegengesetzt sind, die die Gerechtigkeit loben und
die Ungerechtigkeit tadeln, damit deutlicher werde,
was Glaukon zu wollen scheint. Es sprechen nämlich
die Väter zu ihren Kindern, und wer sonst für jemand
besorgt ist, und ermahnen sie, man müsse gerecht
sein, indem sie nicht die Gerechtigkeit an sich selbst
preisen, sondern den guten Namen, den sie schafft,
damit einem, wenn man für gerecht gelte, infolge dieses
Rufes Ehrenstellen zuteil werden und Frauen und
alles das, was Glaukon eben aufgezählt hat als Folgen
des guten Namens bei dem Ungerechten. Noch weiter
aber gehen jene in dem, was sie über den Rufsagen;
denn sie kommen mit dem Beifall der Götter daher
und wissen da unendlich viel Gutes zu nennen, das
nach ihrer Angabe die Götter den Frommen verleihen,
wie der gute Hesiod und Homer sagen: jener, die Götter
machen, daß die Eichen für die Gerechten
Platon: Der Staat 78
Eicheln zu eierst tragen und mitten Schwärme von
Bienen,
Und mit zottigem Vlies (sagt er) sind schwer
umhangen die Schafe,
und vieles andere Gute, das damit zusammenhängt.
Ähnlich auch der andere; denn er sagt:
…Wie ein untadliger König, welcher in Furcht vor
den Göttern
Recht und Gerechtigkeit schützt; ihm trägt denn die
dunkele Erde
Weizen und Gerste, mit Früchten beschwert
dastehen die Bäume,
Stets fort mehrt sich die Herde, das Meer reicht
Fische die Menge.
Noch lustiger spendet Musaios und sein Sohn den
Gerechten das Gute von den Göttern: sie führen sie
nämlich in ihrer Schilderung in die Unterwelt, lassen
sie da sich lagern, veranstalten ein Gastmahl der
Frommen und lassen sie da die ganze Zeit bekränzt
mit Zechen verbringen, indem sie als den schönsten
Lohn der Tugend ewige Trunkenheit betrachten. Andere
dehnen die Belohnung durch die Götter noch
weiter aus als jene: denn Kindeskinder, sagen sie, und
ein Geschlecht bleibe hinfort von dem Frommen und
Platon: Der Staat 79
seinen Eiden Getreuen. Mit diesem und ähnlichem
also lobpreisen sie die Gerechtigkeit. Die Gottlosen
aber und Ungerechten vergraben sie in einen
Schlamm in der Unterwelt und zwingen sie, in Sieben
Wasser zu tragen; und noch im Leben bringen sie sie
in schlechten Ruf, und was Glaukon von den Gerechten,
aber ungerecht Scheinenden, als ihre Strafen aufgezählt
hat, das sagen sie von den Ungerechten aus;
anderes wissen sie nicht. Das wäre denn also das Lob
und der Tadel beider Teile. Außerdem betrachte, Sokrates,
auch noch eine andere Art von Aussagen über
die Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, die man von
Laien wie von Dichtern hören kann!Wie aus einem
Munde singen alle, daß die Mäßigung und Gerechtigkeit
zwar etwas Schönes sei, aber auch etwas Schweres
und Mühseliges; die Zügellosigkeit aber und Ungerechtigkeit
sei angenehm und leicht zu erlangen und
nur der Meinung und dem Gesetze nach etwas
Schimpfliches. Auch vorteilhafter, sagen sie meist, sei
das Ungerechte denn das Gerechte, und sie sind gleich
bei der Hand, die Schlechten, welche reich sind und
sonstige Macht besitzen, glücklich zu preisen und zu
ehren, öffentlich und persönlich, die andern aber,
wenn sie schwach und arm sind, zu beschimpfen und
zu mißachten, obwohl sie zugeben, daß diese besser
sind als jene. Unter diesem allen aber ist das Abenteuerlichste,
was man über die Götter und die Tugend
Platon: Der Staat 80
sagen hört, daß nämlich auch die Götter schon vielen
Guten Unglück und ein schlechtes Leben zugeteilt
haben, und den Entgegengesetzten ein entgegengesetztes
Los. Und Bettelpriester undWahrsager ziehen
vor den Häusern Reicher herum und machen sie glauben,
daß sie im Besitze einer Kraft seien, die von den
Göttern durch Opfer und Zaubersprüche erlangt
werde, wenn etwa er oder seine Vorfahren ein Unrecht
begangen haben, dies gutzumachen unter Lustbarkeiten
und Festen; und falls er einem Feinde etwas antun
wolle, könne er mit wenig Kosten gleich gut einem
Gerechten wie einem Ungerechten schaden, indem sie
mit gewissen Zaubermitteln und Bannsprüchen die
Götter, wie sie sagen, bewegen, ihnen dienstbar zu
sein. Für alle diese Reden führen sie als Zeugen Dichter
an, indem die einen in betreff der Bequemlichkeit
des Schlechtseins anführen:
Hin zum Laster vermag man sogar scharweise zu
kommen,
Leichtlich, der Weg ist glatt und wohnt gar sehr in
der Nähe;
Doch vor die Tugend hin ist Schweiß um den
Göttern gestellet,
und ein weiter und steiler Weg. Die andern berufen
sich dafür, daß die Götter sich von den Menschen
Platon: Der Staat 81
bestimmen lassen, auf Homer, weil auch dieser gesagt
hat:
Selbst Götter sind zu erflehen;
Diese vermag durch Opfer und demutsvolle Gebete,
Durch Fettdampf und Spenden der Sterbliche
günstig zu stimmen,
Welcher sie bittet, nachdem er gesündiget oder
gefrevelt.
Und einen ganzen Haufen Bücher bringen sie daher
von Musaios und Orpheus, den Nachkommen der Selene
und der Musen, wie es heißt, nach denen sie Opferhandlungen
verrichten, indem sie nicht nur Einzelne,
sondern auch ganze Staaten glauben machen,
daß es Befreiungen und Reinigungen von Ungerechtigkeiten
gebe mittelst Opfer und der Spielerei von
Lustbarkeiten sowohl für noch Lebende als auch für
Gestorbene, die sie dennWeihen nennen, die uns von
den Übeln des Jenseits befreien; wer aber nicht opfert,
dessen wartet Schreckliches.
Dies alles, mein lieber Sokrates, was in solcher
Weise und so vielfach gesagt wird in betreff der Tugend
und des Lasters, wie die Menschen und Götter
sich dazu verhalten hinsichtlich der Achtung, – wie
glauben wir, daß es die Seele von Jünglingen stimme,
die es hören und von Natur gut beanlagt sind und
Platon: Der Staat 82
fähig, auf alles Gesprochene gleichsam loszufliegen
und sich daraus herauszulesen, wie man beschaffen
sein und welchenWeg man gehen müsse, um am besten
durchs Leben zu kommen? Wahrscheinlich wird
ein solcher zu sich mit Pindars bekanntenWorten
sagen: »Soll ich
Auf den Pfad des Rechts, grad die Burg hinan,
Oder mit schleichendem Trug mich hinaufziehn
und so mich umschanzend durchs Leben gehen?
Denn wie ich gehört habe, heißt es, wenn ich gerecht
sei, habe ich davon keinen Nutzen, falls ich es nicht
auch scheine, wohl aber Beschwerden und offenbare
Nachteile; dem Ungerechten aber, der sich den Schein
der Gerechtigkeit zu verschaffen weiß, wird ein gottvolles
Leben zugeschrieben.Wenn also der Schein,
wie mich dieWeisen lehren, dieWahrheit auch zu
Boden ringt und über das Glück verfügt, so muß man
denn ganz ihm sich zuwenden: ich muß als Eingang
und Verzierung ein Scheinbild von Tugend rings um
mich herum malen und des hochweisen Archilochos
schlauen und vielgewandten Fuchs hinter mir herziehen.
« – »Aber, aber«, wird jemand sagen, »es ist nicht
leicht, immer mit seiner Schlechtigkeit unentdeckt zu
bleiben.« Es ist eben überhaupt nichts Großes leicht,
werden wir erwidern; trotzdem müssen wir, wenn wir
Platon: Der Staat 83
glücklich sein wollen, diesenWeg gehen, wie die
Spur der Rede uns leitet. Denn zum Zwecke des Unentdecktbleibens
werden wir Verschwörungen und
Verbrüderungen schließen; auch gibt es Lehrer der
Überredekunst, welche einem die Fertigkeit beibringen,
zum Volke und vor Gericht zu sprechen; und infolgedessen
werden wir das eine durch Überredung,
das andere durch Gewalt zustande bringen, so daß wir
in Vorteil kommen und nicht bestraft werden. »Aber
freilich, den Göttern ist weder möglich verborgen zu
bleiben noch Gewalt anzutun.« Nun, – wenn es keine
gibt oder sie sich nicht um die menschlichen Dinge
kümmern, so brauchen auch wir uns nicht zu kümmern
um das Verborgenbleiben. Gibt es aber Götter
und nehmen sie sich der Menschen an, so kennen wir
sie und haben von ihnen gehört einzig durch die
Reden und die Dichter, die ihre Abstammung beschrieben
haben. Diese aber sagen selbst, daß man
durch Opfer und durch demütiges Flehen undWeihgeschenke
sie umstimmen und herumbringen könne.
Entweder nun muß man diesen beides glauben – oder
keines von beidem; hat man ihnen zu glauben, so muß
man Unrecht tun und nach den ungerechten Handlungen
Opfer darbringen. Denn sind wir gerecht, so werden
wir von den Göttern nur nicht gestraft werden,
aber auch die aus der Ungerechtigkeit erwachsenden
Vorteile von uns stoßen; sind wir aber ungerecht, so
Platon: Der Staat 84
werden wir Vorteil haben und, wenn wir Übertretungen
und Fehler begehen, durch Flehen sie bewegen
und ungestraft davonkommen. »Aber freilich in der
Unterwelt werden wir bestraft werden für die hier begangenen
Ungerechtigkeiten, entweder wir selbst oder
unsere Kindeskinder.« Indessen, mein Lieber, wird er
sich besinnend sagen, da vermögen hinwiederum die
Weihen viel und die lösenden Götter, wie die größten
Staaten sagen und die als Göttersöhne geborenen
Dichter und Verkündiger der Götter, die angeben, daß
dies sich so verhalte.
Welche Gründe also hätten wir noch, um die Gerechtigkeit
der größten Ungerechtigkeit vorzuziehen, –
da wir diese nur mit scheinbarem Anstande verbinden
dürfen, um bei Göttern und Menschen im Leben und
nach dem Tode wohl zu fahren, wie die von den Meisten
und Höchsten gesprochene Rede lautet? Nach
allem Gesagten, wie ist es möglich, Sokrates, daß jemand
Lust hätte, die Gerechtigkeit zu ehren, der irgend
eine Stärke hat der Seele oder des Vermögens,
des Leibes oder des Geschlechtes, und nicht vielmehr
lachte, wenn er sie loben hört? Denn gewiß, wenn
auch jemand imstande ist, das Gesagte als unrichtig
zu erweisen, und vollständig sich überzeugt hat, daß
die Gerechtigkeit das Beste sei, so wird er wohl große
Nachsicht haben und den Ungerechten nicht zürnen;
sondern er weiß, daß – mit Ausnahme derer, die
Platon: Der Staat 85
vermöge einer ihrer göttlichen Natur eingepflanzten
Abneigung gegen das Unrechttun oder infolge gewonnener
Wissenschaft sich dessen enthalten – von den
andern kein Einziger aus freien Stücken gerecht ist,
sondern nur infolge von Unmännlichkeit oder des Alters
oder sonstiger Schwäche das Unrechttun tadelt,
weil er selbst dazu die Kraft nicht hat. Es erhellt dies
daraus: sobald einer von diesen zu Kraft gelangt, tut
er gleich Unrecht, so sehr er vermag. Und an allem
dem ist nichts anderes schuld als das, wovon diese
ganze Rede an dich, Sokrates, bei diesem und bei mir
ausgegangen ist, zu sagen: »Mein Bester, von euch
allen, die ihr Lobredner der Gerechtigkeit zu sein behauptet,
von den Heroen der Urzeit an, soweit von
diesen Kunde erhalten, bis auf die jetzt lebenden
Menschen, hat kein Einziger jemals die Ungerechtigkeit
getadelt oder die Gerechtigkeit gepriesen von
einer andern Seite, als sofern Ruf und Ehren und Geschenke
von ihnen abhängen; beides an sich aber,
nach seiner eigentümlichen Kraft, wie es in der Seele
dessen ist, der es hat und dem Blicke der Götter und
Menschen sich entzieht, hat noch nie jemand weder in
einer Dichtung noch in ungebundener Form befriedigend
beschrieben, wie nämlich das eine das größte
aller Übel sei, die die Seele an sich hat, die Gerechtigkeit
aber das größte Gut. Denn hättet ihr alle von Anfang
an so gesprochen und uns von Kindheit auf
Platon: Der Staat 86
davon überzeugt, so würden wir nicht einander bewachen,
daß wir nicht Unrecht tun, sondern jeder wäre
selbst bei sich der besteWächter, aus Furcht, er
möchte, wenn er Unrecht tue, das größte Übel in sich
aufnehmen.«
Dies, Sokrates, und vielleicht noch weiter als dies
könnte Thrasymachos oder sonst jemand über Gerechtigkeit
und Ungerechtigkeit sprechen, auf eine gehässigeWeise,
wie mir scheint, dieWirkung beider verkehrend.
Ich aber habe – ich brauche dir nichts zu verbergen
– aus Begierde, das Gegenteil aus deinem
Munde zu hören, mit möglichster Ausführlichkeit gesprochen.
Zeige uns nun durch deine Rede nicht nur,
daß die Gerechtigkeit besser ist als die Ungerechtigkeit,
sondern auch, wie jede von beiden den, der sie
hat, zurichtet, daß an und für sich selbst die eine
etwas Schlechtes, die andere etwas Gutes ist! Den
Schein aber nimm hinweg, wie Glaukon gewünscht
hat! Denn wofern du nicht auf beiden Seiten den wahren
Schein wegnimmst und den unwahren hinzusetzest,
so werden wir sagen, daß du nicht das Gerechte
lobst, sondern das Scheinen, auch nicht das Ungerechtsein
tadelst, sondern das Scheinen, und daß du
aufforderst, heimlich ungerecht zu sein, und dem
Thrasymachos darin recht gibst, daß das Gerechte das
für einen anderen Gute sei, »das dem Überlegenen
Zuträgliche«, und das Ungerechte das ihm selbst
Platon: Der Staat 87
Zuträgliche und Nützliche, für den Schwächeren aber
Unzuträgliche. Da du nun zugegeben hast, daß die
Gerechtigkeit zu den größten Gütern gehört, die teils
wegen des aus ihnen Fließenden wert sind besessen
zu werden, viel mehr aber um ihrer selbst willen, wie
bekanntlich das Sehen, Hören, Verständigsein und die
Gesundheit und was es sonst für Güter gibt, die vermöge
ihrer eigenen Natur und nicht dem Scheine nach
segensreich sind, – so lobe denn eben das an der Gerechtigkeit,
was sie an sich selbst dem nützt, der sie
hat, und die Ungerechtigkeit schadet; den Lohn und
Schein aber laß andere loben! Denn von andern ließe
ich mir’s gefallen, wenn sie auf dieseWeise die Gerechtigkeit
lobten und die Ungerechtigkeit tadelten,
indem sie nämlich an ihnen den Schein und den Lohn
preisen und schmähen würden, – von dir aber nicht,
wofern du es nicht ausdrücklich haben wolltest, weil
du dein ganzes Leben lang auf nichts anderes gesehen
hast als auf dies. Zeige uns also durch deine Rede
nicht bloß, daß die Gerechtigkeit besser ist als die
Ungerechtigkeit, sondern auch, wie jede von beiden
den, der sie hat, zurichtet, daß an und für sich selbst,
mögen sie vor Göttern und Menschen verborgen bleiben
oder nicht, die eine etwas Gutes, die andere etwas
Schlechtes ist!
Von jeher hatte ich meine Freude gehabt an dem
Wiesen des Glaukon und Adeimantos, und so freute
Platon: Der Staat 88
ich mich denn besonders jetzt, wo ich solches hörte,
herzlich und sagte: Nicht übel hat von euch, ihr
Söhne jenes echten Mannes, der Liebhaber des Glaukon
in dem Anfange seines elegischen Gedichts gesagt,
als ihr euch in der Schlacht bei Megara ausgezeichnet
hattet, indem es dort heißt:
Söhne Aristons, göttliche Sprossen gefeierten
Mannes!
Dies scheint mir, meine Freunde, treffend zu sein;
denn ihr habt wirklich göttlichesWesen bewiesen,
wenn ihr euch nicht überzeugen ließet, daß die Ungerechtigkeit
besser ist als die Gerechtigkeit, während
ihr doch imstande seid, so darüber zu sprechen. Es
scheint mir aber, als hättet ihr inWahrheit euch nicht
überzeugen lassen; ich schließe das aus eurer sonstigen
Alt; denn nach euren Worten für sich würde ich
euch nicht getraut haben. Je mehr ich euch aber traue,
um so größer ist meine Verlegenheit, was ich anfangen
soll: denn einmal weiß ich nicht, wie ich helfen
sollte, da ich mir dazu unfähig scheine, was ich daraus
schließe, daß ihr das, was ich dem Thrasymachos
gegenüber erwiesen zu haben glaubte, daß nämlich
die Gerechtigkeit besser sei als die Ungerechtigkeit,
mir nicht habt gelten lassen. Andererseits weiß ich
auch nicht, wie ich das Helfen sollte unterlassen
Platon: Der Staat 89
können: denn ich fürchte, es wäre sogar eine Sünde,
sich zu entziehen, wenn man Zeuge ist, wie die Gerechtigkeit
verlästert wird, und ihr nicht zu Hilfe zu
kommen, solange man noch atmen und einen Laut
von sich geben kann. So ist es denn das Beste, ihr
beizustehen, so gut ich eben vermag.
Glaukon und die andern baten, auf alleWeise zu
Hilfe zu kommen und das Gespräch nicht fallen zu
lassen, sondern zu erforschen, was beides (Gerechtigkeit
und Ungerechtigkeit) sei, und wie es sich mit dem
Nutzen beider inWahrheit verhalte.
Ich sprach nun meine Ansicht dahin aus: Die Untersuchung,
zu der wir uns anschicken, ist keine geringe,
sondern erfordert ein scharfes Auge, wie mir
scheint. Da wir nun aber, sagte ich, darin nicht stark
sind, so halte ich für passend, eine solche Untersuchung
desselben vorzunehmen, wie es etwa wäre,
wenn jemand einen nicht sehrWeitsichtigen eine kleine
Schrift aus der Ferne lesen heißen würde, und dann
jemand auf den Gedanken käme, daß man dieselbe
Schrift vielleicht anderswo größer und auf Größerem
haben könne: da wäre es wohl, denke ich, offenbar ein
glücklicher Fund, zuerst diese zu lesen und dann erst
bei der kleineren nachzusehen, ob sie etwa dasselbe
ist.
Allerdings, sagte Adeimantos; aber wo siehst du,
Sokrates, etwas Derartiges in der Untersuchung über
Platon: Der Staat 90
das Gerechte?
Ich will es dir sagen, antwortete ich. Gerechtigkeit,
sagen wir, ist vorhanden in dem einzelnen Manne, sie
ist es aber auch in einem ganzen Staat?
Allerdings, versetzte er.
Nun ist aber doch ein Staat größer als ein einzelner
Mann?
Freilich, erwiderte er.
Vielleicht demnach ist mehr Gerechtigkeit in dem
Größeren und hier leichter zu erkennen. Seid ihr also
einverstanden, so wollen wir zuerst an den Staaten
untersuchen, von welcher Art sie ist, und alsdann
auch in dem Einzelnen sie erforschen, indem wir die
Ähnlichkeit mit dem Größeren in der Gestalt des
Kleineren betrachten.
Ja, dein Vorschlag scheint mir ganz schön, sagte
er.
Wenn wir also, fuhr ich fort, einen Staat in seinem
Entstehen betrachten würden, so würden wir wohl
auch seine Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit entstehen
sehen?
Ich denke wohl, versetzte er.
Bei seinem Entstehen dürfen wir wohl hoffen, das,
was wir suchen, leichter zu entdecken?
Um vieles, antwortete er.
Meint ihr also, wir sollen den Versuch machen, es
durchzuführen? Denn ich glaube, daß es keine kleine
Platon: Der Staat 91
Arbeit ist. Besinnt euch denn!
Wir haben uns schon besonnen, erwiderte Adeimantos;
tu uns nur den Gefallen!
Es entsteht denn also, begann ich, ein Staat, wie
mir scheint, wenn jeder von uns nicht sich selbst
genug ist, sondern viele Bedürfnisse hat. Oder was
anderes hältst du für den Anfang, einen Staat zu gründen?
Nichts, erwiderte er.
So nimmt also jeder den einen für dieses, einen anderen
für ein anderes Bedürfnis zu Hilfe: und da der
Bedürfnisse viele sind, so bekommen wir viele Genossen
und Helfer auf einenWohnplatz zusammen,
und dieses Zusammenwohnen nennen wir Staat: nicht
wahr?
Allerdings.
Aber auch gegenseitige Mitteilung, wenn dazu
Stoff vorhanden, und Teilnahme findet statt, indem
der Einzelne dies für sich besser findet.
Allerdings.
Nun denn, sagte ich, wir wollen einen Staat von
vornherein aufbauen. Bauen wird ihn, wie es scheint,
unser Bedürfnis.
Jawohl.
Nun ist aber das erste und größte Bedürfnis die
Herbeischaffung von Nahrung um des Seins und Lebens
willen.
Platon: Der Staat 92
Gewiß.
Das zweite das derWohnung, das dritte das der
Kleidung und dergleichen.
So ist’s.
Wohlan denn, sagte ich, wie wird der Staat so vieles
herbeizuschaffen vermögen? Nicht wahr, der eine
ist ein Landmann, der andere ein Häuserbauer, ein
dritter Weber? Oder wollen wir auch noch einen
Schuhmacher hinzufügen oder irgend einen andern,
der für den Leib sorgt?
Recht so.
So bestände also der notdürftigste Staat aus vier
bis fünf Menschen.
Offenbar.
Wie ist’s nun? Soll jeder von diesen seine Arbeit
für alle gemeinschaftlich machen, z.B. der Landmann
allein für vier Getreide herbeischaffen und die vierfache
Zeit und Mühe aufwenden zu Herbeischaffung
von Getreide, oder soll er, um sie unbekümmert, für
sich allein den vierten Teil dieses Getreides schaffen
in dem vierten Teil der Zeit und die drei andern Vierteile
das eine zu Anschaffung des Hauses verwenden,
das andere zu der eines Kleides, das dritte zu der von
Schuhen, und nicht mit der Mitteilung an andere sich
bemühen, sondern allein für sich seine Sachen besorgen?
Adeimantos erwiderte: Vielleicht, Sokrates, ist es
Platon: Der Staat 93
auf die erste Alt leichter als auf die letztere.
Das ist in der Tat, bei Zeus, nicht auffallend, versetzte
ich; denn ich bin während deinerWorte auf den
Gedanken gekommen, daß erstens jeder von uns dem
andern von Natur durchaus nicht gleich ist, sondern
verschieden in bezug auf die Anlage, je zu Verrichtung
eines anderen Geschäftes. Oder meinst du nicht?
O ja.
Und dann: wird es einer schöner machen, wenn er,
der Einzelne, viele Fertigkeiten übt, oder wenn ein
Einzelner nur eine einzige?
Wenn einer nur eine einzige übt, antwortete er.
Nun ist aber auch dies klar, daß, wenn jemand die
rechte Zeit für ein Geschäft vorüber läßt, es verdorben
ist?
Freilich.
Denn das Geschäft hat, scheint mir’s, keine Lust zu
warten, bis der Handelnde Zeit hat, sondern der Handelnde
muß dem Geschäfte durchaus nachgehen und
darf es nicht als Nebensache behandeln.
Notwendig.
Hiernach wird also alles mehr und schöner und
leichter, wenn es ein Einzelner nach seiner Anlage
und zur rechten Zeit verrichtet, alles übrige aber beiseite
läßt.
Allerdings.
So brauchen wir denn, Adeimantos, zu den
Platon: Der Staat 94
erwähnten Verrichtungen mehr als vier Gemeindeglieder;
denn der Landmann wird sich, wie es scheint, seinen
Pflug nicht selbst machen, wenn er gut ausfallen
soll, noch einen Spaten oder die übrigenWerkzeuge
alle, die zum Landbau gehören. Ebenso auch nicht der
Häuserbauer: auch dieser braucht vieles, und der
Weber und Schuhmacher gleichfalls: oder nicht?
O ja.
Es werden also Zimmerleute und Schmiede und
viele andere Handwerker dieser Art Genossen unseres
kleinen Gemeinwesens werden und es bevölkert machen?
Allerdings.
Nun wäre es aber noch kein besonders großes,
wenn wir ihnen Rinderhirten und Schäfer und sonstige
Hüter hinzufügten, damit die Landleute zum Pflügen
Rinder hätten und die Bauleute zu den Fuhren in
Gemeinschaft mit den Landleuten Zugvieh gebrauchen
könnten, und dieWeber und Schuhmacher Häute
undWolle.
Das wäre aber, bemerkte er, keine kleine Gemeinde,
die das alles hätte.
Indessen, fuhr ich fort, das Gemeinwesen an einem
Orte zu gründen, wo es der Einfuhr nicht bedarf, ist
nahezu unmöglich.
Freilich ist’s so.
Es würden daher weiter andere nötig sein, die ihm
Platon: Der Staat 95
aus andern Staaten herbeischaffen, was es bedarf.
Allerdings.
Falls nun aber der Ausgesandte mit leeren Händen
kommt, ohne etwas zu bringen von dem, was diejenigen
brauchen, von denen sie das holen lassen, was sie
selbst bedürfen, so wird er auch mit leeren Händen
abziehen: nicht wahr?
So scheint mir.
Man muß demnach zu Hause nicht nur das für sich
selbst Zureichende schaffen, sondern auch derartiges
und so viel, wie jene bedürfen?
Allerdings.
Eine größere Zahl Landleute und der sonstigen Arbeiter
bedarf demnach unser Staat.
Allerdings.
Auch wohl von den Gehilfen, welche die Aus- und
Einfuhr zu besorgen haben; das sind aber die Kaufleute,
nicht wahr?
Ja.
Auch Kaufleute also werden wir bedürfen.
Gewiß.
Und falls der Handel zur See stattfindet, so werden
noch viele andere nötig sein, die sich auf Arbeiten
verstehen, die sich auf das Meer beziehen.
Allerdings viele.
Weiter: im Städtewesen selbst – auf welcheWeise
werden sie da einander mitteilen von dem, was jeder
Platon: Der Staat 96
arbeitet? Um dessen willen haben wir ja eine Gemeinschaft
gestiftet und ein Gemeinwesen gegründet.
Offenbar, antwortete er, durch Verkaufen und Kaufen.
So werden wir also infolgedessen einen Markt
und als verabredetes Zeichen für den Tausch eine
Münze bekommen?
Allerdings.
Falls man der Landmann oder sonst einer der Arbeiter,
der etwas von ihm Gefertigtes auf den Markt
bringt, nicht zu derselben Zeit kommt wie die, welche
das Seinige einzutauschen wünschen, – wird er seine
Arbeit versäumen und auf demMarkt müßig sitzen?
Keineswegs, erwiderte er, sondern es gibt Leute,
welche, wenn sie das sehen, sich zur Aushilfe hierfür
anschicken, und zwar in den gut eingerichteten Gemeinwesen
so ziemlich die körperlich Schwächsten
und solche, die unfähig sind, andere Geschäfte zu verrichten.
Denn sie müssen dableiben in der Gegend des
Marktes und das eine für Geld eintauschen bei denen,
welche etwas verkaufen wollen, und hinwiederum an
andere, die einzukaufen wünschen, für Geld vertauschen.
Dieses Bedürfnis also, sprach ich, wird in unserem
Staat Händlern die Entstehung geben. Oder heißen
wir nicht Händler diejenigen, welche, auf demMarkte
sitzend, in bezug auf Kaufen und Verkaufen aushelfen;
dagegen die, welche in den Städten herumziehen,
Platon: Der Staat 97
Kaufleute?
Allerdings.
Nun gibt es aber, glaube ich, auch noch andere Gehilfen,
die zwar hinsichtlich des Geistes der Aufnahme
in die Gemeinschaft nicht besonders würdig
wären, aber vermöge ihrer Körperstärke zu schweren
Arbeiten tüchtig sind; diese verkaufen die Verwendung
ihrer Kraft, nennen diesen Preis Lohn und heißen
deswegen, denke ich, Lohndiener; nicht wahr?
Freilich.
Auch Lohndiener also, scheint es, gehören zur Vervollständigung
des Staates.
Ich glaube.
Ist nun, Adeimantos, unser Staat so erwachsen, daß
er vollständig ist?
Vielleicht.
Wo wäre nun wohl in ihm die Gerechtigkeit und
Ungerechtigkeit? Und in welchem von dem Betrachteten
ist sie mit hineingekommen?
Ich weiß es nicht, Sokrates, versetzte er, wenn nicht
etwa in einem Bedürfnis derselben in ihrem Verhältnis
zu einander.
Vielleicht, sagte ich, hast du recht; gehen wir denn
ohne Zögern an die Untersuchung! – Fürs erste nun
wollen wir sehen, aufweicheWeise die so Eingerichteten
leben werden. Nicht wahr, sie werden beim Bereiten
von Getreide undWein und Kleidern und
Platon: Der Staat 98
Schuhen und beim Bauen von Häusern in der guten
Jahreszeit meist leicht gekleidet und unbeschuht arbeiten,
in der schlechten aber gehörig eingehüllt und
beschuht? Und sich nähren werden sie dadurch, daß
sie aus Gerste grobes und ausWeizen feines Mehl
verfertigen und das eine auswirken, das andere kneten?
Dann werden sie tüchtige Laibe undWeißbrote
auf Stroh oder reinlichem Laube vor sich hinstellen,
gelagert auf Streuen von Efeu und Myrten, und werden
schmausen samt ihren Kindern undWein dazu
trinken, bekränzt und die Götter preisend, und fröhlich
mit einander verkehren und nicht mehr Kinder
zeugen, als sie ernähren können, aus Furcht vor
Armut und Kämpfen.
Da fiel Glaukon ein: Es scheint, du läßt die Leute
ohne Zukost schmausen.
Du hast recht, versetzte ich. Ich habe vergessen,
daß sie auch Zukost haben werden; natürlich werden
sie Salz und Oliven und Käse und Zwiebeln und Gemüse,
was man eben auf dem Lande zu benützen
pflegt, zubereiten. Auch einen Nachtisch wollen wir
ihnen meinethalben vorsetzen von Feigen und Kichererbsen
und Bohnen, und Myrtenbeeren und Eicheln
werden sie am Feuer rösten und mäßig dazu trinken,
und so werden sie friedlich und gesund, wie natürlich,
ihr Leben verbringen und in hohem Alter sterbend
ihren Nachkommen ein anderes ähnliches Leben
Platon: Der Staat 99
hinterlassen.
Da meinte jener: Würdest du, Sokrates, ein Gemeinwesen
von Schweinen aufbauen, mit was anderem
als hiermit würdest du sie füttern?
Aber wie anders machen, Glaukon? fragte ich.
Dem Brauche gemäß, antwortete er: aufpolstern
müssen sie gelagert sein, denke ich, wenn sie nicht ein
elendes Leben führen sollen, und an Tischen speisen
sowohl Zukost, wie man sie jetzt hat, als auch Nachtisch.
Gut, versetzte ich, ich verstehe: Wir betrachten,
scheint’s, nicht bloß, wie ein Staat entsteht, sondern
gleich auch einen üppigen Staat. Nun, vielleicht schadet’s
gar nichts; denn wenn wir auch einen solchen betrachten,
so gewahren wir vielleicht die Gerechtigkeit
und Ungerechtigkeit, wie sie in den Staaten sich erzeugen.
Das wahre Gemeinwesen nun zwar scheint
uns das beschriebene zu sein, gleichsam eines im Zustande
der Gesundheit; wenn ihr aber wollt, daß wir
auch das aufgedunsene Gemeinwesen besehen, so
steht dem nichts imWege. Es werden nämlich,
scheint es, diese Dinge manchen nicht genügen, auch
nicht diese Lebensweise; sondern es werden noch Polster
dabei sein und Tische und sonstiges Gerät, ferner
Zukost und Salben und Räucherwerk und Freudenmädchen
und Backwerk, und zwar alles dies in großer
Auswahl. Und auch in bezug auf das, was wir zuerst
Platon: Der Staat 100
nannten, werden wir nicht mehr bloß das Unentbehrliche
annehmen, nämlich bei den Häusern und Kleidern
und Schuhen, sondern die Malerei muß man in Bewegung
setzen und Gold und Elfenbein und alles dergleichen
anschaffen; nicht wahr?
Ja, antwortete er.
So müssen wir also wiederum das Gemeinwesen
größer machen; denn jenes gesunde reicht nicht mehr
aus, sondern man muß es jetzt mitWulst ausfüllen
und mit einer Masse von Dingen, die nicht mehr der
Notdurft halber in den Staaten sind, dergleichen alle
Jäger sind und die Nachahmer, deren es viele gibt sowohl
in bezug auf Formen und Farben als auf die
Tonkunst, und Dichter samt deren Gehilfen, die
Rhapsoden, Schauspieler, Reigentänzer, Theaterunternehmer
und die Verfertiger von mancherlei Gerät,
unter anderem von dem, was zum weiblichen Putz gehört.
Wir werden dann auch mehr Diener bedürfen.
Oder glaubst du nicht, daß wir Knabenerzieher brauchen,
Ammen,Wärterinnen, Kammerjungfern, Barbiere
und andererseits Köche und Bäcker? Weiter
werden wir Schweinehirten haben müssen; denn im
früheren Gemeinwesen hatten wir keine, weil wir
nicht sie brauchten; in dem nunmehrigen aber werden
wir auch diese noch dazu haben müssen: auch noch
sehr vieles sonstige Mastvieh werden wir brauchen,
wenn man es essen will: nicht wahr?
Platon: Der Staat 101
Natürlich.
Dann werden wir auch Ärzte nötig haben, bei dieser
Lebensweise viel eher als bei der früheren?
Jawohl.
Und das Gebiet, das damals zureichend war, die
damaligen Bewohner zu nähten, wird jetzt statt zureichend
zu klein sein. Oder meinst du nicht?
O ja.
Wir müßten also von dem Lande der Nachbarn
etwas abschneiden, wenn es hinreichen soll zumWeiden
und Ackern, und jene hinwiederum von dem unsrigen,
wenn auch sie sich auf endlosen Erwerb von
Gütern einlassen, die Grenze des Notwendigen überschreitend?
Das ist ganz notwendig, Sokrates, erwiderte er.
So werden wir also Krieg haben infolgedessen,
Glaukon,- oder was sonst?
Eben dies, versetzte er.
Und wir wollen noch nichts sagen, fuhr ich fort,
weder von dem Schlimmen noch von dem Guten, was
etwa der Krieg wirkt, sondern nur so viel, daß wir
nunmehr die Entstehung des Kriegs gefunden haben,
und daraus entsteht vorzugsweise Unheil für die Staaten,
für die Einzelnen wie für das Ganze, wofern
Krieg entsteht.
Allerdings.
Weiter nun, mein Lieber, muß man den Staat
Platon: Der Staat 102
größer haben für ein nicht kleines Häuflein, sondern
ein ganzes Heer, welches auszieht und die gesamte
Habe und die, die wir eben genannt haben, gegen Angriffe
verteidigt.
Wieso? fragte er; sind sie selbst denn nicht genügend?
Nein, entgegnete ich, wenn anders die Zugeständnisse
richtig waren, welche du und wir alle machten,
als wir den Staat bildeten; denn wir haben doch, wenn
du dich erinnerst, zugestanden, daß unmöglich ein
Einzelner viele Künste gut ausüben könne.
Das ist wahr, sagte er.
Wie nun, fuhr ich fort, hältst du das Kämpfen im
Kriege nicht für etwas Kunstartiges?
Freilich, sehr, erwiderte er.
Darf man etwa für die Kriegskunst weniger besorgt
sein als für die Schusterkunst?
Nimmermehr.
Nun haben wir aber dem Schuster nicht gestattet,
daß er zugleich Landwirt sein wolle oderWeber oder
Häuserbauer, damit uns das Schustergeschäft gut besorgt
werde; und ebenso haben wir jedem von den andern
ein einziges Geschäft zugewiesen, zu dem er natürliche
Anlagen hat und auf weiches beschränkt und
des Übrigen enthoben und sein Leben lang mit jenem
sich beschäftigend, die rechten Zeiten nicht versäumend,
er etwas Schönes leisten sollte; und was auf
Platon: Der Staat 103
den Krieg sich bezieht, ist das nicht von der größten
Wichtigkeit, wenn es gut geleistet wird? Oder ist es
so leicht, daß auch ein Landwirt zugleich Kriegskundiger
sein kann, und ein Schuster oder wer irgend
sonst eine Kunst treibt, – während kein Mensch im
Brettspiel oder Würfeln tüchtig sein wird, wenn er
nicht eben dieses von Jugend an treibt, sondern es
bloß als Nebensache behandelt? Und wer einen Schild
in die Hand nimmt oder ein anderes Stück der kriegerischenWaffen
undWerkzeuge, wird der noch am
gleichen Tage ein tüchtiger Kämpfer als Schwerbewaffneter
oder in einer anderen Kampfart, die im
Kriege vorkommt, während von den übrigenWerkzeugen
keines gleich, wenn man es in die Hand
nimmt, jemanden zum Kenner oder Meister macht
noch auch von Nutzen ist, wenn man nicht von jedem
sich Kenntnis erworben und hinreichende Übung
darin verschafft hat?
Da wären dieWerkzeuge viel wert, antwortete er.
Je mehr denn also, fuhr ich fort, das Geschäft der
Wächter anWichtigkeit hervorragt, desto mehr wird
es Enthebung von den übrigen Arbeiten und besondere
Kunst und Sorgfalt bedürfen.
Ich denke, erwiderte er.
Auch wohl einer zu diesem Geschäfte selbst geschickten
Natur?
Natürlich.
Platon: Der Staat 104
Unsere Aufgabe wäre denn, scheint es, wofern wir
es vermögen, auszuwählen, welche und was für Naturen
geschickt seien zum Bewachen des Gemeinwesens.
Allerdings.
Da haben wir, bei Zeus, kein geringes Geschäft
übernommen, sagte ich; indessen wollen wir uns ihm
nicht feig entziehen, soweit unsere Kraft es gestattet.
Nein, gewiß nicht, versetzte er.
Glaubst du nun, daß in bezug auf das Bewachen
ein Unterschied ist zwischen einem jungen Hund von
guter Rasse und einem Jüngling von edlem Geschlechte?
Wie meinst du das?
Zum Beispiel müssen beide scharfe Sinne haben,
um wahrzunehmen, und Gelenkigkeit, um demWahrgenommenen
nachzusetzen, und andererseits Stärke,
wenn es gilt, mit dem Ergriffenen zu kämpfen.
Allerdings Bedarfes alles dessen.
Und wohl auch Tapferkeit braucht er, wofern er gut
kämpfen soll?
Selbstverständlich.
Wird nun aber tapfer sein, was leidenschaftslos ist,
sei es ein Pferd oder ein Hund oder ein sonstiges lebendesWesen
? Oder hast du nicht bemerkt, wie die
Leidenschaft etwas nicht zu Bekämpfendes und nicht
zu Besiegendes ist, dessen Vorhandensein jede Seele
Platon: Der Staat 105
gegen alles furchtlos und unbezwinglich macht?
Ja, ich habe es bemerkt.
Hinsichtlich des Leibes ist nun also klar, wie der
Wächter beschaffen sein muß?
Ja.
Und auch in betreff der Seele, daß er leidenschaftlich
sein muß?
Auch dies.
Wie können sie nun aber, mein Glaukon, fragte ich,
wenn sie so beschaffen sind, verträglich sein gegen
einander und gegen die übrigen Gemeindeglieder?
Nicht leicht, bei Zeus, antwortete er.
Nun sollten sie aber doch gegen die Ihrigen mild
sein und den Feinden gefährlich; wo nicht, so werden
sie nicht warten, bis andere sie verderben, sondern
werden das vorher selbst tun.
Du hast recht, sagte er.
Was wollen wir nun anfangen? sagte ich; wo werden
wir einen zugleich sanften und leidenschaftlichen
Charakter finden? Denn die sanfte Natur ist doch
wohl der leidenschaftlichen entgegengesetzt.
Offenbar.
Indessen, wenn man eins von diesen beiden ihm
wegnimmt, wird er kein guterWächter werden. Das
scheint aber unmöglich, und so wäre es denn unmöglich,
daß es einen gutenWächter gebe.
So scheint’s, sagte er.
Platon: Der Staat 106
In dieser Verlegenheit blickte ich auf das Frühere
zurück und sagte: Es geschieht uns recht, mein
Freund, daß wir in Verlegenheit gekommen sind;
denn wir sind dem vorher gewählten Bilde untreu geworden.
Wieso?
Wir haben nicht beachtet, daß es wirklich Naturen
von der Art gibt, wie wir sie für unmöglich hielten,
die nämlich diese beiden Gegensätze in sich vereinigen.
Wo denn?
Man kann sie auch bei andernWesen antreffen,
nicht zum mindesten aber bei demjenigen, mit dem
wir denWächter verglichen haben. Denn du weißt
doch von den edeln Hunden, daß das von Natur ihre
Art ist, gegen Vertraute und Bekannte so sanft als
möglich zu sein, gegen Unbekannte aber das Gegenteil.
Das weiß ich allerdings.
Es ist denn also, versetzte ich, dieses möglich, und
es ist nicht widernatürlich, daß wir denWächter in
dieser Art haben wollen.
Es scheint nicht.
So glaubst du denn also, daß, wer ein guterWächter
werden soll, auch das noch bedarf, daß er außer
dem Leidenschaftlichen überdies seiner Natur nach
ein Denker (Philosoph) sei?
Platon: Der Staat 107
Wieso? fragte er; ich verstehe das nicht.
Auch das kannst du an den Hunden bemerken, und
es ist wirklich bewundernswürdig an dem Tiere.
Was denn ?
Daß, wenn es einen Unbekannten sieht, es böse
wird, wenn ihm auch zuvor kein Leid geschehen ist,
und wenn es einen Bekannten sieht, es freundlich ist,
auch wenn ihm nie von diesem etwas Gutes zuteil geworden
ist. Oder hast du das noch nie bewundert?
Bis dahin habe ich noch nie so genau darauf geachtet,
erwiderte er; daß sie es aber so machen, ist gewiß.
Das scheint eine hübsche Eigenheit seiner Natur zu
sein, und etwas wahrhaft Denkerisches.
Wieso denn?
Sofern er eine befreundete und eine feindliche Erscheinung
nach nichts anderem unterscheidet als danach,
daß er die eine kennengelernt hat, die andere
nicht. Und wie sollte nun das nicht wißbegierig sein,
was nachWissen und Nichtwissen das Eigene und
das Fremde unterscheidet?
Schlechterdings muß es das sein.
Nun ist aber, fuhr ich fort, dasWißbegierige und
dasWeisheitsbegierige dasselbe?
Freilich, versetzte er.
So dürfen wir denn also getrost auch beimMenschen
annehmen, daß, wenn er gegen die Angehörigen
und Bekannten sanft sein soll, er von Natur
Platon: Der Staat 108
weisheitsbegierig und wißbegierig sein muß?
Wir dürfen es, erwiderte er.
Weisheitsbegierig und leidenschaftlich und rasch
und stark wird also von Natur unserWächter des
Staates sein, wenn er ein guter sein soll.
Allerdings, antwortete er.
Dieser wäre denn also in dieser Art vorhanden; auf
welcheWeise werden sie uns nun aber erzogen und
gebildet werden? Und wird uns dies, wenn wir es betrachten,
förderlich sein, um das zu erkennen, um dessen
willen wir alles betrachten, die Gerechtigkeit und
Ungerechtigkeit, wie sie in einem Staate entsteht?
Doch wir wollen nicht eine erforderliche Untersuchung
vorschnell unterlassen, aber auch nicht zu umständlich
dabei werden.
Da erwiderte Glaukons Bruder: Immerhin hege ich
die Erwartung, daß diese Untersuchung hierfür förderlich
ist.
Nun, mein lieber Adeimantos, sagte ich, dann wollen
wir, bei Zeus, davon nicht lassen, auch nicht,
wenn sie etwas ausführlich sein sollte.
Nein, ja nicht.
Nun denn, so wollen wir wie auf dem Gebiet der
Dichtung dichten und in aller Muße die Männer in
Gedanken bilden.
Ja, so ist’s recht.
Worin besteht nun die Bildung? Oder ist es nicht
Platon: Der Staat 109
schwer, eine bessere zu ersinnen, als die durch lange
Erfahrung geschaffene ist? Und die ist für den Leib
die Turnkunst und für die Seele die Musenkunst.
Jawohl.
Werden wir nun nicht bei der Bildung mit der Musenkunst
früher beginnen als mit der Turnkunst?
Natürlich.
Wenn du aber von Musenkunst sprichst, rechnest
du Reden dazu, oder nicht?
Ja.
Von Reden gibt es nun eine doppelte Art: teils
wahre, teils unwahre?
Ja.
Muß man nicht in beiden bilden, zuerst aber in den
unwahren?
Ich weiß nicht, wie du das meinst, sagte er.
Weißt du denn nicht, entgegnete ich, daß wir den
Kindern zuerst Märchen erzählen? Diese sind im ganzen
genommen unwahr, doch ist auchWahres daran.
Die Märchen aber bringen wir bei den Kindern früher
in Anwendung als die Turnübungen.
So ist’s.
Das meinte ich nun damit, daß man die Musenkunst
früher in Angriff nehmen müsse als die Turnkunst.
Richtig, versetzte er.
Nun weißt du aber, daß bei jedem Geschäfte der
Platon: Der Staat 110
Anfang dasWichtigste ist, zumal bei jedem jungen
und zarten Geschöpf? Denn in dieser Zeit wird am
meisten das Gepräge gebildet und angenommen, das
man jedem aufdrücken will.
Allerdings gar sehr.
Werden wir es nun so leicht hingehen lassen, daß
die Kinder die nächsten besten von dem Nächsten Besten
gedichteten Märchen hören und in ihre Seele
Vorstellungen aufnehmen, die meist denjenigen entgegengesetzt
sind, die wir bei ihnen, wenn sie erwachsen
sind, erwarten müssen?
Nein, das dürfen wir durchaus nicht hingehen lassen.
Fürs erste also müssen wir die Märchendichter beaufsichtigen
und wenn das Märchen, das sie gemacht
haben, gut ist, dieses wählen; wo nicht, es verwerfen.
Dann werden wir die Ammen und Mütter veranlassen,
den Kindern die ausgewählten zu erzählen und ihre
Seelen weit mehr durch die Märchen zu bilden als
ihre Leiber durch die Hände. Von denen aber, die sie
in jetziger Zeit erzählen, müssen wir die meisten verbannen.
Welche denn? fragte er.
In den größerenMärchen, sagte ich, werden wir
auch die kleineren erkennen; denn es muß ja dasselbe
Gepräge und dieselbeWirkung sein bei den größeren
wie bei den kleineren; oder meinst du nicht ?
Platon: Der Staat 111
Wohl, erwiderte er; aber ich weiß nicht einmal,
welche du unter den größeren verstehst.
Diejenigen, versetzte ich, welche Hesiod und
Homer uns erzählt haben und die andern Dichter;
denn diese haben ja unwahre Märchen den Menschen
verfaßt und erzählt und tun es noch.
Welche meinst du denn, fragte er, und was hast du
an ihnen zu tadeln?
Das, antwortete ich, was man zuerst und am stärksten
tadeln muß, zumal wenn einer nicht schön lügt.
Und was ist dies?
Wenn einer durch seine Darstellung die Götter und
Helden, wie sie sind, schlecht schildert, wie wenn ein
Maler ein Gemälde macht, das demjenigen nicht ähnlich
ist, was er darstellen will.
Etwas der Art wird man allerdings mit Recht tadeln,
versetzte er; aber inwiefern und was meinen wir
denn?
Fürs erste, erwiderte ich, ist die größte und auf das
Größte sich beziehende Unwahrheit, die ihr Erfinder
nicht schön ersonnen hat, daß Uranos das getan habe,
was Hesiod von ihm aussagt, und wie dann Kronos
ihn bestraft habe. Dann, was Kronos getan und von
seinem Sohne erlitten, das dürfte man nach meiner
Ansicht, auch wenn es wahr wäre, Unverständigen
und Jungen nicht leicht so erzählen, sondern man
müßte am liebsten davon schweigen: und falls man
Platon: Der Staat 112
genötigt wäre, es zu erzählen, so müßten es möglichst
wenige unter dem Siegel des Geheimnisses hören,
nachdem sie geopfert hätten, und zwar nicht bloß ein
Schwein, sondern ein großes und schwer zu erschwingendes
Opfer, damit es möglichst wenige zu hören
bekämen.
Allerdings, erwiderte er, sind diese Erzählungen
bedenklich. Und sie dürfen auch nicht, Adeimantos,
in unserem Staate erzählt werden. Auch darf man
nicht vor den Ohren eines Kindes sagen, daß, wer die
äußerste Ungerechtigkeit begehe, nichts Auffallendes
tue, noch auch, wer seinen ungerechthandelnden Vater
auf beliebige Weise züchtige, sondern daß er dann gerade
ebenso handle wie die ersten und größten unter
den Göttern.
Nein, bei Zeus, versetzte er, ich halte selbst auch
das nicht für passend zu erzählen.
Auch nicht, fuhr ich fort, überhaupt, daß die Götter
gegen einander Krieg führen und einander nachstellen
und bekämpfen – denn es ist auch nicht wahr -, wofern
die, welche uns das Gemeinwesen zu bewachen
haben, das für die größte Schande halten sollen, leicht
mit einander in Feindschaft zu geraten; es fehlt viel,
daß man ihnen die Märchen von den Gigantenkämpfen
erzählen und vormalen dürfte und viele und mancherlei
andere Feindschaften der Götter und Helden
gegen ihre Verwandten und Angehörigen; sondern
Platon: Der Staat 113
wenn wir sie irgend überzeugen wollen, daß nie ein
Bürger gegen den andern Feindschaft gehegt habe und
daß dies eine Sünde sei, so müssen vielmehr derartiges
alte Männer undWeiber und sie selbst, wenn sie
älter geworden sind, schon den Kindern sagen, und
die Dichter muß man nötigen, mit ihren Hervorbringungen
diese Richtschnur einzuhalten. Ferner die Fesselung
der Hera durch ihren Sohn und des Hephaistos
Hinabwerfen durch seinen Vater, wie er seiner geschlagenen
Mutter beistehen will, und alle die Götterkämpfe,
welche Homer gedichtet hat, dürfen nicht in
den Staat aufgenommen werden, mögen sie nun einen
andern geheimen Sinn haben oder nicht; denn das
Kind vermag nicht zu beurteilen, was einen solchen
Sinn hat und was nicht; sondern die Vorstellungen,
die man in diesem Alter aufnimmt, werden gern fast
unaustilgbar und unverrückbar. Darum muß man
wohl den größtenWert darauf legen, daß die Erzählungen,
die sie zuerst hören, möglichst schön auf die
Tugend hinweisen.
Das hat freilich Sinn und Verstand, versetzte er;
aber wenn uns nun jemand auch das fragen würde,
was dies nun sei und welches die Märchen seien, was
würden wir antworten? Ich entgegnete:Wir sind jetzt
nicht Dichter, ich und du, Adeimantos, sondern Gründer
eines Staates. Solche Gründer müssen das Gepräge
kennen, das die Dichter ihren Märchen
Platon: Der Staat 114
aufzudrücken haben, und von dem ihnen keine Abweichung
zu gestatten ist; aber sie müssen nicht
selbst Märchen machen.
Das ist wahr, erwiderte er; aber eben dieses, das
Gepräge, – welches wäre es etwa in betreff der Götterlehre?
Ungefähr folgender Art, antwortete ich. Das, wie
die Gottheit ist, muß man doch wohl immer von ihr
aussagen, ob sie nun einer in epischen Gedichten darstellt
[oder in lyrischen] oder in einer Tragödie?
Freilich.
Nun ist aber wohl die Gottheit gut und muß so bezeichnet
werden?
Allerdings.
Ferner ist doch nichts Gutes schädlich: nicht wahr?
Ich glaube, nein.
Und was nicht schädlich ist, schadet auch nicht?
Keineswegs.
Was aber nicht schadet, fügt das Schlechtes zu?
Auch das nicht.
Und was nichts Schlechtes zufügt, wäre denn auch
nicht Ursache von etwas Schlechtem?
Wie sollte es nicht?
Weiter: Ist das Gute nützlich?
Ja.
Es ist also Ursache von Glück?
Ja.
Platon: Der Staat 115
Also nicht von allem ist das Gute Ursache, sondern
nur von dem Glücklichen, nicht aber von dem
Schlechten?
Allerdings, erwiderte er.
So wäre denn auch, bemerkte ich, die Gottheit, als
gut, nicht von allem bei den Menschen Ursache, wie
die Menge behauptet, sondern nur von wenigem, an
dem meisten aber unschuldig; denn des Guten wird
uns viel weniger als des Schlechten. Und das Gute
darf man auf niemand anderen zurückführen; von dem
Schlechten aber muß man irgendwelche andere Ursachen
aufsuchen, nicht aber die Gottheit.
Du scheinst mir vollkommen recht zu haben.
Man darf also, fuhr ich fort, weder den Homer gelten
lassen, noch einen andern Dichter, der unbedachterweise
in bezug auf die Götter diesen Fehler begeht
und sagt, daß zwei Gefäße
stehn an der Schwelle Kronions,
Voll Schicksalen, das eine mit guten, das andre mit
schlimmen;
und wem Zeus aus beiden gemischt reicht,
Den trifft bald ein erfreuliches Los, bald wieder ein
schlimmes;
Platon: Der Staat 116
wem aber nicht, sondern das eine ungemischt, der
wird
Über die heilige Erde verfolgt durch zehrende
Armut,
auch nicht, daß Zeus für uns sei
Spender des Guten und Schlimmen.
Und wenn von dem Bruch des Vertrags und der
Eidschwüre, den Pandaros beging, jemand behauptet,
daß er durch Athene und Zeus veranlaßt worden sei,
so werden wir es nicht billigen, auch nicht den Streit
der Götter und die Entscheidung durch Themis und
Zeus; ebensowenig werden wir die Jünglinge hören
lassen, was Aischylos sagt, daß
die Gottheit Sterbliche in Schuld verstrickt,
Sooft ein Haus sie ganz und gar vernichten will;
sondern wofern jemand etwas dichtet, worin diese
Iamben vorkommen, die Leiden der Niobe oder die
der Pelopiden oder die troischen oder sonst etwas dieser
Art, so muß man entweder nicht dulden, daß es als
Tun eines Gottes bezeichnet werde; oder, wenn ja, so
müssen sie eine Erklärung erfinden, ungefähr wie wir
Platon: Der Staat 117
sie jetzt verlangen, und müssen sagen, daß die Gottheit
gerecht und gut gehandelt hat und jene von der
Strafe Nutzen haben; daß aber die Gestraften unglücklich
seien und die Gottheit es gewesen, die das
herbeigeführt habe, – das muß man den Dichter nicht
sagen lassen.Wohl aber muß man es ihnen zulassen,
wenn sie etwa sagen, daß diese Bestrafung brauchten,
weil die Schlechten unglücklich sind, und daß die
Gottheit, indem sie sie bestrafte, ihnen nützte; daß
aber die Gottheit, die doch gut ist, für jemand Ursache
von Schlechtem werde, dagegen muß man auf alle
Weise ankämpfen, daß es niemand sage in seinem
Staate, wenn er wohl eingerichtet sein soll, noch auch
höre, weder ein Jüngerer noch ein Älterer, weder in
gebundener Rede erzählend noch in ungebundener, da
es eine Sünde wäre, wenn es gesagt würde, und weder
für uns zuträglich noch mit sich selbst in Übereinstimmung.
Ich unterstütze diesen Gesetzesvorschlag, versetzte
er, und bin damit einverstanden.
Das wäre denn also, sagte ich, eines von den Gesetzen
und Mustern in bezug auf die Götter, nach welchem
die Sprechenden zu sprechen und die Dichtenden
zu dichten haben werden: daß die Gottheit nicht
von allem Ursache ist, sondern nur von dem Guten.
Und wirklich ist es hinreichend, bemerkte er.
Wie steht’s nun aber mit folgendem zweiten?
Platon: Der Staat 118
Glaubst du, daß der Gott ein Gaukler sei und wie um
heimlich Schaden anzustiften abwechselnd in verschiedenen
Gestalten erscheine, indem er bald selbst
es wirklich wird und seine Gestalt in viele Bildungen
verwandelt, bald uns täuscht und macht, daß wir es
von ihm glauben? Oder daß er einfach ist und ganz
und gar nicht aus seiner Gestalt heraustritt?
Ich weiß es, versetzte er, nicht gleich ohne weiteres
zu beantworten.
Wie ist’s damit: Muß nicht einWesen, das aus seiner
Gestalt herausgesetzt würde, entweder von sich
selbst oder von einem anderen versetzt werden?
Notwendig.
Wird nun nicht von einem andern das am wenigsten
verändert und bewegt, was am besten beschaffen
ist? Z.B. ein Leib, – wird er nicht von Speisen und
Getränken und Anstrengungen, und jedes Gewächs
von Hitze undWinden und dergleichen Einflüssen um
so weniger verändert, je gesunder und kräftiger es ist?
Freilich.
Und von den Seelen, – wird da nicht gerade die tapferste
und besonnenste am wenigsten durch Einflüsse
von außen gestört und verändert?
Ja.
Und auch die verfertigten Gerätschaften alle und
die Gebäude [und Kleider] ganz ebenso: die gut gearbeiteten
und gut beschaffenen werden von der Zeit
Platon: Der Staat 119
und den sonstigen Einwirkungen am wenigsten verändert?
Allerdings.
Alles demnach, was gut beschaffen ist – entweder
von Natur oder durch Kunst oder durch beide -, das
ist am wenigsten der Umwandlung durch ein anderes
ausgesetzt?
So scheint’s.
Nun ist aber doch die Gottheit und das Göttliche in
jeder Beziehung aufs beste beschaffen?
Natürlich.
Auf diesemWege also bekäme der Gott am wenigsten
viele Gestalten.
Allerdings.
Aber sollte er wohl selbst sich umwandeln und verändern?
Offenbar, erwiderte er, wofern er überhaupt sich
verändert.
Wandelt er sich nun ins Bessere und Schönere um,
oder in etwas Schlechteres und Häßlicheres, als er
selbst ist?
Notwendig, antwortete er, in etwas Schlechteres,
wofern er sich überhaupt verändert; denn wir werden
doch nicht sagen, daß Gottes Schönheit und Tugend
etwas mangle? Ganz richtig gesprochen, sagte ich.
Und wenn dies sich so verhält, glaubst du, Adeimantos,
daß ein Gott oder Mensch irgend sich selbst
Platon: Der Staat 120
schlechter mache?
Unmöglich, antwortete er.
So ist es also, fuhr ich fort, auch für einen Gott unmöglich,
sich zu ändern: vielmehr, scheint mir, da
jeder von ihnen möglichst schön und gut ist, so bleibt
er immer einfach in seiner Gestalt.
Das scheint mir ganz notwendig, bemerkte er.
Es möge also, sprach ich, mein Bester, keiner der
Dichter uns sagen, daß
die Götter, im Äußern wie Wandrer aus anderen
Orten,
Unter Gestalten von allerlei Art in den Städten
umhergehn;
noch auch belüge uns einer mit Proteus und Thetis,
noch führe er in Tragödien oder sonstigen Gedichten
die Hera vor, verwandelt in eine Priesterin, welche
einsammelt
Für des Argos durchströmenden Inachos
segensreich Kinder;
und auch vieles andere Derartige sollen sie uns
nicht vorlügen. Auch sollen sich die Mütter von diesen
nicht überreden lassen und ihren Kindern Angst
machen, indem sie die Märchen auf unpassende
Platon: Der Staat 121
Weise erzählen, daß irgend welche Götter bei Nacht
herumgehen in der Gestalt von vielen und vielerlei
Fremden, damit sie nicht gleichzeitig die Götter lästern
und die Kinder furchtsamer machen.
Ja nicht, versetzte er.
Aber, fuhr ich fort, sind etwa die Götter selbst von
der Art, sich nicht zu verwandeln, machen aber, daß
wir glauben, sie erscheinen in vielerlei Gestalt, indem
sie uns betrügen und vorgaukeln?
Vielleicht, meinte er.
Wie? sagte ich: sollte ein Gott lügen mögen in
Worten oder inWerken, indem er uns ein Trugbild
vorhält?
Ich weiß es nicht, entgegnete er.
Weißt du denn nicht, sagte ich, daß die wahrhafte
Lüge – wenn man so sagen kann – alle Götter und
Menschen hassen?
Wie meinst du das? fragte er.
So, erwiderte ich, daß mit seinemWesentlichsten
und in bezug auf dasWesentlichste niemand wissentlich
lügen mag, sondern am allermeisten sich fürchtet,
dort es zu haben.
Noch immer verstehe ich dich nicht, erklärte er.
Weil du glaubst, ich meine etwas Besonderes; ich
meine aber, daß mit der Seele und in bezug auf das
Wirkliche zu lügen und gelogen zu haben und unwissend
zu sein und hier die Lüge zu haben und zu
Platon: Der Staat 122
besitzen jedermann wohl am wenigsten gern hätte,
und daß man in dieser Beziehung sie am meisten
haßt.
Bei weitem, versetzte er.
Aber am richtigsten wird wohl dasjenige, wovon
ich eben sprach, als die wahrhafte Lüge bezeichnet:
die der Seele einwohnende Unwissenheit desjenigen,
der gelogen hat; denn die Lüge in denWorten ist eine
Nachahmung des Vorganges in der Seele und ein später
entstandenes Abbild, durchaus nicht reine Lüge;
oder ist’s nicht so?
Allerdings.
Die wahre Lüge wird also nicht nur von den Göttern,
sondern auch von Menschen gehaßt.
So scheint mir’s.
Wie aber, die Lüge inWorten – wann und wem ist
sie nützlich und verdient daher keinen Haß? Ist sie
nicht gegenüber von Feinden, und unter denen, welche
Freunde heißen, in dem Falle, wenn sie infolge
vonWahnsinn oder sonstiger Verblendung etwas
Schlimmes zu tun unternehmen, dann gleichsam ein
heilsames Mittel zur Abwehr? Und in den eben erwähnten
Märchendichtungen, – handeln wir da nicht
heilsam, indem wir, weil wir nicht wissen, wie sich
die alten Dinge inWahrheit verhalten, die Lüge der
Wahrheit möglichst ähnlich machen?
Allerdings verhält es sich so, erwiderte er.
Platon: Der Staat 123
In welcher von diesen Beziehungen nun ist die
Lüge dem Gotte nützlich? Sollte er etwa lügen, indem
er das Alte nachbildet, weil er es nicht kennt?
Das wäre lächerlich, antwortete er.
Ein lügenhafter Dichter ist also in dem Gotte nicht.
Nein, ich glaube nicht.
Aber sollte er aus Furcht vor seinen Feinden lügen?
Unmöglich.
Aber wegen Verblendung oder Wahnsinn seiner
Angehörigen?
Aber kein Verblendeter undWahnsinniger ist ja
von Gott geliebt, versetzte er.
So gibt es also keinen Grund, warum Gott lügen
sollte.
Nein.
Unbedingt ohne Lüge also ist das Götterhafte und
das Göttliche.
Allerdings, sagte er.
In hohem Grade einfach und wahr ist also der Gott
im Handeln und im Reden, und er verwandelt sich
weder selbst noch täuscht er andere, weder [in Erscheinungen
noch] inWorten noch in Sendung von
Zeichen, weder imWachen noch im Traume.
So kommt es mir selbst auch vor, bemerkte er, infolge
deiner Ausführungen.
Du erkennst also an, sagte ich, daß dies das zweite
Muster ist, wonach man Götter im Sprechen und
Platon: Der Staat 124
Dichten darstellen muß: als solche, die weder selbst
Gaukler sind, indem sie sich verwandeln, noch uns
durch Lügen irreführen im Reden oder im Tun?
Ja.
Soviel wir also auch an Homer loben, – das werden
wir nicht loben, Zeus’ Sendung des Traumes an Agamemnon,
auch nicht den Aischylos, wenn Thetis sagt,
Apollon habe bei ihrer Hochzeitfeier singend
aufgezählt ihr reiches Kinderglück,
Der Kinder krankheitsfreien langen Lebensgang.
Nach allem diesem pries mein gottgeliebtes Los
Er laut in einem Jubellied zu meiner Lust.
Und ich, ich hoffte, daß des Phoibos Göttermund,
Voll reicher Seherkunst, von Lüge ferne sei.
Doch eben Er, der sang. Er, der beim Mahle war,
Er, welcher das gesagt, der eben ist es, der
Mir meinen Sehn erschlug.
Wenn jemand derartiges über Götter sagt, werden
wir böse werden und keinen Chor hergeben, noch die
Lehrer davon bei Bildung der Jugend Gebrauch machen
lassen, wofern uns dieWächter gottesfürchtig
werden sollen und göttlich, soweit es nur immer
einemMenschen möglich ist.
Allerdings, erwiderte er, anerkenne ich diese Muster
und möchte sie als Gesetze aufstellen.
Platon: Der Staat 125
Drittes Buch
Hinsichtlich der Götter, fuhr ich fort, müßte, wie es
scheint, etwa derartiges schon von Kindheit an hören
und nicht hören, wer die Götter ehren soll und die Eltern,
und die Freundschaft unter einander nicht für gering
achten.
Und ich glaube, versetzte er, daß wir das Richtige
getroffen haben.
Und wie dann? Wenn sie tapfer sein sollen, muß
man nicht dasjenige sprechen und derartiges, was sie
am wenigsten den Tod fürchten macht? Oder glaubst
du, daß je einer tapfer sein werde, der diese Furcht in
sich hat?
Nein, bei Gott, gewiß nicht, erwiderte er.
Wie nun? Meinst du, daß einer, der an die Dinge
im Hades glaubt und sie für schrecklich hält, ohne
Todesfurcht sein und in den Schlachten den Tod der
Niederlage und Knechtschaft vorziehen werde?
Keineswegs.
Wir müssen demnach, wie es scheint, auch diejenigen
überwachen, welche über diese Märchen sprechen
wollen, und sie bitten, nicht so ohne weiteres den Zustand
im Hades zu schmähen, sondern vielmehr zu
loben, da das, was sie reden, weder wahr sei noch zuträglich
für solche, die streitbar werden sollen.
Platon: Der Staat 126
Das müssen wir allerdings, versetzte er.
Wir werden demnach, sagte ich, von folgendem
epischen Verse an alles Derartige ausstreichen:
Lieber ja wär’ ich ein Bauer, um Taglohn dienend
bei einem
Anderen dürftigen Mann, [der selbst nur wenig
besäße,]
Als der Beherrscher von allen dahingeschwundenen
Toten;
ferner:
Und sein Haus vor den Menschen und Ewigen offen
erschiene,
Finster und voll Entsetzen, wovor selbst grauet den
Göttern;
und:
Wirklich, so ist denn also sogar in des Hades
Behausung
Seel’ und Schattengebild, doch fehlt die belebende
Kraft ganz;
weiter:
Platon: Der Staat 127
Einzig Verstand zu besitzen, die anderen schwirren
als Schatten;
ebenso:
Seinem Gebein entschwebte die Seele und ging zu
dem Hades,
Um ihr Los wehklagend, die Jugend und Stärke
verlassend;
auch:
und dem Rauch gleich eilte die Seele
Unter die Erde Mit Schwirren;
endlich:
Wie wenn Fledermäuse im Innern der mächtigen
Höhle
Fliegen umher mit Geschwirre, sobald aus dem
Klumpen am Felsen
Eine heruntergefallen, und fest an einander sich
klammem:
Also gingen sie schwirrend zusammen.
In bezug auf dieses und alles Derartige weiden wir
Homer und die anderen Dichter bitten, nicht böse zu
Platon: Der Staat 128
sein, wenn wir es durchstreichen, nicht, weil es nicht
dichterisch und für die Menge angenehm zu hören
wäre, sondern weil, je dichterischer es ist, um so weniger
es Kinder und Männer hören dürfen, die frei
sein müssen und die Knechtschaft mehr fürchten als
den Tod.
Allerdings.
So muß man denn auch alle die schrecklichen und
fürchterlichen Namen für diese Dinge verwerfen, den
Wehestrom (Kokytos) und den Schauerfluß (Styx) und
die Unterirdischen und Blutlosen und die andern Benennungen
dieses Schlags alle, welche ja beim Anhören
jedermann so manches Jahr schaudern machen.
Und vielleicht ist es in anderer Beziehung gut: wir
aber fürchten für dieWächter, sie möchten uns infolge
dieses Schauders zu hitzig und zu weichlich werden.
Und mit Recht fürchten wir das, bemerkte er.
Muß man es also beseitigen?
Ja.
Das diesem entgegengesetzte Gepräge aber muß
man sprechen und dichten?
Offenbar.
Auch dasWehklagen also und das Jammern um angesehene
Männer werden wir abschaffen?
Notwendig, erwiderte er, so gut wie das Frühere.
Sieh einmal zu, fuhr ich fort, ob wir es mit Recht
Platon: Der Staat 129
abschaffen werden oder nicht!Wir behaupten doch
wohl, daß der brave Mann bei einem andern braven
Manne, dessen Freund er ist, das Gestorbensein für
nichts Schlimmes halten wird?
Allerdings.
Er wird also nicht über ihn jammern, als wäre ihm
etwas Schlimmes begegnet?
Natürlich nicht.
Nun behaupten wir auch dies, daß ein solcher in
besonderem Grade sich selbst genug ist hinsichtlich
des gut Lebens und weniger als sonst jemand eines
anderen bedarf?
Das ist wahr, antwortete er.
Für ihn ist es also am wenigsten hart, eines Sohnes
beraubt zu werden oder eines Bruders oder des Vermögens
oder sonst einer Sache dieser Art?
Allerdings.
Es wird also auch am wenigsten jammern und wird
es höchst gelassen ertragen, wenn ihn ein Unglück
dieser Art trifft?
Bei weitem.
Mit Recht also werden wir die Klagelieder um berühmte
Männer abschaffen und werden sieWeibern
zuteilen, und zwar nicht einmal den achtbaren, und
den erbärmlichen Männern, damit die, von denen wir
sagen, daß wir sie zum Hüten des Landes erziehen,
die Lust verlieren, es diesen gleich zu machen. Mit
Platon: Der Staat 130
Recht, erwiderte er.
Wiederum denn werden wir den Homer bitten und
die anderen Dichter, nicht den Göttersohn Achilleus
darzustellen.
Bald auf die Seite sich legend, ein anderes Mal auf
den Rücken,
Auf das Gesiebt alsdann,
bald aber vom Lager sich aufrichtend und
Schweifend verworrenen Geistes am öden Gestade
des Meeres,
noch
Rußige Asche mit beiden Händen fassend und über
das Haupt sie
Streuend,
noch sonst so viel und in solcherWeise weinend
und jammernd, wie jener ihn dargestellt hat; noch
auch den Priamos, der den Göttern nahe steht, flehentlich
bittend und
umher sich wälzend im Staube,
Jeglichen Mann beim Namen mit jammernder
Platon: Der Staat 131
Stimme benennend.
Noch viel weniger werden wir gar Götter jammernd
darstellen und sprechend
Weh mir, o weh mir Armer, mir Unglücksmutter des
Helden!
Und wenn überhaupt Götter, so werden wir jedenfalls
den größten der Götter nicht wagen so unähnlich
abzuschildern, daß er »Wehe« ausruft,
Wehe, gejagt um die Stadt seh’ dort ich mit eigenen
Augen
Den Mann, welchen ich liebe: es schmerzt mich
bitter im Herzen;
und
Ach, ach, wenn das Geschick mir den liebsten der
Männer, Sarpedon,
Von des Menoitios Sohne, Patrokles, lässet
erschlagen!
Denn wenn uns, mein lieber Adeimantos, die Jünglinge
dergleichen ernsthaft anhören und es nicht belachen
als eine unwürdige Darstellung, so wird wohl
Platon: Der Staat 132
schwerlich jemand es unter seiner Würde als Mensch
finden und sich schelten, wenn es auch ihm beikommt,
etwas Derartiges zu sagen oder zu tun; vielmehr
wird er, ohne irgend sich zu schämen und standhaft
auszuharren, bei kleinen Leiden große Jammerlieder
undWehklagen anstimmen.
Du hast ganz recht, sagte er.
Das darf aber nicht sein, wie uns eben die Erörterung
gezeigt hat; dieser müssen wir glauben, bis uns
jemand mit einer anderen, besseren überzeugt.
Allerdings darf es nicht sein.
Aber auch nicht lachsüchtig soll man sein; denn
wenn man sich heftigem Lachen überläßt, so zieht es
gewöhnlich auch eine heftige Umwandlung nach sich.
Ich denke, erwiderte er.
Weder also, wenn jemand bedeutende Menschen
vom Lachen überwältigt darstellt, darf man es gelten
lassen, noch viel weniger aber, wenn er Götter so darstellt.
Allerdings, versetzte er.
So darf man also dem Homer auchWorte wie folgende
nicht gelten lassen in bezug auf Götter:
Unauslöschliches Lachen befiel die unsterblichen
Götter,
Als den Hephaistos sie sahen geschäftig das Haus
durchschnaufen, –
Platon: Der Staat 133
nicht gelten lassen dürfen wir sie nach deiner Auseinandersetzung.
Allerdings nicht, wenn du sie als die meinige bezeichnen
willst.Wir dürfen das nicht durchgehen lassen.
Ferner muß man auch dieWahrheit hochachten. Ist
nämlich die Behauptung richtig, die wir soeben aufgestellt
haben, und ist wirklich die Lüge für die Götter
unnütz, für die Menschen aber als Heilmittel nützlich,
so ist es klar, daß man dergleichen den Ärzten anheimgeben
muß, Laien aber es nicht berühren lassen
darf.
Das ist klar.
Wenn also irgend jemandem, so kommt es der Regierung
des Gemeinwesens zu, der Feinde oder der
Bürger wegen zu lügen zum Vorteil des Gemeinwesens,
die andern alle aber dürfen sich damit nicht befassen;
sondern solchen Regierenden gegenüber zu
lügen werden wir bei einem Bürger als eine ebenso
große oder noch größere Verfehlung bezeichnen als
bei einem Kranken, wenn er dem Arzte, oder bei
einem Turner, wenn er dem Turnmeister in bezug auf
seine Körperzustände nicht dieWahrheit sagt, oder
wenn jemand dem Steuermann in betreff des Schiffes
und der Mitfahrenden nicht den wirklichen Sachverhalt
sagt, wie es bei ihm selbst oder einem der Mitfahrenden
stehe.
Platon: Der Staat 134
Sehr wahr, bemerkte er.
Falls er also einen andern in dem Gemeinwesen
über einer Lüge ertappt, einen von denen,
so Meister genannt sind,
Seher und Ärzte von Leiden und Zimm’rer von
Balken und Holzwerk, –
so wird er ihn bestrafen, weil er ein Tun einführe,
das einem Staate wie einem Schiffe Umsturz und Verderben
bringt.
Wofern wenigstens, erwiderte er, geschieht, was
vernünftigerweise geschehen sollte.
Und wie? Werden unsere Jünglinge nicht auch der
Mäßigung bedürfen?
Freilich.
Ist in bezug auf die Mäßigung nicht – wenigstens
für die Menge – dasWichtigste, daß man der Obrigkeit
untertan sei und selbst in bezug auf die Genüsse
des Trinkens, der Liebe und des Essens sich zu beherrschen
wisse?
Ich glaube, ja.
So werden wir also, denke ich, sagen, daß derartiges
gut gesprochen sei, wie bei Homer Diomedes
spricht:
Setze dich still, mein Lieber, und folge du meiner
Platon: Der Staat 135
Ermahnung!
und was darauf folgt:
Es zog mutatmend das Heer der Achaier
Schweigend aus Furcht vor den Führern,
und was sonst sich derartiges findet.
Richtig.
Wie aber? Das folgende:
Trunkener du, mit den Augen des Hunds und dem
Mute des Hirsches!
und was daran sich anschließt, und überhaupt alles,
was jemand in Erzählungen oder Gedichten je Bürger
gegen Regierungen hat Übermütiges sagen lassen, –
werden wir es schön finden?
Nein.
Denn es ist, glaube ich, hinsichtlich der Erziehung
zur Mäßigung für junge Leute nicht passend zu hören.
Daß es aller sonst Vergnügen macht, ist keinWunder.
Oder wie kommt es dir vor?
Ebenso, erwiderte er.
Und wie? Den weisesten Mann sagen zu lassen,
daß ihm das Allerschönste scheine, wenn die Tische
alle beladen
Platon: Der Staat 136
Sind mit Brot und mit Fleisch, und der Mundschenk
schöpft aus dem Mischkrug
Lauteren Wein und trägt ihn umher und füllet die
Becher, –
scheint dir das für einen Jüngling in bezug auf
Selbstbeherrschung geeignet zum Hören? Oder:
Hungers zu sterben jedoch ist wahrlich das
kläglichste Schicksal, –
oder daß Zeus dasjenige, was er, während die andern
Götter und die Menschen schlummern, als der allein
Wachende beschlossen hat, das alles ohne
Schwierigkeit vergißt aus Begierde nach Liebesgenuß,
und daß er beim Anblick der Hera so außer sich
gerät, daß er nicht einmal ins Gemach gehen mag,
sondern gleich da auf dem Boden ihr beiwohnen will
und sagt, daß er so voll Verlangens sei, wie er es
sogar damals nicht gewesen, als sie das erstemal zusammenkamen
hinter dem Rücken der Eltern;
auch nicht die Fesselung des Ares und der Aphrodite
durch Hephaistos wegen eines anderen ähnlichen
Falles.
Platon: Der Staat 137
Nein, bei Zeus, erwiderte er: das scheint mir nicht
passend. Aber wenn irgendwo, fuhr ich fort, angesehene
Männer Ausdauer in aller Fährlichkeit durch
Wort und Tat beweisen, da muß man zuschauen und
zuhören, wie z.B.:
Aber er schlug an die Brust und redete scheltend
sich selbst zu:
Dulde du nur, mein Herz; schon Schnöderes hast du
erduldet!
Allerdings, bemerkte er.
Ferner darf man doch nicht zugeben, daß die Männer
bestechlich seien und geldgierig.
Durchaus nicht.
So darf man ihnen auch nicht vorsingen:
Schenken gewinnet die Götter, gewinnt die
erhabenen Herrscher;
noch auch darf man des Achilleus Erzieher Phoinix
loben, daß er recht gesprochen habe, indem er jenem
den Rat gab, wenn er Geschenke bekomme, den
Achaiern Hilfe zu leisten, ohne Geschenke aber sein
Zürnen nicht aufzugeben. Auch von Achilleus selbst
werden wir nicht für passend halten und nicht zugeben,
daß er so geldgierig sei, daß er Geschenke von
Platon: Der Staat 138
Agamemnon nehme und nur gegen Bezahlung einen
Leichnam ausliefern wolle, sonst aber nicht.
Es ist allerdings nicht recht, versetzte er, dergleichen
zu loben. Doch um Homers willen, bemerkte
ich, nehme ich Anstand zu sagen, daß es sogar eine
Sünde ist, solches gegen Achilleus auszusagen und
anderen, die es behaupten, es zu glauben; ebenso, daß
er zu Apollon gesagt habe:
Hast mir Schaden getan, Fernwirkender,
Schlimmster der Götter!
Hätt’ ich dazu die Gewalt, dann würd’ ich’s dir
sicher vergelten!
und daß er gegen den Fluß, einen Gott, ungehorsam
und mit ihm zu kämpfen bereit war; ferner, daß er in
bezug auf das dem anderen Flußgott, dem Spercheios,
geheiligte Haar gesagt:
Sei denn die Locke verlieh’n als Gabe dem Helden
Patrokles,
der doch tot war, und daß er das ausgeführt habe,
ist nicht zu glauben. Und dann das Schleppen des
Hektor um das Grabmal des Patrokles und das
Schlachten der Gefangenen an dem Scheiterhaufen,
alles dies zusammen werden wir für nicht wahr
Platon: Der Staat 139
gesprochen erklären, auch nicht zugeben, daß man die
Unsern glauben mache, Achilleus, der Sohn der Göttin
und des Peleus, des besonnensten Mannes, und
eines Enkels von Zeus, der Zögling des weisen Cheiron,
sei so zerrütteten Geistes gewesen, daß er in sich
zwei einander entgegengesetzte Krankheiten hatte,
niedrige Denkart nebst Geldgier, und andererseits
Übermut gegenüber Göttern und Menschen.
Du hast recht, erwiderte er.
Also ja nicht, fuhr ich fort, wollen wir auch folgendes
glauben und auch nicht zu sagen gestatten, daß
Theseus, Poseidons Sohn, und Peirithoos, Zeus’ Sohn,
auf so wilden Raub ausgegangen seien, noch daß irgend
ein anderer Göttersohn und Heros gewagt hätte,
Schreckliches und Gottloses zu tun, dergleichen man
ihnen jetzt verleumderisch beilegt; sondern wir wollen
die Dichter nötigen, entweder es nicht alsWerke von
ihnen zu bezeichnen oder sie nicht als Göttersöhne;
beides zusammen aber dürfen sie nicht behaupten,
noch uns einen Versuch machen, die jungen Leute zu
bereden, daß die Götter Schlechtes erzeugten und Heroen
um nichts besser seien als Menschen. Denn, wie
wir früher ausgeführt haben, ist dies eine Sünde und
eine Unwahrheit; denn wir haben ja gezeigt, daß von
Göttern unmöglich Schlechtes kommen kann.
Natürlich.
Überdies ist es nachteilig für die, die es hören;
Platon: Der Staat 140
denn jedermann wird sich’s verzeihen, daß er schlecht
ist, wenn er die Überzeugung hat, daß ja Ähnliches
getan haben und noch tun
der Götter jüngste Saat,
Des Zeus Verwandte, denen auf des Ida Höh’n
Des väterlichen Zeus Altar im Äther steht,
Und noch verrann in ihnen nicht das Götterblut.
Darum muß man solchen Märchen ein Ende machen,
damit sie uns nicht bei der Jugend die Schlechtigkeit
zu etwas ganz Geläufigem machen.
Sehr wohl, bemerkte er.
Was wäre uns nun, begann ich wieder, noch für
eine Art übrig bei der Bestimmung, welche Arten von
Reden zulässig sind und welche nicht? Denn wie man
von den Göttern zu sprechen habe, ist gesagt, ebenso
wie von den Dämonen und den Heroen und der Unterwelt.
Allerdings.
Wäre nun nicht übrig, auch in bezug auf die Menschen
es auszuführen?
Offenbar.
Aber, mein Lieber, das können wir ja unmöglich
jetzt schon beurteilen.
Wieso?
Weil ich glaube, daß wir sagen werden, daß die
Platon: Der Staat 141
Dichter und Erzähler in bezug auf die Menschen die
wichtigsten Behauptungen fälschlich aufstellen, daß
nämlich viele zwar ungerecht, aber glücklich seien,
und Gerechte unglücklich, und daß das Unrechttun
nütze, wenn es unentdeckt bleibe, und daß die Gerechtigkeit
das Beste anderer und der eigene Nachteil
sei; und ich glaube, wir werden verbieten, derartiges
zu sagen, und werden vorschreiben, das Gegenteil
davon zu singen und zu erzählen. Oder meinst du
nicht?
Ei, das weiß ich gewiß, antwortete er.
Falls du also zugibst, daß ich darin Recht habe, so
werde ich sagen, du habest das zugegeben, wonach
wir schon lange forschen?
Richtig vermutet, bemerkte er.
Also daß man in bezug auf die Menschen derartige
Reden führen muß, darüber werden wir erst dann
vollständig mit einander ins reine kommen, wenn wir
gefunden haben, von welcher Art die Gerechtigkeit
ist, und wie sie ihremWesen nach dem nützt, der sie
hat, mag er nun gerecht zu sein scheinen oder nicht?
Sehr wahr, erwiderte er.
Damit sei denn die Erörterung über die Reden zu
Ende; jetzt ist, denke ich, hiernach noch der Vortrag
in Erwägung zu ziehen, und dann werden wir vollständig
untersucht haben, was und wie man reden
muß.
Platon: Der Staat 142
Adeimantos versetzte: Das verstehe ich nicht, wie
du es meinst.
Aber du solltest es doch, erwiderte ich. Vielleicht
indessen wirst du auf folgendeWeise es eher verstehen:
Ist nicht alles, was von Märchenerzählern oder
Dichtern gesprochen wird, Darstellung von Vergangenem
oder Gegenwärtigem oder Zukünftigem?
Was sonst? versetzte er.
Bringen sie nun dabei nicht entweder einfache Erzählung
zur Anwendung, oder durch Nachahmung erfolgende,
oder beides zugleich?
Auch dies, antwortete er, wünschte ich noch deutlicher
gesagt.
Ich scheine, bemerkte ich, ein lächerlicher und unverständlicher
Lehrer zu sein. So will ich denn, wie
solche, die nicht zu sprechen vermögen, nicht im ganzen
reden, sondern einen Teil herausgreifen und versuchen,
dir daran zu zeigen, was ich meine. Sage mir,
kennst du den Anfang der Ilias, wo der Dichter sagt,
Chryses habe den Agamemnon gebeten, seine Tochter
freizugeben, dieser aber sei in Zorn geraten, und jener
habe, als seine Bitte nicht erfüllt wurde, den Gott um
Unheil für die Achaier angefleht?
Jawohl.
Du weißt also, daß bis zu denWorten:
und er flehte zu allen Achaiern,
Platon: Der Staat 143
Aber zumeist den Atreiden, den zwei Heerführern
der Völker,
der Dichter selbst spricht und keinen Versuch
macht, unsere Gedanken anderswohin zu wenden, als
spräche ein anderer denn er selbst; das Folgende aber
spricht er, als wäre er selbst Chryses, und sucht uns
möglichst glauben zu machen, daß nicht Homer der
Sprechende sei, sondern der alte Priester. Und so ungefähr
hat er die ganze übrige Erzählung eingerichtet
von den Vorgängen in Ilion und den Erlebnissen auf
Ithaka und in der ganzen Odyssee.
Freilich, erwiderte er.
Nun ist aber Erzählung sowohl, wenn er jedesmal
das Gesprochene, als wenn er das zwischen dem Gesprochenen
Liegende darstellt?
Natürlich.
Aber wenn er etwas Gesprochenes darstellt, als
wäre er ein anderer, – werden wir dann nicht sagen,
daß er alsdann seine Rede jedem, den er als sprechend
ankündigt, möglichst ähnlich mache?
Natürlich werden wir das sagen.
Sich einem andern ähnlich machen in Stimme oder
Gestalt heißt nun aber doch, den nachahmen, dem
man sich ähnlich macht?
Sehr wohl.
In solchem Falle also, scheint es, erfolgt bei ihm
Platon: Der Staat 144
und den andern Dichtern die Erzählung durch Nachahmung?
Allerdings.
Wenn aber der Dichter sich nirgends verbärge, so
würde seine ganze Dichtung und Darstellung ohne
Nachahmung erfolgen. Damit du aber nicht sagst, du
verstehest es wieder nicht, wie dies stattfinde, will ich
es sagen.Wenn nämlich Homer, nachdem er gesagt
hat, daß Chryses kam mit Lösegeld für seine Tochter
und um die Achaier anzuflehen, zumeist aber die Fürsten,
alsdann nicht als Chryses spräche, sondern noch
als Homer, so weißt du, daß es keine Nachahmung
wäre, sondern einfache Erzählung und ungefähr so
lauten würde ich will es in ungebundener Rede anführen,
denn ich habe keine Dichtergabe -: Angekommen
wünschte der Priester ihnen, daß die Götter ihnen verleihen,
Troia zu erobern und selbst ungefährdet davonzukommen,
und daß sie seine Tochter freigeben
gegen ein Lösegeld und aus Scheu vor dem Gotte. Als
er so gesprochen, fühlten die anderen fromme Scheu
und zeigten sich einverstanden, Agamemnon aber
wurde wild und befahl ihm zu gehen und nicht wieder
zu kommen, sonst würden ihm Szepter und die Binden
des Gottes nichts helfen; ehe seine Tochter freigegeben
werde, solle sie in Argos an seiner Seite alt
werden. Dann hieß er ihn gehen und ihn nicht reizen,
damit er ohne Schaden nach Hause komme.Wie das
Platon: Der Staat 145
der Alte hörte, fürchtete er sich und entfernte sich
schweigend; wie er aber aus dem Lager weg war, flehte
er inständig zu Apollon, indem er den Gott bei seinen
Beinamen anrief und ihn erinnerte und mahnte,
wofern er je ihm durch Erbauung von Tempeln oder
Schlachten von Opfern etwas Angenehmes geschenkt
habe; um dessen willen, flehte er, möchten die Achaier
für seine Tränen büßen durch des Gottes Pfeile.
So, mein Freund, bemerkte ich, ist es einfache Erzählung
ohne Nachahmung.
Ich verstehe, erwiderte er.
Nun, so verstehe auch, sagte ich, daß andrerseits
das Gegenteil hiervon ist, wenn man dieWorte des
Dichters zwischen dem Gesprochenen wegnähme und
nur dieWechselreden übrig ließe.
Auch das, antwortete er, verstehe ich: die Trauerspiele
sind von dieser Art.
Getroffen, versetzte ich; und jetzt, glaube ich, ist
dir klar, was ich vorher nicht klar machen konnte, daß
von der Dichtung und Märchenerzählung eine Art
ganz durch Nachahmung bewerkstelligt wird, das
Trauerspiel und das Lustspiel, wie du sagst, eine andere
durch Auftreten des Dichters selbst – du findest
diese vorzugsweise in Dithyramben -, eine dritte Art
durch beides, in dem erzählenden Gedicht und auch
sonst oft, wofern du mich verstehst.
O, ich verstehe wohl, erwiderte er, was du vorhin
Platon: Der Staat 146
sagen wolltest. Nun erinnere dich auch an das, was
wir vorher gesagt haben: daß jetzt besprochen sei,
was man reden müsse, und nun noch zu untersuchen
sei, wie man es tun müsse.
Ich erinnere mich wohl.
Nun, das eben war es, wovon ich meinte, daß wir
uns darüber verständigen müssen, ob wir den Dichtern
gestatten werden, ihre Darstellungen durch Nachahmung
zu bewerkstelligen, oder das eine durch
Nachahmung, anderes aber nicht, und welches allemal,
oder ob sie gar nicht nachahmen dürfen.
Ich ahne, fiel er ein, du erwägst, ob wir das Trauerspiel
und Lustspiel in unseren Staat aufnehmen sollen
oder nicht.
Vielleicht, erwiderte ich, noch mehr als dies; denn
ich weiß es noch nicht; sondern in welcher Richtung
uns gleichsam der Wind der Rede treibt, in der müssen
wir gehen.
Und du hast auch recht, versetzte er.
So sieh denn zu, Adeimantos, ob unsere Wächter
im Nachahmen geschickt sein dürfen oder nicht; oder
folgt auch dies aus dem früher Aufgestellten, daß
jeder Einzelne nur eine einzige Beschäftigung gut betreiben
könne, viele aber nicht, sondern daß ihm,
wenn er dies versucht und mit vielem sich befaßt,
alles mißlingt und er in nichts ausgezeichnet ist?
Wie sollte es nicht?
Platon: Der Staat 147
Also gilt auch von der Nachahmung derselbe Satz,
daß der nämliche nicht imstande ist, vieles gut nachzuahmen
wie ein Einziges?
Allerdings.
Schwerlich also wird er gleichzeitig eine der achtungswerten
Beschäftigungen treiben und vieles nachahmen
und ein geschickter Nachahmer sein, da ja
nicht einmal die scheinbar nahe an einander grenzenden
zwei Arten der Nachahmung dieselben Menschen
gleichzeitig gut besorgen können, indem sie z.B.
Lustspiele und Trauerspiele dichten. Oder hast du
nicht vorhin diese beiden als Arten der Nachahmung
bezeichnet?
O ja, und du hast recht, daß nicht dieselben es vermögen.
Und ebensowenig ist man gleichzeitig Sänger
und Schauspieler.
Allerdings.
Ja, nicht einmal zugleich Schauspieler für die Komödie
und für die Tragödie; denn alles das sind Arten
der Nachahmung; oder nicht?
Freilich.
Und noch in kleinere Teile als diese scheint mir,
Adeimantos, die menschliche Natur zerlegt zu sein, so
daß sie unfähig ist, vieles gut nachzuahmen oder eben
das zu tun, dessen Abbild die Nachahmung ist.
Ganz richtig, erwiderte er.
Wenn wir also unsern ersten Satz festhalten, daß
Platon: Der Staat 148
uns dieWächter, von aller sonstigen Dienstleistung
befreit, ganz vollkommene Diener der Unabhängigkeit
des Staates sein müssen und nichts anderes treiben,
was nicht darauf führt, so dürften sie nichts sonstiges
tun noch nachahmen; falls sie aber nachahmen,
so müssen sie schon von Kindheit an das darauf Bezügliche
nachahmen: tapfere, besonnene, fromme,
freie Männer und alles Derartige; das Unfreie aber
dürfen sie weder tun noch nachzuahmen geschickt
sein, ebensowenig sonst etwas Schimpfliches, damit
sie nicht infolge des Nachahmens etwas davon wirklich
werden. Oder hast du nicht bemerkt, daß die
Nachahmungen, wenn man sie von Jugend an lange
forttreibt, zu Gewohnheiten und zur Natur werden,
sowohl in bezug auf den Leib und die Sprache als in
bezug auf die Gesinnung?
O freilich, antwortete er.
Wir werden also, fuhr ich fort, denen, von welchen
wir sagen, daß sie uns am Herzen liegen, und daß sie
gute Männer werden müssen, nicht gestatten, als
Männer eine Frau nachzuahmen, eine junge oder eine
ältere, die auf ihren Mann schmäht oder Göttern gegenüber
streitet und sich brüstet, weil sie sich für
glücklich hält, oder die von Unglück und Trauer und
Leid gedrückt ist; vollends aber eine kranke oder verliebte
oder kreißende gar nicht.
Natürlich, erwiderte er.
Platon: Der Staat 149
Auch nicht Sklavinnen und Sklaven, wie sie alles
tun, was Sklavensache ist.
Auch das nicht.
Auch nicht, wie es scheint, schlechteMänner, feige
und solche, die das Gegenteil tun von dem, was wir
eben gesagt, die einander verleumden und verhöhnen
und schmutzige Reden führen, trunken oder auch
nüchtern, und womit sonst noch solche inWorten und
Handlungen sich gegen sich und andere verfehlen. Ich
denke, auchWahnsinnigen in Reden oder auch in
Handlungen sich ähnlich zu machen sollen sie sich
nicht gewöhnen; kennenlernen müssen sie zwar
Wahnsinnige und schlechte Männer und Frauen,
selbst tun oder nachahmen aber nichts von diesen.
Sehr wahr, versetzte er.
Und weiter, sagte ich, sollen sie Schmiede oder
sonstige Handwerker oder Trierënruderer oder deren
Aufseher oder überhaupt etwas dieser Art nachahmen?
Wie sollten sie, erwiderte er, da ihnen ja nicht einmal
gestattet sein wird, auf irgend etwas Derartiges zu
achten?
Und dann dasWiehern von Pferden, das Brüllen
von Stieren, das Rauschen von Flüssen und das Tosen
des Meeres und den Donner und all das derartige, –
werden sie es nachahmen?
Es ist ihnen ja verboten, erwiderte er, toll zu sein
Platon: Der Staat 150
oder Tollen sich ähnlich zu machen.
Wenn ich also, fuhr ich fort, verstehe, was du
meinst, so gibt es eine Art des Vertrags und der Darstellung,
in der der wahrhaft Edle und Gute darstellen
wird, wenn er etwas zu sprechen hat, und andererseits
eine dieser unähnliche Art, an die der durch Natur und
Erziehung jenem Entgegengesetzte sich immer halten
und in der er darstellen wird.
Und worin bestehen diese? fragte er.
Ich denke, versetzte ich, der rechtschaffene Mann
wird, wenn er in der Darstellung an eine Rede oder
Tat eines guten Mannes kommt, gern es so vortragen,
als wäre er selbst jener, und wird sich nicht solcher
Nachahmung schämen und wird dabei am liebsten
den Guten nachahmen, wie er sicher und verständig
handelt, weniger und in geringeremMaße aber, wie er
infolge von Krankheiten oder Verliebtheit strauchelt
oder auch aus Trunkenheit oder wegen eines anderen
Unfalls. Gelangt er aber an einen seiner Unwürdigen,
so wird er nicht Lust haben, im Ernste sich dem
Schlechteren ähnlich zu machen, außer etwa auf kurze
Zeit, wenn dieser etwas Rechtschaffenes tut; sondern
er wird sich schämen, teils, weil er ungeübt ist, derartige
Leute nachzuahmen, teils auch, weil es ihm zu
wider ist, sich in das Gepräge der Schlechteren zu formen
und hineinzuversetzen, indem er es innerlich verachtet,
außer etwa Scherzes halber.
Platon: Der Staat 151
Natürlich, sagte er.
So wird er also eine Darstellung anwenden, wie wir
sie kurz zuvor beschrieben haben in bezug auf die homerischen
Gedichte, und sein Vortrag wird von beidem
etwas an sich haben, von der Nachahmung wie
von der andern Darstellung, der einfachen Erzählung,
aber von der Nachahmung nur einen kleinen Teil in
einer langen Dichtung; oder habe ich nicht recht?
O ja, erwiderte er; wie wenigstens notwendig das
Gepräge eines solchen Redners beschaffen sein muß.
So wird denn also, fuhr ich fort, wer nicht von dieser
Art ist, je schlechter er ist, um so eher alles darstellen
und nichts für seiner unwürdig halten; daher
wird er alles nachzuahmen versuchen, und zwar im
Ernste und vor vielen, auch was wir soeben aufgezählt
haben: den Donner und das Geräusch vonWinden
und von Schloßen undWagenachsen und Flaschenzügen
und die Töne von Trompeten und Flöten
und Pfeifen und allen Instrumenten, und auch die
Laute von Hunden und Schafen und Vögeln; und so
wird sein Vortrag ganz in Nachahmung bestehen
durch Stimme und Gebärden oder nur ein wenig von
Erzählung an sich haben.
Auch das ist notwendig, versetzte er.
Das also, sagte ich, sind die beiden Arten des Vertrags,
die ich meinte.
So ist’s auch, antwortete er.
Platon: Der Staat 152
Von diesen beiden nun hat die eine wenig Abwechslung,
und wenn man dem Vortrage die angemessene
Harmonie und seinen Rhythmus gibt, so findet
bei dem, der richtig spricht, das Sprechen immer
fast nach derselben Art und in der nämlichen Harmonie
statt – denn die Abwechslungen sind klein – und
ebenso in einem ähnlichen Rhythmus.
Sehr wohl verhält es sich so, erwiderte er.
Dann aber die andere Art – bedarf sie nicht das Entgegengesetzte,
wenn sie nach ihrer Eigentümlichkeit
gesprochen werden soll, aller Harmonien und aller
Rhythmen, weil sie mannigfaltige Formen der Abwechslung
hat?
Freilich ist es so.
Bedienen sich nun nicht alle Dichter und jeder, der
etwas spricht, entweder der einen von diesen Arten
des Vertrags, oder der andern, oder einer aus beiden
gemischten?
Notwendig, versetzte er.
Was werden wir nun tun? fragte ich; werden wir in
unsern Staat alle diese aufnehmen, oder nur die eine
der ungemischten, oder die gemischte?
Wenn es auf mich ankommt, die ungemischte, welche
das Schickliche nachahmt.
Aber, mein Adeimantos, auch die gemischte ist angenehm:
bei weitem die angenehmste aber für Kinder
und deren Begleiter und für den größten Haufen ist
Platon: Der Staat 153
die der von dir gewählten entgegengesetzte.
So ist’s freilich.
Aber vielleicht, fuhr ich fort, behauptest du, daß sie
nicht zu unserer Verfassung stimme, weil bei uns es
keinen doppelten oder vielfältigen Mann gibt, da jeder
nur eines treibt?
Allerdings stimmt sie nicht.
Daher werden wir nur in einem so eingerichteten
Staate den Schuster als Schuster finden und nicht als
Steuermann neben dem Schusterhandwerk, und den
Landmann als Landmann und nicht als Richter neben
dem Ackerbau, und den Krieger als Krieger und nicht
als Geldspekulanten neben der Kriegskunst, und bei
allen ebenso?
Du hast recht, erwiderte er.
Einen Mann also, scheint es, der infolge seiner
Weisheit alles mögliche werden und alle Dinge nachahmen
könnte, werden wir, wenn er in unseren Staat
kommt samt seinen Kunstwerken in der Absicht sich
zu zeigen, verehren als heilig und bewundernswert
und angenehm, werden aber sagen, daß es einen solchen
Mann in unserem Staat nicht gebe und nicht
geben dürfe, und wir werden ihn in einen anderen
Staat schicken, nachdem wir Salbe über sein Haupt
gegossen und es mitWolle bekränzt haben, und wir
werden selbst uns des Vorteils wegen an den herberen
und unangenehmeren Dichter und Märchenerzähler
Platon: Der Staat 154
halten, der uns die Redeweise des Schicklichen nachahmt
und das, was er spricht, in jenen Mustern
spricht, die wir gleich anfangs als Gesetz aufgestellt
haben, als wir die Krieger zu bilden unternahmen.
Allerdings werden wir es so machen, wenn es auf
uns ankommt, erwiderte er.
Nunmehr, sagte ich, mein Freund, scheint es, daß
wir den auf Reden und Märchen bezüglichen Teil der
Musenkunst vollständig erschöpft haben; denn was
und wie man zu sprechen habe, ist erörtert.
Ich glaube selbst auch, bemerkte er.
Es ist nun also nach diesem, sagte ich, das die Gesangesweise
und die Lieder Betreffende noch übrig?
Offenbar.
Werden nun nicht nachgerade alle finden können,
was wir über jene zu sagen haben hinsichtlich der Beschaffenheit,
die sie an sich tragen müssen, wofern
wir mit dem vorher Gesagten in Übereinstimmung
bleiben wollen?
Da sagte Glaukon unter Lachen: Nun, so scheine
ich, o Sokrates, zu den »allen« nicht zu gehören; wenigstens
bin ich im Augenblicke nicht imstande, mir
zusammenzureimen, welche Beschaffenheit wir angeben
müssen, ahne es jedoch.
Auf jeden Fall bist du aber doch wohl, versetzte
ich, imstande, fürs erste das zu sagen, daß das Lied
aus dreierlei zusammengesetzt ist: aus Rede (Text),
Platon: Der Staat 155
Tonart (Harmonie) und Zeitmaß (Rhythmus).
Das allerdings, antwortete er.
Soviel nun daran Rede ist, unterscheidet sich doch
wohl in nichts von der nicht gesungenen Rede, in der
Beziehung daß es in dem gleichen Gepräge und der
gleichenWeise gehalten sein muß, wie wir eben
zuvor aufgestellt haben?
Das ist wahr, versetzte er.
Und die Tonart und das Zeitmaß muß sich doch an
die Rede anschließen?
Natürlich.
Nun haben wir aber doch gesagt, daß wir Klagen
und Jammer in den Reden nicht brauchen?
Allerdings nicht.
Welches sind nun klagende Tonarten? Sage es mir:
denn du bist ein Musikverständiger.
Die gemischtlydische, erwiderte er, und die hochlydische
und einige andere dieser Art.
Diese also, sprach ich, müssen beseitigt werden;
denn sie sind unbrauchbar schon für Frauen, die
wacker sein sollen, geschweige denn für Männer.
Allerdings.
Ferner aber ist doch Trunkenheit fürWächter
gewiß höchst unziemlich, sowieWeichlichkeit und
Müßiggang?
Begreiflich.
Welche unter den Tonarten sind nun weichlich und
Platon: Der Staat 156
für Trinkgelage geeignet?
Die ionische, war seine Antwort, und die lydische,
welche schlaff genannt werden.
Wirst du nun diese, mein Lieber, bei kriegerischen
Männern brauchen können?
Keineswegs, antwortete er, sondern es scheint, du
behältst die dorische und die phrygische übrig.
Ich verstehe mich nicht auf die Tonarten, sagte ich;
aber ich behalte diejenige Tonart übrig, die in angemessenerWeise
die Lautfärbung und Betonung eines
Mannes nachahmen würde, der in kriegerischem Handeln
und überhaupt gewaltsamer Tätigkeit begriffen
ist und- vom Glücke im Stiche gelassen, inWunden
oder in den Tod gehend oder in irgend ein anderes
Mißgeschick geraten, – in allen diesen Lagen wohlgerüstet
und standhaft gegen das Schicksal sich zur
Wehr setzt; und daneben eine andere für einen Mann,
der in friedlicher und nicht gewaltsamer, sondern
zwangloser Tätigkeit begriffen ist und entweder jemand
zu etwas beredet und bittet, – entweder durch
Flehen einen Gott oder durch Belehrung und Ermahnung
einen Menschen, – oder umgekehrt einem andern,
der bittet oder belehrt oder umzustimmen sucht,
sein Ohr leiht und infolgedessen seineWünsche erfüllt
sieht und nicht übermütig sich benimmt, sondern
besonnen und gemäßigt in allen diesen Lagen verfährt
und mit dem, was kommt, zufrieden ist. Diese zwei
Platon: Der Staat 157
Tonarten, die gewaltsame und die zwanglose, die der
vom Glück Verfolgten und Begünstigten, der Besonnenen
und Mannhaften Lautfärbung am schönsten
nachahmen werden, – diese laß übrig!
Aber, versetzte er, damit wünschest du keine anderen
übrig gelassen als die, die ich soeben genannt
habe.
Nicht also, fuhr ich fort, werden wir Vielheit der
Saiten oder auchWerkzeuge mit allen Tonarten brauchen
bei den Gesängen und Liedern?
Es scheint mir nicht, erwiderte er.
Meister des Trigonons also und der Pektis und aller
derWerkzeuge, die viele Saiten und viele Tonarten
haben, werden wir nicht ernähren?
Offenbar nicht.
Wie aber: Flötenmacher oder Flötenbläser – wirst
du sie in das Gemeinwesen aufnehmen? Oder ist dieses
Instrument nicht das umfangreichste, und sind
eben die allstimmigen nicht gerade Nachahmungen
der Flöte?
Das ist ja klar, erwiderte er.
Die Lyra bleibt dir also übrig, sagte ich, und die
Kithara, und zwar als brauchbar in der Stadt; und
dann auf dem Lande für die Hirten wäre eine Art
Rohrpfeife brauchbar.
Darauf führt uns wenigstens, versetzte er, das Gesagte.
Platon: Der Staat 158
Da tun wir, fuhr ich fort, nichts Neues, mein Lieber,
indem wir dem Apollon und den Instrumenten
des Apollon den Vorzug zuerkennen vor Marsyas und
dessen Instrumenten.
Beim Zeus, erwiderte er, wir tun es offenbar nicht.
Und beim Hunde, sprach ich, unvermerkt sind wir
wieder daran, den Staat zu säubern, den wir eben erst
in Üppigkeit fanden.
Das ist verständig von uns, bemerkte er.
Auf denn, sagte ich, so wollen wir auch das Übrige
säubern! Denn das Nächste nach den Tonarten wird
uns ja wohl sein das die Zeitmaße Betreffende, daß
wir bei diesen nicht dem Bunten nachgehen oder auch
allerlei Gangarten, sondern darauf sehen, welches das
Maß eines geordneten und mannhaften Lebens ist; im
Hinblick auf dieses muß man den Takt und die Melodie
nötigen, sich nach der Rede eines solchen zu richten,
nicht aber die Rede nach dem Takt und der Melodie.
Welches nun diese Zeitmaße wären, das anzugeben
ist deine Sache, wie bei den Tonarten.
Aber beim Zeus, entgegnete er, ich weiß es nicht zu
sagen. Denn daß es ungefähr drei Arten sind, aus
deren Verflechtung die Gangarten gebildet werden,
wie bei den Tönen viererlei, woraus sämtliche Tonarten
hervorgehen, das kann ich aus meiner Anschauung
berichten; welches aber die Nachahmungen eines Lebens
seien – und welchen Lebens -, das weiß ich nicht
Platon: Der Staat 159
anzugeben.
Nun, dies, sagte ich, wollen wir noch mit Dämon
beraten, welches die für Gemeinheit und Ausgelassenheit
oder für Tollheit und sonstige Schlechtigkeit angemessenen
Gangarten sind, und welche Zeitmaße für
das Entgegengesetzte übriggelassen werden müssen.
Ich erinnere mich dunkel, gehört zu haben, wie er ein
zusammengesetztes waffentanzartig nannte und ein
daktylisches und besonders heroisches und es, ich
weiß nicht wie, ordnete und oben und unten gleichstellte,
indem es kurz und lang wurde, und auch einen
Iambos, wie ich glaube, nannte und Trochaios einen
anderen, und er fügte Längen und Kürzen an. Und an
einigen von diesen, glaube ich, tadelte und lobte er
die Haltung (das Tempo) des Versfußes nicht minder
als die Maße selbst, oder auch etwas dies beides Umfassendes;
denn ich weiß es nicht anzugeben. Aber
dies soll, wie gesagt, für Dämon aufgespart sein; denn
es ins reine zu bringen erfordert nicht wenigWorte;
oder meinst du nicht auch?
Freilich, beim Zeus.
Aber das kannst du doch ins reine bringen, daß die
Eigenschaft der Wohlanständigkeit abhängt von dem
Wohlgemessenen und dem Schlechtgemessenen?
Natürlich.
Aber dasWohlgemessene und das Schlechtgemessene
richtet sich doch wohl – jenes nach der schönen
Platon: Der Staat 160
Rede, der es gleichgemacht ist, dieses nach der entgegengesetzten,
und dasWohlgestimmte und Schlechtgestimmte
der Tonart ebenso, wofern das Zeitmaß
und die Tonart nach der Rede sich richtet, wie vorhin
gesagt wurde, nicht aber die Rede sich nach diesen.
Freilich, sagte er, müssen diese von der Rede abhängen.
Wie ist es aber mit der Art undWeise des Redens,
fragte ich, und dem Inhalte? Richten sie sich nicht
nach dem sittlichen Charakter der Seele?
Natürlich.
Und das übrige richtet sich nach dem Reden?
Ja.
Wohlredenheit also undWohlgestimmtheit und
Wohlanständigkeit undWohlgemessenheit hängt ab
von der Wohlgesittetheit, nicht derjenigen, die in
Wahrheit Unverstand ist und nur aus freundlicher
Nachsicht von uns alsWohlgesittetheit bezeichnet
wird, sondern der wahrhaft nach Sitte wohl und schön
bestellten Gesinnung?
Allerdings, versetzte er.
Müssen nun die Jünglinge nicht allenthalben diesem
nachgehen, wenn sie ihre Pflicht tun wollen?
Freilich müssen sie.
Es ist nun aber doch wohl die Malerei dessen voll
und alle derartige Kunsttätigkeit, voll auch dieWeberei
und die Stickerei und die Baukunst und dann die
Platon: Der Staat 161
gesamte Verfertigung der übrigen Geräte, und überdies
die Natur der Leiber und der übrigen Naturerzeugnisse;
denn bei diesen allen findet sichWohlanständigkeit
oder Unanständigkeit. Die Unanständigkeit
nun und die Ungemessenheit und die Ungestimmtheit
sind verschwistert mit der Übelredenheit
und der Übelgesittetheit, das Gegenteilige aber mit
dem Gegenteiligen, der züchtigen und guten Sitte,
verschwistert und dessen Nachahmung.
Vollkommen freilich, sagte er.
Müssen wir also allein die Dichter überwachen und
nötigen, das Bild der guten Sitte in ihren Dichtungen
darzustellen oder überhaupt nicht bei uns zu dichten,
oder müssen wir auch die übrigen Künstler überwachen
und hindern, dieses Schlimmgesittete und Zuchtlose
und Gemeine und Unanständige weder in Bildern
lebenderWesen noch in Gebäuden noch in irgend
einem sonstigenWerke der Kunst darzustellen, oder
dürfen wir dem, der es nicht vermag, nicht gestatten,
bei uns zu arbeiten, damit uns nicht dieWächter,
unter Bildern der Schlechtigkeit aufgezogen, wie
unter schlechtem Kraute, jeden Tag allmählich von
vielen vieles pflückend und zu sich nehmend, unvermerkt
ein großes Übel in ihrer Seele zu einem Ganzen
vereinigen? Vielmehr müssen wir solche Künstler suchen,
die mit schöner Begabung die Natur des Schönen
und Anständigen aufzuspüren imstande sind,
Platon: Der Staat 162
damit die Jünglinge, wie an gesundem Orte wohnend,
Nutzen aus allem ziehen, von welcher Seite immer
etwas von den schönen Werken her in ihr Auge oder
Ohr fällt, einem Luftzug ähnlich, der aus heilsamen
Gegenden Gesundheit bringt und schon von Kindheit
auf unvermerkt sie zur Ähnlichkeit, Freundschaft und
Übereinstimmung mit dem Schönen treibt?
So, erwiderte er, würden sie auf die bei weitem
schönste Art erzogen.
So ist also, mein Glaukon, fuhr ich fort, die Erziehung
durch Musik darum die vorzüglichste, weil der
Rhythmus und die Harmonie am meisten in das Innerste
der Seele dringt und am stärksten sie erfaßt und
Anstand bringt und anständig macht, wenn jemand
darin richtig erzogen wird, – wo nicht, – das Gegenteil?
Und weil hinwiederum der, welcher hierin erzogen
ist, wie es sein soll, das Übersehene und von der
Kunst oder der Natur nicht schön Ausgeführte am
schärfsten wahrnimmt und mit gerechtemWiderwillen
vor diesem das Schöne lobt und mit Freuden es in
seine Seele aufnimmt und daran sich nährt und schön
und gut wird, dagegen das Häßliche mit Rechttadelt
und haßt schon, wenn er jung ist, ehe er noch Vernunft
zu fassen imstande ist, wenn aber diese kommt,
sie willkommen heißt, indem er sie wegen seiner Verwandtschaft
mit ihr am ehesten erkennt, wenn er so
erzogen ist?
Platon: Der Staat 163
Mir wenigstens scheint es, erwiderte er, daß um
deswillen die Erziehung in der Musik stattfindet.
Gerade also, bemerkte ich, wie wir mit der Schrift
damals genügend bekannt waren, als wir die wenigen
Buchstaben in allem, worin sie vorkommen, zu erkennen
wußten und weder in Kleinem noch in Großem
sie mißachteten, als brauchte man sie nicht zu bemerken,
sondern überall uns bemühten, sie zu unterscheiden,
weil wir nicht eher Schriftkundige wären, bis wir
uns auf dieser Stufe befänden.
Richtig.
Also auch die Bilder von Schriftzeichen, wenn sie
uns etwa imWasser oder in einem Spiegel sichtbar
würden, werden wir nicht eher kennen, bis wir sie
selbst kennen, sondern es gehört dies zu derselben
Fertigkeit und Übung?
Allerdings.
So werden wir also, was ich meine, auf diese
Weise, bei den Göttern, auch nicht eher musisch gebildet
sein, weder wir selbst noch auch die, von welchen
wir sagen, daß wir sie bilden müssen, dieWächter,
– bis wir die Gestalten der Mäßigung und der
Tapferkeit und des Freisinns und der Hochherzigkeit
und alles, was diesen verschwistert ist, und andererseits
das Gegenteil von diesen, überall, wo es vorkommt,
erkennen und, wenn sie in etwas anderem
sind, sie wahrnehmen, sowohl sie selbst als ihre
Platon: Der Staat 164
Abbilder, und weder in Kleinem noch in Großem sie
mißachten, sondern glauben, daß dies zu derselben
Fertigkeit und Übung gehöre?
Das ist ganz notwendig, bemerkte er.
Bei wem also, fuhr ich fort, sich trifft, daß in seiner
Seele schöne Sitten sind und in seiner Gestalt diesen
Entsprechendes und damit Übereinstimmendes, zu
demselben Gepräge Gehöriges, – der wäre der schönste
Anblick für den, der sehen kann?
Bei weitem.
Nun ist aber das Schönste doch wohl das Liebenswürdigste?
Natürlich.
Die Menschen also, die möglichst so beschaffen
sind, wird der musisch Gebildete lieben; wenn aber
jene Übereinstimmung nicht vorhanden ist, dann wird
er nicht lieben?
Wenn, erwiderte er, an der Seele ein Mangel ist;
wenn aber am Leibe, so wird er es ertragen, so daß er
ihm dennoch freundlich sein mag.
Ich verstehe, sagte ich: du hast oder hattest einmal
einen solchen Geliebten, und ich gebe es zu. Aber
sage mir dies: Hat Besonnenheit Gemeinschaft mit
übermäßiger Lust?
Wie sollte sie, antwortete er, da sie von Sinnen
bringt nicht minder als die Trauer?
Aber mit sonstiger Tugend?
Platon: Der Staat 165
Keineswegs.
Wie aber mit Übermut und Zuchtlosigkeit?
Gar sehr.
Kannst du mir aber eine größere und heftigere Lust
nennen als die der Liebe?
Nein, versetzte er, und auch keine wahnsinnigere.
Die rechte Liebe aber ist ihremWesen nach: einen
Gesitteten und Schönen besonnen und musisch zu lieben?
Jawohl, sagte er.
Man darf also nichts Tolles und mit Zuchtlosigkeit
Verwandtes zu der rechten Liebe hinzubringen?
Nein.
So darf man also diese Lust nicht hinzubringen,
und es dürfen an dieser keinen Teil haben Liebhaber
und Geliebte, die recht lieben und geliebt werden?
Nein, bei Zeus, Sokrates, man darf sie nicht hinzubringen,
antwortete er.
Das also, scheint es, wirst du als Gesetz aufstellen
in dem Staate, der gegründet wird, daß der Liebhaber
den Geliebten küssen dürfe und mit ihm Zusammensein
und ihn berühren wie einen Sohn, um der Schönheit
willen, wenn er ihn dazu bewegen kann; daß man
im übrigen aber mit dem, den man verehre, so umzugehen
habe, daß das Verhältnis nicht weiter als bis zu
dieser Grenze zu gehen scheine; wo nicht, – so treffe
ihn der Vorwurf der musischen Unfeinheit und der
Platon: Der Staat 166
Unempfindlichkeit für das Schöne.
Sei’s denn, erwiderte er.
Glaubst du nun nicht auch, bemerkte ich, daß unsere
Erörterung über die Musenkunst zu Ende sei? Wenigstens
das Ende, zu dem sie kommen muß, hat sie
erreicht: es muß nämlich die Musenkunst enden in der
Liebe des Schönen.
Einverstanden, erklärte er.
Nach der Musenkunst also muß man die Jugend erziehen
durch Turnkunst.
Ganz gewiß.
Nun muß zwar auch diese von Kindheit an das
ganze Leben lang sorgfältig getrieben werden; es verhält
sich aber damit, wie ich glaube, folgendermaßen:
Besinne auch du dich, denn mir scheint es nicht, als
ob ein tüchtiger Leib durch seine eigene Tüchtigkeit
die Seele gut machte, sondern daß umgekehrt eine
gute Seele durch ihre Tüchtigkeit den Leib so gut wie
möglich hinstellt; wie kommt es aber dir vor?
Ebenso, antwortete er.
Wenn wir also, nachdem wir die Gesinnung gehörig
gepflegt, ihr überlassen, in betreff des Leibes die
genaueren Bestimmungen zu treffen, und selbst nur
die Umrisse angäben, um nicht weitläufig zu werden,
so würden wir wohl richtig verfahren?
Allerdings.
Von der Trunkenheit nun also, haben wir gesagt,
Platon: Der Staat 167
müssen dieWächter sich fernhalten; denn jedem eher
als einemWächter kann man gestatten, daß er vor
Trunkenheit nicht weiß, wo zu Lande er ist.
Freilich, bemerkte er, ist es lächerlich, wenn der
Wächter selbst einenWächter braucht.
Und dann – wie steht es in betreff der Nahrung?
Denn die Männer sind ja Ringer in dem größtenWettkampfe;
oder nicht?
O ja.
Wäre nun wohl die Lebensweise dieser bei ihren
Übungen angemessen für jene?
Vielleicht.
Aber, wendete ich ein, diese macht ja schlafsüchtig
und ist für die Gesundheit gefährlich; oder siehst du
nicht, daß diese Ringer ihr Leben lang schlafen und,
wenn sie nur ein wenig die vorgeschriebene Lebensart
überschreiten, schwer und heftig erkranken?
Allerdings.
So bedarf es also, fuhr ich fort, einer feineren Vorbereitung
für die kriegerischenWettkämpfer, die ja
wie Hunde wachsam sein müssen und ein möglichst
scharfes Gesicht und Gehör haben und bei dem vielen
Wechsel desWassers und der übrigen Nahrungsmittel
und der Hitze und Kälte, der sie in den Feldzügen
ausgesetzt sind, keine leichtgefährdete Gesundheit
haben dürfen.
Das ist mir klar.
Platon: Der Staat 168
So wäre denn also wohl die beste Turnkunst verschwistert
mit der Musenkunst, die wir kurz zuvor beschrieben
haben?
Wie meinst du das?
Halt eine einfache und geeignete Turnkunst, und
besonders in dem, was sich auf den Krieg bezieht.
Wieso?
Schon von Homer, antwortete ich, kann man in dieser
Beziehung lernen. Denn du weißt, daß er im Kriege
die Helden bei ihren Schmausereien weder mit Fischen
bewirtet, obgleich sie sich amMeere im Hellespontos
befinden, noch mit gesottenem Fleisch, sondern
ausschließlich mit gebratenem, was natürlich für
Krieger am leichtesten zu bekommen sein wird; denn
so ziemlich überall geht es leichter, das Feuer allein
anzuwenden, als Gefäße mit herumzutragen.
Freilich.
Auch Gewürze, glaube ich, hat Homer nie erwähnt;
oder wissen das nicht auch die andern Sportsleute,
daß ein Leib, der sich wohlbefinden will, alles Derartigen
sich enthalten muß?
Und sie tun recht daran, versetzte er, daß sie es
wissen und sich enthalten.
Einen syrakusischen Tisch dagegen, mein Freund,
und eine sizilische Mannigfaltigkeit von Gerichten
lobst du, scheint s, nicht, wenn du glaubst, daß jene
daran recht tun.
Platon: Der Staat 169
Ich glaube nicht.
Du tadelst es also auch, wenn Männer, die eine
gute Leibesbeschaffenheit haben sollen, ein korinthisches
Mädchen liebhaben?
Allerdings.
Also auch die wohlbekannten Leckereien des attischen
Backwerkes lehnst du ab?
Notwendig.
Denn ich glaube, wenn wir diese ganze Kost und
Lebensart mit der Tonsetzung und dem Gesänge vergleichen,
der alle Harmonien und alle Rhythmen aufbietet,
so werden wir sie richtig vergleichen.
Sicherlich.
Dort nun hat die Mannigfaltigkeit Zügellosigkeit
erzeugt und hier Krankheit, die Einfachheit aber in
bezug auf die Musik in der Seele Mäßigung, und in
bezug auf die Turnkunst in dem Leibe Gesundheit.
Ganz richtig, versetzte er.
Wenn nun aber in einem Staate Zügellosigkeit und
Krankheiten überhandnehmen, tun sich da nicht viele
Gerichtsstätten und Arzneiläden auf, und bekommt
die Rechtskenntnis und Heilkunde Bedeutung, wenn
sich auch viele Freie, und sehr angelegentlich, damit
beschäftigen?
Wie sollten sie nicht?
Kann es aber einen schlagenderen Beweis von der
schlechten und schimpflichen Erziehung in einem
Platon: Der Staat 170
Gemeinwesen geben, als daß vorzügliche Ärzte und
Richter nötig sind nicht allein für die unteren Stände
und die Handwerker, sondern auch für solche, die
dafür gelten wollen, daß sie auf eine eines Freien würdigeWeise
erzogen seien? Oder scheint es nicht
schimpflich und ein schlagender Beweis von mangelnder
Bildung, wenn man sich genötigt sieht, von
andern, als seinen Gebietern und Richtern, Recht zu
holen und daran sich zu halten, und das aus Mangel
an eigenem?
Allerdings, erwiderte er, ist das die allergrößte
Schande.
Scheint dir dies, fragte ich, noch schimpflicher als
das, wenn einer nicht allein den größten Teil seines
Lebens in Gerichtssälen als Angeklagter und Ankläger
sich herumtreibt, sondern vor Ungeschliffenheit
sogar noch sich einbildet, damit großtun zu können,
daß er stark sei im Unrechttun und geschickt, alle
Schliche und Kniffe in Anwendung zu bringen und
sich schlau hinauszuwinden, ohne bestraft zu werden,
und das um kleiner und nichtswürdiger Dinge willen,
ohne zu ahnen, wie viel schöner und besser es sei,
sein Leben so einzurichten, daß man eines halbwachen
Richters nicht bedarf?
Nein, antwortete er, sondern das letztere ist noch
schimpflicher als jenes.
Und dann, fuhr ich fort, der Heilkunde zu bedürfen,
Platon: Der Staat 171
wenn nicht etwa wegenWunden oder Krankheiten,
wie sie jedes Jahr vorkommen, sondern infolge von
Faulheit und einer Lebensweise, wie wir sie beschrieben
haben, mit Flüssen undWinden wie ein See sich
zu füllen, daß die feinen Jünger des Asklepios genötigt
sind, die Namen Blähungen und Katarrhe für die
Krankheiten zu geben, – scheint dir das nicht schimpflich?
Allerdings, versetzte er, sind das in der Tat neue
und wunderliche Krankheitsbezeichnungen.
Dergleichen es, sagte ich, zu Asklepios’ Zeiten
wohl nicht gab. Ich schließe das daraus, daß seine
Söhne in Troia die Frau, welche dem verwundeten
Eurypylos pramnischenWein zu trinken gab, mit
einem starken Zusatz von Gerstenmehl und eingeschabtem
Käse vermischt, was doch für erhitzend gilt,
nicht tadelten, noch den Patrokles, der ihn behandelte,
darob schalten.
Freilich, entgegnete er, ist das ein wunderlicher
Trank bei solchem Befinden.
Doch nicht, antwortete ich, wenn du bedenkst, daß
diese Erziehungskunst der Krankheiten, die heutige
Heilkunst, die Jünger des Asklepios vordem nicht anwandten,
wie es heißt, bis zu der Zeit des Herodikos.
Herodikos nämlich, der ein Turnlehrer war und kränklich
wurde, mischte die Turnkunst und Heilkunst
durcheinander und quälte damit zuerst und
Platon: Der Staat 172
hauptsächlich sich selbst und später dann noch viele
andere.
Wieso? fragte er.
Indem er, antwortete ich, sich das Sterben lang
machte. Indem er nämlich dem Verlaufe der Krankheit
nachging, die eine tödliche war, konnte er, glaube ich,
weder sich selbst heilen, noch hatte er für etwas mehr
Zeit, sondern dokterte an sich herum sein Leben lang
und quälte sich ab, ob er nicht die gewohnte Lebensweise
überschreite, und erreichte so, infolge seiner
Weisheit langsam sterbend, ein hohes Alter.
Da hat er denn einen schönen Lohn seiner Kunst
davongetragen, bemerkte er.
Wie ihn der verdiente, versetzte ich, der nicht erkannte,
daß Asklepios nicht aus Unwissenheit oder
Unkenntnis dieser Art von Heilkunst sie seinen Nachkommen
nicht gezeigt hat, sondern weil er wußte, daß
bei allen, die unter guten Gesetzen leben, für jeden ein
Geschäft im Staate angewiesen ist, das er notwendig
treiben muß, und er keine Zeit hat, sein Leben lang
krank zu sein und an sich herumdoktern zu lassen.
Lächerlicherweise sehen wir das bei den Handwerkern
ein, bei den Reichen aber und denen, die für glücklich
gelten, bemerken wir es nicht.
Inwiefern? fragte er.
Ein Zimmermann, antwortete ich, wird, wenn er
krank ist, von dem Arzte einen Trank begehren, um
Platon: Der Staat 173
die Krankheit herauszubrechen, oder sie durch ein
Abführungsmittel oder durch Brennen oder Schneiden
los werden wollen; wenn ihm aber jemand eine kleinliche
Lebensordnung vorschreibt und ihm Käppchen
auf den Kopf setzt und was sonst noch dazu gehört,
so wird er rasch antworten, daß er keine Zeit habe,
krank zu sein, noch daß er Nutzen habe von einem
solchen Leben, indem er immer an die Krankheit
denke und sein Geschäft versäume. Und darauf wird
er zu einem solchen Arzte »Gehorsamer Diener«
sagen, zu seiner gewöhnlichen Lebensweise zurückkehren,
genesen und am Leben bleiben und seine Geschäfte
betreiben: ist aber sein Leib nicht imstande, es
auszuhalten, so stirbt er und ist aller Mühe enthoben.
Freilich für einen solchen, versetzte er, scheint es
angemessen, der Heilkunst sich in dieserWeise zu bedienen.
Nicht wahr, sagte ich, weil er ein Geschäft hatte,
bei dessen Versäumung es für ihn nicht vorteilhaft
war, am Leben zu bleiben?
Offenbar, erwiderte er.
Der Reiche dagegen hat, wie wir sagen, kein derartiges
Geschäft vor sich, daß er, wenn er genötigt ist,
es aufzugeben, nicht mehr leben möchte.
Wenigstens nennt man keines der Art.
Da hörst du aber nicht, wie Phokylides spricht, entgegnete
ich, daß, wer schon zu leben habe, Tugend
Platon: Der Staat 174
üben müsse.
O ich denke, auch schon vorher, bemerkte er.
Wir wollen, sagte ich, hierüber mit ihm nicht streiten,
sondern uns darüber belehren, ob dies der Reiche
zu treiben habe und, wenn er es nicht tut, aufs Leben
verzichten soll, oder ob das Pflegen der Krankheit
zwar bei der Kunst des Zimmermanns und den übrigen
Künsten ein Hindernis der Achtsamkeit ist, dagegen
dem Gebote des Phokylides nicht imWege steht?
O ja, beim Zeus, antwortete er, sie fast am allermeisten,
diese übertriebene, über die Turnkunst hinausgehende
Sorge für den Leib; denn auch für die Besorgung
des Hauswesens und für Feldzüge und für
Ämter daheim in der Stadt ist sie hinderlich.
Die Hauptsache aber ist, daß sie auch für jede Art
von Lernen und Nachdenken und geistige Übungen
beschwerlich ist, indem sie immer Anstrengung der
Kopfnerven und Schwindel befürchtet und behauptet,
daß das die Folge des Philosophierens sei, so daß, wo
jene waltet, es schlechterdings der Tugend unmöglich
ist, sich zu üben und zu bewähren; denn sie macht,
daß man immer krank zu sein glaubt und niemals aufhört,
mit dem Leibe Nöte zu haben.
Natürlich.
Wollen wir nun nicht annehmen, daß auch Asklepios
dies erkannt und daher diejenigen, die in bezug auf
Natur und Lebensweise gesunden Leibes sind, nur
Platon: Der Staat 175
aber eine Krankheit abgesondert in sich haben, – für
diese und für eine solche Beschaffenheit die Heilkunst
gelehrt, durch Arzneimittel und Schneiden die Krankheiten
auszutreiben und ihnen ihre gewöhnliche Lebensweise
zu verordnen, um ihnen nicht in bürgerlicher
Hinsicht Nachteil zu bringen; daß er dagegen
nicht versucht, Leiber, die innerlich durch und durch
krank sind, durch diätetische Behandlung allmählich
abzuschöpfen und wieder aufzugießen und so dem
Menschen ein langes und schlechtes Leben zu bereiten
und Kindern von ihnen zurWelt zu helfen, die natürlich
von derselben Beschaffenheit sind; sondern
solche, die nicht imstande wären, in derWelt, wie sie
ist, zu leben, nicht heilen zu dürfen glaubt, da es
weder ihnen noch einem Staate fromme?
Als einen rechten Staatsmann beschreibst du da
den Asklepios, bemerkte er.
Offenbar, versetzte ich: und seine Söhne dürften
beweisen, daß er ein solcher war. Oder siehst du
nicht, wie sie sich auch in Troia als tapfere Krieger
bewährten und die Heilkunst so, wie ich sage, anwandten?
Oder erinnerst du dich nicht, daß sie auch
demMenelaos infolge der Wunde, die ihm Pandaros
beigebracht,
Erst aussogen das Blut und mit linderndem Kraut
sie bestrichen;
Platon: Der Staat 176
was er aber nachher essen oder trinken solle, haben
sie ihm ebensowenig als dem Eurypylos vorgeschrieben,
in der Überzeugung, daß die Arzneimittel hinreichend
seien, umMänner zu heilen, die vor der Verwundung
gesund und in ihrer Lebensweise geordnet
gewesen, auch wenn sie etwa im Augenblick einen
Mischtrank getrunken hätten? Daß aber ein von Natur
Kränklicher und Zügelloser am Leben bleibe, das,
glaubten sie, fromme weder diesen selbst noch den
übrigen, und für diese dürfe ihre Kunst nicht sein und
sie nicht heilen, auch wenn sie reicher wären als
Midas.
Als sehr feine Köpfe beschreibst du da die Söhne
des Asklepios, bemerkte er.
Wie es recht ist, versetzte ich. Indessen behaupten
imWiderspruch mit uns die Tragödiendichter und
Pindaros, Asklepios sei zwar Sohn des Apollon, habe
sich jedoch durch Gold bestimmen lassen, einen
schon dem Tode verfallenen reichen Mann zu heilen,
und sei infolgedessen auch mit dem Blitze erschlagen
worden.Wir aber werden ihnen nach dem bisher Gesagten
nicht beides zugleich glauben, sondern wir
werden sagen:War er ein Göttersohn, so war er nicht
schmutzig geldgierig; im andern Falle war er eben
kein Göttersohn.
So ist es auch ganz richtig, sagte er. Aber was
hältst du, Sokrates von folgendem: Muß man nicht im
Platon: Der Staat 177
Staate gute Ärzte haben, und sind solche nicht alle
diejenigen, die die meisten Gesunden und die meisten
Kränklichen unter den Händen gehabt haben? Und
andererseits als Richter ebenso diejenigen, die mit
mancherlei Naturen umgegangen sind?
Allerdings, antwortete ich, meine ich gute; aber
weißt du, welche ich für solche halte?
Wenn du es sagst, versetzte er.
So will ich’s denn versuchen, sagte ich; du hast indessen
zwei verschiedene Dinge in eine Frage zusammengeworfen.
Wieso? fragte er.
Ärzte, erwiderte ich, dürften am vollkommensten
werden, wenn sie von Kindheit an neben dem Erlernen
ihrer Kunst mit möglichst vielen und schlechten
Leibern bekannt werden und selbst auch alle möglichen
Krankheiten bekommen und nicht besonders gesund
von Natur sind: denn nicht mit dem Leibe, denke
ich, heilen sie den Leib – sonst hätte ihr Leib ja niemals
schlecht sein und werden dürfen -, sondern den
Leib mit der Seele, der es nicht möglich ist, wenn sie
schlecht wurde und es ist, etwas gut zu heilen.
Das ist wahr, bemerkte er.
Dagegen ein Richter, mein Lieber, regiert mit der
Seele die Seele, und diese darf nicht von klein an
unter schlechten Seelen erzogen und mit ihnen umgegangen
sein und alle Ungerechtigkeiten selbst verübt
Platon: Der Staat 178
und durchgemacht haben, damit sie von sich selbst
her scharf die Ungerechtigkeiten anderer erkenne, wie
bei dem Leibe die Krankheiten, sondern sie muß in
ihrer Jugend in schlechten Sitten unerfahren und dadurch
ungetrübt geblieben sein, wenn sie später als
eine schöne und gute das Gerechte gesund beurteilen
soll. Daher erscheinen auch die Anständigen in ihrer
Jugend einfältig und von den Ungerechten leicht zu
betrügen, weil sie nämlich den Bösen ähnliche Vorbilder
in sich selbst haben.
So geht es ihnen allerdings in hohem Grade, versetzte
er.
So darf denn auch, fuhr ich fort, der gute Richter
nicht ein Junger, sondern ein Alter sein, der erst spät
kennengelernt hat, was die Ungerechtigkeit für ein
Ding ist: nicht indem er sie als seine eigene in seiner
Seele inwohnend erkannt hat, sondern weil er sie als
fremde an fremden Seelen lange Zeit hindurch studiert
und sich überzeugt hat, was für ein Übel sie ist, durch
Anwendung vonWissenschaft, nicht von eigener Erfahrung.
Wenigstens, sagte er, scheint ein solcher Richter
der edelste zu sein.
Und auch ein guter, setzte ich hinzu, und danach
hast du ja gefragt: denn wer eine gute Seele hat, ist
gut. Jener Geschickte aber und Argwöhnische, der
selbst viele Ungerechtigkeiten begangen hat und sich
Platon: Der Staat 179
für abgefeimt und weise hält, scheint, wenn er mit
Ähnlichen zusammentrifft, geschickt, denn er ist vorsichtig,
indem er auf die Vorbilder in sich selbst hinblickt;
wenn er jedoch dann mit Guten und Älteren
zusammenkommt, so erscheint er andererseits als unverständig,
indem er unzeitiges Mißtrauen hegt und
eine gesunde Denkart nicht versteht, weil er von solcher
kein Vorbild in sich hat. Da er indessen häufiger
mit Schlechten als mit Rechtschaffenen zu tun hat, so
erscheint er mehr weise als töricht sich selbst und andern.
Das ist allerdings wahr, bemerkte er.
Nicht einen solchen also, sagte ich, müssen wir als
guten und weisen Richter suchen, sondern den früheren;
denn die Schlechtigkeit wird nimmermehr weder
die Tugend noch sich selbst kennenlernen; wohl aber
wird die Tugend, wenn ihre Natur lange Zeit gebildet
wird, zugleich von sich selbst und von der Schlechtigkeit
Kenntnis erlangen.Weise also wird, wie mir
scheint, dieser, nicht aber der Schlechte.
Auch ich bin damit einverstanden, erklärte er.
Also auch die Heilkunst, wie wir sie beschrieben
haben, wirst du mit einer derartigen Richterkunst im
Staate einführen, die dir die wohlgearteten Bürger an
Leib und Seele heilen werden, die entgegengesetzten
aber, wenn sie in bezug auf den Leib so sind, sterben
lassen, und die in bezug auf die Seele
Platon: Der Staat 180
schlechtgearteten und unheilbaren selbst töten werden?
Wenigstens wäre das, meinte er, offenbar das
Beste, sowohl für die selbst, die es erleiden, als für
den Staat.
Die Jünglinge aber, fuhr ich fort, werden sich offenbar
sorgsam davor hüten, die Richterkunst zu benötigen,
indem sie sich an jene einfache Musik halten,
von der wir ja gesagt haben, daß sie Besonnenheit erzeuge.
Sicherlich, erwiderte er.
Wird nun nicht der Musikkundige, auf diesen nämlichen
Spuren der Turnkunst nachgehend, falls er will,
es dahin bringen, daß er in nichts der Heilkunst bedarf,
außer wo es notwendig ist!
Mir scheint es so.
Die Übungen selbst aber und die Anstrengungen
wird er mehr im Hinblick auf das Muthafte seines
Wesens und dieses weckend betreiben als im Hinblick
auf Körperkraft; nicht aber wird er, wie sonst die
Wettkämpfer, Nahrung zu sich und Anstrengungen
auf sich nehmen, um stark zu werden.
Vollkommen richtig, sagte er.
Haben nun also, sprach ich, o Glaukon, auch die,
welche die Bildung durch Musenkunst und Turnkunst
einführten, dies nicht aus dem Grunde eingeführt, den
einige für den richtigen halten, damit die zu
Platon: Der Staat 181
Erziehenden durch die eine am Leibe, durch die andere
an der Seele gepflegt würden?
Aber warum denn? fragte er.
Sie scheinen, bemerkte ich, beides in der Hauptsache
um der Seele willen eingeführt zu haben.
Wieso?
Bemerkst du nicht, sprach ich, wie eben an Gesinnung
diejenigen werden, die ihr Leben lang mit der
Turnkunst sich befaßt, Musik aber nicht berührt
haben? Oder welche in der entgegengesetzten Lage
waren?
In welcher Beziehung meinst du? fragte er.
In Bezug auf Heftigkeit und Härte einerseits, und
andererseits aufWeichheit und Milde, versetzte ich.
Freilich, erwiderte er; die, welche sich an die Turnkunst
ungemischt halten, fallen davon heftiger aus, als
recht ist; andererseits die, welche sich nur an die
Musik halten, werden weichlicher, als wie es für sie
schön ist.
Und wirklich, versetzte ich, wird das Heftige von
demMuthaften der Naturanlage ausgehen und, recht
gezogen, Mannhaftigkeit sein, über die Gebühr aber
angespannt begreiflicherweise Härte und Herbigkeit
werden.
Einverstanden, erwiderte er.
Und wie? Das Milde, – wird es nicht der weisheitsliebenden
Naturanlage anhaften? Und wenn es zu sehr
Platon: Der Staat 182
abgespannt wird, so wird es über Gebühr weichlich
sein, gehörig gezogen aber mild und anständig?
So ist’s.
Von denWächtern nun sagen wir, daß sie diese
beiden Naturanlagen haben müssen?
Freilich müssen sie.
Also müssen sie zu einander in das rechte Verhältnis
gesetzt werden?
Natürlich.
Und bei wem sie im rechten Verhältnisse sind, dessen
Seele ist besonnen und mannhaft?
Allerdings.
Bei wem sie aber nicht im rechten Verhältnisse
sind, bei dem ist sie feig und ungeschliffen?
Sicherlich.
Wenn nun also jemand der Musik gestattet, seine
Seele durch die Ohren wie durch einen Trichter zu
übergießen und zu überflöten mit den soeben von uns
genannten süßen und weichlichen und klagenden Tonarten,
und wenn er sein ganzes Leben wimmernd und
durch den Gesang in Entzücken versetzt hinbringt, so
wird ein solcher zuerst das Muthafte, was er etwa hat,
wie Eisen erweichen und aus einem Unbrauchbaren
und Harten zu einem Brauchbaren machen; wenn er
aber nicht abläßt, darauf zu hören, sondern im Zauber
bleibt, da beginnt schon ein Schmelzen und Zerlassen,
bis er den Mut herausgeschmolzen und aus seiner
Platon: Der Staat 183
Seele gleichsam die Sehnen herausgeschnitten und
einen weichlichen Kriegsmann hervorgebracht hat.
Allerdings, versetzte er.
Und falls er nun, fuhr ich fort, von Anfang an eine
von Natur mutlose Seele bekommen hat, so wird er
dies schnell zustande bringen; falls aber eine muthafte,
so macht er den Mut schwächlich und bringt ihn
aus dem Gleichgewicht, so daß er (der Mut) aus
Anlaß von Kleinigkeiten rasch gereizt und rasch gelöscht
wird; leidenschaftlich und jähzornig sind sie
dann aus einemMuthaften geworden, voll mürrischen
Wesens.
Allerdings vollkommen.
Und wie? Wenn er andererseits mit der Turnkunst
sich viel anstrengt und das Essen sich tüchtig
schmecken läßt, mit Musenkunst aber undWeisheitsliebe
sich nicht befaßt, – wird er nicht zuerst bei körperlichemWohlbefinden
voll Entschlossenheit und
Mutes werden und an Mannhaftigkeit sich selbst
überbieten?
Allerdings.
Wie aber? Wenn er nichts anderes tut und mit der
Muse sich in keinerlei Gemeinschaft setzt, – wird
nicht das Lernbegierige in seiner Seele, wenn dergleichen
überhaupt darin vorhanden war, infolge davon
daß es weder einenWissensgegenstand irgend zu kosten
bekommt noch eine Untersuchung, und weder
Platon: Der Staat 184
einer Rede teilhaftig wird noch sonst einer Musenkunst,
schwach und taub und blind werden, weil es
nicht geweckt und genährt und auch ihren Empfindungen
keine Läuterung zuteil wird?
So ist es, versetzte er.
Ein Feind der Rede wird denn also, glaube ich, ein
solcher werden, und den Musen abgekehrt, und von
der Überredung durch Worte macht er in nichts mehr
Anwendung; sondern mit Gewalt und Heftigkeit,
gleich einem wilden Tiere, geht er bei allem zuWerke
und lebt in Unwissenheit und Plumpheit, ohne Ebenmaß
und Anmut.
Vollkommen, bemerkte er, verhält es sich so.
Für dieses beides also, wie es scheint, möchte ich
behaupten, daß ein Gott den Menschen die beiden
Künste gegeben habe, die Musenkunst und die Turnkunst,
für das Muthafte undWeisheitsliebende, nicht
für Seele und Leib, außer etwa nebenbei, sondern für
jene beiden, damit sie zu einander in das rechte Verhältnis
gesetzt werden, durch Anspannen und Nachlassen
bis zu dem gehörigen Maße.
So scheint es allerdings, sagte er.
Von demjenigen also, der am schönsten die Turnkunst
mit der Musenkunst mischt und sie in dem besten
Maße der Seele zuführt, von dem werden wir mit
vollstem Rechte sagen, er sei vollkommen im höchsten
Grade musikkundig und wohlgestimmt, viel mehr
Platon: Der Staat 185
als derjenige, der die Saiten unter einander zusammenordnet?
Natürlich, o Sokrates, erwiderte er.
So werden wir also, mein Glaukon, auch in dem
Staate immer eines solchen Vorstehers bedürfen,
wenn die Verfassung bestehen bleiben soll?
Freilich werden wir seiner bedürfen, so sehr als nur
möglich.
Dies wären denn also die Richtlinien für die Bildung
und Erziehung. Denn die Reigentänze von solchen
Leuten, – wozu sollte man sie durchgehen, und
ihre Jagden und Tierhetzen und ihre Wettkämpfe zu
Fuß und zu Roß? Denn es ist doch wohl so ziemlich
klar, daß sie jenem entsprechend sein müssen, und es
ist nicht mehr schwierig, sie zu finden.
Vermutlich, bemerkte er, sind sie nicht schwierig.
Gut denn, sagte ich: was werden wir nun wohl nach
diesem zu bestimmen haben? Nicht das, wer unter
eben diesen regieren und sich regieren lassen wird?
Sicherlich.
Daß nun Altere die Regierenden sein müssen, Jüngere
aber die Regierten, ist klar?
Allerdings.
Und daß es die Vorzüglichsten unter ihnen sein
müssen?
Auch dies.
Unter den Landleuten sind da die vorzüglichsten
Platon: Der Staat 186
nicht die im Ackerbau geschicktesten?
Ja.
Jetzt aber, da es ja unter denWächtern die Vorzüglichsten
sein müssen, nicht die im Bewachen des
Staates Geschicktesten?
Ja.
Müssen sie nicht also für diesen Zweck Einsicht
haben und Fähigkeit und überdies Sorgsamkeit für
den Staat?
Es ist so.
Sorgsamkeit aber wird einer am meisten für dasjenige
haben, was er liebt?
Notwendig.
Und lieben wird einer am meisten dasjenige, von
dem er glaubt, daß diesem das nämliche zuträglich sei
wie ihm selbst, und wenn bei dessenWohlbefinden er
selbst auch am meisten Wohlbefinden zu erlangen
glaubt, – wo nicht, so das Gegenteil?
So ist es, sprach er.
Auslesen muß man also aus den übrigenWächtern
solche Männer, von denen wir bei näherer Betrachtung
gewahren, daß sie am ehesten ihr ganzes Leben
lang dasjenige, was sie dem Staate für zuträglich halten,
mit allem Eifer tun, was aber nicht zuträglich ist,
das in keinerWeise ausführen möchten.
Freilich sind solche geeignet, bemerkte er.
Es scheint mir nun, man müsse sie beobachten auf
Platon: Der Staat 187
allen Altersstufen, ob sie geschickt sind, diesen
Grundsatz zu bewachen und weder durch Bezauberung
noch durch Gewalttat den Glauben, daß sie tun
müssen, was für den Staat das Beste ist, vergessen
und aus der Seele verstoßen.
Was meinst du mit diesem »Verstoßen«? fragte er.
Ich will es dir sagen. Es scheint mir, daß eine Ansicht
aus dem Sinne gehe entweder freiwillig oder unfreiwillig:
freiwillig die falsche, wenn man eines Besseren
belehrt wird, unfreiwillig aber jede wahre.
Das von der freiwilligen, sagte er, verstehe ich; dagegen
das von der unfreiwilligen wünsche ich verstehen
zu lernen.
Wie ist’s denn? sprach ich; bist nicht auch du der
Meinung, daß des Guten die Menschen unfreiwillig
beraubt werden, des Schlechten aber freiwillig? Oder
ist es nicht etwas Schlechtes, um dieWahrheit getäuscht
zu sein, dieWahrheit zu besitzen aber ist
etwas Gutes? Oder meinst du nicht, das, was wirklich
ist, zu glauben, heiße dieWahrheit besitzen?
Du hast freilich recht, erwiderte er, und ich glaube,
daß sie nur unfreiwillig der wahren Ansicht beraubt
werden.
Sind sie nun nicht in dieser Lage, wenn sie bestohlen
oder bezaubert werden oder Gewalt erleiden?
Noch immer, sagte er, verstehe ich nicht.
Es scheint, versetzte ich, ich rede im
Platon: Der Staat 188
Tragödienstile. Mit dem Bestohlenwerden meine ich,
daß man auf eine andere Ansicht gebracht wird oder
vergißt, weil in dem einen Falle die Zeit, im andern
die Rede unvermerkt etwas wegnimmt. Jetzt verstehst
du doch wohl?
Ja.
Nun denn, mit dem Gewalterleiden meine ich, daß
ein Leiden oder Schmerz sie auf eine andere Ansicht
bringt.
Auch das, erklärte er, habe ich verstanden und gebe
dir recht.
Als bezaubert aber wirst wohl auch du, denke ich,
diejenigen erkennen, die ihre Ansicht ändern entweder
infolge einer Lust, die sie berückt, oder infolge von
Angst, indem sie etwas fürchten.
Es scheint allerdings, versetzte er, daß alles, was
irgend betrügt, bezaubert.
Was ich nun also vorhin sagte, – man muß suchen,
welches die vorzüglichstenWächter sind für den bei
ihnen waltenden Grundsatz, daß dasjenige zu tun sei,
was sie immer für den Staat als das Beste für sie zu
tun erkennen. Beobachten muß man sie denn gleich
von Kindheit auf, indem man ihnen Handlungen aufgibt,
bei denen man am ehesten wohl etwas Derartiges
vergessen und darum betrogen werden könnte,
und denjenigen, der es behält und sich schwer betrügen
läßt, muß man auswählen, wer aber nicht, den
Platon: Der Staat 189
muß man verwerfen: nicht wahr?
Ja.
Und andererseits, Beschwerden und Schmerzen und
Kämpfe muß man ihnen festsetzen, bei denen dieses
nämliche beobachtet werden muß.
Richtig, sagte er.
So muß man also, fuhr ich fort, auch in der dritten
Gattung, der Bezauberung, ihnen einenWettkampf
veranstalten und dabei zuschauen, wie man junge
Rosse zu Geräusch und Lärm führt und zusieht, ob sie
schreckhaft sind, so auch jene in ihrer Jugend in irgend
welche Schrecknisse bringen und andererseits in
Genüsse versetzen, indem man sie prüft – weit strenger
als das Gold im Feuer -, ob einer schwer zu bezaubern
ist und von guter Haltung sich bei allem erweist,
als ein guterWächter von sich selbst und von
der Musik, die er gelernt hat, indem er sich in allen
diesen Lagen wohlgemessen und wohlgestimmt zeigt,
so wie er ja sich selbst sowohl wie dem Staate den
größten Vorteil bringen würde. Und den, der immer,
unter den Knaben und den Jünglingen und den Männern,
die Probe besteht und sich als echt ergibt, den
muß man zum Lenker des Staates bestellen und zum
Wächter, und ihn mit Ehren begaben im Leben und
nach seinem Tode, indem man ihm mit Grabstätten
und sonstigen Denkmälern die höchsten Auszeichnungen
zuerteilt; wer aber nicht von dieser Art ist, den
Platon: Der Staat 190
muß man verwerfen. Von dieser Art ungefähr, sagte
ich, scheint mir, o Glaukon, die Auswahl und Bestellung
der Regierenden undWächter zu sein, um es in
den allgemeinen Umrissen, nicht im genauen Einzelnen,
darzustellen.
Auch mir, versetzte er, kommt es so etwa vor.
Ist es nun nicht inWahrheit ganz richtig, diese als
vollkommeneWächter zu bezeichnen, sowohl der
Feinde von außen als der Befreundeten innen, damit
diese nicht Lust, jene nicht Macht bekommen.
Schlechtes zu tun, die Jünglinge aber, die wir soeben
Wächter nannten, als Beistände und Helfer für die Beschlüsse
der Regierenden?
Mir scheint es so, versetzte er.
Was hätten wir nun, sagte ich, für eine Möglichkeit,
um einer recht tüchtigen Lüge aus der Gattung
der erlaubten, von denen wir früher sprachen, Glauben
zu verschaffen am liebsten bei den Regierenden
selbst, – wo nicht, so beim übrigen Staate?
Was für einer? fragte er.
Ja nichts Neues, antwortete ich, sondern etwas
Phoinikisches, das schon früher oftmals vorgekommen
ist, wie die Dichter sagen und dabei Glauben gefunden
haben, was aber zu unserer Zeit nicht vorgekommen
ist, und ich weiß auch nicht, ob es vorkommen
könnte; und davon zu überzeugen erfordert große
Überredungskunst.
Platon: Der Staat 191
Sieht es doch aus, bemerkte er, als ob du dich
scheuest zu sprechen!
Du wirst aber, versetzte ich, sagen, daß ich ganz
mit Recht mich scheue, sobald ich es ausspreche.
Sprich nur, sagte er, und fürchte dich nicht!
So will ich’s denn sagen, wiewohl ich nicht weiß,
wo ich die Kühnheit oder dieWorte dazu hernehmen
soll, und ich will versuchen, zuerst die Regierenden
selbst zu überreden und die Krieger, dann auch den
übrigen Staat, daß alles, was wir zu ihrer Erziehung
und Bildung taten, wie im Traume ihnen zu widerfahren
und an ihnen vorzugehen schien, während sie in
Wirklichkeit unter der Erde innen geformt und aufgezogen
wurden, sie selbst und ihre Waffen und das übrige
Gerät von desWerkmeisters Hand, und daß, als
sie ganz fertig waren, die Erde, ihre Mutter, sie heraufsandte,
und daß sie nun dem Lande, in dem sie
sind, als ihrer Mutter und Erzieherin, mit Rat und Tat
beistehen müssen, wenn jemand es angreift: und
gegen die übrigen Bürger müßten sie wie gegen ihre
Brüder und ebenfalls Erdentsprossene gesinnt sein.
Nicht ohne Grund, versetzte er, hast du dich so
lange geschämt, die Lüge vorzutragen.
Freilich mit Recht, erwiderte ich; dennoch höre
auch noch den Rest des Märchens! Ihr seid nun zwar
alle, die ihr in dem Gemeinwesen seid, Brüder, – so
werden wir in demMärchen fortfahrend zu ihnen
Platon: Der Staat 192
sprechen -, aber der Gott, der euch formte, hat denen,
welche zu regieren geschickt sind, bei ihremWerden
Gold beigemischt, und deswegen haben sie vorzüglichenWert,
allen Helfen aber Silber, und Eisen und
Erz den Landleuten und übrigen Handwerkern. Als
Stammesgenossen werdet ihr meist euch selbst ähnliche
Kinder zeugen; manchmal kann aber auch aus
Gold ein silberner Nachkomme und aus Silber ein
eherner gezeugt werden, und so auch die andern alle
von einander. Den Regierenden nun gebietet der Gott
zuerst und zumeist, daß sie über nichts so guteWächter
seien und auf nichts so sorgfältig achten wie auf
ihre Nachkommen, was von diesen Stoffen ihren Seelen
beigemischt ist, und falls ein Nachkomme von
ihnen erzhaltig oder eisenhaltig geworden, so werden
sie schlechterdings kein Mitleid mit ihm haben, sondern
ihm die seiner Natur zukommende Stellung zuteilen
und ihn unter die Handwerker oder Landleute
stoßen; und wenn andererseits aus deren Mitte ein
gold- oder silberhaltiger geboren wird, so werden sie
ihn ehren und teils unter dieWächter, teils unter die
Heller befördern, weil ein Götterspruch besage, daß
dann das Gemeinwesen verloren sei, wenn Eisen oder
Erz es bewache. Daß nun dieses Märchen bei ihnen
Glauben fände, siehst du dazu eine Möglichkeit?
Bei diesen selbst, erwiderte er, schlechterdings
nicht; jedoch bei ihren Söhnen und deren
Platon: Der Staat 193
Nachkommen und den anderen Menschen der Zukunft.
Aber auch dies, versetzte ich, wäre gut, in der Hinsicht,
daß sie mehr für das Gemeinwesen und für einander
Sorge trügen; denn ich verstehe ungefähr, was
du meinst. – Nun, dies wird gehen, wie die Sache es
leiten wird.Wir aber wollen diese Erdentsprossenen
bewaffnen und vorführen, die Regierenden an ihrer
Spitze. Angekommen sollen sie zusehen, welcher Ort
in der Stadt zum Lagern am geeignetsten ist, von wo
aus sie die drinnen am ehesten im Zaume halten können,
wenn einer den Gesetzen nicht gehorchen will,
und den von außen Kommenden abwehren, wenn ein
Feind wie einWolf die Herde angreifen sollte. Haben
sie ein Lager aufgeschlagen und geopfert, wem sich’s
gebührt, so sollen sie sich Liegestätten errichten; oder
was sonst?
Dieses, erwiderte er.
Also solche, die zureichend sind, imWinter und
Sommer Schutz zu gewähren?
Natürlich, versetzte er; denn Behausungen scheinst
du mir zu meinen.
Ja, antwortete ich, aber für Krieger, nicht für Geldmänner.
Wie meinst du hinwiederum, daß diese sich von
jenen unterscheiden? fragte er.
Ich will versuchen, es dir zu sagen, war meine
Platon: Der Staat 194
Antwort. Das Allerärgste und die größte Schande für
Hirten ist wohl, wenn sie als Helfer der Herde solche
Hunde und in solcherWeise halten, daß diese aus Zügellosigkeit
oder Hunger oder einer sonstigen übeln
Angewöhnung selbst den Schafen Böses anzutun suchen
undWölfen gleichen, statt Hunden?
Freilich ist das arg, versetzte er.
So muß man denn auf alle Weise darauf achten,
daß uns die Helfer es nicht den Bürgern so machen,
weil sie diesen überlegen sind, und statt wohlwollender
Bundesgenossen wilden Herrschern ähnlich werden?
Das muß man, antwortete er.
Nun wären sie aber doch wohl mit der größten
möglichen Vorsicht ausgestattet, wenn sie inWahrheit
gut gebildet sind?
Aber sie sind es ja doch, bemerkte er.
Da sagte ich: Das dürfen wir nicht so fest behaupten,
mein lieber Glaukon; was wir jedoch eben aufstellten,
das dürfen wir, daß sie die rechte Bildung erhalten
müssen, mag diese sein, welche sie will, wenn
sie die Hauptsache besitzen sollen in bezug auf das
Mildsein unter sich und gegen die von ihnen Bewachten.
Das ist richtig, versetzte er.
Außer dieser Bildung nun wird ein Verständiger
behaupten, daß auch ihre Behausungen und das, was
Platon: Der Staat 195
sie sonst haben, so eingerichtet sein müssen, daß es
weder dieWächter selbst hindert, möglichst gut zu
sein, noch sie verführt, den übrigen Bürgern Schlechtes
zu tun.
Und das wird er mit Recht behaupten.
So sieh denn zu, fuhr ich fort, ob sie in folgender
Weise etwa wohnen und leben möchten, wenn sie so
beschaffen sein sollen: Fürs erste soll keiner irgend
etwas als sein Eigentum besitzen, wofern es nicht
ganz notwendig ist; sodann soll keiner eine solche
Wohnung und Vorratskammer haben, in die nicht
jeder, der will, einträte; alles zum Leben Erforderliche
aber, was besonnene und tapfere für den Krieg bestimmte
Kämpfer bedürfen, sollen sie ratenweise von
den übrigen Bürgern empfangen als Lohn des Bewachens,
in solchemMaße, daß sie weder für das Jahr
etwas übrig haben noch Mangel leiden; und sie sollen
gemeinsame Mahlzeiten besuchen und, wie auf einem
Feldzuge befindlich, gemeinschaftlich leben. Gold
und Silber aber, soll man ihnen sagen, haben sie göttliches
von Göttern immer in ihrer Seele und bedürfen
des menschlichen nicht; auch sei es eine Sünde, den
Besitz von jenem mit dem des sterblichen Goldes zu
vermischen und zu besudeln, weil viel Sündhaftes mit
dem gewöhnlichen Gelde geschehen sei, das in ihnen
aber unbefleckt sei; vielmehr soll ihnen allein im
Staate nicht erlaubt sein, Gold und Silber in die Hand
Platon: Der Staat 196
zu nehmen und zu berühren noch unter einem Dache
damit zu sein oder es sich umzuhängen, noch aus Silber
oder Gold zu trinken. Und auf dieseWeise könnten
sie erhalten werden und den Staat erhalten: wenn
sie aber selbst eigenes Land und Häuser und Geld besitzen,
so werden sie Hauswirte und Ackerbauer sein,
statt Wächter, und werden den übrigen Bürgern feindselige
Herrscher werden, statt Bundesgenossen, und
werden denn hassend und gehaßt, Nachstellungen bereitend
und Nachstellungen erleidend ihr ganzes
Leben verbringen, viel häufiger und mehr die innern
als die äußern Feinde fürchtend, und dann schon ganz
nahe am Verderben hinrennen, sie selbst und der übrige
Staat.Wollen wir nun, sprach ich, aus allen diesen
Gründen behaupten, daß dieWächter so eingerichtet
sein müssen in bezug aufWohnung und das übrige,
und wollen wir das als Gesetz aufstellen oder nicht?
Allerdings, antwortete Glaukon.
Platon: Der Staat 197
Viertes Buch
Da nahm Adeimantos dasWort und sagte:Womit
wirst du dich nun verteidigen, Sokrates, wenn jemand
sagt, daß du diese Männer nicht gerade sehr glücklich
machst, und das durch ihre eigene Schuld, da ihnen
das Gemeinwesen inWahrheit gehört, sie aber genießen
von ihm nichts Gutes, wie andere, indem sie
Äcker besitzen und schöne große Häuser sich bauen
und eine diesen entsprechende Einrichtung haben und
den Göttern eigene Opfer darbringen und Gäste beherbergen
und dann auch – wovon du eben gesprochen
– Gold und Silber besitzen und alles, was sonst
gebräuchlich ist bei solchen, die glücklich sein sollen?
Vielmehr, wird er sagen, scheinen sie recht eigentlich
wie gedungene Helfer im Staate zu sitzen und
nichts zu tun als bewachen.
Ja, versetzte ich, und das um die Kost, und sie
empfangen nicht einmal Lohn zu der Kost, wie die
andern, so daß sie nicht einmal, wenn sie für sich eine
Reise machen wollen, es können, noch einemMädchen
etwas schenken können, noch sonst für etwas
Ausgaben machen, falls sie etwa Lust hätten, wie diejenigen
machen, die für glücklich gelten. Diese und
noch viele andere derartige Klagpunkte läßt du weg.
Nun, erwiderte er, so seien denn auch diese
Platon: Der Staat 198
vorgebracht.
Womit wir uns verteidigen werden, fragst du?
Ja.
Wenn wir auf demselben Pfade fortwandeln, versetzte
ich, werden wir, denke ich, finden, was zu
sagen ist. Wir werden nämlich sagen, daß es kein
Wunder wäre, wenn auch diese dabei sich am glücklichsten
fühlten, daß wir aber bei unserer Staatgründung
nicht das im Auge haben, daß ein Stand in besonderem
Maße glücklich wäre, sondern so viel als
möglich der ganze Staat. Denn in einem so beschaffenen
glaubten wir am ehesten die Gerechtigkeit zu finden,
und andererseits in dem am schlechtesten eingerichteten
die Ungerechtigkeit, und wenn wir diese zu
Gesicht bekommen, würden wir lernen, das zu entscheiden,
wonach wir schon lange forschen. Für jetzt,
meine ich, bilden wir ihn als glücklich nicht in einem
Teile, indem wir einige wenige in ihm als solche setzen,
sondern als Ganzes, sogleich nachher aber werden
wir den entgegengesetzten betrachten. Gerade wie
wir, wenn jemand zu uns träte, während wir Menschenbilder
malten, und es tadelte, daß wir nicht für
das Schönste an den lebendenWesen die schönsten
Farben anwenden – denn die Augen, das Schönste,
seien nicht mit Purpur gemalt, sondern mit Schwarz-,
alsdann uns ordentlich gegen ihn verteidigen werden
und sagen: »Wunderlicher, glaube doch nicht, daß wir
Platon: Der Staat 199
die Augen so schön malen müssen, daß sie gar nicht
als Augen erscheinen, noch auch die übrigen Teile,
sondern sieh zu, ob wir jedem Teile gegeben haben,
was ihm gehört, und ob wir dadurch das Ganze schön
gemacht haben!« Und so nötige auch du uns jetzt
nicht, denWächtern ein solches Glück beizulegen,
das sie zu allem eher machen wird als zuWächtern.
Denn wir könnten selbst auch die Landleute in
Prachtgewänder kleiden und ihnen Gold anlegen und
sie nach Lust den Boden bearbeiten heißen, und den
Töpfern sagen, sie sollen sich lagern und rechts
herum am Feuer zechen und schmausen, ihre Scheibe
beiseite stellen und nur so viel Töpfe machen, als sie
Lust haben, und auch die andern alle könnten wir auf
solcheWeise glücklich machen, damit ja der ganze
Staat glücklich wäre; aber uns mußt du nicht so belehren!
Denn würden wir dir folgen, so wird der
Ackersmann nicht Ackersmann sein, und der Töpfer
nicht Töpfer, noch sonst wird ein anderer irgend
etwas vorstellen, woraus ein Gemeinwesen wird. Indessen
von den andern ist weniger die Rede; denn
wenn Schuhflicker schlecht sind und liederlich und
sich für Schuhflicker ausgeben, ohne es zu sein, ist es
für den Staat nichts Gefährliches; wenn aber die
Wächter der Gesetze und des Staates dies nicht wirklich
sind, sondern nur scheinbar, so siehst du, daß sie
den ganzen Staat von Grund aus verderben und
Platon: Der Staat 200
andrerseits allein Gelegenheit haben, sich gut zu betten
und glücklich zu sein.Wenn wir also wirkliche
Wächter machen, so am wenigsten solche, die dem
Staate Schaden bringen; wer aber jenes sagt und sie
zu einer Art von Ackersleuten macht und zu vergnüglichen
Schmausern, als wären sie bei einem Volksfeste
und nicht in einem Staate, der wird etwas anderes
meinen als einen Staat.Wir müssen nun untersuchen,
ob wir dieWächter aufzustellen haben mit Rücksicht
darauf, daß ihnen möglichst viel Glück zuteil werde,
oder ob wir diese Rücksicht auf den ganzen Staat nehmen
und zusehen müssen, ob es diesem zuteil wird,
dagegen diese Helfer und dieWächter nötigen und
überreden, danach zu trachten, daß sie möglichst vorzügliche
Meister in ihrem Geschäfte seien, und die
andern alle ebenso, und wenn der Staat im ganzen
groß wird und schön eingerichtet ist, der Natur es
überlassen, wie sie jedem Stande seinen Anteil an der
Glückseligkeit zumißt.
Du scheinst mir vollkommen recht zu haben, entgegnete
er.
Wirst du nun aber auch glauben, daß ich in dem
hiermit Verwandten nicht unrecht habe?
Worin denn?
Erwäge nun auch, ob die übrigen Arbeiter dies verdirbt,
so daß sie wirklich schlecht werden?
Was meinst du darunter?
Platon: Der Staat 201
Reichtum, antwortete ich, und Armut.
Wieso?
Folgendermaßen: Glaubst du, daß ein Töpfer, wenn
er reich geworden ist, sich noch seiner Kunst wird annehmen
wollen?
Keineswegs, erwiderte er.
So wird er faul und nachlässig werden mehr als er
war?
Bei weitem.
So wird er also ein schlechterer Töpfer werden?
Auch das gewiß, versetzte er.
Und dann auch, wenn er vor Armut sich keine Geräte
anschaffen kann oder sonst etwas, das zu seiner
Kunst gehört, so wird er seine Arbeiten schlechter
machen und auch seine Söhne, oder andere, die er in
der Lehre hat, zu minder guten Meistern heranziehen?
Natürlich.
Von beidem also, von der Armut und von dem
Reichtum, werden dieWerke der Künste und die
Werkleute selbst schlechter?
Offenbar.
So haben wir denn, wie es scheint, etwasWeiteres
für dieWächter gefunden, worauf sie auf alleWeise
acht haben müssen, daß es nicht einmal von ihnen unbemerkt
sich in den Staat einschleicht.
Was ist dies?
Reichtum, antwortete ich, und Armut, weil das eine
Platon: Der Staat 202
Üppigkeit und Trägheit und Unzufriedenheit erzeugt,
das andere außer der Unzufriedenheit noch niedrige
Denkart und schlechtes Arbeiten.
Allerdings, erwiderte er; aber bedenke dies, Sokrates:
Wie wird nur der Staat imstande sein Krieg zu
führen, wenn er nicht Geld besitzt, zumal wenn er genötigt
ist, mit einem großen und reichen Staate Krieg
zu führen?
Offenbar, entgegnete ich, ist dies gegen einen
schwieriger, gegen zwei derartige aber leichter.
Wie sagtest du? sprach er.
Nun, fürs erste, antwortete ich, wenn sie zu kämpfen
haben, – werden sie nicht mit reichen Männern
kämpfen, während sie selbst Meister des Kriegshandwerks
sind?
Das freilich, sagte er.
Was glaubst du nun, Adeimantos, sprach ich: wird
ein einziger Faustkämpfer, der hierin möglichst gut
eingeübt ist, mit zwei Nichtfaustkämpfern, die reich
und fett sind, nicht leicht fertig werden?
Mit beiden zugleich vielleicht nicht, meinte er.
Auch nicht, versetzte ich, wenn es ihm möglich
wäre, scheinbar die Flucht zu ergreifen und dann umzukehren
und allemal dem Vordersten, der ihm zu
nahe kommt, eines zu versetzen, und wenn er das oftmals
täte im Sonnenschein und bei großer Schwüle?
Wird ein solcher nicht noch mehrere derartige
Platon: Der Staat 203
bezwingen?
Allerdings, antwortete er, wäre es keinWunder.
Aber glaubst du nicht, daß von der Kunst des
Faustkämpfens die Reichen durchWissenschaft und
Erfahrung immer noch mehr verstehen als von der des
Krieges?
Allerdings, erwiderte er.
So werden uns also die Kriegsmänner leichtlich mit
doppelt und dreifach so vielen, als sie selbst sind, fertig
werden.
Ich will es dir zugeben, sagte er; denn du scheinst
mir recht zu haben.
Und wie? Wenn sie in den anderen Staat eine Gesandtschaft
schickten und der Wahrheit gemäß sprächen:
»Wir machen keinen Gebrauch von Gold und
Silber, auch ist es uns nicht erlaubt, wohl aber euch:
so helft denn uns im Kriege mit und nehmt für euch
das Eigentum der andern« – glaubst du, wer das hört,
werde lieber gegen zähe und magere Hunde Krieg
führen wollen als in Gemeinschaft mit den Hunden
gegen fette und zarte Schafe?
Ich glaube nicht, entgegnete er; aber wenn in einem
einzigen Staate die Schätze der andern zusammengehäuft
sind, so sieh zu, ob das nicht Gefahr bringt dem
nicht reichen.
Du bist zu beneiden, war meine Antwort, daß du
glaubst, man dürfe irgend einem andern Staate diesen
Platon: Der Staat 204
Namen geben als einem solchen, dergleichen wir
einen bauen.
Wieso? fragte er.
Einen großem Namen, antwortete ich, muß man
den andern geben; denn jeder von ihnen bildet sehr
viele Staaten, nicht aber einen Staat, um mich spielend
auszudrücken. Denn zwei sind es auf jeden Fall,
die einander feindlich gegenüber stehen: einer der
Armen und einer der Reichen; in jedem von diesen
aber sind sehr viele; wenn du nun gegen diese als
gegen einen einzigen auftrittst, so scheiterst du völlig,
wofern aber als gegen viele, so daß du das Eigentum
der einen den andern gibst, Schätze und Vermögen
oder auch sie selbst, so wirst du immer viele Bundesgenossen
haben und wenige Feinde. Und solange
unser Staat nur besonnen eingerichtet ist, so wie es
eben aufgestellt wurde, wird er groß sein, nicht durch
glänzenden Anschein, meine ich, sondern wahrhaft
groß, auch wenn er nur aus tausend Verteidigern bestünde;
denn einen einzigen so großen wirst du nicht
leicht finden weder unter den Hellenen noch unter den
Ausländern, wohl aber viele, die es scheinbar sind
und vielmal größer als ein solcher. Oder bist du anderer
Ansicht?
Nein, bei Gott, versetzte er.
Das wäre denn also, fuhr ich fort, auch die schönste
Bestimmung für unsere Regierenden, wie groß sie
Platon: Der Staat 205
hinsichtlich des Umfangs den Staat machen müssen
und wie groß er sein muß, damit ein bestimmtes
Stück Land abgegrenzt und das übrige fahren gelassen
werden darf.
Welches ist diese Bestimmung? fragte er.
Ich denke, antwortete ich, folgende: solange er im
Wachsen eine Einheit sein will, so lange ihn wachsen
zu lassen, darüber hinaus aber nicht.
So ist’s schon, versetzte er.
So werden wir also diesen weiteren Auftrag den
Wächtern geben, auf alle Weise zu wachen, daß der
Staat weder zu klein noch zu groß scheine, sondern
zureichend und einheitlich.
Da werden wir ihnen wohl etwas Geringes auftragen,
bemerkte er.
Noch geringer als dies, versetzte ich, ist das Folgende,
dessen wir schon im Früheren gedacht haben,
indem wir sagten, daß, wenn ein Sohn der Wächter
schlecht gerate, man ihn unter die andern versetzen
müsse, und ebenso wenn einer der übrigen tüchtig,
diesen unter dieWächter. Dies wollte andeuten, daß
man auch die übrigen Bürger jeden zu dem Geschäfte,
zu dem er geschaffen ist, verwenden müsse, damit
jeder, wenn er das eine treibt, was sein ist, nicht zu
vielen, sondern einer werde und so das gesamte Gemeinwesen
eines sei, aber nicht viele.
Das ist freilich, sagte er, noch kleiner als jenes.
Platon: Der Staat 206
Fürwahr, mein lieber Adeimantos, versetzte ich,
nicht viele und große Dinge sind es, die wir ihnen hier
auftragen, wie jemand glauben könnte, sondern lauter
geringe, wofern sie das genannte eine Große oder
vielmehr nicht Große, sondern Genügende bewahren.
Und was ist dies? fragte er.
Die Bildung, antwortete ich, und die Erziehung.
Werden sie nämlich infolge guter Erziehung ordentliche
Männer, so werden sie alles das leicht erkennen
und noch vieles andere, das wir jetzt übergehen, den
Besitz der Frauen und der Ehen und der Kindererzeugung,
nämlich daß man in bezug auf dies alles nach
dem Sprichwort möglichst Freundesgut gemeinsam
Gut machen müsse.
So wird es allerdings am richtigsten sein, sprach er.
Und in der Tat, sagte ich, wenn einmal die Staatsverfassung
einen guten Anlauf hat, so wächst sie wie
ein Kreis im Fortschreiten. Denn tüchtige Erziehung
und Bildung, wenn sie bewahrt wird, schafft gute Naturen;
und andererseits tüchtige Naturen, wenn sie an
einer solchen Bildung festhalten, werden noch besser
als die früheren wie zu den andern Dingen so auch
zum Zeugen, gerade wie auch bei den andern Geschöpfen.
Natürlich, versetzte er.
Um mich also kurz zu fassen: darauf müssen die
Berater des Gemeinwesens halten, daß es nicht ohne
Platon: Der Staat 207
ihr Vorwissen verdorben werde, sondern vor allem
darüber wachen, daß keine ordnungswidrigen Neuerungen
vorkommen in bezug auf Turnkunst und Musenkunst,
sondern daß es möglichst beim Alten bleibe,
aus Besorgnis, wenn jemand spräche, daß demjenigen
Gesänge besonders die Menschen das Herz zuwenden,
Der als der neueste je in dem Kreise der Sänger
erschallet,
so könnte manchmal einer meinen, der Dichter
spreche nicht von neuen Gesängen, sondern von einer
neuen Sangesweise, und könnte dies loben. Man darf
aber derartiges weder loben noch als den Sinn des
Dichters annehmen; denn eine neue Art von Musik
einzuführen muß man sich hüten, weil es das Ganze
gefährden heißt; denn nirgend wird an denWeisen der
Musik gerüttelt, ohne daß die wichtigsten Gesetze des
Staates mit erschüttert würden, wie Dämon sagt und
ich überzeugt bin.
So zähle denn auch mich zu den Überzeugten,
sagte Adeimantos.
DasWachthaus also, sagte ich, hätten, wie es
scheint, dieWächter ungefähr hier zu bauen, in der
Musik.
Wenigstens, versetzte er, schleicht eine
Platon: Der Staat 208
Gesetzwidrigkeit auf diesem Gebiete sich leicht unbemerkt
ein.
Ja, sagte ich, weil in Gestalt eines Spieles und
unter dem Scheine, daß sie nichts Böses anrichte.
Sie richtet auch nichts an, bemerkte er, als daß sie
allmählich sich festsetzt und in aller Stille unter der
Hand sich an die Sitten und Beschäftigungen heranmacht,
von diesen aus in größeremMaße im gegenseitigen
Verkehr zutage tritt und dann vom Verkehr
aus an die Gesetze und Staatseinrichtungen geht mit
großer Frechheit, Sokrates, – bis sie zuletzt alles in
den persönlichen und öffentlichen Verhältnissen umstürzt.
Wirklich, sagte ich, verhält sich’s so damit?
Ich glaube, erwiderte er.
So müssen denn also, wie wir von Anfang an gesagt
haben, unsere Knaben gleich an einem gesetzmäßigeren
Spiele sich beteiligen, weil, wenn dies gesetzwidrig
wird und dadurch die Knaben gleichfalls,
es unmöglich ist, daß gesetzmäßige und ernsthafte
Männer aus ihnen heranwachsen?
Allerdings, versetzte er.
Wenn nun also die Knaben in rechterWeise zu
spielen angefangen und Gesetzmäßigkeit mittels der
Musik in sich aufgenommen haben, so begleitet sie
wiederum, ganz im Gegenteil wie bei jenen, überallhin
und verschafft Gedeihen, indem sie wieder
Platon: Der Staat 209
aufrichtet, was etwa früher im Gemeinwesen darniederlag.
Das ist sicher wahr, bemerkte er.
Auch die scheinbar kleinen Gesetzlichkeiten also,
fuhr ich fort, welche die Früheren samt und sonders
verloren hatten, finden diese wieder auf.
Welche?
Die folgenden: das Schweigen der Jüngeren im
Beisein von Älteren nach Gebühr, und das Niedersetzen
und Aufstehen und die Verehrung der Erzeuger,
und das Haarschneiden und die Gewandung und Beschuhung,
und das ganze Äußere des Körpers, und
was noch sonst alles von dieser Art ist. Oder meinst
du nicht?
O ja.
Aber hierüber Gesetze zu geben halte ich für einfältig;
denn sie würden weder befolgt noch irgend Bestand
haben, wenn sie mündlich oder schriftlich als
Gesetze aufgestellt werden.
Wie sollten sie auch?
Wenigstens scheint es, versetzte ich, o Adeimantos,
daß der Richtung, die einer von Kindheit auf erhalten
hat, auch dasWeitere entspricht; oder ruft nicht
immer das Ähnliche Ähnliches hervor?
Was sonst?
Und am Ende dann, meine ich, werden wir sagen,
gehe ein vollendetes und kräftiges Ganzes daraus
Platon: Der Staat 210
hervor, entweder im Guten oder auch im Gegenteil.
Wie sollte es nicht? sprach er.
Aus diesem Grunde nun also, fuhr ich fort, möchte
ich nicht weiter versuchen, über dergleichen Gesetze
zu geben.
Und mit Recht, bemerkte er.
Nun aber, bei den Göttern, sagte ich, die Marktangelegenheiten
in betreff des Verkehrs auf demMarkte,
den die Einzelnen mit einander haben, und, wenn du
willst, auch in betreff des Handwerksverkehrs und der
Ehrenkränkungen und Mißhandlungen und die Einleitungen
von Klagen und Bestellungen von Geschworenen,
und wenn etwa das Erheben oder Auflegen von
Abgaben notwendig ist entweder auf den Märkten
oder in den Häfen, oder auch überhaupt, was zur
Markt- oder Stadtpolizei oder Hafenordnung gehört,
oder was sonst noch von dieser Art ist, – werden wir
wagen, über etwas von diesem Gesetze zu geben?
Nein, antwortete er; es ist nicht angemessen, rechten
Männern darüber Befehle zu erteilen; denn das
meiste daran, was irgend der Gesetzgebung bedürfte,
werden sie wohl leicht selbst finden.
Ja, mein Lieber, sprach ich, falls ihnen die Gottheit
Bestand der Gesetze schenkt, die wir vorhin durchgegangen
haben.
Wo nicht, sagte er, so werden sie ihr Leben damit
zubringen, fortwährend vieles Derartige aufzustellen
Platon: Der Staat 211
und nachzubessern, in der Meinung, des Besten habhaft
zu werden.
Du sagst, bemerkte ich, solche werden ein Leben
führen wie Leute, die krank sind und aus Mangel an
Selbstbeherrschung von ihrer schlechten Lebensweise
sich nicht trennen mögen.
Allerdings.
In der Tat, diesen geht es fortwährend recht
hübsch: mit ihremMedizinieren richten sie nichts aus,
als daß sie die Krankheiten mannigfaltiger und größer
machen, und das tun sie immer in der Hoffnung, wenn
jemand ihnen ein Mittel anrät, davon gesund zu werden.
Allerdings, versetzte er, geht es Kranken dieser Art
in solcherWeise.
Und weiter, fuhr ich fort, ist das nicht hübsch an
ihnen, daß sie für den allerärgsten Feind denjenigen
halten, der dieWahrheit sagt, daß, ehe sie aufhören,
sich zu betrinken und vollzuessen undWeibern nachzulaufen
und müßig zu gehen, weder Arzneien noch
Brennen noch Schneiden und auch nicht Zaubersprüche
oder Amulette oder sonst etwas Derartiges ihnen
etwas nützen?
Hübsch ist das gar nicht, erwiderte er; denn auf jemand
böse zu sein, der es wohlmeint und Recht hat,
ist keine Manier.
Ein Lobredner von solchen Leuten bist du, sagte
Platon: Der Staat 212
ich, wie es scheint, nicht.
Nein, wahrlich, beim Zeus.
Auch wenn der ganze Staat also, wie wir vorhin
sagten, in solcher Art erwächst, wirst du es nicht
loben. Oder findest du nicht, daß ebenso wie jene alle
diejenigen Staaten verfahren, welche in schlechter
Verfassung sind und nun ihren Angehörigen gebieten,
die Einrichtung des Staates im ganzen nicht anzurühren,
indem sterben müsse, wer das tue; wer aber ihnen
bei dieser ihrer Verfassung am angenehmsten den Hof
macht und durch Gefälligkeit sich einschmeichelt und
ihnen ihre Wünsche an den Augen absieht und sie zu
erfüllen imstande ist, der soll dann ein braver Mann
sein und zu wichtigen Dingen geschickt und von
ihnen geehrt werden?
Dasselbe freilich, antwortete er, scheinen sie mir zu
tun, und ich lobe es schlechterdings nicht.
Wie aber auf der anderen Seite, – diejenigen, welche
Lust und Entschlossenheit haben, solchen Staaten
zu dienen, bewunderst du sie nicht um ihren Mut und
ihre Gewandtheit?
O ja, versetzte er, nur aber nicht alle diejenigen, die
von ihnen sich betrügen lassen und inWahrheit
Staatsmänner zu sein glauben, weil sie von der Menge
gelobt werden.
Wie sagst du? erwiderte ich: hast du nicht Nachsicht
mit den Männern? Oder glaubst du, es sei für
Platon: Der Staat 213
einen Mann, der sich nicht aufs Messen versteht,
möglich, wenn viele andere der gleichen Art sagen, er
sei vier Ellen groß, dies nicht selbst von sich zu glauben?
Das nun freilich nicht, war seine Antwort.
So sei denn also nicht böse; denn die Leute dieser
Art benehmen sich wohl am allerhübschesten, indem
sie durch das Geben von Gesetzen in der eben von
uns beschriebenen Weise und durch ewiges Nachbessern
es zu einem Ende zu bringen glauben in bezug
auf die Schlechtigkeiten im Verkehr und in bezug auf
das eben erst von mir Genannte, ohne zu wissen, daß
sie inWahrheit gleichsam der Hydra den Kopf abschlagen.
Und in der Tat, sagte er, etwas anderes tun sie
nicht.
Ich wäre nun also, fuhr ich fort, der Meinung, daß
mit dieser Gattung von Gesetzen und Verfassung
weder in einem schlecht noch in einem gut eingerichteten
Staat der wahre Gesetzgeber sich befassen dürfe,
in dem einen, weil das alles nutzlos ist und nichts
dabei herauskommt, im andern, weil den einen Teil
auch der nächste Beste zu finden vermag und der
zweite von selbst sich einstellen wird infolge der vorausgegangenenWeise
der Tätigkeit.
Was wäre nun also, fragte er, uns noch übrig von
der Gesetzgebung?
Platon: Der Staat 214
Und ich antwortete: Für uns nichts mehr; wohl aber
für den delphischen Apollon die größten und schönsten
und ersten Gegenstände der Gesetzgebung.
Welche denn? sagte er.
Das Gründen von Heiligtümern und der sonstige
Kult von Göttern und Dämonen und Heroen, andererseits
die Bestattung der Gestorbenen, und was man
alles denen im Jenseits erweisen muß, um sie gnädig
zu haben. Denn die Sachen dieser Art verstehen wir
weder selbst, noch werden wir beim Gründen des
Staates, falls wir verständig sind, irgend einem anderen
Glauben schenken oder als Führer und Deuter folgen,
als nur dem Anererbten; denn dieser Gott ist es
doch wohl, der über solche Dinge allen Menschen als
anererbter Führer, in der Mitte der Erde auf dem
Nabel sitzend, Auskunft gibt.
Und du hast recht, versetzte er, und so muß man es
machen.
Gegründet wäre dir denn also, begann ich wieder,
nunmehr der Staat, Sohn des Ariston; jetzt verschaffe
dir irgendwo ein tüchtiges Licht und suche in ihm selber
und fordere auch deinen Bruder dazu auf und den
Polemarchos und die übrigen, ob wir irgend entdecken,
wo wohl die Gerechtigkeit ist und wo die Ungerechtigkeit,
und wie sie sich von einander unterscheiden,
und welches von beiden besitzen muß, wer
glücklich sein will, mag er nun vor allen Göttern und
Platon: Der Staat 215
Menschen verborgen sein oder nicht.
Es hilft dir nichts, entgegnete Glaukon; denn du
hast dich anheischig gemacht zu suchen, weil es eine
Sünde für dich wäre, der Gerechtigkeit nicht nach
Kräften auf alleWeise beizustehen.
Es ist so, wie du erinnerst, sagte ich, und ich muß
es denn so machen; aber auch ihr müßt mithelfen.
Das wollen wir tun, erwiderte er.
Ich hoffe nun, sprach ich, auf folgendeWeise es zu
finden: Ich glaube, daß uns der Staat, wofern er richtig
gegründet ist, vollkommen gut ist.
Notwendig, sagte er.
So ist also offenbar, daß er weise ist und tapfer und
besonnen und gerecht?
Offenbar.
Also, was immer davon wir in ihm finden werden,
das, was übrig bleibt, wird das Nichtgefundene sein?
Was sonst?
Gerade nun wie bei vier andern Dingen – wenn wir
eines derselben in irgend etwas suchen würden, und
wir dieses zuerst erkennten, so wären wir zufrieden;
hätten wir aber die drei vorher erkannt, so wäre eben
damit das Gesuchte erkannt; denn offenbar wäre es
nichts anderes mehr als das übriggebliebene.
Du hast recht, bemerkte er.
So muß man denn auch in bezug auf diese, da sie
gerade zu vier sind, ebenso suchen?
Platon: Der Staat 216
Natürlich.
Und das erste nun, was davon sichtbar ist, scheint
mir dieWeisheit zu sein; und in bezug auf sie kommt
etwas Seltsames zutage.
Was? fragte er.
Weise scheint mir der beschriebene Staat inWirklichkeit
zu sein; denn er ist wohlberaten, nicht wahr?
Ja.
Und dies selbst, dieWohlberatenheit, ist doch offenbar
eineWissenschaft? Denn nicht durch Unkenntnis,
sollte ich meinen, sondern durch Wissenschaft
berät man sich wohl.
Offenbar.
Nun sind aber viele und vielerleiWissenschaften in
dem Staate.
Wie sollten sie nicht?
Ist nun etwa wegen derWissenschaft der Zimmerleute
der Staat als weise und wohlberaten zu bezeichnen?
Keineswegs, antwortete er, wegen dieser, sondern
als bauverständig.
Nicht also wegen derWissenschaft von den Holzarbeiten,
weil er sich in dieser Beziehung bestmöglich
berät, ist der Staat als weise zu bezeichnen.
Nein, wahrlich nicht.
Wie aber, vielleicht wegen der von den Metallarbeiten
oder einer anderen dieser Art?
Platon: Der Staat 217
Keineswegs wegen irgend einer.
Auch nicht wegen der von der Erzeugung des Getreides
aus der Erde, sondern dann wäre er landbaukundig?
Es scheint mir.
Wie aber? fragte ich: gibt es in dem eben von uns
gegründeten Staat bei irgend einer Klasse seiner Angehörigen
eineWissenschaft, die nicht über irgend
welches Einzelne in dem Staate berät, sondern über
ihn selbst im Ganzen, in welcherWeise er am besten
mit sich selbst und mit den andern Staaten verkehren
würde?
Allerdings gibt es eine.
Welche ist sie, fragte ich, und wer hat sie?
Die hier, antwortete er, die der Bewachung, und bei
diesen Regierenden da, die wir soeben vollkommene
Wächter genannt haben.
Wie benennst du nun den Staat wegen dieser Wissenschaft?
Wohlberaten, versetzte er, und wahrhaft weise.
Glaubst du nun, fuhr ich fort, daß wir im Staate
Metallarbeiter in größerer Zahl haben werden oder
diese wahrenWächter?
Bei weitem, versetzte er, Metallarbeiter.
So werden auch, sagte ich, unter den übrigen, so
viel ihrer Wissenschaft haben und einen Namen tragen,
unter diesen allen jene die am wenigsten
Platon: Der Staat 218
Zahlreichen sein?
Bei weitem.
Durch den kleinsten Stand und Teil von ihm also
und die diesem einwohnendeWeisheit, durch den vorstehenden
und regierenden, wird der ganze Staat,
wenn er naturgemäß gegründet ist, weise; und wie es
scheint, ist von Natur diese Gattung am wenigsten
zahlreich, der es zukommt, an derjenigenWissenschaft
teilzuhaben, die allein unter den übrigenWissenschaftenWeisheit
genannt werden darf.
Du hast ganz recht, versetzte er.
Da haben wir denn nun eines von den vieren – ich
weiß nicht, wie – gefunden, es selbst sowohl als den
Ort, wo es im Staate seinen Sitz hat.
Mir meinesteils, erwiderte er, kommt es vor, als
würde das Gefundene genügen.
Nun weiter die Tapferkeit, was sie selbst ist und in
welchem Teile des Staates sie sich befindet, um dessen
willen der Staat so zu benennen ist, ist durchaus
nicht schwierig zu erkennen.
Wieso?
Wer wird, versetzte ich, wenn er einen Staat als
feige oder mutig bezeichnen soll, auf etwas anderes
sehen als auf denjenigen Teil, der für ihn Krieg führt
und zu Felde zieht?
Kein Mensch, sagte er, wird auf etwas anderes
sehen.
Platon: Der Staat 219
Denn ich meine, bemerkte ich, nicht von den andern,
welche in ihm entweder feige oder tapfer sind,
hängt es ab, ob er so ist oder so.
Allerdings nicht.
Auch tapfer also ist ein Staat durch einen Teil seiner
selbst, weil er in jenem eine Kraft besitzt, die
unter allen Umständen die Ansicht über das Schreckliche
bewahren wird, daß es dasjenige und von der
Art sei, als was und von welcher Art der Gesetzgeber
bei der Erziehung es vorgeschrieben hat. Oder nennst
du das nicht Tapferkeit?
Ich habe nicht recht verstanden, entgegnete er, was
du sagtest: sage es noch einmal!
Eine Bewahrung, versetzte ich, ist, wie ich behaupte,
die Tapferkeit.
Was für eine Bewahrung denn?
Die der vom Gesetze mittels der Erziehung eingepflanzten
Ansicht über das Schreckliche, was es sei
und von welcher Art. Die Bewahrung unter allen Umständen
aber, von der ich sprach, ist, daß jene bewahrt
wird, wenn man in Bekümmernissen ist und in sinnlichen
Genüssen und in Begierden und in Ängsten und
sie nicht verliert. Womit es aber eine Ähnlichkeit zu
haben scheint, damit will ich es vergleichen, wenn
dir’s recht ist.
Ja, mir ist’s recht.
Nun, weißt du, sagte ich, daß Färber, wenn sie ein
Platon: Der Staat 220
StückWolle purpurrot zu färben beabsichtigen, zuerst
aus den vielen Farben die eine Gattung der weißen
auslosen, sodann es mit nicht wenigen Vorkehrungen
zuvor zurichten und behandeln, daß es den Farbenglanz
so sehr wie möglich annehme, und dann erst es
färben? Und was in solcherWeise gefärbt worden ist,
dessen Färbung wird zu einer echten und dauerhaften,
und dasWaschen sowohl ohne Lauge als mit Lauge
kann ihm den Farbenglanz nicht nehmen; was aber
nicht auf dieseWeise gefärbt ist, von dem weißt du
ja, wie es wird, falls es einer mit anderen Farben
färbt, oder auch mit dieser, ohne vorausgehende Behandlung.
Ich weiß es, versetzte er: verwaschen und lächerlich.
Etwas Derartiges nun, fuhr ich fort, nimm an, daß
auch wir nach Kräften taten, als wir die Krieger uns
auslasen und sie erzogen durch Musenkunst und
Turnkunst; du darfst glauben, daß wir nichts anderes
zu bewerkstelligen suchten, als daß sie uns aus freier
Überzeugung so schön als möglich die Gesetze annähmen
wie eine Farbe, damit echt und dauerhaft
werde ihre Ansicht sowohl über das Gefährliche als
über das andere, weil sie die geeignete Naturanlage
und Erziehung erhalten haben und ihre Farbe nicht
ausgewaschen wird durch jene Laugen, die sonst zum
Abspülen kräftig sind, den Sinnengenuß, der mehr
Platon: Der Staat 221
Kraft hat, dies zu tun als alle Soda und Aschenlauge,
und die Bekümmernis und Furcht und Begierde, mehr
als alle anderen Laugen. Diese Kraft denn also und
die durchgängige Bewahrung der richtigen und gesetzmäßigen
Ansicht über das, was schrecklich ist
und was nicht, bezeichne und betrachte ich als Tapferkeit,
wofern nicht du etwas anderes meinst.
Nein, ich meine nichts anderes, versetzte er; denn
mir scheint, als würdest du die richtige Ansicht über
die gleichen Dinge, wenn sie ohne Bildung entstanden
ist, so wie die tierische und knechtische, einmal
nicht für völlig gesetzmäßig halten und dann sie
etwas anderes nennen als Tapferkeit.
Du hast vollkommen recht, erwiderte ich.
So nehme ich denn an, daß dies Tapferkeit sei.
Nimm es nur an, sagte ich, wenigstens bürgerliche,
und du wirst es richtig annehmen. Ein andermal aber
wollen wir darüber, wenn es dir recht ist, eine noch
bessere Erörterung anstellen: denn jetzt haben wir
nicht danach gesucht, sondern nach der Gerechtigkeit;
für die Untersuchung von jenem nun genügt dies, wie
ich glaube.
Du hast recht, sagte er.
Zweierlei also, fuhr ich fort, ist noch übrig, was
man im Staate betrachten muß: die Besonnenheit und
das, um dessen willen wir ja die ganze Untersuchung
anstellen, die Gerechtigkeit.
Platon: Der Staat 222
Allerdings.
Wie könnten wir nun die Gerechtigkeit finden,
damit wir uns nicht weiter zu bemühen brauchen um
die Besonnenheit?
Ich meinesteils nun also, entgegnete er, weiß es
weder noch möchte ich auch, daß es vorher zutage
käme, wofern wir alsdann die Besonnenheit nicht
mehr in Betracht ziehen; vielmehr, wenn du mir einen
Gefallen tun willst, so betrachte diese vor jener!
Nun ja, versetzte ich, Lust habe ich: es wäre ja
sonst unrecht von mir.
So betrachte es denn, sagte er.
Es soll geschehen, erwiderte ich, und soviel wenigstens
von hier aus zu sehen ist, gleicht sie mehr als
das Frühere einer Übereinstimmung und einem Einklange.
Inwiefern?
Eine gewisse Ordnung, antwortete ich, ist die Besonnenheit,
und eine Beherrschung gewisser Lüste
und Begierden, wie man sagt. So spricht man ja von
einem »Herrsein seiner selbst« ich weiß nicht in welcherWeise,
und von anderem Derartigen, was gleichsam
Fußstapfen von ihr seien: nicht wahr?
Ganz wohl, antwortete er.
Ist nun aber das »Herrsein seiner selbst« nicht lächerlich?
Denn der Herr seiner selbst wäre auch
Knecht seiner selbst, und der Knecht Herr; denn von
Platon: Der Staat 223
der gleichen Person ist in allen diesen Beziehungen
die Rede.
Natürlich.
Aber, fuhr ich fort, mir scheint dieser Ausdruck besagen
zu wollen, daß es in demMenschen selbst an
der Seele ein Besseres gibt und ein Schlechteres, und
wenn das von Natur Bessere über das Schlechtere
herrscht, dies als »Herr seiner selbst« bezeichnet
wird – denn ein Lob ist es ja -; wenn aber infolge
schlechter Erziehung oder irgend welchen Umganges
das kleinere Bessere von der Menge des Schlechteren
beherrscht wird, so scheint man dies wie zur Schmach
zu tadeln und den in solchem Zustande Befindlichen
»Knecht seiner selbst« und zügellos zu nennen.
So scheint es freilich, sagte er.
Blicke nun, sprach ich, auf unseren neuen Staat
hin, und du wirst finden, daß in ihm das eine von diesen
vorhanden ist; denn du wirst sagen, daß er mit
Recht als Herr seiner selbst bezeichnet weide, wofern
dasjenige, dessen Besseres über das Schlechtere
herrscht, besonnen und Herr seiner selbst genannt
werden muß.
Nun, ich blicke hin, erwiderte er, und du hast recht.
Und sicher wird man auch die vielen und vielerlei
Begierden und Lüste und Kümmernisse vorzugsweise
bei Kindern finden undWeibern und Dienstboten,
und unter den sogenannten Freien bei der großen
Platon: Der Staat 224
Menge und den unteren Ständen.
Allerdings.
Dagegen die einfachen und gemäßigten, die ja mit
Verstand und richtiger Ansicht durch Überlegung geleitet
werden, wirst du bei wenigen antreffen, und
zwar bei denjenigen, denen die besten Naturanlagen
und die beste Erziehung zuteil geworden sind.
Freilich, sagte er.
Siehst du nun nicht, wie auch das in deinem Staate
vorhanden ist, und wie hier die Begierden in der
Menge und in den unteren Ständen beherrscht werden
von den Begierden und der Einsicht in denWenigeren
und Verständigeren?
O ja, erwiderte er.
Wenn man also einen Staat als Herren der Lüste
und Begierden und seiner selbst bezeichnen darf, so
darf man auch diesen unsern Staat so benennen?
Jedenfalls, versetzte er.
Nicht also auch besonnen in Rücksicht auf dieses
alles?
Allerdings, sagte er.
Und sicher, wenn andererseits in einem anderen
Staate dieselbe Ansicht vorhanden ist bei den Regierenden
und Regierten in bezug auf die Frage, wer zu
regieren habe, so wäre auch in unserem dies vorhanden:
oder meinst du nicht?
O ja, erwiderte er, vollkommen.
Platon: Der Staat 225
Von welchen der Staatsglieder nun wirst du, falls
sie so beschaffen sind, sagen, daß in ihnen das Besonnensein
vorhanden sei? Von den Regierenden oder
von den Regierten?
Von beiden, denke ich, antwortete er.
Siehst du nun, sagte ich, daß wir richtig vorhin
prophezeit haben, die Besonnenheit sei einer Art Einklang
ähnlich?
Wieso?
Weil sie nicht wie die Tapferkeit und dieWeisheit
ist, deren jede sich in einem Teile befand und dadurch
den Staat die eine weise, die andere tapfer machte, –
sie, die Besonnenheit ist vielmehr recht eigentlich
über das Ganze verbreitet, indem sie durch alle Töne
hin gleich übereinstimmend macht die Schwächsten
und die Stärksten und die Mittleren, wenn du willst an
Einsicht oder auch an Stärke oder auch an Menge
oder an Besitz oder an irgend etwas anderem von dieser
Art; so daß wir mit vollstem Rechte diese Gleichgesinntheit
Besonnenheit nennen können, die Übereinstimmung
des von Natur Schwächeren und des
Besseren darüber, welcher von beiden zu regieren
habe sowohl in einem Staate als in jedem Einzelnen.
Vollkommen bin ich einverstanden, sagte er.
Gut, versetzte ich, die drei Arten hätten wir nun im
Staate entdeckt, soweit es wenigstens den Anschein
hat. Die noch übrige aber, durch die der Staat noch
Platon: Der Staat 226
teil hätte an der Tugend, was wäre wohl diese? Denn
offenbar ist dies die Gerechtigkeit.
Offenbar.
Jetzt also, Glaukon, müssen wir wie Jäger den
Busch rings umstellen und aufmerken, damit uns die
Gerechtigkeit nicht etwa entwischt, sich unsichtbar
macht und unserem Auge entschwindet: denn es ist
offenbar, daß sie hier irgendwo ist. So gib denn acht
und strenge dich an, sie zu entdecken, ob du sie noch
vor mir siehst und mir’s sagen kannst!
Da wäre ich froh, versetzte er; vielmehr behandle
mich als einen, der nachzufolgen und das, was man
ihm zeigt, zu sehen imstande ist: dann wirst du mich
ganz angemessen behandeln. So folge denn, sprach
ich, nachdem du mit mir gebetet hast!
Ich will das tun, antwortete er; aber nur voran!
Fürwahr, sagte ich, der Ort scheint schwer zugänglich
zu sein und in Schatten gehüllt; wenigstens ist er
dunkel und schwer zu durchforschen; indessen, man
muß dennoch drauflosgehen!
Das muß man, erwiderte er.
Ich sah hin und rief aus: Juchhe, juchhe, Glaukon,
ich glaube eine Spur zu haben, und ich denke, sie
kann uns schlechterdings nicht entwischen.
Eine frohe Botschaft, bemerkte er.
In der Tat, sagte ich, uns ist etwas Einfältiges begegnet.
Platon: Der Staat 227
Was denn?
Schon längst, mein Bester, scheint sie von Anfang
an zu unsern Füßen zu rollen, und wir haben sie nur
nicht gesehen, sondern waren höchst närrisch.Wie
manchmal Leute, die etwas in Händen haben, das,
was sie haben, suchen, so haben auch wir nicht auf es
selbst gesehen, sondern weit weg wo andershin, und
darum ist es uns wohl auch verborgen geblieben.
Wie meinst du das? fragte er.
So, antwortete ich, daß es mir vorkommt, als ob
wir schon lange es nennten und hörten, ohne uns
selbst zu verstehen, daß wir es gewissermaßen genannt
haben.
Eine lange Vorrede, bemerkte er, für einen Hörbegierigen.
So höre denn zu, sagte ich, ob ich recht habe.Was
wir nämlich von Anfang an, als wir den Staat gründeten,
als überall erforderlich aufstellten, das, oder eine
Art davon, ist, wie mir scheint, die Gerechtigkeit. Wir
haben ja aufgestellt und, wenn du dich recht erinnerst,
oft gesagt, daß jeder Einzelne von dem, was zum
Staat gehört, ein einziges Geschäft treiben müsse, zu
dem seine Natur am geschicktesten angelegt sei.
Das haben wir allerdings gesagt.
Und auch, daß das Seinige tun und nicht vielerlei
zu treiben, Gerechtigkeit ist, auch das haben wir von
vielen andern gehört und selbst oft gesagt.
Platon: Der Staat 228
Freilich haben wir’s gesagt.
Dies nun, mein Freund, sprach ich, daß man das
Seinige tut, scheint mir, wenn es auf eine gewisse
Weise geschieht, die Gerechtigkeit zu sein.Weißt du,
woraus ich’s schließe?
Nein, sondern sage es, erwiderte er.
Es scheint mir, versetzte ich, das, was im Staate
noch zurückbleibt nach dem, was wir betrachtet
haben, der Besonnenheit, Tapferkeit und Einsicht, das
zu sein, was allen jenen die Möglichkeit verlieh, darin
zu entstehen, und den entstandenen Heil zu gewähren,
solange es darin ist. Nun aber haben wir gesagt, daß
die Gerechtigkeit sein werde, was nach jenen übrig
bleibt, wenn wir die drei gefunden hätten.
Das ist auch notwendig, sagte er.
Indessen, fuhr ich fort, wenn wir zu entscheiden
hätten, was von diesen den Staat, wenn es in ihm ist,
am meisten gut machen wird, so wird es uns schwer
fallen zu entscheiden, ob das Gleichgesinntsein der
Regierenden und der Regierten, oder daß die Krieger
die gesetzliche Ansicht über das, was schrecklich sei
und nicht, in sich bewahren, oder die den Regierenden
einwohnende Einsicht undWachsamkeit, oder ob das
besonders sie gut macht, wenn es in dem Kinde und
demWeibe und dem Knecht und dem Freien und dem
Handwerker und dem Regierenden und Regierten vorhanden
ist, daß jeder Einzelne sein einzelnes Geschäft
Platon: Der Staat 229
verrichtete und nicht vielerlei trieb.
Immerhin ist es schwer zu entscheiden, sagte er.
So kann denn also, wie es scheint, hinsichtlich der
Tüchtigkeit eines Staates mit seinerWeisheit und Besonnenheit
und Tapferkeit wetteifern die Fähigkeit,
daß jeder in ihm das Seinige tut.
Allerdings, versetzte er.
So setzest du also wohl die Gerechtigkeit als mit
diesen wetteifernd hinsichtlich der Tüchtigkeit eines
Staates?
Jawohl.
Betrachte es nun auch auf folgendeWeise, ob es
dir so scheinen wird: Du wirst wohl dem Regierenden
in dem Staate die Rechtspflege übertragen?
Wem sonst?
Werden sie nun als Richter etwas anderes mehr erstreben
als dies, daß keiner weder Fremdes inne habe
noch seines Eigenen beraubt werde?
Nein, sondern dies.
Weil es gerecht ist?
Ja.
Auch auf dieseWeise also wäre zugestanden, daß
das Haben und Tun des Eigenen und Seinigen Gerechtigkeit
ist.
So ist’s.
Sieh nun, ob du mit mir einverstanden bist: Ein
Zimmermann, der eines Schusters, oder ein Schuster,
Platon: Der Staat 230
der eines Zimmermanns Arbeiten machen wollte, entweder
indem sie die Werkzeuge oder Ehren von einander
umtauschten, oder auch indem der nämliche
beides zugleich verrichten wollte, und wenn auch
alles übrige vertauscht würde, glaubst du, daß es der
Gemeinde großen Schaden brächte?
Nicht besonders, erwiderte er.
Wenn aber, denke ich, einer, der von Natur Handwerker
ist oder sonst ein Geschäftsmann, übermütig
gemacht durch Reichtum oder Anhang oder Stärke
oder etwas anderes Derartiges, in den Kriegerstand
eintreten will, oder einer der Krieger in den der Berater
undWächter, ohne dessen würdig zu sein, und
diese dieWerkzeuge und Ehren von einander umtauschen,
oder wenn derselbe alles dieses gleichzeitig betreiben
will, dann, denke ich, glaubst auch du, daß
solcher Tausch von diesen und solche Vielgeschäftigkeit
ein Verderben für die Gemeinde ist?
Allerdings.
Die Vielgeschäftigkeit der drei verschiedenen Stände
also und ihr Umtauschen unter einander wäre der
größte Schaden für den Staat und würde ganz mit
Recht am ehesten als Verbrechen gegen ihn bezeichnet?
Freilich, vollkommen.
Das größte Verbrechen gegen seinen Staat wirst du
aber die Ungerechtigkeit nennen?
Platon: Der Staat 231
Allerdings.
Das wäre also die Ungerechtigkeit. – Umgekehrt
aber müssen wir sagen:Wenn der gelderwerbende,
hilfeleistende, wachende Stand jeder seine Pflicht im
Staate erfüllt, so wird diese Pflichterfüllung, als Gegenteil
von jenem, Gerechtigkeit sein und den Staat
gerecht machen.
Nicht anders scheint es mir sich zu verhalten als so,
erklärte er.
Wir wollen es noch nicht ganz fest nennen, sagte
ich, sondern erst wenn uns, auch auf jeden einzelnen
Menschen angewendet, dieser Begriff auch dort als
Gerechtigkeit anerkannt wird, dann wollen wir es einräumen
– denn was können wir sonst sagen?-; wo
nicht, so wollen wir etwas anderes in Betracht ziehen.
Jetzt aber wollen wir die Untersuchung zu Ende führen,
von der wir glaubten, daß wir, wenn wir die Gerechtigkeit
zuerst in einem Größeren, das sie besitzt,
zu beschauen versuchen, dann leichter an dem einzelnen
Menschen gewahren, welcher Art sie ist. Und ein
solches schien uns nun ein Staat zu sein, und so
haben wir denn einen möglichst guten gegründet, da
wir wohl wußten, daß in dem guten sie sei.Was nun
dort sich uns gezeigt hat, wollen wir auf den Einzelnen
übertragen: Stimmt es überein, so ist es gut: falls
aber an dem Einzelnen sich etwas anderes ergibt, so
wollen wir wieder auf den Staat zurückkommen und
Platon: Der Staat 232
eine Prüfung anstellen. Und vielleicht, wenn wir sie
aneinander betrachten und reiben, können wir, wie
aus zwei Hölzern die Flamme, die Gerechtigkeit aufleuchten
machen, und wenn sie sichtbar geworden ist,
wollen wir sie bei uns befestigen.
Wirklich, versetzte er, dein Verfahren ist ein geordnetes,
und man muß es so machen.
Ist nun wohl, fuhr ich fort, dasjenige, was man
»gleich« benennt, – Größeres wie Kleineres, – unähnlich
in der Beziehung, in welcher es als »gleich« bezeichnet
wird, oder ähnlich?
Ähnlich, antwortete er.
So wird denn also auch ein gerechter Mann sich
von einem gerechten Staate eben in bezug auf die Erscheinung
der Gerechtigkeit in nichts unterscheiden,
sondern ihm ähnlich sein?
Allerdings, antwortete er.
Aber ein Staat schien nun doch gerecht zu sein,
wenn in ihm dreierlei Klassen von Naturen sind und
jede das Ihrige tut; besonnen aber andererseits und
tapfer und weise wegen gewisseranderer Zustände und
Beschaffenheiten dieser nämlichen Klassen?
Das ist wahr, sagte er.
Auch von dem Einzelnen also, mein Lieber, werden
wir in dieserWeise für angemessen halten, daß er
diese nämlichen Arten in seiner Seele hat und wegen
der nämlichen Zustände wie jene billigerweise die
Platon: Der Staat 233
nämlichen Namen zu bekommen habe wie der Staat?
Ganz notwendig, erwiderte er.
Auf eine unbedeutende Untersuchung, mein Bester,
fuhr ich fort, in betreff der Seele sind wir wieder geraten,
ob sie diese drei Arten in sich hat oder nicht ?
Es kommt mir gar nicht vor, als wäre sie unbedeutend,
entgegnete er; denn vielleicht, o Sokrates, ist
wahr, was man zu sagen pflegt, daß das Schöne
schwer ist.
Es sieht so aus, versetzte ich. Und wisse nur, Glaukon,
wie mir es vorkommt, werden wir auf solchen
Wegen, wie wir sie gegenwärtig in den Untersuchungen
wandeln, genau dies nimmermehr erfassen; denn
ein anderer, größerer und längererWeg ist es, der
hierzu führt; vielleicht indessen steht es im richtigen
Verhältnisse zu dem vorher Gesagten und Untersuchten.
Könnte man sich das nicht ganz wohl gefallen lassen?
erwiderte er; denn wir meinesteils würde es vorläufig
recht sein.
Nun ja, sagte ich, für mich wird es sogar vollkommen
genügen.
So laß dich also nicht durch Müdigkeit davon abhalten,
versetzte er, sondern betrachte!
Müssen wir nun nicht, begann ich, ganz notwendig
zugeben, daß die nämlichen Arten und Sitten in jedem
von uns sind wie im Staate? Denn anderswoher sind
Platon: Der Staat 234
sie doch nicht dahin gekommen. Denn es wäre lächerlich,
wenn jemand glauben würde, das Zornmütige
rühre in den Staaten nicht von den Einzelnen her,
denen man das ja nachsagt, wie z.B. denen in Thrakien
und Skythien und so ziemlich denen in den nördlichen
Gegenden; oder dasWißbegierige, was man ja
am ehesten unseren Gegenden nachsagen könnte; oder
das Geldbegierige, was man nicht zum mindesten an
den Phöniziern und den Ägyptern entdecken könnte.
Allerdings, erwiderte er.
Dies verhält sich nun also, sagte ich, in solcher
Weise und ist nicht schwierig zu erkennen.
Gewiß nicht.
Folgendes aber ist nunmehr schwierig, ob es dieses
nämliche ist, womit wir das Einzelne verrichten, oder
ob drei und mit jedem etwas anderes? Ob wir mit dem
einen von dem, was in uns ist, lernen, mit dem andern
zornig sind und dann mit einem dritten Begierde
haben nach den auf Nahrung und Zeugung bezüglichen
Genüssen und was sonst noch damit verwandt
ist, oder ob wir mit der ganzen Seele jedes Einzelne
davon verrichten, wenn wir dazu den Anlauf genommen
haben? Dies ist es, was schwierig ist in angemessenerWeise
zu bestimmen.
Auch mir kommt es so vor, bemerkte er.
In folgenderWeise nun wollen wir versuchen es zu
bestimmen, ob es unter sich das nämliche ist oder
Platon: Der Staat 235
Verschiedenes.
Wie denn?
Offenbar ist, daß Einunddasselbe keine Lust haben
wird, das Entgegengesetzte gleichzeitig in einer und
derselben Beziehung und einer und derselben Richtung
zu tun oder zu leiden; daher wir, wenn wir einmal
an ihnen dies erfolgt finden, wissen werden, daß
es nicht Einunddasselbe war, sondern Mehreres.
Gut.
Betrachte denn, was ich sage!
Sag’s nur, sprach er.
Ist es also möglich, fuhr ich fort, daß Einunddasselbe
in einer und derselben Beziehung gleichzeitig
stillstehe und sich bewege?
Keineswegs.
Noch genauer wollen wir uns denn verständigen,
damit wir nicht etwa im weiteren Verlaufe zweifelhaft
werden.Wenn nämlich jemand von einemMenschen,
der stille steht, aber seine Hände und den Kopf bewegt,
sagen würde, daß Einunddasselbe gleichzeitig
stillstehe und sich bewege, so würden wir, glaube ich,
der Ansicht sein, daß man nicht so sagen dürfe, sondern
daß das eine an ihm stillstehe, das andere aber
sich bewege: Ist’s nicht so?
Ja, es ist so.
Also auch wenn derjenige, der dieses sagte, noch
mehr scherzen und witzig bemerken würde, daß die
Platon: Der Staat 236
Kreisel ja mit allen ihren Teilen gleichzeitig stillstehen
und sich bewegen, wenn sie, ihre Spitze auf demselben
Punkte festaufsetzend, sich umdrehen, oder
daß auch etwas anderes, das auf derselben Stelle im
Kreise herumgeht, dies tue, so würden wir es nicht
gelten lassen, weil in diesem Falle dergleichen Dinge
nicht in bezug auf die nämlichen Teile an sich ruhig
bleiben und in Bewegung sind; sondern wir würden
sagen, sie haben Gerades und Rundes an sich, und mit
dem Geraden stehen sie still – da sie sich ja nach keiner
Seite hin neigen -, mit dem Runden aber drehen
sie sich im Kreise; wenn es aber gleichzeitig mit der
Umdrehung die gerade Haltung nach rechts oder nach
links oder nach vorne oder nach hinten neigt, dann
findet schlechterdings kein Stillstehen statt.
Und mit gutem Grunde, versetzte er.
Keine Bemerkung dieser Art wird uns also, wenn
man sie uns macht, in Verwirrung bringen, noch auch
uns mehr glauben machen, daß jemals etwas, das
wirklich einunddasselbe ist, gleichzeitig in ein und
derselben Beziehung und Richtung das Entgegengesetzte
leide [oder auch sei] oder auch tue.
Mich jedenfalls nicht, erwiderte er.
Gleichwohl indessen, fuhr ich fort, damit wir nicht
genötigt werden, mit dem Durchgehen aller solcher
Zweifel und der Feststellung, daß sie nicht gegründet
seien, uns aufzuhalten, wollen wir annehmen, daß
Platon: Der Staat 237
sich dies so verhalte, und wir wollen weiter gehen,
indem wir uns dahin verständigen: falls dies einmal
anders erscheinen sollte als auf die angegebene
Weise, so wollen wir alle daraus gezogenen Folgerungen
als aufgehoben betrachten.
Nun ja, versetzte er, so muß man es machen.
Würdest du nun wohl, sagte ich, das Genehmigen
dem Ablehnen, und das Streben etwas zu erlangen
dem Abweisen, und das Ansichziehen dem Vonsichstoßen,
– würdest du alles Derartige zu dem einander
Entgegengesetzten rechnen, sei es ein Tun oder ein
Leiden? Denn das wird keinen Unterschied machen.
Freilich, erwiderte er, zu dem Entgegengesetzten.
Wie nun? fuhr ich fort: das Dürsten und Hungern
und überhaupt die Begierden, und andererseits das
Mögen und dasWollen, – wirst du nicht alles dieses
irgendwie unter jene eben genannten Arten rechnen?
Wirst du z.B. nicht von der Seele des Begehrenden
immer sagen, daß sie entweder strebe nach dem, was
sie begehrt, oder an sich ziehe dasjenige, was sie will,
daß es ihr werde, oder andererseits, soweit sie möchte,
daß ihr etwas gewährt werde, sie genehmige dies
für sich, wie auf eine geschehene Anfrage, indem sie
darauf aus ist, daß es werde!
Allerdings.
Wie aber? Das Nichtwollen und Nichtmögen und
Nichtbegehren, – werden wir es nicht zu dem
Platon: Der Staat 238
Wegstoßen undWegtreiben von ihr und zu allem
demjenigen rechnen, was dem Genannten entgegengesetzt
ist?
Warum denn nicht?
Wenn sich also dies so verhält, werden wir sagen,
daß die Begierden eine Gattung bilden und daß die
bestimmtesten unter diesen selbst die seien, die wir
Durst und die wir Hunger nennen?
Wir werden das tun, erwiderte er.
Doch wohl die eine eine Begierde nach Trunk, die
andere eine Begierde nach Essen?
Ja.
Wäre nun wohl beim Durst als solchem Begierde
nach etwasWeiterem als dem Genannten in der
Seele? Z.B. der Durst: ist er Durst etwa nach warmem
Getränk oder nach kaltem, oder nach vielem oder
nach wenigem, oder auch mit einemWorte nach
einem irgendwie beschaffenen Getränk? Oder wird
erst, wenn eineWärme zum Durste hinzutritt, dieselbe
die Begierde nach demWarmen hinzufügen, und
wenn eine Kälte, die nach dem Kalten? Und wenn
wegen des Vorhandenseins von Vielheit der Durst
viel ist, wird sie die Begierde nach dem Vielen machen,
und, wenn wenig, die nach demWenigen? Das
Dürsten selbst aber wird nimmermehr eine Begierde
nach etwas anderem sein, als worauf es seinemWesen
nach gerichtet ist, nach dem Trunke selbst, und
Platon: Der Staat 239
andererseits das Hungern eine Begierde nach dem
Essen?
So ist es, versetzte er: jede Begierde für sich selbst
bezieht sich einzig auf jeden Gegenstand an sich,
worauf sie ihremWesen nach gerichtet ist, auf dessen
nähere Beschaffenheit aber das Hinzukommende.
Daß uns also, fuhr ich fort, nur nicht jemand unversehens
in die Quere kommt mit der Bemerkung, daß
niemand Getränk überhaupt begehre, sondern gutes
Getränk, und nicht Speise überhaupt, sondern gute
Speise: denn alle begehren ja das Gute.Wenn nun der
Durst eine Begierde ist, so wäre er es nach einem
guten Getränk oder sonst etwas, worauf die Begierde
gerichtet ist, und die anderen ebenso.
Drum wäre möglich, bemerkte er, daß, wer dies behauptete,
nicht ganz unrecht hätte.
Nun ist aber doch wohl, sagte ich, alles, was die
Eigentümlichkeit hat, etwas von etwas zu sein, teils,
wie mir scheint, ein irgendwie Beschaffenes von
einem irgendwie Beschaffenen, teils jedes für sich allein
von einem jeden für sich.
Das habe ich nicht verstanden, versetzte er.
Du hast nicht verstanden, erwiderte ich, daß das,
was größer ist, die Eigentümlichkeit hat, das Größere
von etwas zu sein?
Allerdings.
Doch wohl von dem Kleineren?
Platon: Der Staat 240
Ja.
Und das viel Größere von dem viel Kleineren:
nicht wahr?
Ja.
Also auch wohl das einstmals Größere von dem
einstmals Kleineren, und das künftig Größere von
dem künftig Kleineren?
Versteht sich, erwiderte er.
Und das Mehrere dann zu demWenigem und das
Doppelte zum Halben und alles Derartige, und andererseits
das Schwerere zum Leichteren und das
Schnellere zum Langsameren, und weiter dasWarme
zum Kalten und alles diesem Ähnliche, – verhält es
sich nicht ebenso?
Freilich vollkommen.
Wie ist es aber bei denWissenschaften? Hat es
nicht dieselbe Bewandtnis? Wissenschaft an sich ist
Wissenschaft von Lernbarem an sich oder wovon
sonst man sie alsWissenschaft setzen muß, eine bestimmteWissenschaft
aber ist Wissenschaft von einer
bestimmten Beschaffenheit. Ich meine es aber folgendermaßen:
Seitdem eineWissenschaft der Verfertigung
eines Hauses entstanden ist, hat sie sich von den
andern Wissenschaften unterschieden, so daß sie Bauwissenschaft
genannt worden ist?
Freilich.
Nicht aus dem Grunde, weil sie von bestimmter
Platon: Der Staat 241
Beschaffenheit ist, wie keine andere der übrigen?
Ja.
Seitdem sie alsoWissenschaft von etwas mit bestimmter
Beschaffenheit geworden ist, ist sie selbst
auch etwas mit bestimmter Beschaffenheit geworden?
Und die übrigen Künste undWissenschaften ebenso?
So ist’s wirklich.
Dies denn also, fuhr ich fort, nimm an als dasjenige,
was ich vorhin sagen wollte, wofern du wirklich
jetzt es verstanden hast, als ich sagte, daß alles, was
die Eigentümlichkeit hat, etwas von etwas zu sein, einerseits
für sich allein etwas von einem für sich allein
ist, andererseits aber etwas irgendwie Beschaffenes
von etwas irgendwie Beschaffenem ist. Und ich meine
nicht etwa, daß es selbst von der gleichen Beschaffenheit
ist wie dasjenige, von welchem es etwas ist, daß
also dieWissenschaft vom Gesunden und Krankhaften
gesund und krankhaft sei, und die vom Schlechten
und Guten schlecht und gut; vielmehr, da sie ja nicht
Wissenschaft von eben dem geworden ist, wovon sie
Wissenschaft ist, sondern die von etwas irgendwie
Beschaffenem, und da dies das Gesunde und Krankhafte
war, so hat es sich denn getroffen, daß sie selbst
auch eine bestimmte Beschaffenheit erhalten hat; und
dies hat gemacht, daß sie nicht mehr einfachWissenschaft
genannt wird, sondern – infolge des Hinzutritts
des bestimmt Beschaffenen – Heilwissenschaft.
Platon: Der Staat 242
Ich hab’s verstanden, sagte er, und es scheint mir
sich so zu verhalten.
Den Durst denn also, sprach ich, wirst du ihn nicht
unter dasjenige rechnen, was das, was es ist, von
etwas ist? Und Durst ist doch wohl –
Freilich, fiel er ein, von Getränk.
So ist also von einem irgendwie beschaffenen Getränk
das irgendwie Beschaffene auch der Durst, der
Durst an sich aber jedenfalls ein Durst weder von vielem
noch von wenigem, weder vom Guten noch vom
Schlechten, noch mit einemWorte von einem irgendwie
Beschaffenen, sondern Durst an sich ist er nur
von dem Getränk an sich?
Jawohl, vollkommen.
Des Dürstenden Seele also will, soweit sie dürstet,
nichts anderes als trinken, und danach trachtet sie und
danach strebt sie.
Offenbar.
Wenn also einmal etwas sie, wenn sie dürstet, nach
einer anderen Seite zieht, so wäre wohl in ihr etwas
anderes, das verschieden ist von dem Dürstenden
selbst und von dem, was sie wie ein Tier zum Trinken
treibt? Denn nicht tut ja, sagen wir, Einunddasselbe
mit Einunddemselben von sich in einer und derselben
Beziehung gleichzeitig das Entgegengesetzte.
Freilich nicht.
Wie es ja, denke ich, in bezug auf den
Platon: Der Staat 243
Bogenschützen nicht richtig ist zu sagen, daß seine
Hände gleichzeitig den Bogen von sich stoßen und an
sich ziehen, sondern daß eine andere die wegstoßende
Hand ist und eine verschiedene die an sich ziehende.
Jawohl, vollkommen, erwiderte er.
Wollen wir nun sagen, daß manche bisweilen,
wenn sie dürsten, nicht trinken mögen?
Jawohl, antwortete er, viele und vielmals.
Was wird man nun, fragte ich, in bezug auf diese
sagen? Nicht: daß in ihrer Seele zwar vorhanden sei
das zu trinken Gebietende, aber vorhanden auch das
zu trinken Verbietende, als ein vom Gebietenden Verschiedenes
und es Bezwingendes?
Mir kommt es so vor, versetzte er.
Wird nun nicht das dergleichen Verbietende, wenn
es darin sich zeigt, durch Überlegung erzeugt, dagegen
das Treibende und Ziehende durch Zustände des
Leidens und Krankseins hervorgebracht?
Es scheint so.
Nicht ohne Grund also, fuhr ich fort, werden wir
die Ansicht hegen, daß es ein Doppeltes und von einander
Verschiedenes sei, indem wir das, womit sie
überlegt, das Überlegende (Vernünftige) der Seele
nennen, das aber, womit sie verliebt ist und hungert
und dürstet oder sonst etwas leidenschaftlich begehrt,
das Unvernünftige und Begehrende, das gewisse Erfüllungen
und Genüsse liebt?
Platon: Der Staat 244
Nein, vielmehr mit Recht, versetzte er, werden wir
dies annehmen.
Damit seien uns denn, sagte ich, zwei in der Seele
befindliche Arten bestimmt. Der Zorn nun aber und
das, womit wir zornig sind, – ist es ein Drittes? Oder
mit welchem von jenen beiden wäre es gleichartig?
Vielleicht, antwortete er, mit dem Zweiten, dem
Begehrenden.
Aber, entgegnete ich, ich habe einmal etwas gehört
und glaube daran, daß nämlich Leontios, Aglaions
Sohn, wie er vom Peiraieus her die nördliche Mauer
entlang außen heraufging und bemerkte, daß bei dem
Scharfrichter Leichname liegen, einerseits sie zu
sehen begehrte und andererseits doch Abscheu empfand
und sich abwandte und eineWeile kämpfte und
sich verhüllte, zuletzt dann aber, von der Begierde
überwältigt, mit weitaufgerissenen Augen zu den
Leichnamen hinlief und ausrief: »Da habt ihr’s denn,
ihr Unseligen! Seht euch satt an dem edlen Anblick!«
Ich habe es gleichfalls gehört, versetzte er.
Diese Erzählung, bemerkte ich, zeigt denn doch,
daß der Zorn manchmal mit den Begierden im Kampfe
liege, als ein anderes mit einem anderen.
Allerdings zeigt sie’s, sagte er.
Machen wir nun, fuhr ich fort, nicht auch sonst oftmals,
wenn einen die Begierden seiner Überlegung
zuwider nötigen, dieWahrnehmung, daß er sich
Platon: Der Staat 245
selber schilt und auf das in ihm, was ihn nötigt, zornig
ist und daß – wie bei einem Kampf zwischen
zweien – der Zorn eines solchen sich mit der Vernunft
verbündet? Daß er aber mit der Begierde gemeinsame
Sache machte und, wenn die Vernunft sagt, er dürfe
nicht, ihr zuwiderhandelte, – etwas Derartiges wirst
du, glaube ich, nicht behaupten, je an dir selbst wahrgenommen
zu haben, und ich glaube auch nicht, an
einem anderen.
Nein, beim Zeus, antwortete er.
Wie nun? sagte ich: wenn einer Unrecht zu tun
glaubt, – ist er nicht, je edler er ist, um so weniger imstande
zornig zu werden, wenn er hungert und friert
und irgend sonst etwas Derartiges erleidet durch denjenigen,
von dem er glaubt, daß er mit Recht ihm das
antue, und mag sich das an ihm, wovon ich rede, der
Zorn, gegen diesen nicht erheben?
Das ist wahr, versetzte er.
Wie aber? Wenn einer glaubt, Unrecht zu leiden, –
braust er nicht darüber auf und grollt und steht dem
vermeinten Rechte bei wegen des Hungerns und Frierens
und Erleidens von allem Derartigen und hält
siegreich stand und läßt vom Edlen nicht ab, bis er es
entweder durchsetzt oder sein Ende findet oder – wie
ein Hund vom Hirten – von der Vernunft, die in ihm
ist, zu sich gerufen und besänftigt wird?
Freilich ganz, erwiderte er, gleicht er dem von dir
Platon: Der Staat 246
Beschriebenen; und wir haben ja in unserem Staate
die Helfe gleichsam als Hunde aufgestellt, gehorsam
den Regierenden, gleichsam den Hirten des Staates.
Schön, sagte ich, verstehst du, was ich sagen will;
aber sieh zu, ob du außerdem auch das Folgende einsiehst?
Was denn?
Daß wir jetzt das Gegenteil von vorhin in betreff
des Zornartigen meinen: Denn damals glaubten wir,
es sei etwas Begehrendes, jetzt aber sagen wir, es sei
davon weit entfernt und schlage sich beim innern
Streite der Seele vielmehr auf die Seite des Vernünftigen.
Allerdings, versetzte er.
Ist es nun etwas Verschiedenes auch von diesem?
Oder ist es eine Art des Vernünftigen, so daß nicht
drei, sondern zwei Arten in der Seele wären, ein Vernünftiges
und ein Begehrendes? Oder wie es ja im
Staate der diesen zusammenhaltenden Klassen drei
waren, die erwerbende, helfende und beratende, – ist
so auch in der Seele dies, das Zornartige, als drittes,
ein Gehilfe des Vernünftigen von Natur, wofern es
nicht durch schlechte Erziehung verdorben worden
ist?
Notwendig das dritte, war seine Antwort.
Ja, sagte ich, wofern es sich als verschieden von
dem Vernünftigen erweist, wie es sich als verschieden
Platon: Der Staat 247
von dem Begehrenden erwiesen hat.
Das wird sich ohne Schwierigkeit erweisen, versetzte
er; denn auch an den Kindern kann man dies
sehen, daß von Zorn sie gleich nach ihrer Geburt voll
sind; der Vernunft dagegen werden einige, wie mir’s
scheint, niemals teilhaftig, die meisten aber erst spät.
Ja, beim Zeus, bemerkte ich, da hast du schön gesprochen.
Auch an den Tieren kann man das sehen,
was du sagst, daß es wirklich so sich verhält; überdies
wird auch das oben einmal angeführteWort des
Homer es bezeugen:
Aber er schlug an die Brust und redete scheltend
sich selbst zu;
denn hier läßt ja Homer deutlich das über das Bessere
und Schlechtere Nachdenkende auf das unvernünftig
Zürnende als ein von sich Verschiedenes
schelten.
Du hast vollkommen recht, erwiderte er.
Über diesen Strom wären wir also, begann ich wieder,
glücklich hinübergeschwommen, und wir haben
uns gehörig verständigt, daß die nämlichen Gattungen
und gleich viele sowohl im Staate als andererseits in
der Seele jedes Einzelnen vorhanden sind.
So ist es.
Nunmehr ist doch wohl eine notwendige Folge,
Platon: Der Staat 248
daß, wie und wodurch der Staat weise war, so und dadurch
auch der Einzelne weise ist?
Freilich.
Und wodurch und wie ein Einzelner tapfer ist, dadurch
und so auch ein Staat tapfer ist, und in bezug
auf das übrige alles, was zur Tugend gehört, beide
sich gleicherweise verhalten?
Notwendig.
Auch gerecht also, mein Glaukon, werden wir,
denke ich, sagen, daß ein Mann sei durch dieselbe Beschaffenheit,
durch die auch ein Staat gerecht war?
Auch dies ist ganz notwendig.
Aber sicher haben wir noch nicht vergessen, daß
jener gerecht war dadurch, daß von den drei Ständen
in ihm jeder das Seinige tat?
Ich glaube nicht, daß wir’s vergessen haben, war
seine Antwort.
Wir müssen also im Gedächtnis behalten, daß auch
von uns ein jeder, bei dem jedes von dem, was er in
sich hat, das Seinige tut, gerecht sein wird und das
Seinige tut.
Allerdings, versetzte er, muß man es im Gedächtnis
behalten.
Gebührt es nun aber nicht dem vernünftigen Teile
zu regieren, da er weise ist und die Vorsorge für die
ganze Seele hat, dem zornartigen Teile aber, jenem
gehorsam und verbündet zu sein?
Platon: Der Staat 249
Freilich.
Wird nun nicht, wie wir gesagt haben, die Vermischung
von Musenkunst und Turnkunst sie einstimmig
machen, indem sie das eine anspannt und großzieht
durch schöne Reden und Lehrgegenstände, das
andere dagegen herabstimmt durch beschwichtigende
Zureden und mildert durch Harmonie und Rhythmus?
Vollkommen, antwortete er.
Und wenn diese beiden denn in dieser Weise erzogen
sind und inWahrheit das Ihrige gelernt haben
und dafür gebildet sind, so werden sie die Aufsicht
führen über das Begehrende, das ja den größten Teil
der Seele in jedem ausmacht und von Natur ganz unersättlich
ist an Besitztümern. Dies werden sie hüten,
daß es nicht, wenn es infolge der Erfüllung mit den
sogenannten sinnlichen Genüssen stark und mächtig
geworden ist, seinerseits nicht das Seinige tue, sondern
zu knechten und zu beherrschen versuche ein Geschlecht,
bei dem ihm das nicht zukommt, und das gesamte
Leben aller zerrütte.
Freilich, versetzte er.
Werden nun wohl, fuhr ich fort, nicht auch vor den
auswärtigen Feinden diese beiden am besten behüten
zum Schutze der gesamten Seele und des Leibes,
indem das eine beratend wirkt, das andere vorkämpfend,
dabei aber dem Regierenden folgend und mit
seiner Tapferkeit vollziehend, was beschlossen ist?
Platon: Der Staat 250
So ist es.
Und tapfer also, denke ich, nennen wir nach diesem
Teile jeden Einzelnen, wenn das Zornartige an
ihm durch Schmerzen und Genüsse das von der Vernunft
als schrecklich und nicht schrecklich Vorgezeichnete
festhält?
Richtig, sagte er.
Weise jedoch nach jenem kleinen Teile, dem, der in
ihm regierte und jenes vorschrieb, der seinerseits
gleichfallsWissenschaft in sich hat, nämlich von
dem, was jedem Einzelnen und der ganzen Gesamtheit
von ihnen drei zuträglich sei?
Freilich.
Wie aber? Besonnen nicht wegen der Freundschaft
und Zusammenstimmung von eben diesen, wenn das
Regierende und die beiden Regierten der gleichen
Meinung sind, daß das Vernünftige regieren müsse,
und wenn sie nicht mit ihm im Streite liegen?
Besonnenheit ist allerdings, antwortete er, nichts
anderes als dies, bei einem Staate wie bei einem Einzelnen.
Aber nun gerecht wird er doch sein durch das, was
wir schon oft gesagt haben, und auf die angegebene
Weise?
Ganz notwendig.
Wie nun? fuhr ich fort: es trübt sich uns doch nicht
das Bild der Gerechtigkeit, so daß sie etwas anderes
Platon: Der Staat 251
zu sein scheint, als was sie sich im Staate erwiesen
hat?
Mir scheint es nicht, antwortete er.
Folgendermaßen werden wir es ja, sagte ich, vollkommen
feststellen, wenn in unserer Seele noch ein
Zweifel vorhanden ist, indem wir das ganz Gemeine
zu ihm hinzubringen.
Was denn?
Zum Beispiel wenn wir uns zu verständigen hätten
hinsichtlich des beschriebenen Staates und des ihm
gleichgearteten und gleicherzogenen Mannes, ob wir
glauben, daß ein solcher bei ihm hinterlegtes Gold
oder Silber unterschlagen würde, – wer, meinst du,
könnte meinen, daß er dies eher tun würde als alle,
die nicht so beschaffen sind?
Wohl kein Mensch, erwiderte er.
Also auch Tempelraub und Diebstahl und Verrat –
im engeren Kreis an Freunden, oder in weiterem am
Staate – wird diesem fremd sein?
Jawohl.
Und sicherlich wird er auch in keinerWeise treulos
sein, weder in bezug auf Eide noch auf sonstige Vereinbarungen.
Wie sollte er auch?
Und Ehebruch und Vernachlässigung der Eltern
und Versäumnis des Götterdienstes kommen sicher
jedem anderen eher zu als ihm?
Platon: Der Staat 252
Gewiß jedem anderen eher, versetzte er.
Ist nun nicht die Ursache von dem allem dies, daß
bei ihm jedes Einzelne in ihm das Seinige tut in bezug
auf Regieren und Regiertwerden?
Das ist’s freilich, und sonst nichts.
Willst du nun haben, daß die Gerechtigkeit noch
etwas anderes sei als dieses Vermögen, das die Männer
und Staaten von dieser Beschaffenheit liefert?
Beim Zeus, ich nicht, war seine Antwort.
In vollständige Erfüllung also ist uns der Traum
gegangen, wovon wir, wie wir sagten, eine Ahnung
hatten, daß wir gleich, als wir anfingen, den Staat zu
gründen, von einem Gotte auf den Anfang und gleichsam
Umriß der Gerechtigkeit geführt worden zu sein
scheinen.
Freilich vollkommen.
Es war dies also, mein Glaukom – und dies ist auch
der Grunde warum es Nutzen bringt, – ein Schattenbild
der Gerechtigkeit, daß es das Richtige ist, wenn
der von Natur zum Schustern Geschickte schustert
und nichts anderes tut, und der zum Zimmern Geschickte
zimmert, und so weiter.
So erweist es sich.
InWahrheit aber war die Gerechtigkeit zwar, wie
es scheint, etwas von der Art, jedoch nicht in bezug
auf das äußere Tun seiner Bestandteile, sondern in
bezug auf das wahrhaft innerliche, an sich selbst und
Platon: Der Staat 253
dem Seinigen, indem einer keinem Teile seines Inneren
gestattet, das Fremde zu tun, noch den Seelenteilen
erlaubt, unter einander zwecklose Geschäftigkeit
zu treiben, vielmehr in der Tat sein Haus wohl bestellt
und die Herrschaft über sich selbst gewonnen
und sich in Ordnung gebracht hat und sein eigener
Freund geworden ist und jene drei in vollständigen
Einklang gebracht hat, gleichsam die drei Hauptsaiten
eines Instrumentes, die unterste und höchste und mittlere
Saite, und die andern, die etwa noch dazwischen
liegen, diese alle unter einander verknüpft hat und
vollständig Einer geworden ist aus Vielen, besonnen
und rein gestimmt, – und alsdann nunmehr in solcher
Weise handelt, falls er handelt entweder in bezug auf
Erwerb von Besitztümern oder die Pflege des Leibes
oder auch in einer Angelegenheit des Staates oder des
persönlichen Verkehrs, indem er in allen diesen Verhältnissen
als gerechte und schöne Handlung diejenige
betrachtet und bezeichnet, welche diesen Zustand
bewahrt und mitbewirkt, und alsWeisheit dieWissenschaft,
die dieses Handeln leitet, und als ungerecht
ein Handeln, das im einzelnen Falle jenen stört, und
als Torheit die Meinung, die ihrerseits dieses Handeln
leitet.
Vollkommen hast du recht, o Sokrates, sagte er.
Nun gut, versetzte ich; den gerechten Mann sowohl
als Staat, und was die Gerechtigkeit in ihnen ist;
Platon: Der Staat 254
könnten wir nun wohl behaupten gefunden zu haben,
ohne daß wir, denke ich, irgend als Lügner erscheinen
würden.
Das ist bei uns wahrlich nicht zu furchten, sagte er.
Wollen wir’s also behaupten?
Ja, wir wollen’s.
Sei es denn, sprach ich; denn danach haben wir,
denke ich, die Ungerechtigkeit in Betracht zu ziehen.
Offenbar ist’s so.
Muß sie nun nicht ihrerseits ein Streit dieser drei
Seelenteile sein und eine zwecklose Vielgeschäftigkeit
und eine Geschäftigkeit in Fremdartigem und ein Aufstand
eines Teils gegen das Ganze der Seele, mit der
Absicht, in ihr zu regieren, während er dazu nicht befugt,
sondern von Natur derart ist, daß es ihm geziemt,
demjenigen zu dienen, der vom regierungsfähigen
Geschlechte ist? Als etwas Derartiges, denke ich,
und als die Unordnung und Verirrung dieser Teile
werden wir die Ungerechtigkeit bezeichnen und die
Zuchtlosigkeit und Feigheit und Torheit und alle
Schlechtigkeit zusammengenommen.
Das ist freilich so, sagte er.
Ist nun nicht, fuhr ich fort, auch das Ungerechthandeln
und das Unrechttun, und andererseits das Gerechthandeln,
– ist nun nicht dies alles nunmehr klar,
wofern die Ungerechtigkeit und die Gerechtigkeit es
ist?
Platon: Der Staat 255
Wie denn?
Daß es, antwortete ich, nicht verschieden ist von
dem Gesunden und dem Krankhaften, wie jenes im
Leibe, so dieses in der Seele.
Inwiefern? fragte er.
Das Gesunde bewirkt doch wohl Gesundheit, und
das Krankhafte Krankheit?
Ja.
Bewirkt also nicht das Gerechthandeln Gerechtigkeit
und das Ungerechthandeln Ungerechtigkeit?
Notwendig.
Gesundheit bewirken heißt aber, die inneren Bestandteile
des Leibes naturgemäß einrichten, daß sie
beherrschen und von einander beherrscht werden;
Krankheit wirken aber, daß sie naturwidrig regieren
und von einander regiert werden?
So ist es freilich.
Heißt also nicht andererseits, fuhr ich fort, Gerechtigkeit
bewirken, die inneren Bestandteile der Seele
naturgemäß einrichten, daß sie beherrschen und von
einander beherrscht werden; Ungerechtigkeit aber,
daß sie naturwidrig regieren und von einander regiert
werden?
Vollkommen, versetzte er.
Tugend also wäre, wie es scheint, eine Gesundheit
und Schönheit und gute Beschaffenheit der Seele,
Schlechtigkeit aber deren Krankheit und Häßlichkeit
Platon: Der Staat 256
und Schwäche.
So ist es.
Führen nun nicht auch die schönen Beschäftigungen
zum Besitz der Tugend, die häßlichen aber zu
dem der Schlechtigkeit?
Notwendig.
Das nunmehr noch übrige ist, wie es scheint, von
uns zu untersuchen, ob es nun auch nützlich ist, gerecht
zu handeln und schöne Beschäftigungen zu treiben
und gerecht zu sein, mag es nun verborgen bleiben
oder nicht, daß man von solcher Art ist, – oder
das Unrechttun und Ungerechtsein, vorausgesetzt daß
man nicht dafür bestraft wird noch auch durch Züchtigung
besser wird.
Aber, o Sokrates, entgegnet er, mir scheint das Untersuchen
nunmehr wirklich lächerlich, wenn man bei
verdorbener Beschaffenheit des Leibes nicht mehr
leben zu können glaubt, auch nicht mit allen Nahrungsmitteln
und Getränken und allem Reichtum und
aller Herrschaft, dagegen bei zerrütteter und verdorbener
Beschaffenheit eben dessen, durch das wir leben,
man also sollte leben können, vorausgesetzt daß einer
alles andere tut, was er will, ausgenommen das, wodurch
er Schlechtigkeit und Ungerechtigkeit loswerden,
Gerechtigkeit aber und Tugend erwerben kann,
da sich ja doch beides so erwiesen hat, wie wir es
durchgenommen haben.
Platon: Der Staat 257
Lächerlich ist’s freilich, versetzte ich: indessen, da
wir einmal dahin gekommen sind, so deutlich als nur
immer möglich zu erkennen, daß es sich so verhält, so
dürfen wir nicht ermatten.
Am allerwenigsten, beim Zeus, erwiderte er, darf
man ermatten.
So komme denn hierher, sagte ich, damit du auch
siehst, wie viele Arten meines Erachtens die Schlechtigkeit
hat, soweit sie ja auch der Betrachtung wert
sind.
Ich folge, versetzte er: sprich nur!
Und wirklich, begann ich, nachdem wir auf diese
Höhe der Betrachtung hinaufgelangt sind und ich
gleichsam auf einer Warte stehe, so kommt es mir
vor, daß es von der Tugend nur eine Art gibt, unzählige
aber von der Schlechtigkeit, und unter ihnen etwa
vier, die überhaupt erwähnt zu werden verdienen.
Wie meinst du das? fragte er.
Soviel es, antwortete ich,Weisen von Staatsverfassungen
gibt, welche eigene Arten bilden, so viele
scheint es auch von der SeeleWeisen zu geben.
Wie viele denn?
Fünf, antwortete ich, bei Staatsverfassungen, und
fünf bei der Seele.
Sage, versetzte er, welche!
Ich sage, antwortete ich, daß die von uns durchgesprocheneWeise
der Staatsverfassung eine zwar ist,
Platon: Der Staat 258
sich aber auch doppelt benennen läßt:Wenn nämlich
unter den Regierenden ein Mann ist, der sich hervortut,
mag sie Königtum heißen; wenn aber mehrere,
Herrschaft der Besten (Aristokratie).
Das ist wahr, versetzte er.
Dies, sagte ich, erkläre ich denn also für eine einzige
Art; denn ob es mehrere sind oder einer, – keinesfalls
ändert er etwas an den wichtigeren Gesetzen des
Staates, wenn er die von uns durchgegangene Erziehung
und Bildung erhalten hat.
Es ist nicht anzunehmen, sagte er.
Platon: Der Staat 259
Fünftes Buch
Gut und recht eingerichtet also nenne ich einen solchen
Staat und eine solche Verfassung und einen solchen
Mann, schlecht aber und fehlerhaft die anderen,
wofern dieser der rechte ist, sowohl in bezug auf Einrichtungen
von Staaten als auf Gestaltung der Beschaffenheit
der Seele von Einzelnen, und diese zerfallen
in vier Arten der Schlechtigkeit.
Welches sind denn diese? fragte er.
Schon schickte ich mich an, sie alle der Reihe nach
aufzuzählen, wie sie mir sich aus einander zu entwickeln
schienen, als Polemarchos, der von Adeimantos
etwas weiter entfernt saß, seine Hand ausstreckte,
dessen Kleid oben an der Schulter faßte, ihn an sich
zog, sich selbst vorbeugte und ihm etwas ins Ohr
sagte, wovon wir nichts verstanden als die Worte:
Wollen wir nun loslassen, oder was wollen wir tun?
Schlechterdings nicht, erwiderte Adeimantos, jetzt
laut sprechend.
Da fragte ich:Was denn laßt ihr nicht los?
Dich, antwortete er.
Was denn? fragte ich noch einmal.
Du scheinst uns fahrlässig zu werden, sagte er, und
einen ganzen Abschnitt der Untersuchung, und nicht
den geringsten, heimlich zu beseitigen, damit du ihn
Platon: Der Staat 260
nicht durchgehen dürfest, und zu glauben, du werdest
durchschlüpfen mit der oberflächlichen Äußerung,
daß in betreff der Weiber und Kinder jedermann einleuchte,
daß Freundesgut gemeinsam Gut sein werde.
Ist das denn nicht richtig, Adeimantos? fragte ich.
O ja, versetzte er, aber dieses »Richtig« bedarf, wie
das übrige, der Erörterung, welches die Art und
Weise der Gemeinschaft sei; denn es sind viele möglich.
Laß daher nicht unbesprochen, welche du
meinst; denn wir warten schon lange, in der Meinung,
du werdest einmal der Kinderzeugung gedenken, wie
sie es damit halten, und wie sie die Neugeborenen erziehen
werden, und diese ganze Gemeinschaft der
Weiber und Kinder, von der du sprichst; denn wir
glauben, daß es viel, ja alles ausmacht für die Verfassung,
ob es richtig geschieht oder nicht. Jetzt aber, da
du zu einer andern Verfassung übergehen willst, ehe
dieses genügend erörtert ist, haben wir den Beschluß
gefaßt, den du gehört hast, dich nicht loszulassen, bis
du dies alles wie das übrige durchgegangen hast.
So rechnet denn auch meine Stimme für diesen Antrag,
sagte Glaukon.
Jawohl, erwiderte Thrasymachos, das darfst du als
unser aller Beschluß betrachten, Sokrates.
Ach, rief ich aus, was habt ihr da gemacht, daß ihr
mich anfaßt!Welchen Stoff zum Reden rührt ihr da
wie von vorne wieder auf in betreff der Verfassung!
Platon: Der Staat 261
Schon freute ich mich, daran vorüber zu sein, zufrieden,
wenn man es so gelten lasse, wie es damals gesagt
wurde. Das fordert ihr jetzt heraus und wißt gar
nicht, was für einen Schwarm von Reden ihr dadurch
aufstört, den ich damals wohl sah und beiseite ließ,
damit er uns nicht viel Ungelegenheit mache.
Wie, fuhr Thrasymachos auf, glaubst du denn,
diese da seien, um Gold zu machen, jetzt hierher gekommen,
und nicht um Reden zu hören?
Ja, antwortete ich, aber mit Maß.
Das Maß, Sokrates, versetzte Glaukon, solche
Reden zu hören, ist für Verständige das ganze Leben.
Aber was uns betrifft, laß dich nicht anfechten, und
werde nur du ja nicht müde, über das, was wir dich
fragen, uns deine Ansicht auseinanderzusetzen, welches
unter unsernWächtern die Gemeinschaft sein
werde in bezug auf Kinder undWeiber und auf die
Erziehung jener, solange sie noch klein sind, in der
Zwischenzeit zwischen der Geburt und der Schule, die
ja als die mühevollste betrachtet wird. Versuche nun
zu sagen, in welcherWeise sie stattfinden muß!
Nicht leicht ist es, mein Bester, erwiderte ich, das
auseinanderzusetzen; denn es ist vielen Zweifeln unterworfen,
noch mehr als das, was wir vorher durchgegangen
haben; denn sowohl ob das, was man sagt,
ausführbar sei, dürfte bezweifelt werden, als andererseits,
auch wenn es ganz ausführbar wäre, ob dies und
Platon: Der Staat 262
in dieserWeise wirklich das Beste sei, wird man bezweifeln.
Daher trage ich denn auch einige Bedenken,
es zu berühren, ob die Erörterung nicht als bloßer
frommerWunsch erscheine, mein lieber Freund.
Trage keine Bedenken, erwiderte er; weder Unverständige
noch Zweifelsüchtige noch Übelwollende
sind ja deine Zuhörer.
Darauf versetzte ich: Mein Bester, das sagst du
wohl, um nur Mut einzusprechen?
Allerdings, antwortete er.
Nun, dann bewirkst du gerade das Gegenteil,
sprach ich.Würde ich nämlich mir zutrauen, zu wissen,
was ich sage, so wäre ein solcher Zuspruch: am
Platze; denn unter Verständigen und lieben Menschen
über dasWichtigste und. Liebste dieWahrheit, wenn
man sie weiß, zu sagen ist gefahrlos und unbedenklich;
aber dasWort zu führen, während man noch
zweifelt und forscht, wie ich jetzt tue, ist ängstlich
und gefahrvoll: nicht daß man etwa ausgelacht
würde – denn das ist kindisch -; aber, wenn ich in
bezug auf dieWahrheit strauchle, falle ich nicht bloß
allein, sondern ziehe auch die Freunde mit nach, und
zwar in Angelegenheiten, bei denen man am wenigsten
straucheln darf. Doch ich verbeuge mich vor der
Adrasteia, Glaukon, wegen dessen, was ich sagen
will. Denn ich glaube einen kleineren Fehler zu begehen,
wenn ich unvorsätzlich an jemand zumMörder
Platon: Der Staat 263
werde, als zum Betrüger in bezug auf schöne und gute
und gesetzliche Einrichtungen. Diese Gefahr zu
wagen ist besser unter Feinden als unter Freunden, so
daß mir deineWorte ein schöner Trost sind.
Da sagte Glaukon lachend: Nun, Sokrates, wenn
wir von der Erörterung Nachteil erleiden, so sprechen
wir dich frei, daß du von Mord rein und nicht zum
Betrüger an uns geworden seist; so sprich nur getrost!
Allerdings, bemerkte ich, rein ist der Freigesprochene
auch in jenem Falle, wie das Gesetz sagt; und
wenn in jenem, so natürlich auch in diesem..
So sprich denn, versetzte er, um deswillen!
Dann muß ich eben, sagte ich, jetzt in verkehrter
Ordnung sprechen, was sonst vielleicht in der gehörigen
Folge hätte gesagt werden sollen. Vielleicht ist es
aber so recht, jetzt, nachdem das Männerschauspiel
vollständig zu Ende geführt ist, auch das der Weiber
abzumachen, zumal da du so es haben willst.
Für Menschen nämlich, die geschaffen und gebildet
sind, wie wir durchgegangen haben, gibt es nach meiner
Ansicht keine andere richtige Weise, Kinder und
Weiber zu bekommen und zu behandeln, als wenn sie
dem Anlaufe nachgehen, den wir von vornherein genommen
haben.Wir haben aber versucht, die Männer
durch unsere Rede gleichsam alsWächter einer Herde
darzustellen.
Ja.
Platon: Der Staat 264
So wollen wir denn auf diesemWege fortgehen,
das Erzeugen und Aufziehen ähnlich gestalten und zusehen,
ob es für uns paßt oder nicht.
Wie denn? fragte er.
Folgendermaßen: Glauben wir, daß dieWeibchen
der hütenden Hunde mithüten müssen, was die Männchen
hüten, und mitjagen und das übrige gemeinschaftlich
verrichten, oder daß die einen drinnen zu
Hause sitzen, als untüchtig wegen des Gebarens und
Aufziehens der Jungen, und sollen die andern sich abmühen
und alle Sorge für die Herde haben?
Alles gemeinschaftlich, antwortete er; nur daß wir
die einen als schwächer behandeln, die andern als
stärker.
Ist es nun aber möglich, versetzte ich, einWesen
zu dem Gleichen zu verwenden, wenn man ihm nicht
die gleiche Erziehung und Bildung erteilt?
Nein, es ist nicht möglich.
Wenn wir also dieWeiber zu dem nämlichen verwenden
werden wie die Männer, so muß man sie auch
in dem nämlichen unterrichten?
Ja.
Jenen wurde die Musenkunst und die Turnkunst zugewiesen?
Ja.
Auch denWeibern also muß man diese beiden
Künste und die Geschäfte des Kriegs zuweisen und
Platon: Der Staat 265
sie auf dieselbeWeise verwenden.
Es ist natürlich nach dem, was du sagst, erwiderte
er.
Da könnte vielleicht, bemerkte ich, in bezug auf
das, was jetzt gesagt wird, imWiderspruch mit der
Gewohnheit vieles Lächerliche zutage kommen, wenn
es so ausgeführt wird, wie angegeben wird.
Allerdings, antwortete er.
Was findest du nun am lächerlichsten darunter?
fragte ich; wohl das, daß dieWeiber nackt auf den
Ringplätzen zugleich mit den Männern Übungen vornehmen,
nicht allein die jugendlichen, sondern auch
die schon älteren, wie die bejahrten Männer auf den
Turnplätzen, wenn sie mit ihren Runzeln und ihrem
unangenehmen Aussehen dennoch aus Liebhaberei
turnen?
Ja, bei Zeus, versetzte er; das würde freilich unter
den obwaltenden Umständen lächerlich erscheinen.
Nun, sagte ich, da wir einmal im Zuge sind, davon
zu sprechen, dürfen wir uns vor dem Spott der Witzigen
nicht fürchten, wie viele und wie beißende Bemerkungen
sie machen werden über eine solche Veränderung
in bezug auf die Turnplätze und die Musik
und nicht zum mindesten dasWaffenführen und das
Reiten.
Du hast recht, sagte er.
Vielmehr, da wir nun einmal zu sprechen
Platon: Der Staat 266
angefangen haben, muß man den steilen Pfad des Gesetzes
hinauf und diese bitten, nicht nach ihrer Gewohnheit
zu verfahren, sondern ernsthaft zu sein, und
sie erinnern, wie es nicht lange her ist, daß den Hellenen
schimpflich und lächerlich erschien, was jetzt den
meisten Ausländern so erscheint: daß Männer sich
nackt sehen lassen. Und als zuerst die Kreter, dann
die Lakedaimonier mit den Turnplätzen begannen, da
durften die Spötter jener Zeit sich über alles dieses lustig
machen; oder glaubst du nicht?
O ja.
Aber als ihnen, denke ich, durch die Erfahrung
deutlich wurde, daß es besser ist, sich zu entkleiden,
als alles dieses zu verhüllen, da ward auch das Lächerliche
für die Augen verwischt durch das für den
Verstand klargewordene Vortreffliche, und dies lieferte
den Beweis, daß ein Tor ist, wer etwas anderes lächerlich
findet als das Schlechte oder lächerlich zu
machen sucht, indem er irgend einen anderen Anblick
als lächerlich betrachtet als den Unverständigen uns
Schlechten, und wer andererseits für das Schöne Ernst
aufbietet, indem er auf einen andern Standpunkt sich
stellt als auf den des Guten.
Allerdings, versetzt er.
Müssen wir uns nun nicht zuerst darüber verständigen,
ob es möglich ist oder nicht, und dem Zweifel
Raum geben, wenn jemand im Scherze oder Ernste
Platon: Der Staat 267
bezweifeln will ob die menschliche Natur desWeibes
imstande ist, mit dem männlichen Geschlechte alles
gemeinsam zu verrichten, oder gar nichts, oder ob sie
zu dem einen befähigt ist, zu dem andern aber nicht,
und zu welchem von diesen beiden das Geschäft des
Krieges gehört? Wird man nicht auf dieseWeise am
besten beginnen und daher auch natürlich am besten
endigen?
Bei weitem, sagte er.
Willst du nun, daß wir gegen uns selbst im Namen
der andern Einwendungen erheben, damit nicht die
gegenüberstehende Sache unverteidigt angegriffen
werde?
Es steht dem nichts imWege, sagte er.
So wollen wir denn in ihren Namen sprechen: »Es
ist gar nicht nötig, Sokrates und Glaukon, daß andere
euch Einwendungen machen; denn ihr habt ja selbst
beim Anfange der Gründung, die ihr dem Staate zuteil
werden ließet, zugegeben, daß jeder Einzelne seiner
Natur gemäß das eine tun müsse, was sein ist.« – Ich
denke, wir haben es zugegeben; warum auch nicht? –
»Unterscheidet sich nun dasWeib vomManne seiner
Natur nach nicht sehr bedeutend?« -Wie sollte es
nicht? – »Geziemt es sich also nicht, jedem von beiden
auch ein anderes Geschäft aufzuerlegen, das seiner
Natur gemäß ist?« -Was sonst? – »Begeht ihr
also nicht jetzt Fehler und kommt mit euch selbst in
Platon: Der Staat 268
Widerspruch, indem ihr nunmehr behauptet, die Männer
undWeiber müssen dieselben Geschäfte verrichten,
während sie doch eine sehr verschiedene Natur
haben?«Wirst du, mein Bester, auf dieses etwas zu
erwidern wissen?
So im Augenblicke, versetzte er, ist das nicht gar
leicht; aber ich will dich bitten und tue es hiermit,
auch den für uns sprechenden Gründen, welcher Art
sie immer sind,Worte zu leihen.
Das, mein Glaukon, sagte ich, und vieles andere
dieser Art ist es, was ich längst voraussah, und deshalb
fürchtete ich mich und zauderte, das Gesetz über
das Erlangen und die Erziehung der Weiber und Kinder
zu berühren.
Nein, beim Zeus, versetzte er, es sieht allerdings
nicht harmlos aus.
Freilich nicht, sagte ich. Aber es verhält sich doch
so: Ob jemand in einen kleinen Teich hineinfällt oder
mitten in das größte Meer, dennoch schwimmt er
beide Male in gleicherWeise?
Allerdings.
So müssen denn auch wir schwimmen und uns aus
den Gegengründen hinauszuretten suchen, in der
Hoffnung, es werde uns entweder ein Delphin auf den
Rücken nehmen oder uns sonst eine wunderbare Rettung
zuteil werden.
So scheint es, sagte er.
Platon: Der Staat 269
Sehen wir denn, fuhr ich fort, ob wir irgendwo den
Ausgang finden! Wir haben doch wohl zugestanden,
daß verschiedene Naturen verschiedene Geschäfte
treiben müssen, und daß die Naturen desWeibes und
des Mannes verschieden seien, und wir sagen nun
dennoch, daß die verschiedenen Naturen dasselbe treiben
müssen: so lautet eure Anklage gegen uns?
Freilich.
Fürwahr, mein Glaukon, sprach ich, merkwürdig
ist die Kraft der Kunst desWidersprechens.
Wieso?
Weil, antwortete ich, mir viele sogar wider ihren
Willen darein zu verfallen scheinen, so daß sie nicht
zu streiten meinen, sondern sich zu unterreden, weil
sie nicht imstande sind, bei Betrachtung des Gegenstandes
die Arten auseinander zu halten, sondern nach
dem bloßenWorte denWiderspruch gegen das Behauptete
durchführen, indem sie einen Streit und nicht
eine Unterredung mit einander haben.
Freilich geht es vielen so, bemerkte er; aber es bezieht
sich das doch nicht auf uns in dem jetzigen
Falle?
Allerdings, antwortete ich; wenigstens scheinen wir
wider Willen insWidersprechen hineingeraten zu
sein.
Wieso?
Daß die nicht gleiche Natur nicht die gleichen
Platon: Der Staat 270
Beschäftigungen treiben darf, verfolgen wir sehr tapfer
und streitlustig amWorte festhaltend, haben aber
durchaus nicht betrachtet, welche Art der verschiedenen
und der gleichen Natur wir bestimmt haben, und
was dabei unsere Absicht war, als wir die verschiedenen
Beschäftigungen verschiedenen Naturen und die
gleichen den gleichen zuwiesen.
Allerdings haben wir’s nicht betrachtet.
Infolgedessen können wir denn, wie es scheint, uns
selbst fragen, ob die Natur der Kahlköpfigen und der
Behaarten dieselbe sei und nicht vielmehr die entgegengesetzte,
und, wenn wir sie als entgegengesetzte
anerkennen, dann den Behaarten nicht gestatten, zu
schustern, wenn es die Kahlköpfigen tun; und wenn
andererseits die Behaarten es tun, so nicht den andern
es gestatten.
Das wäre doch lächerlich.
Ist es wohl aus einem andern Grunde lächerlich, als
weil wir damals die gleiche und die verschiedene
Natur nicht im allgemeinen nahmen, sondern einzig
diejenige Art der Verschiedenheit und Ähnlichkeit ins
Auge faßten, die sich auf die Beschäftigungen unmittelbar
bezieht? Z.B. haben wir gesagt, daß ein Arzt
und einer, der seiner Seele nach zum Arzte geeignet
ist, dieselbe Natur habe. Oder meinst du nicht?
O ja.
Dagegen ein zum Arzte und ein zum Zimmermann
Platon: Der Staat 271
Tauglicher eine verschiedene?
Jedenfalls wohl.
Wenn also, fuhr ich fort, auch das Geschlecht der
Männer und derWeiber hinsichtlich einer Kunst oder
einer sonstigen Beschäftigung sich verschieden zeigt,
so werden wir sagen, daß man diese eben jedem von
beiden zuteilen müsse; zeigen sie sich aber nur eben
darin verschieden, daß dasWeib gebiert und der
Mann zeugt, so werden wir es noch nicht als besser
erwiesen betrachten, daß dasWeib in bezug auf das,
wovon wir reden, vomManne verschieden sei, sondern
werden noch immer glauben, daß uns dieWächter
und ihreWeiber dieselben Geschäfte treiben müssen.
Und das mit Recht, versetzte er.
So fordern wir denn infolgedessen den Verfechter
der entgegengesetzten Ansicht auf, uns eben dies zu
zeigen, in bezug auf welche Kunst oder welche Beschäftigung,
die zur Einrichtung des Staates gehört,
die Natur desWeibes und des Mannes nicht dieselbe,
sondern verschieden ist.
Dazu haben wir jedenfalls das Recht.
Vielleicht aber wird nun, wie du kurz vorher gesagt
hast, so auch ein anderer sprechen, daß im Augenblicke
es gehörig zu sagen nicht leicht ist, nach einigem
Nachdenken es aber keine Schwierigkeit habe.
Er wird wirklich so sprechen.
Platon: Der Staat 272
Wollen wir also den, der eine solche Einwendung
macht, bitten, uns zu folgen, ob etwa wir ihm zeigen
können, daß es hinsichtlich der Verwaltung des Staates
keine demWeibe eigentümliche Beschäftigung
gibt?
Allerdings.
So komm denn, wollen wir zu ihm sagen, gib uns
Antwort! Meintest du, daß der eine zu etwas von
Natur begabt sei, der andere nicht, in dem Sinne, daß
der eine etwas leicht lernt, der andere schwer, und daß
der eine nach kurzem Lernen in dem, was er gelernt,
vielfach schöpferisch ist, der andere aber nach langem
Lernen und Üben nicht einmal das Gelernte behält,
und daß bei dem einen der Leib den Geist zureichend
unterstützt, bei dem andern ihm hinderlich ist? Oder
ist das, wonach du den zu etwas Begabten und den
Nichtbegabten unterscheidest, etwas anderes als dieses?
Niemand, fiel er ein, wird etwas anderes meinen.
Kennst du nun etwas von den Menschen Betriebenes,
worin nicht in allen diesen Beziehungen das
männliche Geschlecht vor dem weiblichen sich auszeichnet?
Oder sollen wir ausführlich werden und von
der Webekunst sprechen und von der Behandlung des
Backwerks und der Speisen, in denen bekanntlich das
weibliche Geschlecht für stark gilt und worin es sich
nicht übertreffen lassen darf, ohne überaus lächerlich
Platon: Der Staat 273
zu werden?
Du hast recht, versetzte er, daß so ziemlich in allem
jenes Geschlecht diesem weit überlegen ist. Zwar sind
viele Frauen in vielen Beziehungen besser als viele
Männer, im ganzen aber verhält es sich so, wie du
sagst.
Keines der Geschäfte also, mein Freund, aus denen
die Verwaltung des Staates besteht, kommt einem
Weibe zu, weil sie Weib, oder einemMann, weil er
Mann ist, sondern die Begabungen sind unter beide
Geschlechter gleicherweise verteilt, und an allen Geschäften
hat dasWeib, an allen der Mann naturgemäß
Anteil, bei allem aber ist dasWeib schwächer als der
Mann.
Allerdings.
Werden wir also den Männern alles und dem
Weibe nichts auftragen?
Unmöglich.
Vielmehr ist ja, werden wir, denke ich, sagen, auch
einWeib zur Heilkunst geschickt, das andere nicht,
und das eine musikalisch und das andere unmusikalisch
von Natur.
Allerdings.
Also nicht auch das eine geschickt zur Turnkunst
und Kriegskunst, das andere aber unkriegerisch und
von Natur keine Freundin des Turnens?
So glaube ich wenigstens.
Platon: Der Staat 274
Ferner weisheitliebend und weisheithassend? Und
die eine willenskräftig, die andere mutlos?
Auch das ist der Fall.
So ist also auch einWeib zum Bewachen geschickt,
das andere nicht? Oder haben wir nicht in
derselben Weise auch die Natur der zum Bewachen
geschickten Männer ausgelesen?
Freilich in derselbenWeise.
BeimWeibe also wie beimManne ist dieselbe Naturanlage
hinsichtlich des Bewachens eines Staates,
außer soweit sie schwächer oder stärker ist.
So scheint es.
Also muß man auch so beschaffeneWeiber für die
so beschaffenen Männer auswählen, um mit ihnen zusammen
zu wohnen und zusammen zu bewachen, da
sie ja dazu tüchtig und von Natur ihnen gleichartig
sind?
Allerdings.
Muß man aber nicht den gleichen Naturen die gleichen
Beschäftigungen zuteilen?
Freilich.
Wir sind also auf einem Umwege wieder zu unserem
früheren Satze gekommen und geben zu, daß es
nicht naturwidrig ist, denWeibern derWächter die
Beschäftigung mit Musenkunst und Turnkunst zuzuweisen.
Allerdings.
Platon: Der Staat 275
Wir haben also jedenfalls nichts Unmögliches und
einem frommenWunsche Ähnliches als Gesetz aufgestellt,
da wir ja das Gesetz der Natur gemäß gegeben
haben; sondern das jetzige, diesem widerstreitende
Verfahren ist vielmehr, wie es scheint, der Natur zuwider.
So scheint es.
Nun wollten wir aber doch untersuchen, ob das,
was wir sprechen, möglich und das Beste sei?
Jawohl.
Daß es nun möglich ist, darüber sind wir einverstanden?
Ja.
Daß es dann aber auch das Beste ist, darüber müssen
wir uns nach diesem verständigen?
Offenbar.
Nun, was das Geschicktwerden desWeibes zum
Wächtersein betrifft, so wird uns doch nicht eine andere
Bildung die Männer dazu machen und eine andere
dieWeiber, zumal da die nämliche Natur sie bekommt?
Keine andere.
Was hast du nun für eine Ansicht über das Folgende?
Worüber denn?
Ob du den einen Mann für besser hältst, den andern
für schlechter; oder betrachtest du alle als gleich?
Platon: Der Staat 276
Keineswegs.
Im Staate nun, den wir gegründet haben, wer
glaubst du, daß da bessere Männer geworden sind: die
Wächter, welche die Bildung erhielten, die wir durchgegangen
haben, oder die Schuster, die in der Schusterkunst
gebildet wurden?
Du stellst eine lächerliche Frage, erwiderte er.
Ich verstehe, sagte ich; und dann: sind unter den
übrigen Staatsbürgern nicht diese die besten?
Bei weitem.
Und dann unter denWeibern werden nicht diese
Weiber die besten sein?
Auch das bei weitem, antwortete er.
Gibt es aber für einen Staat etwas Besseres, als daß
Weiber und Männer darin möglichst gut sind?
Unmöglich.
Dies wird aber die Musenkunst und die Turnkunst,
wenn sie vorhanden sind, wie wir sie beschrieben
haben, bewirken?
Gewiß.
Also nicht bloß etwas Mögliches, sondern auch das
Beste haben wir für den Staat als Verordnung aufgestellt?
So ist’s.
So müssen sich denn dieWeiber derWächter entkleiden,
da sie statt der Gewänder mit Tugend sich
bekleiden werden, und müssen am Kriege und an der
Platon: Der Staat 277
übrigen Bewachung für den Staat Anteil nehmen und
nichts anderes tun; dabei aber muß man denWeibern
Leichteres geben als den Männern, wegen der Schwäche
des Geschlechtes. Der Mann aber, der überWeiber,
die um des Besten willen nackt turnen, lacht,
bricht ungereift der Weisheit Frucht hinsichtlich des
Lächerlichen und weiß, wie es scheint, nicht, worüber
er lacht und was er tut; denn das ist und bleibt doch
wohl der schönste Spruch, daß das Nützliche schön
und das Schädliche häßlich ist.
Allerdings.
Dürfen wir nun sagen, daß das gleichsam eine
Welle ist, der wir entronnen sind in unserer Erörterung
über die Gesetzgebung betreffs desWeibes,
ohne ganz untergesunken zu sein mit unserer Aufstellung,
daß unsere Wächter undWächterinnen alles gemeinschaftlich
treiben müssen, indem vielmehr die
Erörterung mit sich selbst im Einklange ist, daß sie
Mögliches und Nützliches behaupte?
Allerdings, erwiderte er, bist du keiner kleinen
Welle entronnen.
Doch wirst du sagen, versetzte ich, sie sei nicht
groß, wenn du die nachfolgende betrachtest.
Sprich einmal, ich will sehen, sagte er.
An dieses, fuhr ich fort, und an die anderen früheren
schließt sich, wie ich glaube, folgendes Gesetz
an…
Platon: Der Staat 278
Welches?
Daß dieseWeiber alle diesen Männern allen gemeinschaftlich
seien und keine mit keinem besonders
zusammenwohne, und daß ebenso die Kinder gemeinschaftlich
seien und kein Vater sein Kind kenne noch
ein Kind seinen Vater.
Freilich, bemerkte er, ist diese weit größer als jene
hinsichtlich der Zweifelhaftigkeit in bezug auf die
Möglichkeit und Nützlichkeit.
Ich glaube nicht, versetzte ich, daß in betreff der
Nützlichkeit Streit entstehen wird, als wäre es nicht
das größte Gut, daß dieWeiber und die Kinder gemeinsam
seien, wofern es möglich ist. Aber ich glaube,
darüber, ob es möglich sei oder nicht, werde es
den meisten Streit geben.
Über beides, sagte er, wird sich sehr wohl streiten
lassen.
Du laßt also, sagte ich, die beiden Punkte nicht
auseinander, ich aber glaubte wenigstens dem einen
von beiden entrinnen zu können, wenn du die Nützlichkeit
zugäbest, und es bleibe dann für mich nur
noch übrig, die Möglichkeit oder Unmöglichkeit abzuhandeln.
Aber es ist dir nicht gelungen, unbemerkt zu entkommen,
sprach er; sondern du mußt über beides
Rede stehen.
Der Strafe muß ich mich unterziehen, sagte ich;
Platon: Der Staat 279
doch so viel bewillige mir: gestatte mir gütlich zu tun,
wie die geistig Trägen sich’s selbst bequem zu machen
pflegen, wenn sie allein unterwegs sind! Denn
auch solche pflegen ja wohl, ehe sie gefunden haben,
aufweicheWeise etwas von dem, was sie begehren,
verwirklicht werden wird, davon abzusehen, um sich
nicht mit der Beratung über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit
zu ermüden, das, was sie wünschen, als
wirklich seiend zu setzen und dann gleich das übrige
zu ordnen und sich damit zu vergnügen, daß sie sich
ausmalen, was sie alles tun werden, wenn es sei,
indem sie ihre schon vorher träge Seele noch träger
machen. Nunmehr spiele ich selbst denWeichlichen
und wünsche jene Frage, inwiefern es möglich sei,
aufzuschieben und erst nachher zu betrachten; für
jetzt aber setze ich es als möglich und will, mit deiner
Erlaubnis, betrachten, wie die Regierenden es ordnen
werden, wenn es ist, und daß es das Allerzuträglichste
wäre für den Staat und dieWächter, wenn es ausgeführt
würde. Dieses will ich zuerst mit dir betrachten,
wofern du es gestattest, und dann nachher jenes.
Nun, ich gestatte es, versetzte er, und beginne denn
die Betrachtung!
Ich glaube nun, begann ich, wofern die Regierenden
wirklich dieses Namens würdig sein werden und
ihre Gehilfen gleichfalls, so werden die einen das Befohlene
tun wollen und die andern befehlen, indem sie
Platon: Der Staat 280
teils selbst den Gesetzen gehorchen, teils nachahmen,
nämlich alles, was wir ihnen überlassen haben.
Natürlich, sagte er.
Du also, fuhr ich fort, als Gesetzgeber wirst ihnen,
wie du die Männer ausgewählt hast, so auch dieWeiber
auswählen und sie so gleichgeschaffen wie möglich
übergeben; da sie aber nunWohnungen und
Mahlzeiten gemeinsam haben und keiner irgend etwas
Derartiges abgesondert besitzt, so werden sie natürlich
beisammensein; und da sie auch auf Turnplätzen
und bei dem sonstigen Unterrichte durch einander gemischt
beisammen sind, so werden sie, denke ich, von
der angeborenen Notwendigkeit zur Vermischung mit
einander getrieben werden; oder scheint dir das, was
ich sage, nicht notwendig?
Zwar nicht nach mathematischer, aber nach erotischer
Notwendigkeit, antwortete er, und letztere
scheint für die große Menge eine durchdringendere
Kraft des Überredens und Bestimmens zu haben als
jene.
Allerdings, versetzte ich; aber nun weiter, lieber
Glaukon: Ordnungslos sich zu vermischen oder irgend
etwas anderes zu tun wäre eine Sünde in einem
Staate von Glücklichen, und die Regierenden werden
es nicht zugeben.
Es wäre auch nicht gerecht, bemerkte er.
So ist also klar, daß wir weiterhin nach Kräften
Platon: Der Staat 281
möglichst heilige Hochzeiten einführen werden; heilig
aber wären die nützlichsten.
Allerdings.
Wie werden sie nun aber am nützlichsten sein? Das
sage du mir, Glaukon; denn ich sehe in deinem Hause
Jagdhunde und edles Geflügel in großer Zahl; hast du
nun, ich bitte dich, bei deren Vermählungen und Kinderzeugung
nicht etwas beachtet?
Was denn? fragte er.
Fürs erste pflegen nicht unter eben diesen, wenn sie
auch edel sind, einige besonders vorzüglich zu sein
und zu werden?
Freilich.
Nimmst du nun alle gleicherweise zur Zucht, oder
wählst du dazu womöglich die Vorzüglichsten?
Letzteres.
Und dann, die jüngsten oder die ältesten oder möglichst
die im besten Alter?
Die letzteren.
Und wenn die Zucht nicht so vor sich geht, glaubst
du, daß dir die Gattung von Geflügel und von Hunden
viel schlechter ausfällt?
Freilich, sagte er.
Was meinst du aber von den Pferden und den übrigen
Tieren? Daß es sich irgendwie anders verhalte?
Das wäre denn doch ungereimt, meinte er.
Potztausend, mein lieber Freund, rief ich aus, wie
Platon: Der Staat 282
sehr müssen da unsere Regierenden ausgezeichnet
sein, wofern es sich auch bei demMenschengeschlechte
ebenso verhält!
Aber es verhält sich so, versetzte er; doch was
willst du damit sagen?
Daß sie viele Heilmittel in Anwendung bringen
müssen, antwortete ich. Für einen Leib nun, der keiner
Heilmittel bedarf, sondern nur die Befolgung einer
gewissen Lebensweise angeraten haben will, genügt,
glauben wir, auch ein minder guter Arzt; wofern es
aber schon der Heilmittel bedarf, so wissen wir, daß
ein herzhafterer Arzt nötig ist.
Es ist wahr; aber wozu sagst du das?
Zu folgendem, erwiderte ich: Es scheint uns, daß
die Regierenden viel Lug und Betrug werden anwenden
müssen zum Besten der Regierten; denn wir
haben ja gesagt, daß als Heilmittel alles Derartige
nützlich sei.
Und das mit Recht, bemerkte er.
Bei den Vermählungen nun und dem Kinderzeugen
scheint dieses »Recht« nicht zum mindesten zur Anwendung
zu kommen.
Wieso?
Es müssen ja nach dem Zugegebenen die besten
Männer den bestenWeibern möglichst oft beiwohnen,
und die schlechtestenMänner den schlechtesten Weibern
möglichst selten, und die Kinder der einen muß
Platon: Der Staat 283
man aufziehen, die der andern aber nicht, wenn die
Herde möglichst vorzüglich sein soll; und alles dies
muß geschehen, ohne daß es jemand außer den Regierenden
selbst bemerkt, wenn andererseits die Herde
derWächter möglichst frei von innerem Zwist sein
soll.
Ganz richtig, sagte er.
Es werden denn gewisse Feste vorzuschreiben sein,
bei denen wir die Bräute und die Bräutigame zusammenbringen
werden, und Opfer, und unsere Dichter
werden für die Vermählungen passende Gesänge zu
machen haben. Die Zahl der Vermählungen aber werden
wir die Regierenden bestimmen lassen, damit sie
möglichst die gleiche Zahl von Männern erhalten,
indem sie auf Kriege und Krankheiten und alles Derartige
Rücksicht nehmen, so daß uns der Staat womöglich
weder zu groß noch zu klein werde.
Richtig, sagte er.
Da werden dann, glaube ich, kluge Lose zu machen
sein, damit jener Schlechte bei jeder Verbindung der
Paare auf den Zufall, aber nicht auf die Regierenden
die Schuld schiebe.
Allerdings, versetzte er.
Und denjenigen unter den jungen Männern, die im
Kriege oder sonstwo sich tüchtig erweisen, muß man
unter andern Auszeichnungen und Preisen wohl auch
die häufigere Erlaubnis, beiWeibern zu schlafen,
Platon: Der Staat 284
erteilen, damit zugleich auch unter diesem Vorwand
möglichst viele Kinder von solchen gezeugt werden.
Richtig.
Und wie die Kinder geboren sind, übernehmen sie
allemal die hierüber gesetzten Behörden aus Männern
oder Weibern oder aus beiden; denn gemeinsam für
Weiber und Männer sind ja auch die Ämter?
Ja.
Die von den Tüchtigen dann werden sie, denke ich,
nehmen und sie in eine bestimmte Anstalt bringen zu
Wärterinnen, die in einem gewissen Teile der Stadt
abgesondert wohnen; die von den Schlechteren aber,
und wenn etwa von den andern eines gebrechlich zur
Welt kommt, werden sie an einem geheimen und unbekannten
Orte verbergen, wie sich’s geziemt.
Freilich, versetzte er, wofern das Geschlecht der
Wächter rein bleiben soll.
Auch für die Nahrung dann werden diese Sorge tragen,
indem sie die Mütter in jeneWohnung bringen,
wenn sie volle Brüste haben, aber jede Vorkehrung
treffen, daß keine ihr Kind zu sehen bekommt: und
wenn diese nicht zureichen, so werden sie andere
Weiber, die Milch haben, herbeischaffen; und bei diesen
selbst werden sie dafür sorgen, daß sie eine gehörige
Zeit säugen, das Nachtwachen aber und die andern
Mühseligkeiten werden sie den Ammen und
Wärterinnen zuweisen? Da machst du den Frauen der
Platon: Der Staat 285
Wächter das Kinderbekommen gar leicht, bemerkte
er.
So gebührt sich’s auch, versetzte ich. Aber verfolgen
wir dasWeitere, was wir im Sinne haben! Wir
haben doch wohl gesagt, daß die Kinder von solchen
Menschen kommen müssen, die im besten Alter stehen?
Allerdings.
Bist du nun mit mir einverstanden, daß die rechte
Zeit des besten Alters bei demWeibe zwanzig und
bei demManne dreißig Jahre sind?
In welcher Beziehung das? fragte er.
BeimWeibe vom zwanzigsten bis zum vierzigsten,
um für den Staat zu gebären, beimManne aber von da
an, wo er des Laufes schärfste Höhe hinter sich hat,
bis zu seinem fünfundfünfzigsten Jahre, zu zeugen für
den Staat.
Wenigstens, versetzte er, ist das bei beiden der Höhepunkt
der körperlichen und geistigen Entwicklung.
Wenn daher einer, der über oder unter diesem Alter
ist, an den Zeugungen für den Staat teilnimmt, so
werden wir das Vergehen als sündhaft und ungerecht
bezeichnen, weil er in dem Staate ein Kind pflanzt,
das, wenn er unentdeckt bleibt, zurWelt kommen
wird, ohne unter Opfern und Gebeten erzeugt zu sein,
die bei jeder Vermählung Priesterinnen und Priester
und der gesamte Staat darbringen werden, auf daß
Platon: Der Staat 286
von Guten bessere und von Nützlichen noch nützlichere
Nachkommen jedesmal entstehen mögen, sondern
eine Frucht der Finsternis und schwerer Unenthaltsamkeit.
Richtig, sagte er.
Dasselbe Gesetz, fuhr ich fort, gilt, wenn einer der
noch zeugenden Männer, ohne daß die Obrigkeit die
Verbindung eingeleitet hätte, eines derWeiber im gesetzlichen
Alter berührt; denn wir werden von ihm
sagen, daß er ohne Ehe und Verlöbnis undWeihe ein
Kind in den Staat bringe.
Ganz richtig, bemerkte er.
Wenn dann aber, denke ich, dieWeiber und Männer
über das Alter des Zeugens hinaus sind, so werden
wir ihnen Freiheit lassen beizuwohnen, wem sie
wollen, außer einer Tochter und Mutter und ihren Enkelinnen
und den Töchtern ihrer Großmutter, und andererseits
denWeibern jedem, außer einem Sohne und
Vater und aufwärts und abwärts von diesen; und zwar
dies alles erst, nachdem wir sie aufgefordert haben,
am liebsten dafür zu sorgen, daß die Frucht, wenn sie
erzeugt ist, gar nicht das Licht erblicke, wofern es
aber nicht verhindert werden kann, es so zu halten, als
gäbe es keine Nahrung für einen solchen.
Was du da sagst, ist in der Ordnung, erklärte er;
aber wie werden sie ihre Väter und Töchter, und was
du sonst noch eben genannt hast, zu unterscheiden
Platon: Der Staat 287
wissen?
Durchaus nicht, erwiderte ich; sondern alle Kinder,
die im zehnten oder auch siebenten Monate, von dem
Tage an gerechnet, wo er Bräutigam geworden ist, zur
Welt kommen, diese alle wird er, die Knaben Söhne
und die Mädchen Töchter nennen und jene ihn Vater,
und sodann deren Nachkommen Enkel, und diese andererseits
sie Großväter und Großmütter, und was in
der Zeit geboren wurde, wo ihre Mutter und Vater
zeugten, Schwestern und Brüder, so daß sie, wie wir
eben sagten, einander nicht berühren. Brüder und
Schwestern aber wird das Gesetz einander beiwohnen
lassen, wofern das Los so fällt und die Pythia ihre Bestätigung
erteilt.
Ganz richtig, erklärte er.
Dies und von dieser Art wäre denn also, mein
Glaukon, die Gemeinschaft der Weiber und Kinder
bei denWächtern deines Staates; daß sie aber an die
übrige Staatsverfassung sich anschließe und bei weitem
die beste sei, müssen wir jetzt nach diesem von
der Erörterung bestätigen lassen: oder wie wollen wir
es machen?
So, beim Zeus, antwortete er.
Ist nun nicht dies der Anfang der Verständigung,
daß wir uns selbst sagen, was wir wohl als das größte
Gut hinsichtlich der Gründung eines Staates zu bezeichnen
wissen, mit Rücksicht auf dessen Erzielung
Platon: Der Staat 288
der Gesetzgeber die Gesetze geben muß, und was als
das größte Übel, und daß wir dann zusehen, ob uns
das, was wir durchgegangen haben, in die Spur des
Guten hineinpaßt, nicht aber in die des Schlechten?
Bei weitem am ehesten, erwiderte er.
Wissen wir nun ein größeres Übel für den Staat als
das, was ihn zerreißt und aus einem viele macht?
Oder ein größeres Gut als das, was verbindet und eins
macht?
Wir wissen keines.
Verbindet nun aber nicht die Gemeinsamkeit von
Freude und Leid, wenn möglichst alle Staatsangehörigen
beimWerden und Vergehen des nämlichen gleicherweise
Freude und Leid empfinden?
Allerdings.
Dagegen trennt die Verschiedenheit in derartigem,
wenn über die nämlichen Erlebnisse des Staates und
seiner Angehörigen ein Teil großen Schmerz, der andere
große Freude empfindet?
Freilich.
Entsteht aber solches nicht daraus, wenn im Staate
solcheWörter wie »Mein« und »Nichtmein« nicht zusammen
ausgesprochen werden, und ebenso in betreff
des Fremden?
Allerdings.
Derjenige Staat also, in welchem die meisten in
bezug auf das nämliche gleicherweise dieses »Mein«
Platon: Der Staat 289
und »Nichtmein« aussprechen, der ist am besten eingerichtet?
Bei weitem.
Und derjenige also, der einem einzelnen Menschen
am nächsten kommt? Z.B. wenn etwa einem von uns
der Finger verwundet wird, so empfindet es die ganze
Gemeinschaft, die durch den Leib hin sich zur Seele
erstreckt zu der einheitlichen Zusammenfassung des
in ihr Regierenden, und hat überall gleichzeitig als
Ganzes Schmerz, wenn ein Teil leidet, und so sagen
wir denn, daß den Menschen der Finger schmerze;
und von allem anderen amMenschen gilt dasselbe, in
bezug auf den Schmerz, wenn ein Teil leidet, und in
bezug auf die Lust, wenn er besser wird.
Freilich dasselbe, antwortete er; und, wonach du
fragst, einem solchen am nächsten kommt der am besten
eingerichtete Staat.Wenn also, glaube ich, einem
Einzelnen unter den Staatsgliedern irgend etwas
Gutes oder Schlimmes begegnet, so wird ein solcher
Staat am ehesten sagen, daß es sein Erlebnis sei, und
wird sich als Ganzes mitfreuen oder mitbetrüben?
Das ist notwendig, versetzte er, wenigstens bei
einem wohleingerichteten.
Es wird Zeit sein, sagte ich, daß wir auf unseren
Staat zurückkommen und in bezug auf die Ergebnisse
unserer Erörterung in ihm nachsehen, ob er selbst am
meisten sie hat oder noch ein anderer in höherem
Platon: Der Staat 290
Grade.
Das muß allerdings sein, sprach er.
Wie nun? Regierende und Volk gibt es doch wohl
wie in andern Staaten so auch in diesem?
Ja.
Diese alle werden einander Mitbürger nennen?
Freilich.
Wie nennt aber in den übrigen das Volk die Regierenden
sonst noch, außer »Mitbürger«?
In den meisten »Herrscher«, in den demokratisch
eingerichteten aber eben mit diesem Namen »Regierung
«.
Was tut aber das Volk in dem unsrigen? Wie nennt
es die Regierenden außer »Mitbürger«?
Erhalter und Helfer, antwortete er.
Und diese das Volk?
Lohngeber und Ernäher.
Dagegen in den andern die Regierenden das Volk?
Knechte, erwiderte er.
Und die Regierenden einander?
Mitregierende.
Aber die unsrigen?
Mitwächter.
Kannst du nun sagen, ob von den Regierenden in
den andern Staaten einer den einen von seinen Mitregierenden
als Angehörigen bezeichnen kann, den andern
als Fremden?
Platon: Der Staat 291
Freilich viele.
Den Angehörigen also betrachtet und bezeichnet er
als den Seinigen, den Fremden als nicht den Seinigen?
So ist’s.
Wie ist’s aber bei deinenWächtern? Könnte einer
von ihnen einen seiner Mitwächter als Fremden ansehen
oder benennen?
Durchaus nicht, versetzte er; denn wen immer einer
treffen wird, jedesmal wird er einen Bruder oder eine
Schwester oder einen Vater oder eine Mutter oder
einen Sohn oder eine Tochter oder einen Nachkommen
oder Vorfahren von diesen zu treffen glauben.
Sehr schön gesprochen, bemerkte ich; aber sage
auch noch dies: Wirst du ihnen bloß die Namen als
Angehörige vorschreiben, oder daß sie auch alle
Handlungen den Namen gemäß verrichten, sowohl
hinsichtlich der Väter alles tun, was Brauch ist gegenüber
von Vätern in bezug auf Ehrerbietung und Fürsorge
und pflichtmäßigen Gehorsam gegen die Eltern,
oder sonst weder von den Göttern noch von den Menschen
etwas Gutes erwarten, da er sowohl sündhaft
als ungerecht handeln würde, wenn er anders handelte
als so? Werden solche oder andere Sprüche aus dem
Munde aller Bürger dir gleich um die Ohren der Kinder
erschallen sowohl hinsichtlich der Väter, die man
ihnen bezeichnet, als in betreff der übrigen Verwandten?
Platon: Der Staat 292
Diese, antwortete er; denn es wäre lächerlich, wenn
sie ohne Handlungen die Namen von Angehörigen
nur mit demMunde aussprächen.
Unter allen Staaten also werden sie in diesem,
wenn es einem Einzelnen gut oder schlecht geht, am
meisten einstimmig sein in dem Rufe, von dem wir
vorhin sprachen: »DemMeinigen geht es gut«, oder
»DemMeinigen geht es schlecht«.
Sehr wahr, sagte er.
Haben wir nun nicht gesagt, daß aus dieser Ansicht
und Ausdrucksweise sich die Gemeinsamkeit von
Freude und Leid von selbst ergebe?
Und zwar haben wir das mit Recht gesagt.
So werden also uns die Staatsglieder am meisten an
dem nämlichen teilhaben, was sie dann »Mein« nennen
werden? Haben sie aber an diesem teil, so werden
sie demgemäß am meisten Gemeinschaft von Leid
und Freude haben?
Bei weitem.
Ist nun nicht Ursache hiervon außer der übrigen
Einrichtung die Gemeinschaft der Weiber und Kinder
bei denWächtern?
Bei weitem am meisten, antwortete er.
Nun aber haben wir zugegeben, daß dies das größte
Gut für einen Staat sei, indem wir einen gut eingerichteten
Staat mit einem Leibe verglichen, wie sich
dieser zu einem seiner Teile hinsichtlich von Schmerz
Platon: Der Staat 293
und Lust verhält.
Und zwar haben wir das mit Recht zugegeben, versetzte
er.
So hat sich uns also die Gemeinschaft der Kinder
undWeiber bei den Helfern als Ursache des größten
Gutes für die Gemeinde erwiesen.
Allerdings, erwiderte er.
Und auch mit dem Früheren sind wir in Übereinstimmung:
denn wir haben ja gesagt, daß diese weder
eigene Häuser haben dürfen noch Land noch sonst ein
Besitztum, sondern sie sollen als Lohn ihres Wachens
von den andern Nahrung bekommen und sie alle gemeinschaftlich
verbrauchen, wenn sie inWahrheit
Wächter sein sollen.
Mit Recht, antwortete er.
Macht nun also nicht, wie gesagt, das früher Besprochene
und das jetzt Erörterte sie noch mehr zu
wahrenWächtern und bewirkt, daß sie den Staat nicht
zerreißen, indem sie nicht das nämliche »Mein« nennen,
sondern jeder etwas anderes, indem der eine in
sein Haus schleppt, was er immer abgesondert von
den andern besitzen kann, der andere in das seinige
von jenem verschiedene, und Frau und Kinder nicht
dieselben nennen, sondern eigene haben und damit eigene
Freuden und Schmerzen einführen, sondern daß
sie eines Sinnes in betreff des Angehörigen alle nach
demselben Ziele streben und möglichst gleichen
Platon: Der Staat 294
Schmerz und Freude erfahren?
Freilich gar sehr, erwiderte er.
Und dann, Rechtshändel und Anklagen gegen einander,
– werden sie aus ihrer Mitte nicht fast ganz verschwinden,
weil keiner etwas Eigenes besitzt als den
Leib, alles andere aber gemeinsam, daher diese ohne
all die Zwiste sind, die um den Besitz von Geld oder
Kindern oder Verwandten entstehen?
Ganz notwendig müssen sie davon befreit sein, versetzte
er.
Und ebensowenig werden ferner von Rechts wegen
Rechtshändel wegen Gewalttätigkeit oder Mißhandlung
unter ihnen stattfinden; denn daß ein Altersgenosse
gegen den andern sich verteidigt, werden wir
doch als schön und erlaubt bezeichnen, indem wir der
Sorge für den Leib Notwendigkeit zuerkennen.
Richtig, sagte er.
Denn auch dieses Richtige hat dieses Gesetz, fuhr
ich fort: wenn etwa einer gegen einen andern erzürnt
ist, so wird er an einem solchen seinen Zorn auslassen
und dann weniger zu größeren Unordnungen schreiten.
Allerdings.
Einem Älteren wird doch wohl aufgetragen werden,
über alle Jüngeren zu gebieten und sie zu bestrafen?
Offenbar.
Und dann, daß ein Jüngerer einen Älteren, wofern
Platon: Der Staat 295
nicht Regierende es befehlen, zu schlagen oder sonstwie
zu mißhandeln nie sich erlauben wird, ist natürlich;
und ich glaube, auch nicht auf andere Weise
wird er ihn verunglimpfen: denn stark genug sind die
beidenWächter, die es verhindern: die Furcht und die
Scheu; die Scheu, indem sie von der Berührung dieser
als ihrer Eltern abhält, und die Furcht, es möchten
dem Beleidigten die andern beistehen, die einen als
Söhne, die andern als Brüder, noch andere als Väter.
Allerdings geht es so, bemerkte er.
In jeder Beziehung also werden die Männer infolge
der Gesetze Frieden unter einander halten?
Jawohl, vollkommen.
Wenn nun aber diese nicht unter einander im Zwist
sind, so hat es keine Gefahr, daß der übrige Staat mit
ihnen oder unter sich uneins werde.
Allerdings nicht.
Die ganz kleinen Übel aber, deren sie überhoben
wären, zögere ich wegen ihrer Unschicklichkeit auch
nur zu nennen, wie Schmeicheleien gegen die Reichen,
wenn man arm ist, und alle die Verlegenheiten
und Schmerzen, die sie bei der Kindererziehung und
dem Gelderwerb zur notwendigen Erhaltung ihrer
Hausgenossen haben, indem sie bald Geld borgen,
bald ableugnen, bald auf irgend andereWeise es sich
verschaffen und es bei Frauen und Gesinde niederlegen
und es ihnen zur Verwaltung übergeben, und was
Platon: Der Staat 296
sie alles sonst noch, mein Lieber, in dieser Beziehung
erleiden, das ja allbekannt und gemein und des Erwähnens
nicht wert ist.
Das sieht sogar ein Blinder ein, bemerkte er.
Von allem diesem also werden sie frei sein und
werden ein seliges Leben führen, noch seliger als das
der olympischen Sieger.
Wieso?
Das, um dessen willen man jene glücklich preist,
ist nur ein kleiner Teil von dem, was diese haben;
denn deren Sieg ist schöner, ihr Unterhalt aus öffentlichen
Mitteln vollständiger. Denn der Sieg, den sie
siegen, ist dieWohlfahrt des ganzen Staates, und mit
Unterhalt und allem übrigen, was nur das Leben bedarf,
werden sie selbst und ihre Kinder bekränzt, und
während ihres Lebens empfangen sie Auszeichnungen
von ihrem Staate, und nach ihrem Tode wird ihnen
würdige Bestattung zuteil.
Das sind gewiß schöne Dinge, versetzte er.
Erinnerst du dich nun, fuhr ich fort, daß im Vorhergehenden
ich weiß nicht wessen Bemerkung uns getadelt
hat, daß wir dieWächter nicht glücklich machen,
da sie alles Eigentum der Bürger haben könnten und
nichts haben? Wir aber erwiderten ungefähr, wenn es
sich gelegentlich treffe, wollen wir dies ein anderes
Mal untersuchen, für jetzt aber machen wir dieWächter
zuWächtern, den Staat aber so glücklich, als wir
Platon: Der Staat 297
nur vermöchten, nicht aber berücksichtigen wir eine
einzelne Klasse in ihm und bilden diese glücklich?
Ich erinnere mich, antwortete er.
Wie nun? Glauben wir jetzt, daß das Leben der
Helfer, das sich als weit schöner und besser erwiesen
hat als das der olympischen Sieger, den Vergleich
nicht aushalte mit dem Leben der Schuster oder irgend
welcher anderer Handwerker oder mit dem der
Landleute?
Ich glaube nicht, erwiderte er.
Indessen, was ich schon damals sagte, muß ich
auch jetzt wiederholen, daß, wenn derWächter in solcherWeise
glücklich zu sein versuchen wird, daß er
gar nichtWächter ist, und wenn ihm dieses mäßige
und geregelte Leben, wie wir es als das beste bezeichnet
haben, nicht genügt, sondern eine unverständige
und knabenhafte Vorstellung vom Glücke ihn befällt
und ihn treibt, vermöge seiner Kraft alles im Staate
sich zu eigen zu machen, so wird er erfahren, daß Hesiod
wirklich weise war, wenn er sagte, daß die Hälfte
eigentlich mehr sei als das Ganze.
Wenn er mich zu Rate zieht, versetzte er, so wird er
bei diesem Leben bleiben.
Du bist also einverstanden, sagte ich, mit der beschriebenen
Gemeinschaft der Weiber mit den Männern
hinsichtlich der Bildung und der Kinder und der
Bewachung der übrigen Bürger, daß sie in der Stadt
Platon: Der Staat 298
bleibend wie in den Krieg ziehend mithüten müssen
und mitjagen wie Hunde und überhaupt an allem
überall möglichst Anteil haben, und daß sie, wenn sie
dies tun, das Beste tun und nicht der Natur desWeibes
in Vergleich zu der des Mannes zuwiderhandeln
werden, vermöge der sie bestimmt sind, zu einander
in Gemeinschaft zu treten?
Ich bin damit einverstanden, antwortete er.
So ist also, fuhr ich fort, das noch übrig zu erörtern,
ob es denn auch unter den Menschen wie unter
anderenWesen möglich ist, daß diese Gemeinschaft
stattfinde, und auf welcheWeise es möglich ist?
Du bist, versetzte er, dem zuvorgekommen, was ich
zur Sprache bringen wollte.
Hinsichtlich der Angelegenheiten des Kriegs nämlich
ist, glaube ich, klar, aufweicheWeise sie ihn führen
werden.
Wie? fragte er.
Daß sie gemeinsam ins Feld ziehen und dazu noch
von den Kindern alle, die stark genug sind, mit in den
Krieg nehmen werden, damit sie wie die andern
Handwerker dem zusehen, was sie erwachsen werden
ausüben müssen; außer dem Zuschauen aber auszuheilen
und an die Hand zu gehen in bezug auf alles,
was zum Kriege gehört, und ihre Väter und Mütter zu
bedienen. Oder hast du nicht bemerkt, wie es bei den
Künsten geht: z.B. die Kinder von Töpfern, wie lange
Platon: Der Staat 299
Zeit sie Zuschauer und Handlanger sind, ehe sie selbst
Töpfe zu machen versuchen?
Allerdings.
Müßten nun jene sorgfältiger als dieWächter die
Ihrigen bilden durch Erfahrung und Anschauen des
Erforderlichen?
Das wäre ja doch lächerlich, erwiderte er.
Nun wird aber doch wohl auch jedes Lebendige
ganz vorzüglich kämpfen, wenn diejenigen anwesend
sind, die es geboren hat.
Es ist wirklich so. Aber, Sokrates, die Gefahr ist
nicht klein, daß sie, wenn ihnen ein Unfall begegnet,
dergleichen im Kriege ja gern vorkommen, außer sich
selbst auch noch ihre Kinder ins Verderben stürzen
und auch den übrigen Staat außerstand setzen, sich
wieder zu erholen.
Du hast recht, antwortete ich. Aber glaubst du, fürs
erste man müsse Vorsorge treffen, daß ja alle Gefahr
vermieden werde?
Keineswegs.
Wenn denn also überhaupt Gefahr bestanden werden
muß, ist es nicht solche, durch deren glückliches
Bestehen sie besser werden?
Freilich offenbar.
Aber glaubst du, daß es einen kleinen Unterschied
mache und die Gefahr nicht verlohne, ob diejenigen,
welche kriegerische Männer werden sollen, als
Platon: Der Staat 300
Knaben bei den Geschäften des Kriegs zusehen oder
nicht?
Nein, sondern es macht einen Unterschied bei dem,
was du sagst.
Daß muß demnach der Fall sein, daß man die Kinder
zu Zuschauern beim Kriege macht, dazu aber
ihnen Sicherheit verschafft: so wird es gut sein; nicht
wahr?
Ja.
Also fürs erste werden ihre Väter, soweit es menschenmöglich
ist, nicht einsichtslos sein, sondern die
Feldzüge zu unterscheiden wissen, die gefährlich sind
und nicht?
Natürlich, versetzte er.
In die einen also werden sie sie mitnehmen, in die
andern aber sie mitzunehmen werden sie sich hüten.
Richtig.
Und als Aufseher, sagte ich, werden sie doch wohl
nicht die Schlechtesten über sie setzen, sondern die,
welche durch Erfahrung und Alter imstande sind,
Führer und Leiter der Knaben zu sein.
So geziemt’s sich auch.
Aber freilich, werden wir sagen, auch wider Erwarten
ist ja schon manchem manches begegnet.
Allerdings.
Für solche Fälle denn, mein Lieber, muß man sie
gleich als Kinder beflügeln, damit sie nötigenfalls
Platon: Der Staat 301
davonfliegen können.
Wie meinst du das? fragte er.
Auf die Pferde, war meine Antwort, muß man sie
so jung als möglich bringen und, wenn man sie reiten
gelehrt hat, auf Pferden sie mitnehmen zum Zuschauen,
nicht auf wilden noch kampflustigen, sondern auf
möglichst schnellfüßigen und lenksamen; denn so
werden sie am besten ihrem Geschäfte zuschauen und
am sichersten erforderlichen Falles sich retten, indem
sie ihren älteren Führern nachfolgen.
Du scheinst mir recht zu haben.
Wie ist es nun aber, sagte ich, mit dem, was den
Krieg betrifft? Wie haben sich deine Krieger zu verhalten
gegen einander und gegen die Feinde? Habe
ich eine richtige Ansicht davon oder nicht?
Sage, erwiderte er, welche?
Wer von ihnen, versetzte ich, seinen Platz verläßt
oder dieWaffen wegwirft oder sonst etwas Derartiges
aus Feigheit tut, – muß man ihn nicht zu einem Handwerker
machen oder einem Ackerbauer?
Allerdings.
Wer aber lebendig in die Gefangenschaft der Feinde
gerät, – muß man ihn nicht als Geschenk geben an
solche, die Lust dazu haben, um mit ihrem Fange zu
machen, was sie wollen?
Freilich.
Wer sich aber ausgezeichnet und Beifall erworben
Platon: Der Staat 302
hat, meinst du nicht, daß ihm fürs erste im Feldzuge
von den daran teilnehmenden Jünglingen und Knaben
der Reihe nach von jedem ein Kranz gereicht werden
müsse? Oder nicht?
O ja.
Und wie? Auch ein Handschlag?
Auch dies.
Aber mit folgendem, sagte ich, wirst du wohl nicht
mehr einverstanden sein?
Womit?
Mit dem Küssen und Geküßtwerden von jedem.
Damit am allermeisten, antwortete er, und ich
mache noch den Zusatz zu dem Gesetze, für die Zeit,
wo sie in diesem Feldzuge sind, daß keinem, den er
küssen will, gestattet sein soll, es zu verweigern,
damit auch, falls einer etwa einen Geliebten hat oder
eine Geliebte, er um so eifriger sei, nach dem Preise
der Tapferkeit zu trachten.
Schön, sagte ich. Denn daß für einen, der tüchtig
ist, mehr Heiratsangelegenheiten bereit sind als für
die anderen, und daßWahlen auf solche oft mit Übergebung
der anderen fallen werden, damit möglichst
viele von einem solchen erzeugt werden, ist schon gesagt.
Allerdings haben wir’s bemerkt, versetzte er.
Aber wahrlich, auch in homerischer Weise mit dem
folgenden müssen wir billig unter den Jüngeren alle
Platon: Der Staat 303
diejenigen ehren, die tüchtig sind. Homer nämlich hat
gesagt, daß Aias, der sich im Kampfe ausgezeichnet
hatte, mit langausreichendem Rücken geehrt worden
sei, in der Voraussetzung, daß für den jugendlich
Kräftigen und Tapfern das der angemessene Ehrenlohn
sei, wodurch er gleichzeitig mit der Auszeichnung
auch eine Vermehrung seiner Stärke gewinne.
Ganz richtig, bemerkte er.
Wir werden also, sagte ich, darin dem Homer folgen.
Denn auch wir werden bei Opfern und allen Gelegenheiten
dieser Art die Tüchtigen, in demMaße als
sie sich tüchtig erweisen, mit Lobliedern und dem soeben
Genannten ehren, und überdies mit Sitzen und
Gaben an Fleisch und gefülleten Bechern, damitwir
gleichzeitig mit dem Auszeichnen die tüchtigen Männer
undWeiber kräftigen.
Ganz schön gesagt, bemerkte er.
Nun gut; aber unter denen dann, die im Felde gestorben
sind, – werden wir nicht von denjenigen, die
einen ruhmvollen Tod gefunden, fürs erste sagen, daß
sie zum goldenen Geschlechte gehören?
Freilich unfehlbar.
Aber werden wir nicht dem Hesiod glauben, wenn
von solchem Geschlechte etwelche sterben, daß dann
Heilige Schutzgottheiten umher auf der Erde sie
werden,
Platon: Der Staat 304
Hilfreich, Wehrer des Übels, Behüter der redenden
Menschen – ?
Allerdings werden wir es glauben.
Wir werden also beim Gotte anfragen, in welcher
Weise und mit welcher Auszeichnung man die Heiligen
und Göttlichen bestatten solle, und werden dann
sie so und in der Art bestatten, wie Er es anweist?
Warum sollten wir nicht?
Und in Zukunft werden wir dann ihren Grabstätten
solche Verehrung und Huldigung beweisen wie denen
von Schutzgöttern? Und wir werden es ganz ebenso
halten, auch wenn vor Alter oder auf eine andre Weise
gestorben ist einer von denen, die für ausgezeichnet
gut im Leben erachtet worden sind?
Recht ist das jedenfalls, antwortete er.
Weiter: gegen die Feinde, wie werden da unsere
Krieger verfahren?
In welcher Beziehung denn?
Fürs erste hinsichtlich der Leibeigenschaft: hältst
du für billig, daß Hellenen hellenische Staaten zu
leibeigenen machen, oder daß sie auch anderen nach
Möglichkeit es nicht gestatten und dies zur Gewohnheit
machen, das hellenische Geschlecht zu schonen
und vor der Knechtung durch Ausländer sich zu
hüten?
Ganz und gar den Vorzug verdient das Schonen,
Platon: Der Staat 305
versetzte er.
Also auch selber keinen Hellenen zum Knechte zu
haben und den andern Hellenen in dieser Richtung zu
raten?
Freilich, erwiderte er; dann würden sie sich mehr
gegen die Ausländer wenden, einander aber in Ruhe
lassen.
Weiter, fuhr ich fort, den Gefallenen, wenn man gesiegt
hat, auch das andere auszuziehen außer den
Waffen, – ist das in der Ordnung? Oder bietet es nicht
den Feigen einen Vorwand, nicht gegen die Kämpfenden
zu gehen, als würden sie eine Pflicht erfüllen,
wenn sie am Toten herum sich betätigten? Und hat
nicht solches Plündern schon vielen Heeren den Untergang
gebracht?
Jawohl.
Scheint es ferner nicht unehrenhaft und habgierig,
einen Leichnam zu berauben, und ein Zeichen von
weibischer und kleinlicher Denkweise, für den Feind
zu halten den Leib des Toten, nachdem der Widersacher
entflogen und nur das übriggeblieben ist, womit
er Feindseligkeiten übte? Oder meinst du, wer dies
tut, handle anders als die Hunde, die über die Steine,
womit sie geworfen wurden, ergrimmt sind, an den
Werfenden aber sich nicht heranmachen?
Auch nicht im geringsten, antwortete er.
Unterlassen muß man also das Berauben der
Platon: Der Staat 306
Leichen und das Verwehren derWegschaffung?
Freilich, beim Zeus, muß man’s unterlassen, sagte
er.
Auch werden wir schwerlich dieWaffen in die
Tempel bringen, um sie alsWeihgeschenke aufzuhängen,
zumal die von Hellenen, wofern wir Wert legen
auf die gute Gesinnung gegen die andern Hellenen;
vielmehr werden wir fürchten, es möchte eine Verunreinigung
sein, dergleichen von den eigenen Angehörigen
in den Tempel zu bringen, wofern nicht etwa der
Gott etwas anderes verfügt.
Ganz richtig, bemerkte er.
Weiter: in bezug auf Verheerung hellenischen Landes
und das Anzünden von Häusern, – was werden
deine Krieger tun gegenüber den Feinden?
Deine Meinung, versetzte er, möchte ich darüber
gern vernehmen.
Nun denn, ich meine, sprach ich, man sollte von
diesen beiden keines tun, sondern nur den Jahresertrag
an Früchten wegnehmen; und soll ich dir sagen,
warum?
Jawohl.
Mir scheint, daß Krieg und Zwist, wie sie diese
zweierlei Benennungen haben, so auch zweierlei Begriffe
sind und zweierlei Arten von Streit bedeuten;
ich meine nämlich die beiden, einerseits das Zusammengehörige
und Verwandte, andererseits das
Platon: Der Staat 307
Auswärtige und Fremdländische: Feindschaft von Zusammengehörigem
nennt man Zwist, die des Auswärtigen
aber Krieg.
Und wirklich ist gar nicht fehlgeschossen, was du
sagst, erwiderte er.
So sieh denn auch zu, versetzte ich, ob folgendes
gutgeschossen ist, was ich sage: Ich behaupte nämlich,
daß das hellenische Geschlecht unter sich selbst
zusammengehörig und verwandt ist, dem ausländischen
gegenüber aber fremdländisch und auswärtig.
Schön, bemerkte er.
Wenn also Hellenen mit Ausländern und Ausländer
mit Hellenen kämpfen, so werden wir sagen, daß sie
Krieg führen und daß sie von Natur Feinde seien, und
diese Feindschaft muß man Krieg nennen; wenn Hellenen
aber gegenüber Hellenen etwas Derartiges tun,
werden wir zeigen, daß von Natur sie Freunde seien,
daß aber Hellas in solchem Falle krank und zwistig
sei, und solche Feindschaft müsse Zwist genannt werden.
Ich gebe zu, erwiderte er, daß es so Brauch ist.
Erwäge denn, fuhr ich fort, wie in einem jetzt insgemein
als Zwist anerkannten Falle, wo etwas der Art
geschieht und ein Staat entzweit ist, falls jeder Teil
des anderen Acker verwüstet und seine Häuser anzündet,
der Zwist im höchsten Grade sündhaft und keinem
von beiden Teilen als patriotisch erscheint; denn
Platon: Der Staat 308
nimmer würden sie sonst sich unterfangen, an ihrer
Ernährerein undMutter sich zu vergreifen; vielmehr
scheint es das rechte Maß, wenn die Stärkeren den
Schwachem nur die Früchte wegnehmen und bedenken,
daß sie sich wieder versöhnen und nicht ewig
Krieg führen werden.
Weit mehr, versetzte er, paßt für Gesittete solche
Denkweise als jene.
Wie nun? sagte ich; wird der Staat, den du gründest,
nicht ein hellenischer sein?
Freilich muß er es sein, war seine Antwort.
Werden seine Mitglieder also nicht gut und gesittet
sein?
Sicherlich.
Aber nicht auch hellenenfreundlich? Und werden
sie nicht Hellas für verwandt halten und die gleichen
Heiligtümer haben wie die andern?
Auch dies sicher.
Werden sie also nicht den Streit mit Hellenen, als
mit Angehörigen, als einen »Zwist« betrachten und
auch nicht »Krieg« nennen?
Nein.
Und werden sie also den Streit führen mit dem Gedanken,
daß sie sich wieder versöhnen werden?
Freilich.
Wohlmeinend werden sie denn zur Ordnung bringen,
ohne auf Leibeigenschaft auszugehen bei der
Platon: Der Staat 309
Bestrafung oder auf Untergang, da sie Lehrer der Ordnung
sind, nicht Feinde.
So ist es, sagte er.
Also werden sie auch nicht als Hellenen sich an
Hellenen vergreifen, noch auchWohnungen in Brand
stecken, noch in jedem Staate alle als ihre Feinde betrachten,
Männer wie Frauen und Kinder, sondern
immer nur wenige für Feinde halten, die Urheber des
Streites. Und aus allen diesen Gründen werden sie
weder an deren Land sich vergreifen mögen, da die
meisten ihre Freunde sind, noch die Häuser zerstören,
sondern nur so weit den Streit treiben, bis die Schuldigen
von den leidenden Unschuldigen Strafe zu erleiden
gezwungen werden.
Ich bin einverstanden, erwiderte er, daß unsere
Staatsglieder in solcherWeise mit ihren Gegnern verfahren
müssen, mit den Ausländern aber so, wie jetzt
die Hellenen mit einander.
Wollen wir denn auch dieses als Gesetz für die
Wächter annehmen, daß sie weder Land verwüsten
noch Häuser in Brand stecken?
Ja, wir wollen es, antwortete er, und daß dies sowohl
als das Vorhergehende gut sei. – Aber höre, Sokrates,
ich glaube, wenn man dich in dieser Weise
fortreden läßt, so wirst du gar nie an das denken, was
du im Früheren beiseite geschoben und wofür du dieses
alles gesprochen hast: die Frage, ob diese
Platon: Der Staat 310
Verfassung imstande ist, möglich zu werden, und auf
welcheWeise sie je möglich ist; denn daß, wenn sie
wirklich würde, dem Staate, in dem sie es würde,
alles Gute zufiele, und daß sie – ich will anführen,
was du übergangen hast – auch gegen die Feinde am
besten kämpfen würden, weil sie einander am wenigsten
im Stiche ließen, indem sie sich als Brüder,
Väter, Söhne erkennten und mit diesen Namen riefen;
wenn aber auch das weibliche Geschlecht mit ins Feld
zöge, sei es nun in der nämlichen Reihe oder auch
hinten aufgestellt, um die Feinde zu schrecken und für
den Fall, daß Hilfe nötig würde, so weiß ich, daß sie
hierdurch völlig unüberwindlich würden; auch wie
viele Vorteile, die du übergangen hast, zu Hause
ihnen zuteil würden, sehe ich; aber daß dieses und
tausend anderes der Fall wäre, wenn diese Verfassung
in dieWirklichkeit träte, betrachte als von mir zugegeben
und sprich nicht mehr weiter von ihr, sondern
eben hiervon wollen wir jetzt versuchen uns selbst zu
überzeugen, daß und wie es möglich ist, und wollen
das übrige fahren lassen.
Urplötzlich hast du, erwiderte ich, gleichsam einen
Ausfall gemacht auf meine Rede, und all mein Drehen
undWinden findet keine Gnade vor dir. Denn vielleicht
weißt du nicht, wie du gegen mich, der ich mit
Mühe den beidenWellen entronnen bin, jetzt die
größte und gefährlichste dritte heranwälzest, bei deren
Platon: Der Staat 311
Anblick und Vernehmen du mir ganz gerne verzeihen
wirst, daß ich allerdings mit Recht gezögert und mich
gefürchtet habe, einen so auffallenden Gegenstand
vorzutragen und seiner Untersuchung mich zu unterziehen.
Je mehr du dergleichen sprichst, antwortete er, um
so weniger werden wir dir erlassen, zu sagen, aufweicheWeise
diese Verfassung verwirklicht werden
kann. So sprich denn und zögere nicht!
Nun, begann ich, fürs erste müssen wir uns erinnern,
daß wir durch das Suchen desWesens der Gerechtigkeit
und Ungerechtigkeit hierher gekommen
sind.
Allerdings, versetzte er; aber was soll dies?
Nichts. Aber wenn wir dasWesen der Gerechtigkeit
gefunden haben, werden wir dann von dem gerechten
Manne verlangen, daß er sich von ihr in nichts
unterscheide, sondern in jeder Hinsicht von der Art
sei, wie die Gerechtigkeit ist? Oder werden wir zufrieden
sein, wenn er ihr möglichst nahe kommt und mehr
als alle andern von ihr an sich hat?
Damit, antwortete er, werden wir zufrieden sein.
Als Musterbild also, fuhr ich fort, suchten wir das
Wesen der Gerechtigkeit an sich und den vollkommen
gerechten Mann, ob es einen solchen gebe und von
welcher Art er dann wäre, und andererseits die Ungerechtigkeit
und den Ungerechtesten, damit wir im
Platon: Der Staat 312
Hinblick auf diese, wie sie uns hinsichtlich des
Glücks und des Gegenteiles erscheinen, genötigt werden,
auch in bezug auf uns selbst zuzugestehen, daß,
wer jenen möglichst ähnlich ist, das jenen ähnlichste
Los haben werde, – nicht aber um deswillen, um zu
zeigen, wie dies zu verwirklichen möglich sei.
Damit hast du recht, erwiderte er.
Glaubst du nun, daß derjenige ein minder guter
Maler sei, der, nachdem er ein Musterbild gemalt hat,
wie etwa der schönste Mensch wäre, und alles gehörig
in dem Gemälde angebracht, nicht zu beweisen
vermöchte, daß es einen solchen Mann auch wirklich
geben könne?
Nein, bei Zeus, das nicht, antwortete er.
Wie nun, sprechen wir, haben nicht auch wir durch
unsere Erörterung das Musterbild eines guten Staates
dargestellt?
Allerdings.
Glaubst du nun, daß wir darum minder Recht
haben, wenn wir nicht zu beweisen vermögen, daß es
möglich sei, so einen Staat einzurichten, wie dargestellt
wurde?
Nein, nicht, versetzte er.
DasWahre also, fuhr ich fort, ist dieses; soll ich
mich aber dir zuliebe auch damit befassen, zu zeigen,
aufweicheWeise am ehesten und in welcher Hinsicht
er besonders möglich sei, so mache mir zu einem
Platon: Der Staat 313
solchen Nachweise von neuem dieselben Einräumungen!
Welche denn?
Ist es möglich, daß etwas ebenso getan wie gesprochen
wird, oder liegt es in der Natur, daß die Handlung
derWahrheit weniger nahe kommt als die Rede,
auch wenn es einem nicht so erscheint? Räumst du
das nun ein oder nicht?
Ich tue es, sagte er.
Dazu also nötige mich nicht: was wir in der Rede
durchgegangen haben, von dem nachzuweisen, daß es
ganz ebenso in dieWirklichkeit treten müsse; sondern
wenn wir imstande gewesen sind, aufzufinden, wie
die Einrichtung eines Staates dem Gesagten am nächsten
kommen könnte, so nimm an, daß wir gefunden
haben, daß das wirklich werden könne, was du vorschreibst.
Oder wirst du nicht zufrieden sein, wenn du
das erreichst? Denn ich meinesteils wäre damit zufrieden.
Auch ich bin es, erklärte er.
Dann wollen wir das diesem, wie es scheint. Nachfolgende
zu entdecken und aufzuzeigen suchen, worin
jetzt in den Staaten gefehlt wird, infolgedessen sie
nicht so eingerichtet sind, und welches die leichteste
Änderung wäre, durch die ein Staat zu einer solchen
Art von Verfassung käme, am liebsten eine einzige
Änderung, wo nicht, zwei: wenn auch das nicht,
Platon: Der Staat 314
möglichst wenige an Zahl und möglichst leichte an
Bedeutung.
Allerdings, sagte er.
Nun, von einer einzigen Veränderung, sprach ich,
glaube ich nachweisen zu können, daß sie eine Umwandlung
bewirken würde, freilich einer nicht kleinen
und leichten, aber doch möglichen.
Von welcher? fragte er.
Nun schreite ich, war meine Antwort, eben zu dem,
was wir vorher bildlich als die größteWelle bezeichnet
haben. Dennoch soll es ausgesprochen werden,
und wenn es auch ganz wie eine platzendeWelle mit
Hohn und Schmach uns überströmen wird. Doch erwäge,
was ich sagen werde!
Sprich nur, versetzte er.
Wofern nicht, begann ich, entweder die Philosophen
Könige werden in den Staaten, oder die, welche
jetzt Könige und Herrscher heißen, echte und
gründliche Philosophen werden, und dieses beides in
einem zusammenfällt. Macht im Staate und Philosophie,
den meisten Naturen aber unter den jetzigen, die
sich einem von beiden ausschließlich zuwenden, der
Zugang mit Gewalt verschlossen wird, gibt es, mein
lieber Glaukon, keine Erlösung vom Übel für die
Staaten, ich glaube aber auch nicht für die Menschheit,
noch auch wird diese Verfassung, wie wir sie
eben dargestellt haben, je früher zur Möglichkeit
Platon: Der Staat 315
werden und das Sonnenlicht erblicken. Aber das ist
es, was ich schon lange auszusprechen Bedenken
trage, weil ich sehe, wie sehr es der gewöhnlichen Ansicht
zuwiderläuft; denn es ist schwer zu begreifen,
daß keine andere glücklich sein kann, weder im einzelnen
noch im ganzen.
Und jener meinte: Sokrates, du hast da einWort
und einen Gedanken fallen lassen, nach dessen Aussprechen
du erwarten mußt, daß seht viele und nicht
Verächtliche jetzt ohne weiteres gleichsam die Kleider
abwerfen und entblößt nach der nächsten besten
Waffe greifen und gestreckten Laufes wider dich anrennen
werden, um dir wer weiß was anzutun; und
wenn du diese nicht mit Gründen abwehrst und dich
ihnen entziehst, so wirst du wahrhaftig mit Spott bestraft
werden.
Hast aber nicht du mir das zugezogen? sagte ich.
Und daran habe ich recht getan, versetzte er. Aber
darum will ich dich auch nicht preisgeben, sondern
dich verteidigen, wodurch ich kann; ich kann es aber
durchWohlwollen und Zuspruch, und vielleicht dürfte
ich dir geschickter antworten als irgend ein anderer;
von einem solchen Helfer unterstützt versuche denn
den Zweiflern zu zeigen, daß es sich so verhält, wie
du sagst!
Es muß versucht werden, antwortete ich, da auch
du so wichtigen Beistand anbietest. Es scheint mir
Platon: Der Staat 316
nun notwendig, wenn wir irgend denen entkommen
wollen, von welchen du sprichst, gegen sie fest zu bestimmen,
wen wir unter den Philosophen verstehen,
von denen wir zu behaupten wagen, daß sie regieren
müssen, damit, wenn dies aufgeklärt sein wird, eine
Verteidigung möglich ist durch den Nachweis, daß es
den einen von Natur zukommt, sowohl mit Philosophie
sich zu befassen und Führer zu sein im Staate,
den andern aber, teils damit sich nicht zu befassen,
teils den Führern zu folgen.
Es wird Zeit sein, es zu bestimmen, sagte er.
Auf denn, folge mir auf diesemWege, ob wir es irgendwie
gehörig erklären werden!
Nur zu, antwortete er.
Werde ich dich erinnern müssen, sagte ich, oder erinnerst
du dich selbst, daß derjenige, von dem wir
sagen sollen, daß er etwas liebe, wofern das mit Recht
von ihm ausgesagt wird, sich als solchen zeigen muß,
der nicht bloß das eine an demselben liebt, das andere
aber nicht, sondern das Ganze lieb hat!
Du mußt mich, sagte er, scheint es, erinnern; denn
es ist mir nicht ganz gegenwärtig.
Einem andern, versetzte ich, geziemte es sich, so zu
sprechen, wie du tust, Glaukon; für einen Mann aber,
der sich auf die Liebe versteht, geziemt es sich nicht
zu vergessen, daß den Freund der Knaben und der
Liebe alle jugendlichen Gestalten irgendwie
Platon: Der Staat 317
ermuntern und reizen, indem sie ihm Aufmerksamkeit
und Freundlichkeit zu verdienen scheinen. Oder
macht ihr es nicht so bei den Schönen: den einen werdet
ihr, weil er ein Stumpfnäschen hat, allerliebst nennen
und preisen, von des andern Habichtsnase sagt
ihr, sie habe etwas Königliches, von dem dritten, der
zwischen diesen beiden die Mitte hält, er habe ganz
regelmäßige Züge; die Dunkeln bezeichnet ihr als
männlich aussehend, die Hellen als Engel (Götterlieblinge);
die Honiggelben aber, – glaubst du, sie könnten
irgend jemand anderem schon die Erfindung ihres
Namens verdanken als einem Liebhaber, der einen
Schmeichelnamen wählte und die Blässe sich gern gefallen
ließ, wenn sie mit Schönheit verbunden ist?
Kurz, ihr ergreift alle Vorwände und erschöpft alle
Ausdrücke, um keinen verächtlich zu finden, der in
der Blüte der Schönheit steht.
Wenn du nach mir von den Verliebten sagen willst,
daß sie es so machen, so will ich dem Gespräch zulieb
es erlauben.
Und wie? sagte ich: Siehst du nicht, daß die Liebhaber
desWeins es ebenso machen, indem sie jeden
Wein unter jedem Verwände lieb haben?
Allerdings.
Und auch von den Ehrliebenden siehst du, denke
ich, daß sie, wenn sie nicht eine Feldherrnstelle bekommen
können. Steueraufseher werden, und falls sie
Platon: Der Staat 318
nicht von Größeren und Bedeutenderen geehrt werden,
mit der Achtung von Kleineren und Geringeren
vorlieb nehmen, weil sie überhaupt nach Ehre begierig
sind.
Freilich gar sehr.
So bejahe oder verneine denn folgendes:Wem wir
Begierde nach etwas zuschreiben, wollen wir von dem
sagen, daß er alle Arten desselben begehre, oder nur
die eine, die andere aber nicht?
Alle, erwiderte er. So werden wir also auch von
dem Philosophen (Freunde derWeisheit) sagen, daß
er nicht einen Teil derWeisheit begehre, den anderen
aber nicht, sondern die ganze?
Allerdings.
Wer also in bezug auf die Lerngegenstände Abneigung
zeigt, zumal wenn er jung ist und noch kein
Verständnis hat, was zweckmäßig ist und nicht, den
werden wir nicht als Freund des Lernens und der
Weisheit bezeichnen, wie wir von dem, der in bezug
auf die Speisen Unlust hat, sagen, daß er weder hungere
noch Speisen begehre noch auch ein Freund der
Speisen sei, sondern ein schlechter Esser?
Und das werden wir mit Recht sagen.
Den aber, der willig von jedem Lerngegenstand kosten
mag und gern ans Lernen geht und darin unersättlich
ist, diesen werden wir mit Recht einen Freund
derWeisheit (Philosophen) nennen, nicht wahr?
Platon: Der Staat 319
Da sagte Glaukon: Du wirst viele und wunderliche
Leute dieser Art bekommen; denn die Schaulustigen
alle scheinen mir von dieser Art zu sein, sofern sie am
Kennenlernen Freude haben, und die Hörlustigen nehmen
sich, unter die Freunde derWeisheit gerechnet,
höchst wunderlich aus, sofern sie zwar zu wissenschaftlichen
Gesprächen und derartiger Beschäftigung
von selber nicht wohl Lust hätten zu kommen, dagegen,
als hätten sie ihre Ohren verdungen, alle Chorgesänge
zu hören, bei den Dionysosfesten herumlaufen
und weder bei den städtischen noch bei den ländlichen
fehlen.Werden wir nun diese alle und andere, die
nach etwas dieser Art lernbegierig sind, und die, welche
es in bezug auf die kleinen Künste sind.Weisheitsfreunde
nennen?
Keineswegs, antwortete ich, sondernWeisheitsfreunden
ähnlich.
Welche nennst du aber die wahren ? fragte er.
Diejenigen, erwiderte ich, welche dieWahrheit zu
schauen begierig sind.
Das wäre schon recht, versetzte er, aber wie verstehst
du das?
Keineswegs leicht für einen andern, war meine
Antwort: du aber wirst mir, glaube ich, folgendes zugeben…
Was denn?
Daß Schön und Häßlich, weil sie einander
Platon: Der Staat 320
entgegengesetzt sind, zwei seien.
Natürlich.
Und da sie zwei sind, so ist auch jedes von beiden
eines?
Auch dies.
Und von dem Gerechten und Ungerechten und dem
Guten und Schlechten und von allen Begriffen gilt
dasselbe, daß jeder für sich eins ist, aber dadurch, daß
er infolge der Mitteilung an Handlungen und Körper
und andere Begriffe überall zur Erscheinung kommt,
jeder viele zu sein scheint?
Du hast recht, sagte er.
Hiernach also, fuhr ich fort, unterscheide ich: einerseits
die soeben von dir genannten Schaulustigen und
Kunstliebenden und aufs Handeln Gerichteten, und
andererseits dann die, von denen die Rede ist, die allein
man mit RechtWeisheitsfreunde nennt.
Wie meinst du das? fragte er.
Die Hörbegierigen und Schaulustigen, antwortete
ich, haben doch wohl ihre Freude an den schönen
Stimmen und Farben und Gestalten und allem, was
aus dergleichen gearbeitet wird; vom Schönen selbst
aber ist ihr Sinn unfähig dasWesen zu schauen und
seiner sich zu freuen.
So verhält es sich allerdings, erwiderte er.
Die aber, die imstande sind, dem Schönen selbst
sich zuzukehren und es für sich zu schauen, sind diese
Platon: Der Staat 321
nicht selten?
Allerdings.
Wer nun zwar schöne Dinge annimmt, die Schönheit
selbst aber weder annimmt noch auch, wenn ihn
einer zu ihrer Erkenntnis hinleiten will, zu folgen imstande
ist, – glaubst du, daß der ein Traumleben führt
oder ein wachendes? Zieh aber in Erwägung: Ist Träumen
nicht das, wenn jemand schlafend oder wachend
das einer Sache Ähnliche nicht für etwas Ähnliches
hält, sondern für die Sache selbst, der es gleicht?
Ich wenigstens, versetzte er, möchte von einem solchen
sagen, daß er träume.
Wie aber: Derjenige, der im Gegensatz hierzu das
Schöne selbst für etwas hält und imstande ist, sowohl
es selbst zu schauen als das an ihm Teilhabende, und
der weder das Teilhabende für es selbst noch es selbst
für das Teilhabende hält, – scheint dir andererseits
auch ein solcher ein Traumleben zu führen oder ein
wachendes?
Gar sehr ein wachendes, antwortete er.
Das Denken des einen nun, als eines Erkennenden,
werden wir mit Recht als Erkenntnis bezeichnen, das
des andern aber, als das eines nur Meinenden, als
Meinung?
Allerdings.
Wie nun? Wenn derjenige, dem wir Meinen, nicht
aber Erkenntnis zuschreiben, uns böse wird und
Platon: Der Staat 322
bestreitet, daß wir recht haben, – werden wir etwas
haben, ihn zu beschwichtigen und allgemach, ohne
uns etwas merken zu lassen, ihn zu überzeugen, daß
er nicht klug ist?
Wenigstens sollten wir, bemerkte er.
Wohlan denn, sieh zu, was wir zu ihm sagen werden!
Oder willst du, daß wir ihn fragen, indem wir
sprechen: wenn er etwas wisse, so mißgönnen wir es
ihm durchaus nicht, sondern würden mit Vergnügen
sehen, daß er etwas wisse: »Aber sage uns dies:Wer
erkennt, erkennt der etwas oder nichts?« Gib nun du
mir die Antwort an seiner Statt!
Ich antworte denn, versetzte er, er erkennt etwas.
Seiendes oder Nichtseiendes?
Seiendes; denn wie sollte etwas Nichtseiendes erkannt
werden?
Steht uns nun das hinreichend fest, auch wenn wir
es von mehreren Seiten her betrachten, daß das vollständig
Seiende vollständig erkennbar ist, das
schlechterdings Nichtseiende aber schlechterdings unerkennbar?
Ganz fest.
Gut; wenn aber etwas die Beschaffenheit hat, daß
es sowohl ist als nicht ist, wird es dann nicht in der
Mitte liegen zwischen dem rein Seienden und andererseits
dem schlechterdings Nichtseienden?
Allerdings.
Platon: Der Staat 323
Da nun also Erkenntnis auf das Seiende sich bezog,
Unkenntnis aber notwendig auf das Nichtseiende, –
muß man nicht auch für dieses in der Mitte Liegende
etwas suchen, das in der Mitte liegt zwischen Unwissenheit
undWissenschaft, wenn es etwas dieser Art
gibt?
Allerdings.
Behaupten wir nun, daß die Meinung etwas ist?
Gewiß.
Und daß die Wissenschaft eine andere Kraft habe,
oder dieselbe?
Eine andere.
Zu etwas anderem geordnet ist also die Meinung
und zu etwas anderem dieWissenschaft, jede nach
einer andern Kraft, nämlich ihrer eigenen.
So ist’s.
Ist nun nicht dieWissenschaft ihrer Natur nach für
das Seiende bestimmt, um zu erkennen, daß das Seiende
ist? Oder vielmehr es scheint mir notwendig,
zuvor folgendermaßen zu erörtern…
Wie?
Wir werden behaupten, daß die Kräfte eine Art des
Seienden sind, durch die sowohl wir vermögen, was
wir vermögen, als auch alles andere, was irgend etwas
vermag; z.B. rechne ich das Gesicht und das Gehör zu
den Kräften, wofern du so verstehst, was ich mit dem
Begriffe sagen will.
Platon: Der Staat 324
Ja, ich verstehe, sagte er.
So höre denn, was ich davon denke! An der Kraft
nämlich gewahre ich weder eine Farbe noch eine Gestalt,
noch sonst irgend etwas Derartiges wie an vielem
anderen, rücksichtlich dessen ich manches bei mir
unterscheide, daß es dies sei und jenes; bei der Kraft
aber nehme ich nur auf das Rücksicht, wozu sie ist
und was sie wirkt, und danach habe ich jede derselben
eine »Kraft« genannt und nenne die zu dem nämlichen
Zweck geordnete und das nämliche wirkende die nämliche,
eine andere aber die zu anderem und anderes
wirkende; wie aber machst du es?
Ebenso, antwortete er.
So gehe denn mit mir wieder zurück, mein Bester,
sagte ich.Wissenschaft, – bezeichnest du diese als
eine Kraft, oder zu welcher Gattung rechnest du sie?
Zu dieser, erwiderte er, und zwar als die stärkste
unter allen Kräften.
Die Meinung aber, – werden wir sie zu den Kräften
zählen oder zu einer anderen Gattung?
Keineswegs, versetzte er; denn das, wodurch wir zu
meinen vermögen, ist nichts anderes als Meinung.
Aber du hast ja kurz zuvor zugestanden, daßWissenschaft
und Meinung nicht dasselbe sei.
Wie könnte auch, antwortete er, ein Verständiger je
das Fehlerlose mit dem nicht Fehlerlosen als dasselbe
setzen?
Platon: Der Staat 325
Richtig, sagte ich, und es ist klar, daß wir darüber
einverstanden sind, Meinung sei etwas anderes als
Wissenschaft.
Allerdings.
Ihrer Natur nach vermag also jede von beiden, zu
anderem gehörig, anderes?
Notwendig.
DieWissenschaft nun gehört doch wohl zu dem
Seienden, das Seiende zu erkennen, wie es ist?
Ja.
Die Meinung aber, sagen wir, zu meinen?
Ja.
Erkennt sie dasselbe wie dieWissenschaft, und
wird Gegenstand der Erkenntnis und der Meinung
dasselbe sein? Oder ist das unmöglich?
Unmöglich, erwiderte er, nach dem Zugestandenen,
wofern eine andere Kraft zu etwas anderem geschaffen
ist und beide, Meinung undWissenschaft, zwar
Kräfte sind, jedoch jede eine andere, wie wir gesagt
haben: infolgedessen also ist es nicht möglich, daß
Gegenstand der Erkenntnis und der Meinung dasselbe
sei.
Ist also das Seiende Gegenstand der Erkenntnis, so
wird etwas anderes als das Seiende Gegenstand der
Meinung sein?
Allerdings.
Ist ihr Gegenstand nun etwa das Nichtseiende?
Platon: Der Staat 326
Oder ist das Nichtseiende auch zu meinen unmöglich?
Bedenke aber: richtet der Meinende die Meinung
nicht auf etwas? Oder ist es andererseits möglich,
zwar zu meinen, aber nichts zu meinen?
Unmöglich.
Vielmehr eines meint der Meinende?
Ja.
Nichtseiendes wird aber doch nicht eines, sondern
mit vollstem Recht nichts genannt werden?
Allerdings.
Nichtseiendem teilten wir doch notwendig Unwissenheit
zu, Seiendem aber Erkenntnis?
Richtig, sprach er.
Weder Seiendes also meint sie, noch auch Nichtseiendes?
Gewiß.
Weder Unwissenheit also noch Erkenntnis wäre die
Meinung?
So scheint’s.
Steht sie nun außerhalb dieser, indem sie entweder
die Erkenntnis an Deutlichkeit oder die Unwissenheit
an Undeutlichkeit übertrifft?
Keines von beiden.
Aber scheint dir etwa, fragte ich, die Meinung
dunkler als die Erkenntnis, aber heller als die Unwissenheit?
Und das bei weitem, antwortete er.
Platon: Der Staat 327
Liegt sie innerhalb beider?
Ja.
So wäre also die Meinung in der Mitte zwischen
diesen beiden?
Allerdings vollkommen.
Haben wir nun nicht im Vorhergehenden gesagt,
wenn sich etwas zeige von der Art, daß es zugleich
sei und nicht sei, so liege das derartige in der Mitte
zwischen dem rein Seienden und dem schlechterdings
Nichtseienden, und wederWissenschaft noch Unwissenheit
werde bei ihm sein, sondern gleichfalls das,
was sich ergebe als in der Mitte liegend zwischen Unwissenheit
undWissenschaft?
Richtig.
Nun aber hat sich zwischen diesen beiden das eben
erwiesen, was wir Meinung nennen.
So ist’s.
Das also, scheint es, bliebe uns noch übrig zu finden,
was an beiden teilhat, am Sein sowohl wie am
Nichtsein, und dem man keines von beiden in reiner
Gestalt mit Recht beimessen kann, damit wir, wenn es
sich als Gegenstand der Meinung gezeigt hat, mit
Recht so benennen, indem wir dem Äußersten das
Äußerste und demMittleren das Mittlere zuweisen;
oder ist’s nicht so?
O ja.
Wenn nun das feststeht, so werde ich sagen, es
Platon: Der Staat 328
möge mir Rede und Antwort geben der Gute, der an
ein Schönes an sich und an einen immer in derselben
Hinsicht gleichmäßig sich verhaltenden Begriff der
Schönheit an sich nicht glaubt, wohl aber eine Vielheit
von schönen Dingen annimmt, als ein Schaulustiger,
und der es durchaus nicht aushält, wenn jemand
das Schöne als Einheit bezeichnet und das Gerechte
und das übrige ebenso. Denn gibt es, mein Bester,
werden wir sprechen, unter diesen vielen schönen
Dingen eines, das nicht als häßlich erscheinen wird,
und unter den gerechten eines, das nicht als ungerecht,
und unter den frommen eines, das nicht als gottlos erscheinen
wird?
Nein, versetzte er, sondern es ist notwendig, daß
sie sowohl schön wie häßlich erscheinen, und wonach
du sonst noch fragst.
Wie aber? Die vielen Doppelten – erscheinen sie
weniger als halb wie doppelt?
Um nichts.
Auch Große also und Kleine und Leichte und
Schwere, werden sie mit mehr Recht den Namen führen,
den wir ihnen beilegen, als den entgegengesetzten?
Nein, antwortete er, sondern immer wird jedes
beide führen können.
Sind nun alle diese vielen das, was man sagt, daß
sie seien, mehr, als daß sie es nicht sind?
Platon: Der Staat 329
Dem Doppelaussagen bei den Schmausereien
gleicht es, versetzte er, und dem Kinderrätsel vom
Verschnittenen in betreff desWurfes nach der Fledermaus,
wobei man erraten muß, mit was und auf was
er sie geworfen habe. Denn auch hier scheint eine
Doppelaussage stattzufinden, und weder als seiend
noch als nichtseiend, und weder als beides noch als
keines von beiden läßt sich irgend eines derselben mit
Sicherheit denken.
Weißt du nun, sagte ich, etwas Besseres mit ihnen
anzufangen, oder weißt du eine bessere Stelle für sie
als in der Mitte zwisehen dem Sein und dem Nichtsein?
Denn weder dunkler als Nichtseiendes, mit
einem höheren Grade von Nichtsein, werden sie erscheinen,
noch heller als Seiendes, mit einem höheren
Grade von Sein.
Sehr wahr, bemerkte er.
Wir haben also gefunden, wie es scheint, daß die
bei der Menge geltende Menge von Schönem und anderen
Dingen sich so in der Mitte herumtreibt zwischen
dem Nichtseienden und dem rein Seienden.
Allerdings.
Nun haben wir aber vorher zugegeben, daß, wenn
sich etwas dieser Art zeige, man es als Gegenstand
der Meinung, nicht aber der Erkenntnis bezeichnen
müsse, indem das in der Mitte Umhertreibende von
dem mittleren Vermögen eingefangen werde?
Platon: Der Staat 330
Das haben wir getan.
Von denjenigen also, die vieles Schöne wahrnehmen,
das Schöne selbst aber nicht sehen, noch auch
einem andern, der sie dazu führt, imstande sind zu
folgen, und ebenso vieles Gerechte, das Gerechte
selbst aber nicht, und so alles, – von diesen werden
wir sagen, daß sie alles meinen, aber nichts von dem,
was sie meinen, erkennen.
Notwendig, versetzte er.
Was aber andererseits von denen, die jedes an sich
betrachten und was immer auf dieselbeWeise gleichmäßig
ist? Nicht, daß sie erkennen, aber nicht meinen?
Notwendig auch dies.
Also auchWohlgefallen und Liebe, werden wir
sagen, haben diese für das, wozu Erkenntnis gehört,
jene aber nur für das, wozu Meinung gehört? Oder erinnern
wir uns nicht, daß wir von diesen gesagt
haben, sie lieben und betrachten die schönen Stimmen
und Farben und dergleichen, das Schöne selbst aber
lassen sie nicht einmal als etwas Seiendes gelten?
Wir erinnern uns.
Werden wir also wohl fehlgreifen, wenn wir sie
eher Freunde der Meinung als Freunde derWeisheit
nennen, und werden sie uns sehr zürnen, wenn wir so
sprechen?
Nein, wofern sie wenigstens mir folgen, antwortete
Platon: Der Staat 331
er; denn derWahrheit zu zürnen ist nicht statthaft.
Die also, welche überall am SeiendenWohlgefallen
haben, muß man Freunde derWeisheit (Philosophen),
nicht aber Freunde der Meinung nennen? Allerdings.
Platon: Der Staat 332
Sechstes Buch
Darauf begann ich wiederum: Was also die wahren
Weisheitsfreunde und die nicht wahren anlangt, so
wäre, mein lieber Glaukon, nach Durchführung einer
langen Untersuchung wohl endlich klar, worin das eigentliche
Wesen beider besteht.
Ja, sagte er, denn es wäre wohl dieses Ergebnis
mittels einer kurzen Untersuchung nicht leicht möglich
gewesen.
Es scheint nicht, fuhr ich fort; mich jedoch dünkt,
jenes Ergebnis würde sich in einem noch helleren
Lichte gezeigt haben, wenn über diese Frage allein
der Vortrag sich zu verbreiten gehabt hätte, und wenn
nicht so umfassend die noch übrigen durchzuführenden
Vorfragen wären behufs einer gründlichen Betrachtung
der Hauptfrage:Worin besteht der Unterschied
des gerechten Lebens von dem ungerechten?
Welches wäre denn nun, fragte er, hierauf für uns
die weitere Vorfrage?
Welche andere, erwiderte ich, als die unmittelbar
darauffolgende? Nachdem als wahreWeisheitsfreunde
(Philosophen) diejenigen sich herausgestellt haben,
die das ewig unwandelbare Sein zu erfassen vermögen,
als die nicht wahren aber die, welche im mannigfaltigen
und wandelbaren Sein herumtappen, so folgt
Platon: Der Staat 333
natürlich nun die weitere Vorfrage:Welche von beiden
Klassen soll nun Führer des Staates sein?
Durch welche Antwort hierauf würden wir nun,
fragte er, diese Frage gehörig erledigen?
Daß diejenige von beiden Klassen als Staatshüter
zu bestellen ist, von der es sich offenbar zeigen
würde, daß sie die Fähigkeit Labe, sowohl über das
Grundgesetz des Staates als auch über die gehörige
Berufspflichtenerfüllung der Staatsglieder die Obhut
zu führen.
Ja, richtig, sagte er.
Hierauf begann ich also: Das wäre aber wohl eine
ausgemachte Sache, ob ein Blinder oder ein Scharfblickender
als Hüter einen Gegenstand überhaupt bewachen
solle?
Wie könnte man daran zweifeln? meinte er.
Scheinen nun in irgend einer Beziehung sich von
Blinden diejenigen zu unterscheiden, die erstlich ohne
theoretische Erkenntnis des wahrhaftWesenhaften in
jedem Dinge sind und in ihrer Seele kein himmlisch
reines Urbild besitzen, und die sodann auch praktisch
nicht imstande sind, nach Art der Maler mit unverwandtem
Blicke auf jenes Urbild derWahrheit, mit
stets damit angestellter Vergleichung und mittels
eines möglichst fleißigen Studiums desselben auch
hienieden in der Welt derWirklichkeit die Normen
des Schönen, Rechten und Guten zu schaffen, wenn
Platon: Der Staat 334
sie erst noch geschaffen werden müssen, und die bereits
geschaffenen durch ihre Obhut unversehrt zu erhalten?
Nein, bei Zeus, sagte er, um kein Haar Unterschied!
Werden wir also lieber diese Blinden als Staatshüter
anstellen, oder die, die erstlich die Erkenntnis vom
Wesen jedes Dinges haben, dann aber auch an Erfahrung
vor jenen Blinden nicht zurückbleiben und sonst
auch in keinem Stücke männlicher Tüchtigkeit zurückstehen?
Es wäre ja widersinnig, sagte er, andre vorzuziehen,
wenn sie denn in den übrigen Beziehungen nicht
zurückblieben; denn eben das, worin sie ihren Vorzug
haben, wäre ja doch die Hauptsache.
Nicht wahr, wir hätten also nur die Frage zu erörtern,
auf welcheWeise sie gerade imstande wären, sowohl
die Vorzüge jener theoretischen Erkenntnis wie
die der praktischen Erfahrung zu bekommen?
Ja, freilich.
Sonach ist notwendig, was wir uns schon am Anfang
dieser Betrachtung als Aufgabe stellten, nämlich
zuerst uns über ihren eigentlichen Charakter zu unterrichten.
Und wenn wir uns hierüber gehörig verständigt
haben, werden wir uns, glaube ich, auch darüber
verständigen, daß sie in derselben Person die zwei
eben genannten verschiedenen Eigenschaften
Platon: Der Staat 335
(theoretische und praktische Tüchtigkeit) verbinden
können, und daß somit keine anderen als diese die
Führer des Staates sein dürfen.
Und wie können wie uns hierüber verständigen?
Nun denn, in betreff der wahren wissenschaftlichen
Charaktere müssen wir doch bereits über diese erste
Eigenschaft einverstanden sein, daß sie immer Lust
und Liebe haben müssen zu solchem Lerngegenstande,
der ihnen den Schleier zu lüften vermag von
jenem Sein, das ewig ist und keiner Veränderung unterworfen
ist durch Entstehen und Vergehen?
Ja, darüber sind wir bereits einig.
Und doch wohl auch darüber, fuhr ich fort, daß sie
Lust und Liebe haben zu allen möglichen Zweigen
jenes Seins, daß sie weder einen kleinen noch einen
größeren, weder einen mehr oder minder geachteten
Teil davon mitWissen undWillen unbeachtet lassen,
ganz wie wir es vorhin an den Beispielen der Ehrund
Geschlechtsliebe gezeigt haben?
Richtig bemerkt, antwortete er.
Hiernach bedenke weiter, ob es nicht unbedingt
notwendig ist, daß nebst jener auch im Besitze dieser
zweiten Haupteigenschaft von Geburt aus sein müssen
diejenigen, die dereinst solche Männer sein sollen,
wie wir sie vorhin bezeichneten.
Und worin bestände denn diese zweite Haupteigenschaft?
Platon: Der Staat 336
Nicht zu täuschen und wissentlich auch die Täuschung
sich nicht beikommen zu lassen, sondern sie
zu hassen, dagegenWahrheit zu lieben.
Wahrscheinlich ja, sagte er.
Nicht nur, mein Lieber, wahrscheinlich, sondern
auch unbedingt notwendig ist’s, daß der durch angeborenen
Trieb in jemand Verliebte die ganze Blutsund
Hausverwandtschaft seines Lieblings liebt.
Ja, richtig, sagte er.
Würdest du nun etwas finden können, was der
Weisheit verwandter wäre als dieWahrheit?
Unmöglich, sagte er.
Ist es also möglich, daß ein und derselbe Charakter
ein Freund derWeisheit und ein Freund der Täuschung
ist?
Auf gar keineWeise.
Der wahreWißbegierige muß also nach jeder
Wahrheit gleich von Kindheit an das möglichst größte
Verlangen tragen.
Ganz gewiß.
Ferner: von jedemMenschen, bei dem die Begierden
und Bestrebungen sich mit Gewalt auf einen einzigen
Gegenstand hinwerfen, wissen wir wohl, daß
sie in den übrigen Beziehungen bei ihm schwächer
sind, wie etwa bei einem durch Seitenkanäle abgeleiteten
Strome.
Freilich.
Platon: Der Staat 337
Bei demMenschen, bei dem der Strom seiner Begehrlichkeit
sich in den Studien und überhaupt im Bereiche
desWissens entladet, werden sie demnach
wohl ihren Hauptzug auf das reine Seelenvergnügen
haben, in bezug auf die sinnlichen Vergnügen aber
versiechen, wenn er kein heuchelnder, sondern ein
wahrer Freund derWeisheit (Philosoph) sein will.
Ganz notwendig.
Die dritte Eigenschaft eines solchen ist also denn
besonnene Mäßigung und Abwesenheit aller Gewinnsucht;
denn die Triebfedern, deretwegen man mit so
großem Kraftaufwand nach Geld und Gut strebt, dürfen
bei keinem in derWelt weniger die Tätigkeit bestimmen
als bei einem solchen.
So ist’s.
Viertens muß man auch auf folgende Eigenschaft
sehen, wenn du den angeborenen Charakter eines
wahren Freundes derWeisheit und den des falschen
unterscheiden willst…
Auf welche?
Daß dir in ihm nicht niederträchtige Gemeinheit
stecke! Denn im größtenWiderspruch steht gemeine
Kleingeisterei mit einer Seele, die Natur und Geist in
ihrer Allgemeinheit und Gesamtheit stets zu erfassen
streben soll.
Ja, sehr wahr!
Dem Geiste, der die Naturgabe einer großartigen
Platon: Der Staat 338
Denkart und die eines Blickes in die gesamte Zeit und
in das gesamte Sein hat, wird dem wohl nun das
menschliche Leben als etwas Großes vorkommen
können?
Unmöglich, sagte er.
Also auch den Tod wird ein solcher nicht für etwas
Schreckliches halten?
Nein, nicht im geringsten.
Eine von Geburt feige und niederträchtige Seele
also kann demnach mit wahrerWissenschaft (Philosophie)
offenbar nichts zu schaffen haben.
So meine ich auch.
Weiter! Wenn einer nun hübsch mäßig, nicht habsüchtig,
nicht niederträchtig, keinWindbeutel, kein
Feigling ist, – könnte der wohl je unverträglich oder
ungerecht im Verkehr werden?
Nein.
Bei Beobachtung einer Seele, ob sie eine wahre
Freundin derWeisheit sei oder nicht, mußt du natürlich
also fünftens auch auf diese Eigenschaft von ihrer
Jugend an sehen, ob sie gerecht und human, oder ob
sie unverträglich und roh ist.
Ja, darauf jedenfalls.
Gewiß wirst du auch die sechste Eigenschaft nicht
außer acht lassen wollen?
Und was ist das für eine?
Ob er Gelehrigkeit oder Ungelehrigkeit hat; oder
Platon: Der Staat 339
erwartest du, daß einer etwas ordentlich lieben werde,
bei dessen Verrichtung er mit Schmerzen arbeitet und
mit gar geringen Fortschritten?
Kann wohl nicht sein.
Jetzt von der siebenten Eigenschaft!Wenn er von
dem, was er gelernt hat, nichts behalten könnte, weil
er voll von Vergeßlichkeit wäre, muß da sein Kopf
vomWissen nicht leer bleiben?
Jedenfalls.
Bei nutzlosen Anstrengungen wird er natürlich
wohl in den Fall kommen müssen, daß er sich sowohl
wie auch eine solche Beschäftigung haßt?
Allerdings.
Eine vergeßliche Seele also dürfen wir niemals
unter die Jünger der wahrenWissenschaft aufnehmen,
sondern wir müssen verlangen, daß sie ein gutes Gedächtnis
haben.
Ja, das jedenfalls.
Achtens dürfen wir wohl den Satz aufstellen: Die
Eigenschaft einer den Künsten und Musen abgeneigten
und alles Maßes ermangelnden Natur hat auch nur
zur Maßlosigkeit ihren Zug.
Freilich.
Wahrheit aber hältst du für verwandt mit Maßlosigkeit
oder mit Maßhaltigkeit?
Mit Maßhaltigkeit.
Einen angeborenen inneren Sinn für Maß und
Platon: Der Staat 340
schöne Form müssen wir daher neben den anderen Eigenschaften
als achte verlangen; diesem Sinne wird
dann der angeborene Trieb denWeg zur Schauung
desWesenhaften eines jeden Dinges leicht machen.
Allerdings.
Und was ist nun der Schluß aus allem dem? Scheinen
wir dir nicht hier lauter Eigenschaften aufgezählt
zu haben, die alle einzeln notwendig für eine Seele
sind, die das ideelle Wesenhafte gehörig und vollständig
erfassen soll, und folgt nicht eine jede dieser Eigenschaften
aus der anderen?
Jawohl, notwendig, sagte er.
Wirst du nun in irgend einerWeise ein Studium tadelnswert
finden, das einer gehörig zu betreiben niemals
imstande sein wird, wenn er nicht angeboren hat
ein gutes Gedächtnis, Gelehrigkeit, eine hohe edle
Denkart, Sinn für schöne Formen, Neigung und Verwandtschaft
zuWahrheit, zu Gerechtigkeit, zu wahrer
Männlichkeit, zu besonnener Mäßigung?
Nicht einmal der Tadel selbst, sagte er, könnte es
tadeln.
Und so von Geburt aus begabten Männern, fuhr ich
fort, wenn sie überdies sowohl an Bildung wie an
Alter die höchste Reife erreicht haben, würdest du
diesen nicht einzig und allein unseren Staat anvertrauen?
Da fiel Adeimantos insWort: O Sokrates, gegen
Platon: Der Staat 341
diese vorzüglichen Eigenschaften möchte wohl niemand
imstande sein einenWiderspruch zu erheben;
dagegen aber ist hier eine andere Einrede am Ort.
Denn die Zuhörer deiner Beweisführungen, wie du sie
eben da lieferst, machen allemal diese ärgerliche Erfahrung:
Aus Unerfahrenheit in der Kunst des Fragens
und Antwortens meinen sie von deiner begrifflichen
Schlußkette bei jeder Frage nur um einen ganz kleinen
Schritt von ihrer Ansicht abgeleitet zu werden; wenn
aber die kleinen Schritte am Ende der Erörterungen
summiert werden, so erscheint der Irrgang ein großer
und mit den ersten Sätzen imWiderspruch. Und gerade
wie die im Brettspiel Ungeübten von den dann Geschickten
endlich eingeschlossen werden und nicht
mehr zu ziehen wissen, so glauben auch jene sich eingeschlossen
und wissen gleicherweise bei dieser anderen
Art von Brettspiel, aber nicht mit Steinen, sondern
mit Begriffen, nichts mehr vorzubringen, obgleich sie
der Ansicht bleiben, daß die eigentlicheWahrheit
nichtsdestoweniger auf der Seite ihrer ursprünglichen
Meinung stehe. Diese Bemerkung mache ich aber zunächst
im Hinblick auf den vorliegenden Fall. Denn
jetzt müßte dir einer freilich eingestehen, theoretisch
könne er gegen jeden einzelnen Fragesatz von dir
nichts einwenden; in der Praxis aber finde er folgende
Bemerkung bestätigt: Alle, die bei ihrer Verlegung
aufWissenschaft (Philosophie) sie nicht behufs einer
Platon: Der Staat 342
gewissen allgemeinen Bildung treiben und dann noch
in ihrer Jugend sie verlassen, sondern etwas länger
dabei verweilen, sind meistenteils ganz überspannte,
um nicht zu sagen ganz verdorbene Menschen; dagegen
diejenigen, die es darin zum Ruhme der größten
Tüchtigkeit bringen, tragen doch von dem Studium,
das du so erhebst, wenigstens den Nachteil davon,
daß sie dadurch für die Staaten unbrauchbar werden.
Als ich das gehört hatte, nahm ich dasWort:
Glaubst du denn, daß die Leute, die solche Äußerungen
tun, Unwahres reden?
Das weiß ich nicht, versetzte er, aber deine Ansicht
hierüber möchte ich gerne hören.
Da kannst du denn vernehmen, daß sie meines Dafürhaltens
dieWahrheit zu reden scheinen.
Und wie soll dann, fragte er hierauf, damit die Behauptung
sich zusammenreimen, daß die Staaten nicht
eher ihres Unheils ledig werden, bis die vorhin beschriebenen
echten Jünger derWissenschaft (Philosophie)
darin die Herrschenden sind, sie, von denen wir
zugestehen, daß sie für sie unbrauchbar sind?
Du stellst mir hier eine Frage, erwiderte ich, deren
Beantwortung nur durch ein Bild (ein Gleichnis) sich
geben läßt.
Ja, sagte er, du bist, glaube ich, gar nicht der
Mann, der in Bildern zu reden gewohnt ist!
So? antwortete ich. Du beliebst auch noch zu
Platon: Der Staat 343
scherzen, nachdem du mich in die Verlegenheit eines
so schwierig zu führenden Beweises gebracht hast?
Vernimm aber nun jenes Bild (Gleichnis), damit du
noch besser einsiehst, wie zähe ich an der Sprache in
Bildern hänge: Denn das Schicksal, das die tüchtigsten
Jünger derWissenschaft in bezug auf die Verwaltung
der Staaten erfahren, ist so hart, daß es sonst
gar kein einzelnes Wesen in der Welt gibt, dem ein
ähnliches begegnet; man muß daher bei der Erläuterung
und bei der Verteidigung derselben durch ein
Bild dieses von einer Mehrheit hernehmen, wie z.B.
die Maler tun, wenn sie Bockshirsche und dergleichen
Zusammensetzungen malen. Denke dir nämlich einmal,
über mehrere Schiffe oder auch nur über eines
gebe es einen Schiffsherrn von folgenden Eigenschaften:
an Größe und Stärke des Körpers zwar über alle,
die sich im Schiffe befinden, erhaben; aber harthörig,
ebenso mit kurzem Gesichte und auch mit kurzem
Verstande über das Schiffswesen. Denke dir dabei die
Schiffsmannschaft im Aufruhr gegen einander wegen
Führung des Steuerruders, indem ein jeder davon
wähnt, daß er es führen müsse, ohne diese Kunst gelernt
zu haben, ohne seinen Lehrmeister angeben zu
können noch auch die Zeit, in der er sie gelernt habe.
Denke dazu, daß die Mannschaft behaupte, jene
Kunst sei gar kein Gegenstand des Lernens, ja sie sei
gar bereit, den, der sie als einen Gegenstand des
Platon: Der Staat 344
Lernens hinstelle, zusammenzuhauen; daß ferner die
Mannschaft die Person des Schiffsherrn beständig mit
Bitten und allen möglichen Bewegungsmitteln umlagert,
er möge ihnen doch das Ruder überlassen; daß
sie, wenn sie ihn weniger mitWorten bewegen als
eine andere Partei, die Gegner erstlich entweder ermorden
oder aus dem Schiffe hinauswerfen, zweitens
dem guten Schiffsherrn durch einen Schlaftrunk oder
durch einen Rausch oder durch sonst ein Mittelchen
die Hände binden und dann die Herrschaft über das
Schiff ergreifen, mit allem darin vorhandenen Vorrate
schalten und walten, dabei unter Zechen und Schmausen
dahinsegeln, wie es bei solchen Leuten natürlich
zu erwarten steht; daß sie überdies den Kerl, der bei
ihrer Absicht auf die Herrschaft, sei es durch Überlistung
oder Überwältigung des Schiffsherrn, hilfreiche
Hand anzulegen versteht, unter großen Lobsprüchen
einen Meister im Schiffswesen sowie in der Ruderführung
und einen Mann nennen, der die Schiffahrt aus
dem Grunde verstehe, dagegen den, der sich dazu
nicht versteht, als einen unbrauchbaren Menschentadeln:
daß sie dabei nicht einmal so viel vom echten
Steuermann wissen, daß er notwendig auf die Jahresund
Tageszeit, auf Himmel und Gestirne, aufWinde
und alles sonst in seine Kunst Einschlagende acht
haben muß, wenn er wahrhaft Herr über sein Schiff
sein will, – und daß sie sogar imWahne stehen, um
Platon: Der Staat 345
mit oder ohne Zustimmung einiger Leute das Ruder
zu führen, darin könne man unmöglich eine Geschicklichkeit
und eine Übung gewinnen zugleich mit der
Aneignung der Steuermanns-Wissenschaft.Wenn nun
dergleichen in den Schiffen vorgeht, wird da nicht der
wahrhaft für das Ruder Geeignete bei den Seglern in
den also bestellten Schiffen ein luftiger Spekulant, ein
spitzfindiger Grübler, ein für sie unbrauchbarer
Mensch heißen?
Ja, sicherlich, sagte er.
Darauf fuhr ich fort: Ich glaube nun nicht, daß du
die nähere Ausmalung dieses Bildes zu sehen
brauchst, wie es nämlich ganz auf die Staaten paßt in
bezug auf ihr Verhalten zu den echten Jüngern der
Wissenschaft; du begreifst ja, was ich damit sagen
will?
Jawohl, sagte er.
Wem die Nichtachtung der Wissenschaftsfreunde
(Philosophen) in den Staaten auffällt, dem bringe
denn nun zuvörderst dieses Bild bei und suche ihn zu
überzeugen, daß es noch viel auffallender wäre, wenn
sie geachtet würden!
Ja, sagte er, das will ich ihm sagen.
Dazu auch, daß er in dem Satze, die Tüchtigsten in
der gelehrten Welt seien für das Volk unbrauchbar,
sonach allerdings eineWahrheit sage; nur befiehl ihm
an, von dieser Unbrauchbarkeit die Schuld denen zu
Platon: Der Staat 346
geben, die sie nicht gebrauchen, aber nicht jenen tüchtigen
Philosophen! Denn es hat ja doch keine Art, daß
ein Steuermann die Schiffsleute anfleht, sich von ihm
leiten zu lassen, und ebenso auch nicht, daß die Weisen
an die Türen der Großen kommen, sondern der
berühmte Urheber diesesWitzwortes hat sich einer
Unwahrheit schuldig gemacht; die richtige Art ist
vielmehr die, daß der Kranke, mag es nun ein Großer
oder ein Geringer sein, den Ärzten in das Haus kommen
muß, und daß jeder Regierungsbedürftige zu den
Türen des Regierungsverständigen komme, nicht aber
daß das eigentliche Herrschertalent, wenn es inWahrheit
etwas taugt, die der Beherrschung Bedürftigen
bitte, sich von ihm beherrschen zu lassen.Wenn also
der, dem die Verachtung der Gelehrten von Seiten der
Politiker auffällt, die jetzigen Staatslenker mit den
eben erwähnten Schiffsleuten und die von diesen geschimpften
unbrauchbaren oder metaphysischen
Grübler mit den echten Steuermännern vergleicht, so
wird er den Nagel auf den Kopf treffen.
Ganz richtig, sagte er.
Schon aus diesen Gründen und unter diesen Umständen
ist es also nicht leicht, daß das edelste Streben
von Seiten derer, die gerade das entgegengesetzte
Streben haben, Achtung gewinnen kann; aber die bei
weitem größte und gewaltigste Verleumdung widerfährt
wissenschaftlichem Studium durch jene, die sich
Platon: Der Staat 347
fürWissenschaftler (Philosophen) ausgeben, und von
diesen läßt du den Ankläger derWissenschaft sagen,
die meisten derer, die sich darauf legen, seien ganz
schlechte Menschen, die Tüchtigsten davon aber unbrauchbar,
wobei ich dir beifällig bemerkte, daß du
eineWahrheit aussprächest: nicht wahr?
Ja.
Nicht wahr, von der angeblichen Unbrauchbarkeit
der tüchtigen Jünger derWissenschaft hätten wir die
Ursache bereits dargetan?
Jawohl!
Beliebt es dir denn, hierauf nun auch die Notwendigkeit
nachzuweisen, daß die meisten der angeblichen
Philosophen verdorben sein müssen, und, falls
wir es vermögen, den Beweis zu versuchen, daß auch
hieran die Philosophie nicht schuld sei?
Ja, allerdings.
So laß uns denn hören und diese Nachweisung mit
der Erinnerung an unsere Unterhaltung von jenem
Punkte an beginnen, wo wir die Anlage darstellten,
mit der einer geboren werden müsse, wenn er ein
Mann vom höchsten sittlichen Adel werden will. Vor
allem aber war seine Führerin, wenn du es noch im
Sinne hast, die Wahrheit, der er in jedem Fall und auf
jedeWeise folgen müßte, widrigenfalls wäre er ein
Windbeutel und könne an echterWissenschaft keineswegs
teil haben.
Platon: Der Staat 348
Ja, so hieß es.
Nicht wahr, dieser eine und erste Satz steht schon
mit den heutigen Ansichten darüber schnurstracks im
Widerspruch?
Jawohl, sagte er.
Werden wir uns aber nicht mit gutem Fug hier auf
unsere Behauptung berufen, daß der wahrhafte wissenschaftliche
Forscher nur der sein könne, der von
Natur für das Streben nach dem reinen Sein des Begriffs
seine Richtung hat, daß er nicht verbleiben
könne bei den mannigfaltigen Einzeldingen, denen
nur die subjektive Meinung ein Sein zuschreibt: sondern
daß er vielmehr weiter gehen müsse und sich
nicht blenden noch in seiner Liebe zurWahrheit kalt
machen lassen dürfe, bis er du ursprüngliche reine
Wesen von jedem Dinge erfaßt hat, und zwar mit
demjenigen Seelenvermögen, mit dem es zu erfassen
einem so Begabten zukommt, d.h. mit demjenigen,
das mit dem reinen Sein verwandt ist: und hat er mit
diesem Seelenvermögen dem wahren Sein sich einmal
genähert und sich mit ihm begattet und dadurch objektive
Vernunft und reine Wahrheit erzeugt, so hat er
dann erst die wahre Erkenntnis und lebt erst wahrhaft
und nimmt in diesem wahren Leben immer mehr zu
und bekommt so endlich von seinem Geburtsschmerze
Ruhe, eher aber nicht.
Ja, sagte er, ganz füglich.
Platon: Der Staat 349
Und was folgt nun weiter aus jener Grundtugend
derWahrheit? Wird der eben beschriebene Liebhaber
der Wahrheit die geringste Neigung zu Täuschung
und Lüge haben oder vielmehr ganz im Gegenteil
diese verabscheuen?
Verabscheuen, antwortete er.
Natürlich, wenn dieWahrheit seine Führerin ist, so
können wir ihr, glaube ich, keine Reihe von Untugenden
folgen lassen.
Unmöglich.
Im Gegenteil, einen verständigen und gerechten
Charakter werden wir derWahrheit als Begleiter
geben müssen, und mit diesem hängt dann ferner die
besonnene Mäßigung aller Begierden zusammen.
Richtig, bemerkte er.
Und damit natürlich auch das übrige Gefolge eines
nachWahrheit dürstenden Charakters; doch wozu
brauchen wir sie noch einmal von vorn wiederholtenmals
aufziehen zu lassen? Du erinnerst dich ja noch
wohl, daß nach dem Ergebnis unserer Untersuchung
von den eben erwähnten Tugenden das natürliche Gefolge
war: echte Männlichkeit, großartige Denkart,
Gelehrigkeit, gutes Gedächtnis. Und hierauf machtest
du den Einwurf: Ein jeder müsse zwar mit meiner Ansicht
theoretisch notwendig einverstanden sein; sähe
man aber von der Theorie ab auf die inWirklichkeit
vorkommenden Personen, die der Gegenstand jener
Platon: Der Staat 350
Theorie sind, so könne er nicht umhin zu behaupten,
manche davon seien sichtlich unbrauchbar, die meisten
aber von Grund aus sittlich verdorben. Und auf
diesen Einwurf suchten wir dann die Ursache dieses
üblen Rufes, und wir standen bereits bei der Frage,
warum denn die Mehrzahl sittlich verdorben sei, und
haben nun deswegen die erforderlichen angeborenen
Eigenschaften der wahrenWissenschaftsfreunde noch
einmal wiederholt und sie in ihrer notwendigen Aufeinanderfolge
definiert.
Ja, es ist so, sagte er.
Hinsichtlich dieser für echteWissenschaft erforderlichen
Anlage müssen wir nun erstlich die verschiedenen
Zerstörungsarten in Betracht ziehen, durch die sie
bei so vielen zugrunde geht, während nur ein kleiner
Teil sich durch die Flucht rettet, – die man dann bekanntlich
wenn auch nicht nichtsnutz, doch unbrauchbar
nennt: zweitens hernach müssen wir auch in Betrachtung
ziehen die Seelenbeschaffenheiten derer, die
die erwähnte echte Anlage zur Wissenschaft nur äußerlich
nachzuäffen suchen und ohne inneren Beruf
sich zum Studium derselben hindrängen, und wie sie
dann, weil sie zu einem für ihre Kräfte nicht geeigneten
und deren Maß übersteigenden Geschäft sich
drängen, auf mancherlei Weise sich Blößen geben
und dadurch auf alle Art und bei allerWelt echt wissenschaftlichem
Streben den üblen Rufanhängen, wie
Platon: Der Staat 351
du ihn da beschreibst.
Und welches sind denn nun, fragte er, die Zerstörungsarten,
die du da meinst?
Ich will sie dir, antwortete ich, wenn ich imstande
bin, darzustellen versuchen. Vor allem nun wird uns,
denke ich, alleWelt zugestehen, daß eine Naturanlage
der oben beschriebenen Art nebst allen den hohen Eigenschaften,
die wir eben von einem verlangten, wenn
er vollkommen ein Jünger derWissenschaft werden
wolle, selten und nur in geringer Zahl unter Menschen
vorkommen wird, – oder glaubst du nicht?
Ja, gewiß.
Für diese nun zugestandenermaßen ursprünglich
wenigen Köpfe siehe nun, wie viele und große Gefahren
gibt es!
Welche denn?
Was erstens am allerwunderbarsten lautet, ist, daß
jeder einzelne der Vorzüge, die wir an jener angeborenen
Anlage gerühmt haben, die ihn besitzende Seele
verderben und von echterWissenschaftlichkeit abziehen
kann, nämlich hohe Männlichkeit, Besonnenheit
und alle aufgezählten Tugenden.
Ja, meinte er, auffallend lautet das!
Ein zweites Verderben und Abziehen liegt in den
sogenannten Gütern, als da sind: Schönheit, Reichtum,
Körperstärke, eine im Staate einflußreiche Verwandtschaft
und überhaupt alle Herrlichkeiten, die
Platon: Der Staat 352
mit den genannten Dingen verschwistert sind; da hast
du im allgemeinen, was ich in diesen zwei Sätzen
meine.
Ja, sagte er, ich möchte indessen gern auch eine
speziellere Ausführung dieser von dir ausgesprochenen
Sätze hören.
So erfasse denn, erwiderte ich, jene Erscheinung in
ihrer Gesamtheit, und es wird dir sonnenklar werden:
jene vorhin hinsichtlich der angeborenen Anlagen angedeuteten
Gefahren werden dir dann nicht mehr auffallend
vorkommen.
Wie soll ich denn, fragte er, das machen?
Von jedem Samen und Geschöpf, sei es aus dem
Pflanzen oder Tierreiche, wissen wir, daß es, wenn es
nicht die ihm zukommende Nahrung,Witterung und
Örtlichkeit erhält, desto mehr hinter den ihm eigentümlichen
Vollkommenheiten zurückbleibt, je edler es
ist; denn auf das Edle wirkt das Schlechte zerstörender
als auf das Nichtedle.
Allerdings.
Es hat somit allgemein seine Richtigkeit, denke
ich, daß ein Geschöpf, je edler es ist, bei einer für es
ganz unpassenden Nahrung desto schlechter wegkomme,
als das gemeine.
Ja.
Nicht wahr, mein lieber Adeimantos, fuhr ich fort,
wir dürfen demnach auch aus dieser allgemeinen
Platon: Der Staat 353
Wahrheit die Behauptung aufstellen, daß auch die
Edelsten allemal ganz besonders schlecht werden,
wenn sie eine schlechte Erziehung bekommen? Oder
meinst du, die großen Verbrechen und die ausgemachteste
Schlechtigkeit kämen von einer gemeinen und
nicht viel mehr aus einer der Anlage nach herrlichen,
aber durch die erhaltene geistige Nahrung verdorbenen
Naturanlage, da ja eine schwache Natur zu
Großem weder im Guten noch im Schlechten Veranlassung
sein kann?
Nein, sagte er, von keiner gemeinen kommen sie,
sondern von einer solchen Natur.
Die vorhin von uns verlangte Naturanlage für den
künftigen echten Freund derWissenschaft wird, denke
ich, wenn sie den gehörigen Unterricht erhält, in jeder
Tugend notwendig zur Reife gelangen; dagegen wird
sie, wenn das Samenkorn ihres Talentes in dem ihr
gehörigen Unterrichtsboden nicht gepflegt und genährt
wird, zum Gegenteil ausschlagen, falls nicht ein
Gott ihr zu Hilfe kommen sollte. Oder bist vielleicht
auch du der Meinung wie die Menge, daß das Verderben
dieser oder jener jungen Leute von Sophisten ausgehe,
daß aber diejenigen Sophisten, die hier und da
eigene Lehrstühle haben, die Urheber davon seien,
und daß in diesen die Haupts Ursache jenes Verderbens
liege; Im Gegenteil, eben die Leute, die diese
Klagen führen, sind selbst die größten Sophisten und
Platon: Der Staat 354
verstehen es weit meisterhafter, die Menschen dazu zu
bilden und abzurichten, wozu sie wollen, und zwar
nicht nur junge, sondern auch alte, nicht nur männlichen,
sondern auch weiblichen Geschlechts!
Wann denn? fragte er.
Wenn sie, erwiderte ich, zu großen Haufen beisammen
in Volksversammlungen oder in Theatern oder in
Kriegslagern oder überhaupt sonst in einer öffentlichen
Volkszusammenkunft sitzen und da jedesmal
über diese oder jene Reden und Handlungen teils
Tadel, teils Lob aussprechen und jenen sowohl durch
übermäßiges Auszischen wie diesen durch übermäßiges
Zuklatschen übertreiben, während noch dazu die
Felswände und der Platz, an dem sie sich eben befinden,
durch denWiderhall den Lärm des Tadels und
Lobes noch verdoppeln.Welchen Herzenszug, wie
man zu sagen pflegt,muß da nun ein jungerMensch
haben? Und welche Schulbildung könnte hiergegen
ein Damm sein, die nicht von dem Schwalle solcher
Schmäh- und Lobreden weggeschwemmt würde, und
die nicht in diesem Strudel dem Strome folgte, wohin
dieser eben treibt? Und wird wohl er nicht dieselben
Dinge schön und häßlich nennen, nicht dieselben
Dinge treiben wie jene Menge, nicht denselben Charakter
annehmen?
Ja, antwortete er, das folgt mit der größten Notwendigkeit,
lieber Sokrates.
Platon: Der Staat 355
Und doch haben wir, warf ich ein, die größte Notwendigkeit
noch nicht vorgebracht!
Welche denn? fragte er.
Die, welche jene Staats-Schulmeister und Sophisten
durch Tätigkeit hinzufügen, wenn sie mitWorten
nicht überreden können. Oder weißt du nicht, daß sie
den, der ihnen nicht folgt, mit Verlust der bürgerlichen
Ehren, mit Geld- und Todesstrafen züchtigen?
Ja, meinte er, ich kenne sie gar wohl!
Welcher andere Sophist oder welche häusliche Belehrungen
können nun wohl jenen das Gegengewicht
halten, um darüber obzusiegen?
Ich glaube, keiner, antwortete er.
Freilich nicht, fuhr ich fort, und es nur zu wagen
verriete schon einen großen Unverstand. Denn es geschieht
nicht, geschah nicht und wird auch wohl nicht
geschehen, daß es eine andere Denkweise in Absicht
auf Tugend gebe als die, welche durch die Anleitung
jener Staats-Schulmeister eingepflanzt wird, versteht
sich, nach dem gewöhnlichen Gange menschlicherweise,
mein Lieber; die außerordentliche Fügung
eines Gottesfingers, wie man zu sagen pflegt, nehmen
wir bei unserer Behauptung freilich aus; denn wohlgemerkt,
wenn du behauptest, das, was sich unter solchen
Verfassungen noch rette und zur gehörigen Vollkommenheit
gelange, habe die besondere Fügung
eines Gottes gerettet, so wäre diese Äußerung gar
Platon: Der Staat 356
nicht so ungereimt.
Freilich, sagte er, und ich habe eigentlich auch gar
keine andere Meinung.
Nun denn, sprach ich, so mußt du ferner nebst dem
auch noch folgende Meinung haben…
Was für eine?
Daß ein jeder der um Geld lehrenden privaten Lehrer,
die jene »Sophisten« nennen und für Gegner ihres
Treibens halten, nichts anderes in seinem Unterrichte
verbreitet als eben nur jene Grundsätze der politischen
Volksmenge, über die sie in den Versammlungen
salbadert, und dies dann Staatsweisheit nennt.
Dies gemahnt einen dann gerade so, wie wenn jemand
bei Haltung einer ungeheuren und starken Bestie ihre
Leidenschaften und Begierden in der Hinsicht kennen
lernte, wie man ihr näher treten und wie man sie antasten
dürfe, wann sie am wildesten oder am zahmsten
sei und aus welchen Gründen, sowie unter welchen
Bedingungen sie gewöhnlich Töne hören lasse, und
aufweiche Töne eines anderen sie besänftigt und aufgebracht
werde; und wenn er alles dies dann durch
Beobachtung und Zeitaufwand erlernt hätte, es dann
Wissenschaft hieße, in eine wissenschaftliche Form
brächte und hinsichtlich dieser Lehrsätze sowohl wie
jener Neigungen ohne gründliche Kenntnisse der eigentlichen
Begriffe von Schön oder Häßlich, von Gut
oder Schlecht, von Gerecht oder Ungerecht doch alle
Platon: Der Staat 357
diese Ausdrücke von den Sinnesarten des ungeheuren
Tieres brauchte, indem er das gut hieße, was diesem
Vergnügen machte, und das schlecht, worüber es aufgebracht
würde, dabei aber sonst gar keine andere innere
vernünftige Begründung geben könnte, als daß er
die unbedingten Naturbedürfnisse gerecht und schön
hieße; aber von dem großen Unterschiede zwischen
dem eigentlichen Naturtriebe und dem wahrhaft Guten
weder eine klare Ansicht bekommen hätte noch ihn
einem anderen zeigen könnte.Würde bei solchem
Verfahren, bei Zeus, einer dir nicht als ein entsetzlicher
Lehrer vorkommen?
Ja, mir wenigstens, sagte er.
Wäre aber wohl nun ein Unterschied zwischen diesem
und jenem, der es fürWeisheit hält, der vielköpfigen
und bunten Volksmenge bei ihren Zusammenkünften
ihre Leidenschaft und ihre Gelüste abgemerkt
zu haben, sei dies nun in der Malerei oder in der
Musik oder in der Staatsweisheit, mit welcher letzteren
es natürlich hier dieselbe Bewandtnis hat wie mit
jenen Künsten? Denn eine ausgemachte Sache ist das:
wenn jemand sich mit jener Menge abgibt und vor ihr
entweder mit einer Dichtung oder sonst mit einem
Kunstwerke oder in einem Staatsdienste auftritt und
außer den ihn ohnehin schon beengenden Natureinflüssen
sich auch noch dem Einflusse des Pöbelurteils
unterwirft, so gebietet ihm dann die sprichwörtlich
Platon: Der Staat 358
gewordene Notwendigkeit des Diomedes, nur solche
Leistungen zu liefern, die den Beifall der Menge erhalten
können; aber daß diese Leistungen sich auf das
ewig Gute und Schöne gründeten, hast du darüber
schon einen eine andere Rechtfertigung geben hören,
die nicht lächerlich gewesen wäre?
Ja, ich glaube es, versetzte er, und ich werde auch
keine hören, die es nicht wäre.
Nachdem du nun alle diese Ursachen vom Verderben
wahrhaft wissenschaftlicher Anlagen beherzigt
hast, so bedenke auch noch diese Ursache unter Erinnerung
an das, was schon oben angedeutet wurde:
Das Schöne an sich und nicht die sichtbare Mannigfaltigkeit
von Schönheiten, oder überhaupt jedes Ding
an sich und nicht die sichtbare Mannigfaltigkeit von
Dingen, – kann möglicherweise das der große Haufen
je annehmen oder daran glauben?
Durchaus nicht, sagte er.
Wahrhaft wissenschaftlichen Sinn kann also, sagte
ich, die Masse unmöglich haben.
Unmöglich.
Die wahren Freunde derWissenschaft müssen
demnach auch notwendig von ihnen getadelt werden.
Notwendig.
Und dann natürlich auch von den gemeinen Pfuschern
in der Wissenschaft, die sich mit dem Pöbel
einlassen und ihm zu gefallen suchen?
Platon: Der Staat 359
Versteht sich.
Schon bei diesen hier erwähnten Gefahren siehst du
irgend eine Möglichkeit, daß eine wahrhaft wissenschaftliche
Natur sich retten, bei ihrem Berufsgeschäfte
standhaft verbleiben und zum Ziele kommen
könne? Betrachte die Sache aber noch weiter aus dem
zweiten der oben angedeuteten Gesichtspunkte:Wir
waren doch bekanntlich einverstanden, daß die Eigentümlichkeit
der erwähnten echt wissenschaftlichen
Natur in den Anlagen zu Gelehrigkeit, einem guten
Gedächtnisse, Männlichkeit, Hochherzigkeit bestehe.
Ja.
Wird nun ein Mensch von solchen geistigen Vorzügen
nicht von Jugend auf unter allen seinen Gespielen
in allen Stücken der erste sein, besonders wenn auch
seine Körpergestalt seinem Geiste entspricht?
Ja, ohne Zweifel, sagte er.
Da werden denn, denke ich, schonWünsche gehegt
werden, ihn einst, wenn er einmal älter wäre, zu ihren
Plänen zu gebrauchen, von Verwandten sowohl wie
von Mitbürgern.
Jedenfalls.
Sie werden also auch ihm demütiglich Bitten zu
Füßen legen, tiefe Bücklinge machen und so seine
hoffentlich einflußreiche Stellung der Zukunft durch
frühzeitige Schmeicheleien schon im voraus in Beschlag
nehmen.
Platon: Der Staat 360
Ja, sagte er, so geht es gern.
Wie wird nun, fuhr ich fort, ein solcher unter solchen
Umständen sich benehmen, besonders wenn er
Bürger einer großen Stadt ist, darin die Rolle eines
reichen und vornehmenMannes spielt, dazu noch
wohlgestaltet und schlank gewachsen ist? Wird er da
nicht von einer unbegrenzten Hoffnung erfüllt werden
und die Meinung von sich haben, daß er nicht nur die
Gebiete der Hellenen, sondern auch die der Barbaren
zu regieren imstande sein werde? Wird er unter diesen
Umständen sich nicht übermütig erheben, sich in die
Brust werfen und den Kopf voll Eitelkeit und leeren
Dünkels ohne Verstand haben?
Ja, sicher, sagte er.
Wenn zu einemMenschen in diesem Zustande jemand
nun ganz friedlich hinträte und ihm dieWahrheit
sagte, daß er kein Hirn im Kopfe habe; daß er
noch einer tieferen Einsicht bedürfe, diese aber nicht
zu erwerben sei, wenn man nicht um ihren Besitz wie
ein treuer Knecht sich bemühe, – glaubst du, daß seine
von so vielen Übeln umlagerten Ohren hierauf leicht
hören würden?
Weit gefehlt, sagte er.
Wenn nun aber auch, sprach ich, einer vermöge
ganz vorzüglicher Anlagen und wegen seiner Neigung
zu wissenschaftlichen Forschungen darauf merkte, zu
Studium gelenkt und hingezogen würde: was tun da
Platon: Der Staat 361
wohl jene, die dadurch glauben, seine Dienste und
seinen freundschaftlichen Verkehr zu verlieren? Werden
sie nicht jedes mögliche Mittel aufbieten, jede
mögliche Überredung anwenden einmal in bezug auf
seine eigene Person, damit er ja nicht sich bereden
lasse, und dann auch in bezug auf jenenWahrheitsprediger,
damit er nichts ausrichte, indem sie diesem
letzteren im Privatleben Schlingen legen und ihn bei
der Staatsbehörde in gefährliche Prozesse stürzen?
Ja, ganz notwendig, sagte er.
Gibt es nun eine Möglichkeit, daß ein solcher zur
wahrenWissenschaft gelangen kann?
Durchaus nicht.
Siehst du nun, fuhr ich fort, daß wir nicht ohne
Grund die Behauptung aufstellten: gerade die einzelnen
Bestandteile der Anlage eines wissenschaftlichen
Kopfes seien gewissermaßen eine Hauptursache des
Abkommens vom Studium, wofern sie nämlich in verkehrte
Pflege geraten; die zweite Hauptursache davon
seien die sogenannten Güter: Reichtum und überhaupt
die ganze Herrlichkeit dieser Welt?
Freilich nicht ohne Grund, sondern die Behauptung
hatte ihre Richtigkeit, erwiderte er.
So groß und von der Art, mein Bester, sagte ich, ist
also denn die Gefahr und das Verderben der edelsten
und für die edelste Beschäftigung bestimmten Naturanlage,
die nach unserer Aussage ohnehin schon so
Platon: Der Staat 362
selten ist. Und aus den Individuen dieser Art gehen
nun bekanntlich für die Staaten wie für die einzelnen
Bürger die größten Übeltäter hervor, wie auch die
größtenWohltäter, wenn sie durch besonderen glücklichen
Zufall diese letztere Richtung nehmen; ein armseliger
Kopf dagegen fügt keinem etwas Großes zu,
weder einem Bürger noch einem Staate.
Sehr wahr! sagte er.
Während nun einerseits diese auf jeneWeise entarteten
Abtrünnigen der wahrenWissenschaft, deren
nächste Angehörige sie ist, eben darum, weil sie sie
sitzen und im Stiche lassen, ihrerseits kein ihren Anlagen
entsprechendes, wahres Leben führen, drängen
sich ihr, wie einer von ihren nächsten Verwandten
verlassenenWaise, andere. Unberufene auf und hängen
ihr dann dadurch solche Schmach und Schande
an, wie sie deiner Aussage nach von ihren Anklägern
vorgeworfen werden: von denen, die sich tiefer mit ihr
einließen, wäre ein Teil zu nichts nütze, der größte
Teil sogar verdiente das größte Unglück.
Ja, versetzte er, das sind die Äußerungen, die getan
werden.
Und sie werden ganz mit Recht getan, erwiderte
ich.Wenn nämlich andere Menschenkindlein sehen,
daß dieser Platz leer steht und schöne Titel undWürden
mit sich bringt, so springen, wie die Zuchthäusler
in die heiligen Freistätten entlaufen, ebenso freudig
Platon: Der Staat 363
aus ihren Alltagsberufen in das Bereich derWissenschaft
alle jene, die etwa im beschränkten Kreise ihres
ursprünglichen Handwerks die Nase etwas hoch tragen.
Denn derWissenschaft, wenngleich sie im erwähnten
schlimmen Zustande sich befindet, bleibt
doch, wenigstens im Vergleich zu den übrigen Professionen,
noch ein Ansehen übrig, das alle überstrahlt.
Danach trachten nun bekanntlich die meisten, obgleich
sie erstlich schon von Natur unvollkommene
Anlagen haben und dann auch unter dem Drucke ihrer
Berufe und Handwerke infolge der Stubenhockereien
ebenso hinsichtlich ihrer Seelen zusammengeschrumpft
und ausgemergelt sind, wie sie auch schon
am Körper die Zeichen der Verkrüppelung tragen;
oder ist das nicht eine notwendige Folge?
Ja, sicher, sagte er.
Gewähren denn nun, sprach ich, jene Leute wohl
einen anderen Anblick als etwa ein zu einem Sümmchen
Geld gekommener Gesell in einer Schmiede,
neulich erst der Sklavenkette entwischt, jetzt aber in
einem Bade rein gewischt, in ein neues Gewand gekleidet,
wie ein Bräutigam herausgeputzt und bereit,
die Tochter seines Herrn zu heiraten, weil sie verarmt
und von ihren nächsten Verwandten verlassen ist?
Kein sehr verschiedener Anblick, sagte er.
Was für Geburten müssen nun solche Leute hervorbringen?
Nicht bastardartiges und schlechtes Zeug?
Platon: Der Staat 364
Ganz notwendig.
Nun hiervon die Anwendung:Wenn Leute, die für
eine höhere Bildung gar keine Fähigkeiten haben,
ohne die gehörige Ebenbürtigkeit sich mit dieser verehelichen,
– was für Hirngeburten und Ansichten müssen
diese dann erzeugen? Nicht wohl solche, die in
Wahrheit den Namen Sophistereien verdienen, und
was gar keine Spur eines edlen Ursprungs und auch
nicht denWert eines gründlichen Nachdenkens an
sich trägt?
Ja, das allerdings, sagte er.
Es bleibt also, fuhr ich fort, mein lieber Adeimantos,
eine ganz geringe Zahl von ebenbürtigen Freiern
der wahrenWissenschaft, entweder ein von Verbannung
ereiltes, von Natur edles und wohlerzogenes
Gemüt, das aus Mangel der erwähnten Verderber bei
ihr geblieben ist, oder wenn in einer kleinen Stadt
eine große Seele geboren wird, die das Treiben um die
Staatsmaschine aus Geringschätzung übersieht;
manchmal mag einer oder der andere Kopf auch von
einem anderen Berufe, den er nicht ohne Grund für
unter seinerWürde hält, zu ihr übergehen; auch der
unserem Freunde Theages angelegte Zügel kann imstande
sein, dabei festzuhalten. Beim Theages nämlich
ist alles übrige darauf angelegt zum Abwendigwerden
von der Wissenschaft; aber die schwächliche
Gesundheit, die ihm die Teilnahme an
Platon: Der Staat 365
Staatsgeschäften verwehrt, hält ihn dabei fest. Und
was mich betrifft, so war bei mir die göttliche Stimme
meines guten Geistes in mir schuld, welcher Fall hier
jedoch nicht angeführt werden darf, denn er ist bei
keinem der Freunde derWissenschaft vor mir vorgekommen.
Und welche nun von dieser ohnehin geringen
Anzahl wohlgeraten sind und einmal gekostet
haben, wie süß und herrlich die Sache ist, und welche
andererseits die Tollheit des souveränen Pöbels sehen,
ferner sehen, daß niemand, um es geradeheraus zu
sagen, in den Staatsangelegenheiten etwas mit gesundemMenschenverstande
treibt, und daß es auch keinen
zweiten Mann gibt, mit dem man zum Schutze
der gerechten Sache mit heiler Haut ausziehen könnte,
sondern daß man wie ein unter wilde Tiere geratener
Mensch, ohne denWillen, mitzusündigen, oder ohne
die Kraft, allen UngetümenWiderstand zu leisten,
noch vor einer Dienstleistung gegen den Staat oder
seine Freunde zugrunde geht, ohne Nutzen für sich
und die übrigen, – wer, sage ich, alle diese Umstände
in vernünftiger Überlegung zusammenfaßt, wird ganz
in der Stille leben, nur seine eigenen Angelegenheiten
besorgen und – wie einer, der beim brausenden Sturme
einer Staubwolke oder eines Platzregens sich unter
Dach gestellt hat, – beim Anblicke der übrigen im
Schmutze eines zügellosen Treibens sich in der Seele
freuen, wenn er nur das Leben hienieden rein von
Platon: Der Staat 366
Ungerechtigkeit und frevelhaften Handlungen vollbringen
und von ihm mit guter Hoffnung, heiter und
guten Mutes Abschied nehmen kann.
Und gewiß, versetzte er, hat er dann nichts Geringes
erkämpft, wenn er so scheiden kann.
Und doch auch nicht das Allergrößte, sprach ich,
weil ihm nicht das Glück einer seinen Anlagen entsprechenden
Staatsverfassung zuteil ward; denn in
einer entsprechenden Staatsverfassung würde er sich
selbst noch mehr vervollkommnet und nebst dem
Heile seiner eigenen Seele auch das des Staates bewirkt
haben. – Diese Frage also, aus welchen Gründen
die wahreWissenschaft (die Philosophie) in Verruf
geraten, und zwar nicht mit Recht, scheint mir nun
hinlänglich beantwortet zu sein, wenn nicht du noch
etwas vorzubringen hast.
Nein, sagte er, ich habe über diese Frage nichts
mehr vorzubringen; aber was die jenerWissenschaft
entsprechende Staatsverfassung anlangt, welche der
heutigen verstehst du denn darunter?
Gar keine auf dieser Welt, erwiderte ich; denn das
ist ja eben meine Klage, daß es unter den heutigen gar
keine Staatseinrichtung gibt, die für die Entwicklung
eines echt philosophischen Kopfes geeignet wäre;
deshalb verwandelt und verschlimmert sich auch seine
ursprüngliche Anlage, und wie ein in ein anderes
Land verpflanztes ausländisches Gewächs endlich
Platon: Der Staat 367
unterliegt und ausartend in die Natur des Inlandes
gerne übergeht, so kann auch jene wissenschaftliche
Pflanzschule ihre angeborene Kraft nicht bewahren,
sondern schlägt in eine andere Art aus.Wenn sie aber
den Boden des vollkommensten Staates einmal bekommt,
wie sie selbst eine Vollkommenheit ist, –
dann wird sie sonnenklar zeigen, daß sie ursprünglich
göttlich war, alles übrige aber menschlich, sowohl
hinsichtlich der Anlagen als auch der Beschäftigungen.
Offenbar wirst du nun danach fragen, welches
jene Staatsverfassung sei.
Nicht getroffen! antwortete er; denn danach wollte
ich nicht fragen, sondern ob es eben jene Verfassung
sei, die wir beim Aufbau unseres Staates dargestellt
haben, oder eine andere?
Ja, sprach ich, diese ist’s in den übrigen Beziehungen
wie ganz besonders in dem Hauptpunkte, von
dem oben schon die Rede war, als wir sagten, daß in
dem Staate immer ein Halt für eben das theoretische
Ideal der Verfassung im Staate dasein müsse, welches
auch du als Gesetzgeber eben aufrechthieltest und wonach
du die Gesetze gäbest.
Ja, davon war die Rede, sagte er.
Aber nicht mit der gehörigen Entwicklung, erwiderte
ich, aus Furcht vor euren Einwürfen, durch die
ich von euch bereits angedeutet bekommen habe, daß
die nähere Erörterung jenes Ideals lang und schwierig
Platon: Der Staat 368
ist; denn auch der übrige Teil der Beweisführung ist
nicht durchweg sehr leicht.
Welcher denn?
Auf welcheWeise ein Staat mit gründlicherWissenschaft
sich befaßt, ohne dadurch unterzugehen.
Denn alles Große hat ja seine Schwierigkeit, und, wie
das Sprichwort sagt, das Schöne ist in der Tat
schwer.
Aber dessen ungeachtet, sagte er, muß die Beweisführung
ihr Ende bekommen und dieser übrige Teil
ins klare gebracht werden!
Nicht der böseWille, antwortete ich, sondern es
wird, wenn irgend etwas, das Unvermögen daran hinderlich
sein; denn was meine Bereitwilligkeit anlangt,
so wirst du diese schon als Augenzeuge kennen. Sieh
aber auch jetzt eine Probe, wie bereit und waghalsig
ich in dieser Beziehung bin: Ich wage den Satz auszusprechen,
daß ganz auf die entgegengesetzteWeise,
als es heutzutage geschieht, jenes Studium der Staat
angreifen müsse.
Wie denn?
Heutzutage, sagte ich, sind die, welche es ergreifen,
noch junge Bürschchen, kaum aus den Knabenschuhen,
und wenn sie so mittendurch zwischen den Geschäften
der Haushaltung und ihres Gewerbes bis zum
schwierigsten Teile vorgedrungen sind, so lassen sie
es liegen, und diese gelten noch für die größten
Platon: Der Staat 369
Freunde derWissenschaft – unter dem schwierigsten
Teile verstehe ich aber die Beschäftigung mit den Begriffen;
wenn sie dann in der späteren Zeit auf die
Veranlassung, weil auch andere dies tun, zum Besuche
von Vorträgen sich bequemen, so glauben sie
wunder was sie täten, indem sie imWahne leben, daß
man jenes Studium nur als Nebenwerk zu treiben
brauche; gegen das hohe Alter aber hin erlischt ihr
Eifer mit wenigen Ausnahmen noch viel mehr als die
Sonne des Herakleitos, indem er so bald bei ihnen
sich nicht wieder entzündet.Wie soll man dieWissenschaft
aber nun treiben? fragte er.
Ganz entgegengesetzt: schon Jünglinge und Knaben
müssen eine dem jugendlichen Alter angemessene
Geistesentwicklung undWissenschaft bekommen,
dabei auch für die Ausbildung ihrer Körper sorgen,
solange sie wachsen und zu Männern reifen und dadurch
eine fördernde Stütze für ihre geistige Bildung
gewinnen; beim Herannahen des Alters aber, in dem
das Seelenleben die volle Reife zu erlangen beginnt,
müssen sie ihre Übungen steigern; endlich, wenn die
Körper kraft schon nachläßt und für die Staats- und
Kriegsdienste nicht mehr ausreicht, dann müssen sie,
von allem entbunden, nur ihre Seele weiden und jedes
andere Geschäft höchstens als Nebenwerk treiben, sie,
die glücklich leben und nach ihrem Ende dem hier
vollbrachten Leben ein entsprechendes Los im
Platon: Der Staat 370
Jenseits folgen lassen wollen.
Ja, sagte er da, das heiße ich waghalsige Sätze aufstellen,
o Sokrates; ich glaube indessen, daß die meisten
derer, die sie hören, dir noch waghalsiger widersprechen
und sich auf keineWeise davon überzeugen
lassen werden, besonders Thrasymachos hier.
Entzweie doch, entgegnete ich, mich und Thrasymachos
nicht, nachdem wir eben Freunde geworden
sind und auch vorher keine Feinde waren! Ich will es
ja durchaus nicht an Versuchen fehlen lassen, bis ich
entweder diesen und die übrigen zur Überzeugung gebracht,
oder doch wenigstens etwa eine Vorarbeit
dazu für jenes Leben der Zukunft geliefert habe, wenn
sie nach einer abermaligen Geburt etwa wieder auf
solche Untersuchungen stoßen.
Ja, sagte er, da hast du auf einen kurzen Termin appelliert!
Auf die Zeit eines Augenblicks ja nur, erwiderte
ich, verglichen mit der Ewigkeit! Wenn übrigens die
große Masse sich von meinen Behauptungen nicht
überzeugt, so ist dies gar keinWunder: denn wir
haben ja noch niemals in derWirklichkeit die hier
aufgestellte theoretische Behauptung wahrgenommen,
sondern nur ähnliche Phrasen, die künstlich in ein
äußeres System gebracht waren, nicht Gedanken, die
unwillkürlich mit derWirklichkeit identisch sind; ein
menschliches Individuum gar, das dem Ideale der
Platon: Der Staat 371
Tugend gleich ist, sie so vollkommen wie möglich sowohl
in der Praxis wie in der Theorie ausdrückt, in
einem ähnlichen Staate die oberste Macht und Gewalt
besitzt, – dies haben sie niemals gesehen, weder in der
Einheit noch weniger in der Mehrheit: oder glaubst
du?
Nein, keineswegs.
Auch haben sie ferner, mein Teuerster, noch keine
echten und uninteressierten Untersuchungen über wissenschaftliche
Gegenstände anzuhören bekommen,
d.h. von solchen, die dieWahrheit mit Anstrengung
und auf jedeWeise bloß des Erkennens wegen suchen,
und die vor jenen Pfiffen und Spitzfindigkeiten,
die auf nichts anderes als auf Ruhm und Rechthaberei
in Gerichtshöfen wie im privaten Verkehr zielen, sich
schon von weitem segnen.
Nein, erwiderte er, solche Vorträge haben sie auch
nicht gehört.
Eben deshalb, fuhr ich fort, und in Voraussicht dessen
stellten wir vorhin, wiewohl nicht ohne Besorgnis,
jedoch von der Wahrheit gezwungen, den Satz
auf, daß weder ein Staat noch eine Verfassung noch
ebensowenig ein menschliches Individuum vollkommen
werden könne, bis jenen wenigen wahren Jüngern
derWissenschaft, die wenn auch nicht als nichtswürdig,
doch als unbrauchbar verschrieen sind, eine
gewisse zwingende Notwendigkeit aus ungefähr
Platon: Der Staat 372
zustößt, mögen sie wollen oder nicht, sich mit dem
Staate abzugeben und der Stimme des Staatswohles
Gehör zu schenken, oder bis Söhne der jetzigen gewalthabenden
Familien und Königshäuser entweder
von selbst oder durch göttliche Eingebung zur wahren
Wissenschaft (der Philosophie) wahre Liebe bekommen.
Daß aber einer von beiden Fällen oder alle beide
unmöglich seien, dafür erkläre ich keinen Grund zu
haben; und nur im Falle solcher absoluten Unmöglichkeit
könnten wir mit Fug als solche ausgelacht
werden, die nur theoretische Luftschlösser bauen.
Oder ist’s nicht so?
Ja.
Wenn also Fürsten der Wissenschaft zur Verwaltung
eines Staates entweder in der unendlichen vergangenen
Zeit durch den Zwang einer unbedingten
Notwendigkeit gekommen sind oder in einer Gegend
des Auslandes weit aus unserem Gesichtskreise dazu
gegenwärtig kommen oder noch dazu in Zukunft kommen
werden, so wären wir in dieser Beziehung erbötig,
die Behauptung mit Gründen durchzufechten, daß
die von uns aufgestellte Staatsverfassung wirklich
war, wirklich ist, wirklich sein wird, – falls eben jene
wahreWissenschaft die Herrschaft über einen Staat
erlangt hat. Absolut unmöglich ist ja diese unsere
Staatsverfassung nicht; sonach sind auch nicht unmöglich
unsere Behauptungen; daß ihre Ausführung
Platon: Der Staat 373
aber ihre Schwierigkeiten habe, ist von uns auch zugegeben.
Ja, sagte er, auch ich denke so.
Damit willst du sagen, erwiderte ich, die große
Masse andererseits denkt nicht so?
Möglich, sagte er.
Mein Bester, fuhr ich fort, klage doch nicht so sehr
die Leute der großen Masse an; sie werden schon eine
andere Ansicht bekommen, wenn du sie nicht streitsüchtig
angehst, sondern mit gutenWorten belehrst,
die Gelehrsamkeit vom bösen Rufe befreist, ihnen
zeigst, was für Männer du unter deinen Philosophen
verstehst, und wie eben eine nähere Erklärung von
ihren Anlagen und von dem Zwecke ihres Studiums
gibst, damit die Leute nicht die Meinung behalten, du
verständest unter Philosophen jene, die sie meinten.
Oder gibst du nicht dein Ja dazu, daß sie, wenn sie
diese Einsicht erhalten, eine andere Meinung bekommen
und eine andere Sprache führen werden? Oder
glaubst du, es werde jemand aus dem Volke heftig
sein gegen einen, der nicht heftig ist, boshaft gegen
einen, der nicht boshaft ist, – das Volk, das an sich
ohne Falsch und gutmütig ist? Ich komme hier deiner
Antwort zuvor und erkläre für meine Person, daß nach
meiner Meinung nur unter gewissen wenigen, nicht
unter der Menge, ein so böser Charakter vorkomme.
Ja, sei versichert, sprach er, auch ich teile diese
Platon: Der Staat 374
Meinung.
Folglich teilst du auch eben diese Meinung, daß am
Widerwillen der Leute aus der Volksmenge gegen
Philosophie die Schuld nur jene tollkühnen Eindringlinge
ohne Beruf haben, die jene Leute mit Schimpfwörtern
behandeln, mutwillig anfeinden und ihre Vorträge
nur über Welthändel halten, ein Verfahren, wodurch
sie echt wissenschaftlichem Streben gar keine
Ehre machen?
Jawohl, sagte er.
Es hat auch, mein lieber Adeimantos, wer inWahrheit
seinen Verstand auf das wahrhaftWesenhafte der
Dinge richtet, gar keine Zeit, hinab auf das Treiben
derWeltkinder zu blicken, sich mit ihnen herumzuschlagen
und dadurch sich Haß und Feindschaft zu
bereiten: sondern nur Zeit dafür, seinen Blick und
seine Betrachtung auf eineWelt zu richten, worin eine
ewige Ordnung und Unwandelbarkeit herrscht, worin
dieWesen weder Unrecht tun noch von einander leiden,
und worin alles nach einer himmlischen Ordnung
und Vernunftmäßigkeit geht, sowie dann dieseWelt
nachzuahmen und soviel als möglich davon in seinem
Leben ein Abbild darzustellen. Oder glaubst du, es
sei eine Möglichkeit, daß jemand mit etwas gern umgehe,
ohne es nachzuahmen?
Unmöglich, sagte er.
Der mit Göttlichem undWohlgeordnetem
Platon: Der Staat 375
umgehende Jünger der wahrenWissenschaft wird
demnach auch wohlgeordnet und göttlich, soweit es
einemMenschen möglich ist: denn üble Nachrede
gibt es bei allen noch genug.
Ja, allerdings.
Wenn ihm nun, fuhr ich fort, irgend ein Zwang aufgelegt
wird, darauf zu denken, die in jenerWelt geschauten
Ideen in das Bürger- und Staatsleben zu verpflanzen
und nicht bloß auf seine persönliche Bildung
zu beschränken: glaubst du, er werde da ein ungeschickter
Arbeiter werden in Hervorbringung von besonnener
Mäßigung, von Gerechtigkeit und überhaupt
von jeder Bürgertugend?
Durchaus nicht, meinte er.
Ja, wie gesagt, wenn die Leute der Menge nur einmal
einsehen, daß wirWahrheit von ihm berichten, –
werden sie da über die wahrhaften Jünger derWissenschaft
noch aufgebracht sein und unseren Versicherungen
mißtrauen, daß ein Staat niemals glücklich
werden könne, wenn nicht Maler den Plan dazu entworfen
haben nach einem göttlichen Ideale?
Sie werden nicht mehr aufgebracht sein, versetzte
er, wenn sie einmal diese Einsicht bekommen haben
werden; aber auf welcheWeise denn soll jener Plan
entworfen werden?
Sie nehmen, erwiderte ich, einen Staat und die
menschlichen Naturtriebe wie die Tafel eines zu
Platon: Der Staat 376
entwerfenden Gemäldes und machen diese erstlich
rein, was gar keine leichte Arbeit ist; aber selbstverständlich
unterscheiden sie sich wohl gleich von Anfang
an von den übrigen Staatsmännern dadurch, daß
sie weder mit einem einzelnen Menschen noch mit
einem Staate oder mit einer Gesetzgebung sich befassen
wollen, bevor sie ihn entweder schon gesäubert in
die Hand nehmen oder selbst sauber machen.
Und das mit Recht, warf er ein.
Nicht wahr, sodann müssen sie wohl den Grundriß
der Verfassung entwerfen?
Allerdings.
Hierauf, denke ich, begeben sie sich an das genauere
Ausmalen, sehen dabei öfters hinüber und herüber,
bald auf die ursprüngliche Idee des Gerechten,
Schönen, Besonnenen usw., bald wiederum auf das in
der wirklichen Menschenwelt als solches Geltende,
und stellen also mittels ihrer Studien durch Vermählung
und Vermischung das Menschenideal dar, indem
sie hierbei nach jenem sich richten, was bekanntlich
schon Homer, wo er es in der Menschenwelt verwirklicht
fand, ein Götterbild und göttliches Ideal genannt
hat.
Ja, richtig, sagte er.
Dabei werden sie, glaube ich, bald hier eine irdisch
menschliche Farbe austilgen, bald dort eine göttliche
auftragen, bis sie die irdisch menschlichen
Platon: Der Staat 377
Natureigentümlichkeiten gottgefällig gemacht haben.
Ja, meinte er, sehr schön muß das Gemälde werden.
Wie? fuhr ich fort, werden wir jene Leute, die nach
deiner Bemerkung von vorhin im Sturmschritte gegen
uns zogen, nun bald überzeugen, daß kein anderer als
solcher Verfassungsmaler es ist, den wir vorhin bei
ihnen so hoch priesen und dessentwegen sie wider uns
aufgebracht wurden, weil wir ihm die Verwaltung des
Staates zu übergeben befahlen, und werden sie bei
Anhören jener Beschreibung etwas gelassener werden?
Ja, sehr, sagte er, wenn sie gesunden Verstand
haben.
In welcher Beziehung werden sie denn auch noch
Zweifel erheben können? Etwa daß unsere Wissenschaftsjünger
keine Liebhaber des Reichs des ewigen
und wahren Seins seien?
Das wäre unmöglich, sprach er.
Nun, so etwa, daß ihre angeborene Geistesanlage
nicht verwandt sei mit dem von uns dargestellten
Göttlichen?
Auch das nicht.
Oder ferner, daß eine solche angeborene Geistesanlage
nach Erlangung der entsprechenden Bildungsmittel
nicht vollkommen sittlich gut sein und mehr als
jede andere nach der Philosophie trachten werde?
Oder sollten sie es eher von jenen behaupten, die wir
Platon: Der Staat 378
ausgeschlossen haben?
Nein doch.
Werden sie also noch wild werden bei unserer Behauptung:
erstlich, daß, ehe der Stand der wahren
Wissenschaft (Philosophie) an die Spitze kommt,
weder Staat noch Bürger Ruhe von ihren Leiden bekommen
werden; zweitens, daß auch die von uns in
der Idee aufgestellte Staatsverfassung nicht eher ihre
Wirklichkeit bekommen werde?
Vielleicht, meinte er, werden sie jetzt weniger wild
sein. Nun, sprach ich, wollen wir sie statt weniger
nicht lieber ganz besänftigt und überzeugt sein lassen,
damit sie wenigstens ihre Beschämung eingestehen?
Sehr wohl, sagte er.
JeneWidersager aus der großen Masse nun, fuhr
ich fort, müssen also von dieser Behauptung (daß die
wahreWissenschaft den Staat regieren müsse) einmal
überzeugt sein.Wird aber über folgende weitere Behauptung
jemand einen Zweifel haben können, daß
Söhne von Königen oder anderen Machthabern einmal
mit echt philosophischen Anlagen geboren werden
können?
Niemand, sagte er.
Daß sie aber trotz dieser angeborenen Anlagen mit
großer Wahrscheinlichkeit das Schicksal haben, zu
verderben, das könnte wohl jemand behaupten; denn
daß sie allerdings mit Mühe durchkommen, räumen
Platon: Der Staat 379
auch wir zusammen ein: dagegen, daß in aller Ewigkeit
von allen niemals ein Einziger unversehrt durchkomme,
– kann das wohl jemand in gerechten Zweifel
ziehen?
Schlechterdings nicht!
Aber, fuhr ich fort, ein Einziger auf derWelt, wenn
er einen folgsamen Staat in die Hände bekommt, ist
hinreichend, alle Dinge zu verwirklichen, die jetzt unglaublich
sind.
Ja, hinreichend.
Denn wenn irgendwo, sprach ich, ein Herrscher die
Gesetze und die von uns angedeuteten Beschäftigungen
einführt, so ist dann doch keine Unmöglichkeit
vorhanden, daß die Bürger diese Gebote bereitwillig
ausführen.
Auf keinen Fall.
Ferner, daß unsere Ansichten auch die Ansichten
anderer Leute werden, – wäre denn das wohl einWeltwunder
oder eine Unmöglichkeit?
Ich glaube es nicht, antwortete er.
Ferner, daß diese Ansichten jedenfalls die besten
seien, sofern möglich, das haben wir, wie ich glaube,
hinlänglich im Vorhergehenden dargetan.
Ja, hinlänglich.
Nun denn, so ergibt sich hieraus das offenbare Resultat:
Die von uns hinsichtlich der Staatseinrichtung
aufgestellten Grundsätze seien die besten, wenn sie
Platon: Der Staat 380
verwirklicht würden; schwierig aber sei ihre Ausführung,
nicht jedoch ganz unmöglich.
Ja, das ist das Resultat, meinte er.
Nicht wahr, nachdem diese Frage endlich ihre Erledigung
bekommen hat, so sind die übrigen nach dieser
noch zu erörtern: Erstens, nach welcher Methode
sowie mittels welcher Lerngegenstände und Beschäftigungen
die Erhalter unserer Staatsverfassung herangebildet
werden; zweitens, in welchem Alter sie sich
mit diesen oder jenen jedesmal beschäftigen sollen?
Ja, sagte er, freilich ist das noch zu erörtern.
Gar nichts, sagte ich, hat mir also mein schlauer
Einfall geholfen, daß ich vorhin die heikle Erörterung
in bezug auf die Art desWeibernehmens und der Kindererzeugung
sowie auf die Einsetzung der Herrscher
beiseite schob, in der Überzeugung, daß die Ausführung
sowohl mit Volkshaß wie mit großer Schwierigkeit
verbunden ist, wenngleich sie auf der reinsten
Wahrheit beruht; jetzt nämlich ist dessenungeachtet
die Nötigung gekommen, auf jene Fragen näher einzugehen.
Und da sind nun bekanntlich einerseits die
Fragen in betreff der Weiber und Kinder bereits abgefertigt;
aber auf das Kapitel von den Regierenden ist
noch einmal zurückzukommen, und zwar wie von
vorn an.Wir sprachen uns aber, wenn du dich erinnerst,
früher dahin aus, daß sie sich als gute Patrioten
bei Prüfungen in Freuden wie in Leiden beweisen und
Platon: Der Staat 381
die Probe ablegen müßten, daß sie diese Gesinnung
weder in Mühseligkeiten noch in Gefahren noch in irgend
einer anderen Erschütterung niemals außer acht
lassen; oder, wer es nicht könne, sei auszuschließen;
wer aber aus jeder Probe unversehrt hervorgehe, wie
im Feuer geprüftes Gold, der sei als Herrscher zu bestimmen,
und ihm sei Preis und Ehre zu erweisen im
Leben wie im Tode. So etwa lauteten unsere Äußerungen,
als die Untersuchung vomWege ausbog und,
ohne ihre Absicht erkennen zu geben, sich daneben
vorbeischlich aus Furcht, das jetzt nun auf das Tapet
gekommene Kapitel in Anregung zu bringen.
Sehr richtig bemerkt, sagte er; ja, ich erinnere
mich.
Bedenklich war’s, sprach ich, mein Lieber, die Äußerungen
zu tun, die jetzt einmal gewagt worden sind:
jetzt ja muß die Behauptung heraus: Zu den tüchtigsten
Staatshütern darf man nur die echten Jünger der
Wissenschaft (die Philosophen) bestellen.
Ja, sagte er, heraus muß sie.
Zu bedenken ist hier nun bekanntlich, daß du deren
wahrscheinlich nur wenige haben wirst; denn von der
nach unserer Beschreibung dazu erforderlichen Anlage
wachsen die einzelnen Bestandteile nicht gerne auf
einem und demselben Stamme beisammen, sondern
sie finden sich gewöhnlich nur vereinzelt vor.
Wie meinst du das? fragte er.
Platon: Der Staat 382
Gelehrigkeit, gutes Gedächtnis, Geistesgegenwart,
Scharfsinn und die weiteren Geisteseigenschaften finden
von Natur sich doch bekanntlich nicht leicht beisammen;
ferner Köpfe von jugendlichem Feuergeiste
und hoher Sinnesart haben nicht leicht zugleich die
Eigenschaft, eingezogen in Stille und in festen Grundsätzen
zu leben; sondern Menschen der Art werden
von der Raschheit ihres Geistes dahin getrieben,
wohin es der Zufall will, und die Festigkeit des Charakters
geht ihnen gänzlich ab.
Ja, richtig bemerkt, sagte er.
Nicht wahr, dagegen jene festen und nicht leicht
wandelbaren Charaktere, auf die man sich wegen ihrer
Treue verlassen könnte, und die im Kriege gegen die
Gefahren wie Mauern stehen, tun dasselbe gleichfalls
beim Erlernen der Künste undWissenschaften, sind
auch hier Mauern, hartköpfig, als wenn sie vernagelt
wären, Schlafens und Gähnens voll, wenn sie eine
geistige Arbeit vornehmen sollen?
Es ist so, sagte er.
Nach unserer Forderung aber müßte einer in beiden
Stücken gut und wohlbeschlagen sein, oder man dürfte
ihn weder an der höchsten Bildung noch an der
höchsten Ehre und Gewalt teilnehmen lassen.
Recht, versetzte er.
Nicht wahr, selten wird nun wohl jener Fall vorkommen?
Platon: Der Staat 383
Allerdings.
Eine Probe muß er also bestehen nicht nur in den
vorhin schon erwähnten Beschwerden und Schrecknissen
sowie in den Reizen sinnlicher Lüste, sondern
man muß, was wir vorhin übergingen, jetzt aber hinzufügen,
auch noch in vielen Lehrgegenständen seine
Seele üben und dabei beobachten, ob sie imstande sei,
die größtenWissenschaften zu ertragen, oder ob sie
auch hierbei den Mut verliert, wie die Feiglinge in
den körperlichen Übungen.
Ja, sagte er, es muß allerdings diese Beobachtung
stattfinden; aber was verstehst du denn unter den
»größtenWissenschaften«?
Du erinnerst dich wohl daran, antwortete ich, daß
wir nach Aufstellung dreier Seelenvermögen daraus
das eigentliche Wesen von Gerechtigkeit, Besonnenheit,
Tapferkeit undWeisheit ermittelten.
Ohne meine Erinnerung hieran, sprach er, wäre ich
nicht wert, die übrigen Belehrungen zu vernehmen.
Auch wohl an die damals zuvor gemachte Bemerkung
erinnerst du dich?
An welche denn?
Wir machten wohl damals die Bemerkung, daß es,
um dasWesen jener Tugenden vollkommen einzusehen,
noch einen anderen, jedoch etwas weiteren,
Umweg gebe, nach dessen Zurücklegung es einem
sonnenklar werde; man könnte jedoch Erörterungen
Platon: Der Staat 384
nachMaßgabe der vorhergehenden Besprechungen
folgen lassen. Und ihr sagtet damals, daß es euch genüge,
und so wurde denn die Abhandlung dieses Gegenstandes
damals, wie es mir vorkommt, ohne die
gehörige Gründlichkeit abgemacht: wenn sie euch
aber hinlänglich scheint, so mögt ihr das sagen.
Nun, mir wenigstens, sagte er, schien sie das gehörige
Maß zu haben, und es war dies unstreitig auch
bei den übrigen der Fall. Aber, mein Freund, erwiderte
ich, das Maß in dergleichen Dingen, wenn es auch
um ein kleines Teilchen der wahren Vollständigkeit
ermangelt, ist kein gehöriges; denn Unvollständigkeit
ist durchaus nicht ein gehöriges Maß von etwas. Aber
es scheint bisweilen manchen Leuten eine Sache
schon ihre Richtigkeit zu haben, um keine weitere
Untersuchung anstellen zu müssen.
Ja, sicher, sprach er, haben manche diese Neigung
aus Leichtsinn.
Diese Neigung aber, sagte ich, soll durchaus nicht
sein bei einem Hüter des Staats und der Gesetze.
Versteht sich, sprach er.
Den größeren Umweg also, mein Freund, sagte ich,
muß ein solcher gehen und muß ebenso auf dem Felde
derWissenschaft sich anstrengen wie auf dem Turnplatze,
oder er wird niemals an das Ziel der vorhin erwähnten
größten und aller notwendigstenWissenschaft
gelangen.
Platon: Der Staat 385
Begreifen denn die bisher verhandelten Gegenstände,
fragte er, nicht schon die höchste Wissenschaft,
und gibt es noch eine größere als Gerechtigkeit und
die damit von uns dargestellten Tugenden?
Ja, es gibt noch eine größere, versetzte ich; von
eben diesen Tugenden darf er nicht bloß wie bisher
einen Schattenriß schauen, sondern er muß unablässig
nach ihrem höchsten wirklichen Ideale streben; oder
wäre es nicht lächerlich, bei anderen geringfügigen irdischen
Dingen in Absicht auf Sorgfalt und reinste
Vollendung mit aller Kraftanstrengung sich Gewalt
anzutun, dagegen von den größten Gütern nicht zu
glauben, daß sie auch der größten Sorgfalt wert seien?
Ja, sicherlich, sagte er, ist dieser Gedanke in seiner
Ordnung; was du jedoch unter der »größtenWissenschaft
« und unter dem Objekt verstehst, worauf du sie
beziehst, – wird man dich da wohl loslassen, ohne
nach ihrem eigentlichen Wesen gefragt zu haben?
Ich glaube es kaum, sprach ich; frage daher nur! Jedenfalls
hast du es nicht selten schon gehört; aber in
diesem Augenblicke entsinnst du dich entweder nicht,
oder du hast wiederum im Sinne, mir Schwierigkeiten
zu bereiten durch einen solchen Angriff, und das ist
mir wahrscheinlicher. Denn daß die Idee des Guten
der Gegenstand der größtenWissenschaft ist, das hast
du schon öfter gehört, und daß gerechte Handlungen
usw. eist durch die Teilnahme an ihm heilsam und
Platon: Der Staat 386
nützlich werden. Und auch jetzt weißt du wohl schon,
was ich unter jenem Ausdrucke verstanden haben
will, und zudem noch, daß wir vomWesen jenes
Guten noch keine vollkommeneWissenschaft besitzen.
Wenn wir aber dieses nicht erfaßt haben, so
weißt du, daß ohne diesesWesenhafte, hätten wir
auch alle übrigenWissenschaften, nichts uns nütze
ist, geradeso als wenn wir etwas besäßen, ohne daß es
ein Gut für uns wäre. – Oder glaubst du, es bringe
einen Gewinn, die ganzeWelt zu besitzen, ohne daß
das Gute dabei ist? Oder in alles übrige der Welt Einsicht
zu haben, vom eigentlichen wesenhaften Schönen
und Guten aber keine zu haben?
Nein, bei Zeus, antwortete er, ich gewiß nicht!
Ferner mußt du auch das bereits wissen, daß es in
bezug auf das eigentliche wesenhafte Gute bis jetzt
zweierlei Ansichten gibt: Dem großen rohen Haufen
ist Sinnenlust das eigentliche Gute, den Gebildeteren
verständige Einsicht.
Allerdings.
Ferner mußt du wissen, mein Lieber, daß die, welche
letztere Ansicht haben, das Objekt jener Einsicht
nicht näher bestimmen können; aber konsequenterweise
müssen sie endlich von ihr sagen, sie sei die
Einsicht in das Gute.
Und diese nähere Bestimmung, sagte er, ist sehr
sonderbar.
Platon: Der Staat 387
Allerdings, erwiderte ich: erst schelten sie, daß wir
das eigentliche Gute nicht wüßten: hernach drücken
sie sich bei seiner Erklärung so aus, als wenn wir es
schon wüßten; denn nach ihrer näheren Erklärung ist
jenes eigentliche Gute Einsicht in das Gute, als wenn
wir dann verständen, was sie meinten, wenn sie das
Wort »gut« aussprächen.
Ja, sprach er, ganz recht?
Wie sieht es nun mit der anderen Ansicht aus? Die
die Sinnenlust als das Gute Bestimmenden, schweben
sie vielleicht in einem geringeren Irrtume als ihre
Gegner? Oder müssen auch diese, in die Enge getrieben,
einräumen, es gebe auch Sinnenlüste mit Übeln?
Ja, sicher.
Sie kommen also in den Fall, zuzugeben, daß
Güter und Übel einerlei sind, nicht wahr?
Ja, wahrlich!
Nicht wahr, daß in bezug auf die Frage, was gut
sei, große und viele Streitigkeiten bestehen, das liegt
nun am Tage?
Allerdings.
Liegt nicht auch das am Tage, daß in bezug auf gerechte
und schöne Dinge, Handlungen oder Eigenschaften
viele, wenngleich gar keine Realität dabei
ist, dennoch in den hier genannten Beziehungen den
Schein vorziehen, daß aber in bezug auf Güter niemandem
es genügt, den Schein davon zu besitzen,
Platon: Der Staat 388
sondern daß man die Realitäten davon erstrebt, den
Schein aber in dieser Beziehung längst schon alle
Welt verachtet?
Jawohl, sagte er.
In betreff also des eigentlichen Guten, wonach jede
Menschenseele strebt und dessentwegen sie alle Anstrengungen
unternimmt, weil es nach ihrer dunkeln
Ahnung das Höchste ist, aber mit dem auch die übrigen
Gewinne in dem Falle zugrunde gehen, wenn sie
über diesen Gegenstand in Ungewißheit bleibt, wenn
sie von seinemWesen keinen vollkommen klaren Begriff
erlangen, nicht einen festen Glauben daran haben
kann wie an die übrigen Dinge, – in betreff eines solchen
uns so wichtigen Gegenstandes sollten wir auch
jene im Finsteren herumtappen lassen, die in unserem
Staate die Besten sein sollen, und deren Händen wir
allesWohl desselben anvertrauen wollen?
Nein, durchaus nicht, sagte er.
Ja, fuhr ich fort, die Meinung wenigstens hege ich,
daß die einzelnen gerechten und schönen Handlungen
oder Dinge ohne ein gründlichesWissen, inwiefern
sie gut sind, an dem einen schlechten Hüter über sich
haben werden, der von jenem Gegenstande keine
gründliche Kenntnis hat, und ich vermute, daß vor
jener Kenntnis niemand in jene einzelnen guten und
schönen Handlungen usw. eine klare Einsicht bekommen
werde.
Platon: Der Staat 389
Ja, sagte er, gar nicht ohne Grund ist deine Vermutung.
Nicht wahr, unsere Staatsverfassung hat erst dann
die Krone aufbekommen, wenn ein solcher Hüter über
sie die Oberaufsicht hat, der in den genannten Beziehungen
zur vollkommenenWissenschaft gelangt ist?
Ja, notwendig, sagte er. Aber wie sieht’s denn aus
mit deiner Ansicht hiervon, o Sokrates? Ist Wissen
nach deiner Behauptung das eigentliche Gute, oder
Lust? Oder etwas außer diesen beiden?
Du bist mir der rechte Mann! sprach ich. Schön,
daß ich dir schon längst anmerkte, daß es dir nicht genüge,
nur die Ansicht der anderen hierüber zu vernehmen!
Es scheint mir auch gar nicht recht, sagte er, o Sokrates,
zwar die Ansichten anderer vortragen zu können,
die seinige aber nicht, zumal wenn man schon so
lange Zeit sich damit abgibt.
Wie? versetzte ich; es scheint dir recht zu sein,
wenn jemand über Dinge, worüber er kein gründlichesWissen
hat, sich äußerte, als habe er es?
Das soll man ja auch nicht, sagte er; man soll sich
nur zum Vortrage seiner subjektiven Meinungen verstehen,
die man für wahr hält.
Wie? sprach ich. Hast du dir denn von den Meinungen
ohneWissenschaftlichkeit noch nicht gemerkt,
wie verabscheuenswert sie alle sind? Denn die
Platon: Der Staat 390
besten davon sind blind. Oder scheinen dir die, welche
ohne wissenschaftliche Vernunft einmal durch
bloßes Meinen eineWahrheit ertappen, von Blinden
sich zu unterscheiden, die einmal auf dem richtigen
Pfade wandeln?
Nein, antwortete er.
Hast du also Lust, bei mir schreckliches, blindes
und linkisches Zeug anzuschauen, während du bei anderen
herrlich strahlende und schöne Meisterstücke
sehen kannst?
Um Gottes willen, rief hier Glaukon, tritt jetzt
nicht zurück, als wenn du zu Ende wärest! Wir wollen
uns ja damit begnügen, wenn du uns in derselben
Weise eine Darstellung vom eigentlichen Guten gibst,
wie du es in bezug auf Gerechtigkeit, Besonnenheit
usw. getan hast.
Ja, mein Freund, sprach ich, auch ich wollte damit
recht zufrieden sein; aber ich befürchte, ich möchte
auch dies nicht vermögen und bei dem bestenWillen
durch meine Ungeschicktheit euch Stoff zum Lachen
geben. Drum, meine himmlischen Kinderchen, wollen
wir die eigentlicheWesenheit des Guten für jetzt lassen;
denn es scheint mir zu umfassend, als daß ich
nach dem gegenwärtigen Anlaufe auch nur das erschöpfend
darstellen könnte, was ich in dem Augenblick
darüber subjektiv meine; was aber eine Kopie
von dem eigentlichen Guten und ein sehr treues Bild
Platon: Der Staat 391
von ihm zu sein scheint, das will ich euch zeigen,
falls es euch beliebt; widrigenfalls wollen wir es lassen.
Nun, zeig’ es nur, sagte er: vom eigentlichen Originale
kannst du ja ein anderes Mal die Darstellung liefern.
Ja, ich wünschte, sprach ich, ich könnte jenes Original
euch geben, und ihr könntet es mit nach Hause
tragen und nicht wie dieses mal bloß das Bild davon.
Also dieses Bild und diese Kopie von dem eigentlichen
Originale des Guten sollt ihr jetzt bekommen.
Nehmt euch jedoch in acht, daß ich euch nicht wider
Willen täusche und euch kein Trugbild von jener
Kopie gebe!
Ja, wir wollen uns schon in acht nehmen nach
Kräften, sagte er; aber nur mit dem Vortrage angefangen!
Ich will zuvor nur, sprach ich, ein paar Worte vorausschicken
und euch die Gedanken ins Gedächtnis
zurückrufen, die vorhin schon und schon anderwärts
oftmals ausgesprochen worden sind.
Welche denn? fragte er.
Daß es eine Vielheit von Schönem, sagte ich, eine
Vielheit von Gutem und so überhaupt von jedem
gebe, räumen wir ein und bezeichnen es auch näher
sprachlich.
Ja.
Platon: Der Staat 392
Auch bekanntlich ein Schönes an sich, ein Gutes an
sich, und so überhaupt in bezug auf alles: was wir
erst als eine individuelle Vielheit von jedem hinstellten,
das stellen wir dann wieder- um in einem einzigen
begrifflichen Gedankenbild hin, als wenn die
Vielheit eine Einheit wäre, und nennen es dasWesen
von jedem.
Es ist so.
Und von jener Vielheit räumen wir ein, daß sie
sichtbar und nicht denkbar, sowie andererseits von
den Gedankenbildern, daß sie nur denkbar und nicht
sichtbar sind.
Ja, allerdings.
Mit welchem Teile unserer Persönlichkeit sehen
wir nun die sichtbaren Dinge?
Mit dem Gesichte, erwiderte er.
Nicht wahr, sprach ich, und mit dem Gehöre die
hörbaren und mit den übrigen Sinnen alle sinnlich
wahrnehmbaren Dinge?
Freilich.
Hast du denn nun auch, fragte ich, schon bemerkt,
wie der Schöpfer der Sinne das Vermögen des Sehens
und Gesehenwerdens viel edler geschaffen hat?
Nicht doch, antwortete er.
Nun, so gib einmal acht: Bedarf Gehör und Stimme
irgend eines anderen Dinges dazu, damit das eine
hört, die andere gehört wird, so daß in Ermangelung
Platon: Der Staat 393
jenes Dritten das eine nicht hören, die andere nicht
gehört werden könnte?
Nein, sagte er.
Und ich glaube es bis jetzt wenigstens, fuhr ich
fort, daß auch die meisten anderen Sinne, um nicht zu
sagen keiner, keines solchen Etwas bedürfen; oder
kannst du eines angeben?
Ich wenigstens nicht, antwortete er.
Von dem Sinne des Gesichtes und der sichtbaren
Welt siehst du aber ein, daß er eines solchen bedarf?
Wieso?
Wenngleich in Augen sich ein Sehvermögen befindet
und der Besitzer es zu gebrauchen sucht, wenngleich
andererseits auch eine Farbe vorliegt: so weißt
du, daß, falls nicht ein eigens dafür geschaffenes drittes
Etwas vorhanden ist, der Gesichtssinn nichts sieht
und die Farben unsichtbar sind.
Nun, was verstehst du denn unter diesem »Etwas«
da? fragte er.
Was du bekanntlich, sagte ich, Licht heißest.
Ja, richtig bemerkt, sprach er.
Nach keinem schlechten Vorbilde also ist der Gesichtssinn
und das Vermögen des Gesehenwerdens
durch ein edleres Band verbunden als bei den übrigen
Verbindungen, wofern das Licht nichts Unedles ist.
Nein, wahrlich, antwortete er, das ist es auf keinen
Fall.
Platon: Der Staat 394
Welchen der himmlischen Götter kannst du nun als
Urheber davon angeben, dessen Licht nämlich erstlich
uns den Gesichtssinn ganz klar sehen macht und
zweitens auch die sichtbaren Gegenstände sehen läßt?
Keinen anderen, erwiderte er, als den du sowohl
wie die übrige Welt dafür ansiehst: denn nach dem
Sonnengotte fragst du offenbar.
Ist nun das naturgemäße Verhältnis des Gesichtes
zu dem Sonnengotte folgendes?
Welches?
Nicht ein Sonnengott ist der Gesichtssinn, weder er
selbst noch das Ding, worin er sich befindet, was wir
bekanntlich Auge nennen.
Ja, freilich nicht.
Aber am sonnenartigsten ist er doch wohl unter
allen Sinneswerkzeugen.
Ja, das allerdings.
Und nicht wahr, das Vermögen, welches er besitzt,
erhält er von dorther wie durch einen Kanal gespendet?
Jawohl.
Nicht wahr, auch der Sonnengott ist kein Gesichtssinn,
wohl aber die Ursache davon und wird von eben
diesem gesehen?
Ja, sagte er.
Unter dieser Sonne also, fuhr ich fort, denke dir,
verstehe ich die Kopie des Guten, die von dem
Platon: Der Staat 395
eigentlichen wesenhaften Gut als ein ihm entsprechendes
Ebenbild hervorgebracht worden ist: was das eigentliche
Gute in der durch Vernunft erkennbaren
Welt in bezug auf Vernunft und auf die durch Vernunft
erkennbaren Gegenstände ist, das ist diese seine
Kopie in der sinnlich sichtbarenWelt in bezug auf
Gesicht und sichtbare Gegenstände.
Wie? sprach er: Erkläre mir’s noch!
Wenn man die Augen, entgegnete ich, nicht mehr
auf jene Gegenstände richtet, auf deren Oberfläche
das helle Tageslicht scheint, sondern auf jene Dinge,
worauf nur ein nächtliches Geflimmer fällt, so sind
sie, weißt du, blöde und scheinen beinahe blind, als
wäre ein helles Sehvermögen in ihnen nicht vorhanden.
Ja, sicher, sprach er.
Wenn man sie aber darauf richtet, worauf die
Sonne scheint, so sehen sie, meine ich, dann ganz
deutlich, und in eben denselben Augen scheint dann
wieder ein Sehvermögen sich zu befinden.
Freilich.
Dasselbe Verhältnis denke dir nun auch so in
bezug auf die Seele: Wenn sie darauf ihren Blick heftet,
was das ewig wahre und wesenhafte Sein bescheint,
so vernimmt und erkennt sie es gründlich und
scheint Vernunft zu haben; richtet sie ihn aber auf das
mit Finsternis gemischte Gebiet, auf das Reich des
Platon: Der Staat 396
Werdens und Vergehens, so meint sie dann nur, ist
blödsichtig, indem sie sich ewig im niederen Kreise
der Meinungen auf und ab bewegt, und gleicht nun
einem vernunftlosen Geschöpfe.
Ja, dem gleicht sie dann freilich.
Was den erkannt werdenden ObjektenWahrheit
verleiht und dem erkennenden Subjekte das Vermögen
des Erkennens gibt, das begreife also als die Wesenheit
des eigentlichen (höchsten) Guten und denke
davon: Das eigentliche Gute ist zwar die Ursache von
reiner Vernunfterkenntnis undWahrheit, sofern sie erkannt
wird; aber obgleich beide (Erkenntnis und erkannt
werdendeWahrheit) also etwas Herrliches sind,
so mußt du unter ihm selbst noch etwas weit Herrlicheres
vorstellen, wenn du davon eine ordentliche
Vorstellung haben willst; ferner, wie es vorhin in unserem
Bilde seine Richtigkeit hatte, Licht und Gesichtssinn
für sonnenartig zu halten, sie aber als
Sonne sich vorzustellen nicht richtig ist, so ist es auch
hier recht, jene beiden, reine Vernunfterkenntnis und
Wahrheit, für gutartig zu halten, aber sie, welche von
beiden es auch sei, als das eigentliche höchste Gut
sich vorzustellen, unrichtig; nein, dasWesen des eigentlichen
Guten ist weit höher zu schätzen.
Schwer zu raten, sagte er, ist die Herrlichkeit, von
der du da sprichst, wenn sie erstlich die Quelle von
reiner Erkenntnis undWahrheit ist und dann noch
Platon: Der Staat 397
über diesen beiden an Herrlichkeit stehen soll; denn
ein Sokrates kann, versteht sich, nicht Sinnenlust
unter jenem höchsten Gut verstehen.
Versündige dich nicht! sprach ich. Nur noch weiter
das Bild von jenem höchsten Gut von dieser Seite betrachtet!
Von welcher?
Du wirst wohl einräumen, glaube ich, daß die
Sonne den sinnlich sichtbaren Gegenständen nicht nur
das Vermögen des Gesehenwerdens verleiht, sondern
auchWerden,Wachsen und Nahrung, ohne daß sie
selbst einWerden ist?
Das ist sie nicht!
Und so räume denn auch nun ein, daß den durch
die Vernunft erkennbaren Dingen von dem eigentlichen
Guten nicht nur das Erkanntwerden zuteil wird,
sondern daß ihnen dazu noch von jenem das Sein und
dieWirklichkeit kommt, ohne daß das höchste Gut
Wirklichkeit ist: es ragt vielmehr über dieWirklichkeit
an Hoheit und Macht hinaus.
Da rief Glaukon mit einem feinenWortwitze aus:
O Gott Apollon, welch übernatürliches Übertreffen!
Daran, erwiderte ich, ist niemand als du schuld
durch die Nötigung, nur meine subjektiven Meinungen
über jenes höchste Gut zu äußern.
Und höre ja nicht auf, sprach er, das Gleichnis in
bezug auf die Sonne weiter zu verfolgen, wenn du
Platon: Der Staat 398
noch etwas rückständig hast!
Ja, sprach ich, noch gar mancherlei habe ich rückständig.
Und übergehe davon, sprach er, doch nicht das geringste!
Ich glaube zwar, entgegnete ich, gar vieles ist zu
übergehen; indessen, soweit es gegenwärtig in meinen
Kräften steht, will ich nichts mitWillen auslassen.
Ja nicht! sagte er.
Denke dir also, fuhr ich fort, wie gesagt, jene zwei,
und das eine, denke dir, sei König in dem nur durch
die Vernunft schaubaren Reiche und Gebiete, das andere
in der Region des Gesichts (ich sage Region des
Gesichts und nicht Region des Lichts, damit ich dir es
nicht zu gelehrt zu treiben scheine in bezug auf den
Ausdruck); – aber du merkst dir doch diese zweifachen
Reiche, das des sinnlich Sichtbaren und das des
durch die Vernunft Erkennbaren?
Ja.
Als wenn du nun eine in zwei ungleiche Hauptabschnitte
geteilte Linie hättest, nimm wiederum mit
jedem von beiden Hauptabschnitten, sowohl mit dem
des durchs Auge sichtbaren als auch mit dem des
durch die Vernunft erkennbaren Gebietes, wiederum
nach demselben Verhältnisse eine abermalige Teilung
vor, und du wirst dann erstlich bei dem durch das
Auge sichtbaren Hauptabschnitte in bezug auf
Platon: Der Staat 399
Deutlichkeit und Undeutlichkeit zu einander an dem
einen Unterabschnitte Bilder haben: ich verstehe aber
unter Bildern erstlich Schatten, dann die Abspiegelungen
in denWassern, in allen Körpern von dichter,
glatter und reflektierender Oberfläche und überhaupt
in jedem Dinge dieser Eigenschaft, wenn du es begreifst?
Ja, ich begreife.
Unter dem anderen Unterabschnitte (der sinnlichsichtbaren
Welt), von dem der eben genannte nur
Schattenbilder darstellt, denke dir sodann die uns umgebende
Tierwelt, das ganze Pflanzenreich und die
sämtliche Kunstproduktion.
Ich tue es, sagte er.
Wärst du denn nun auch bereit, fuhr ich fort, einzuräumen,
daß jener erste Hauptabschnitt auch in bezug
aufWahrheit und deren Gegenteil in zwei Unterabschnitte
zerfällt, daß nämlich im Reich desWissens
das Meinbare zu dem durch die Vernunft Erkennbaren
sich verhalte wie das Schattenbild zu dem abgebildeten
wirklichen Gegenstande?
O ja, sagte er, sehr gerne.
So betrachte denn nun den anderen Hauptabschnitt,
den des durch die Vernunft Erkennbaren, wie er in
Unterabschnitte zu teilen ist!
Wie?
So: den ersten Unterabschnitt desselben muß die
Platon: Der Staat 400
Seele von unerwiesenen Voraussetzungen ausgehend
erforschen, indem sie sich dabei der zuerst geteilten
Unterabschnitte wie Bilder bedient und dabei nicht
nach einem Urprinzipe dringt, sondern nur zu einem
sich gesetzten Ziele schreitet; den anderen Unterabschnitt
jener Hälfte aber erforscht sie, indem sie von
einer gläubigen Voraussetzung aus zu einem auf keiner
Voraussetzung mehr beruhenden Urprinzipe
schreitet und ohne Hilfe von Bildern, deren sie sich
bei ersterem Unterabschnitte des Erkennbaren bedient,
nur mit reinen Begriffen denWeg ihrer Forschung
bewerkstelligt.
Die Gedanken, sagte er, welche du hier aussprichst,
habe ich nicht recht verstanden.
Nun, erwiderte ich, du wirst sie bald leichter verstehen,
wenn folgendeWorte vorausgeschickt sind:
Ich glaube, du weißt ja doch, daß die, welche sich mit
Geometrie und Arithmetik und dergleichen abgeben,
den Begriff von Gerade und Ungerade, von Figuren
und den drei Arten vonWinkeln und sonst dergleichen
bei jedem Beweisverfahren voraussetzen, als
hätten sie über diese Begriffe einWissen, während sie
diese doch nur als unerwiesene Voraussetzungen hinstellen
und weder sich noch anderen davon noch Rechenschaft
schuldig zu sein glauben, als verstände sie
alle Welt; von diesen angenommenen Begriffen gehen
sie als von Prinzipien aus, führen dann schon das
Platon: Der Staat 401
Weitere durch und kommen so endlich folgerecht an
dem Ziele an, auf dessen Erforschung sie losgegangen
waren.
Ja, sagte er, das weiß ich allerdings.
Nicht wahr, auch das weißt du, daß sie sich der
sinnlich sichtbaren Dinge bedienen und ihre Demonstrationen
auf jene beziehen, während doch nicht auf
diese als solche (als sinnlich sichtbare) ihre Gedanken
zielen, sondern nur auf das, wovon jene sinnlich sichtbaren
Dinge nur Schattenbilder sind? Nur des intelligiblen
Vierecks, nur der intelligiblen Diagonale
wegen machen sie ihre Demonstrationen, nicht derentwegen,
die sie mit einem Instrumente auf die Tafel
zeichnen; und so verfahren sie in allem übrigen:
selbst die Körper, die sie bilden und zeichnen, wovon
es auch Schatten und Bilder im Gewässer gibt, eben
diese Körper gebrauchen sie weiter auch nur als
Schattenbilder und suchen dadurch zur Schauung
eben jener Gedankenurbilder zu gelangen, die niemand
anders schauen kann als mit dem Auge des Geistes.
Richtig bemerkt, sagte er.
Das ist’s also, was ich vorhin meinte, als ich von
dem einen Unterabschnitte der bloß durch die Vernunft
erkennbaren Hälfte sagte: daß die Seele bei dessen
Erforschung von unerwiesenen Voraussetzungen
auszugehen genötigt sei; daß sie dabei zu keinem
Platon: Der Staat 402
Urprinzipe komme, weil sie über ihre Voraussetzungen
nicht hinausgehen könne: endlich, daß sie sich
dabei als Bilder bediene nicht nur der eigentlichen
Bilder von der sinnlich-irdischen Körperwelt, sondern
auch jener sinnlich-irdischen Körperwelt selbst, die
von den gewöhnlichen Leuten im Vergleich zu jenen
Nachbildungen für reelle Dinge gehalten und geschätzt
sind.
Ich begreife, sagte er, daß du die unter der Geometrie
und den damit verwandten Disziplinen begriffene
Wissenschaft meinst. So begreife denn nun auch, daß
ich unter dem anderen Unterabschnitte der nur durch
die Vernunft erkennbaren Hälfte das verstehe, was die
Vernunft durch das Vermögen, eine Forschung diskursiv
mit reinen Begriffen anzustellen, erfaßt und
wobei sie ihre Voraussetzungen nicht als schon erwiesene
Prinzipien ausgibt, sondern als eigentliche Voraussetzungen,
gleichsam nur als Einschritts- und Anlaufungspunkte,
damit sie zu dem auf keiner Voraussetzung
mehr beruhenden Urprinzipe des Alls gelangt;
nach Erfassung jenes Urprinzipes hält sie (die
Vernunft) sich wiederum an die Folgen von demselben
und gelangt also an das Ende, braucht dabei gar
kein sinnlich Wahrnehmbares, sondern nur reine Begriffe
zu reinen Begriffen und endigt bei reinen Begriffen.
Ich begreife, sagte er, zwar nicht vollständig, –
Platon: Der Staat 403
denn du scheinst mir hier eine ungeheure Aufgabe im
Sinne zu haben; so viel begreife ich indessen, du
willst (zwischen Philosophie und Mathematik) die bestimmte
Grenze setzen: bei der reinen und nur durch
die Vernunft erkennbaren Hälfte des Seins sei derjenige
Abschnitt, der nur durch die Erkenntnis mit reinen
Begriffen (Dialektik) geschaut wird, deutlicher als
derjenige, der von jenen sogenannten strengenWissenschaften
erkannt wird, weil bei ihnen unerwiesene
Voraussetzungen für Prinzipien gelten; und es müßten
zwar die Jünger jener strengenWissenschaften ihre
Objekte durch den Verstand und nicht durch die Sinne
schauen; aber weil sie bei ihrer Forschung nicht bis
zu einem Urprinzipe hinaufstiegen, sondern nur von
unerwiesen bleibenden Voraussetzungen ausgingen,
so schienen sie dir darüber keine eigentliche Vernunfteinsicht
zu haben; es sei jedoch auch in jenen
Dingen Vernunfteinsicht möglich in Verbindung mit
einem Aufsteigen zu einem Urprinzipe; ferner
scheinst du mir die Geistestätigkeit der Mathematiker
und dergleichen Leute nur Verstand zu nennen, nicht
Vernunfteinsicht, als wenn der Verstand die Mitte
hielte zwischen Meinung und Vernunfteinsicht.
Vollkommen hast du begriffen, erwiderte ich.
Merke mir daher auch für die vier Abschnitte des
Seins die vier in der menschlichen Seele davon herrührenden
Zustände: Vernunfteinsicht für den
P
Platon: Der Staat 404
obersten. Verstandeseinsicht für den zweiten, dem
dritten teile Glauben an die Sinne zu, dem vierten
bloß einen eitlen Schein vomWahren, und stelle sie
in ein proportionales Verhältnis, in der Überzeugung,
daß sie in eben demMaße der wissenschaftlichen
Klarheit teilhaftig sind, in dem ihre Objekte an dem
wahren Sein teilhaben.
Ich begreife, Sprache er, stimme bei und stelle sie
ins Verhältnis, wie du sagst.
Platon: Der Staat 405
Siebentes Buch
Nach diesen Erörterungen, fuhr ich fort, betrachte
nun unsere menschliche Anlage vor und nach ihrer
Entwicklung mit dem in folgendem bildlich dargestellten
Zustande: Stelle dir nämlich Menschen vor in
einer höhlenartigenWohnung unter der Erde, die
einen nach dem Lichte zu geöffneten und längs der
ganzen Höhle hingehenden Eingang habe, Menschen,
die von Jugend auf an Schenkeln und Hälsen in Fesseln
eingeschmiedet sind, so daß sie dort unbeweglich
sitzenbleiben und nur vorwärts schauen, aber links
und rechts die Köpfe wegen der Fesselung nicht umzudrehen
vermögen; das Licht für sie scheine von
oben und von der Ferne von einem Feuer hinter ihnen;
zwischen dem Feuer und den Gefesselten sei oben ein
Querweg; längs diesem denke dir eine kleine Mauer
erbaut, wie sie die Gaukler vor dem Publikum haben,
über die sie ihre Wunder zeigen.
Ich stelle mir das vor, sagte er.
So stelle dir nun weiter vor, längs dieser Mauer trügen
Leute allerhand über diese hinausragende Gerätschaften,
auch Menschenstatuen und Bilder von anderen
lebendenWesen aus Holz, Stein und allerlei sonstigem
Stoffe, während, wie natürlich, einige der Vorübertragenden
ihre Stimme hören lassen, andere
Platon: Der Staat 406
schweigen.
Ein wunderliches Gleichnis, sagte er, und wunderliche
Gefangene!
Leibhaftige Ebenbilder von uns! sprach ich. Haben
wohl solche Gefangene von ihren eigenen Personen
und von einander etwas anderes zu sehen bekommen
als die Schatten, die von dem Feuer auf die ihrem Gesichte
gegenüberstehendeWand fallen?
Unmöglich, sagte er, wenn sie gezwungen wären,
ihr ganzes Leben lang unbeweglich die Köpfe zu halten.
Ferner, ist es nicht mit den vorübergetragenen Gegenständen
ebenso?
Allerdings.
Wenn sie nun mit einander reden könnten, würden
sie nicht an der Gewohnheit festhalten, den vorüberwandernden
Schattenbildern, die sie sahen, dieselben
Benennungen zu geben?
Notwendig.
Weiter: Wenn der Kerker auch einenWiderhall von
der gegenüberstehendenWand darböte, sooft jemand
der Vorübergehenden sich hören ließe, – glaubst du
wohl, sie würden den Laut etwas anderem zuschreiben
als den vorüberschwebenden Schatten?
Nein, bei Zeus, sagte er, ich glaube es nicht.
Überhaupt also, fuhr ich fort, würden solche nichts
für wahr gelten lassen als die Schatten jener Gebilde?
Platon: Der Staat 407
Ja, ganz notwendig, sagte er.
Betrachte nun, fuhr ich fort, wie es bei ihrer Lösung
von ihren Banden und bei der Heilung von
ihrem Irrwahne hergehen würde, wenn solche ihnen
wirklich zuteil würde: Wenn einer entfesselt und genötigt
würde, plötzlich aufzustehen, den Hals umzudrehen,
herumzugehen, in das Licht zu sehen, und
wenn er bei allen diesen Handlungen Schmerzen empfände
und wegen des Glanzgeflimmers vor seinen
Augen nicht jene Dinge anschauen könnte, deren
Schatten er vorhin zu sehen pflegte: was würde er
wohl dazu sagen, wenn ihm jemand erklärte, daß er
vorhin nur ein unwirkliches Schattenspiel gesehen,
daß er jetzt aber dem wahren Sein schon näher sei und
sich zu schon wirklicheren Gegenständen gewandt
habe und daher nunmehr auch schon richtiger sehe?
Und wenn man ihm dann nun auf jeden der vorüberwandernden
wirklichen Gegenstände zeigen und ihn
durch Fragen zur Antwort nötigen wollte, was er sei, –
glaubst du nicht, daß er ganz in Verwirrung geraten
und die Meinung haben würde, die vorhin geschauten
Schattengestalten hätten mehr Realität als die, welche
er jetzt gezeigt bekomme?
Ja, bei weitem, antwortete er.
Und nicht wahr, wenn man ihn zwänge, in das
Licht selbst zu sehen, so würde er Schmerzen an den
Augen haben, davonlaufen und sich wieder jenen
Platon: Der Staat 408
Schattengegenständen zuwenden, die er ansehen kann,
und würde dabei bleiben, diese wären wirklich deutlicher
als die, welche er gezeigt bekam?
So wird’s gehen, meinte er.
Wenn aber, fuhr ich fort, jemand ihn aus dieser
Höhle mit Gewalt den rauhen und stellen Aufgang
zöge und ihn nicht losließe, bis er ihn an das Licht
der Sonne herausgebracht hätte, – würde er da wohl
nicht Schmerzen empfunden haben, über dieses Hinaufziehen
aufgebracht werden und, nachdem er an das
Sonnenlicht gekommen, die Augen voll Blendung
haben und also gar nichts von den Dingen sehen können,
die jetzt als wirkliche ausgegeben werden?
Er würde es freilich nicht können, sagte er, wenn
der Übergang so plötzlich geschähe.
Also einer allmählichen Gewöhnung daran, glaube
ich, bedarf er, wenn er die Dinge über der Erde schauen
soll. Da würde er nun erstlich die Schatten am
leichtesten anschauen können und die imWasser von
den Menschen und den übrigenWesen sich abspiegelnden
Bilder, sodann erst die wirklichen Gegenstände
selbst. Nach diesen zwei Stufen würde er die Gegenstände
am Himmel und den Himmel selbst erst des
nachts, durch Gewöhnung seines Blickes an das Sternen-
und Mondlicht, leichter schauen als am Tage die
Sonne und das Sonnenlicht.
Ohne Zweifel.
Platon: Der Staat 409
Und endlich auf der vierten Stufe, denke ich, vermag
er natürlich die Sonne, das heißt nicht ihre Abspiegelung
imWasser oder in sonst einer außer ihr
befindlichen Körperfläche, sondern sie selbst in ihrer
Reinheit und in ihrer eigenen Region anzublicken
sowie ihr eigentliches Wesen zu beschauen.
Ja, notwendig, sagte er.
Und nach solchen Vorübungen würde er über sie
die Einsicht gewinnen, daß sie die Urheberin der Jahreszeiten
und Jahreskreisläufe ist, daß sie die Mutter
von allen Dingen im Bereiche der sichtbaren Welt
und von allen jenen allmählichen Anschauungen gewissermaßen
die Ursache ist.
Ja, entgegnete er, offenbar muß er zu diesen Einsichten
nach jenen Vorübungen gelangen.
Wenn er nun an seinen ersten Aufenthaltsort zurückdenkt
und an die dortigeWeisheit seiner Mitgefangenen:
wird er da wohl nicht sich wegen seiner
Veränderung glücklich preisen und jene bedauern?
Ja, sicher.
Und wenn damals bei ihnen Ehres- und Beifallsbezeugungen
wechselseitig bestanden sowie Belohnungen
für den schärfsten Beobachter der vorüberwandernden
Schatten, feiner für das beste Gedächtnis
daran, was vor, nach und mit ihnen zu kommen pflegte,
und für die geschickteste Prophezeiung des künftig
Kommenden: meinst du, daß er da danach Verlangen
Platon: Der Staat 410
haben werde, daß er die bei jenen Höhlenbewohnern
in Ehre Stehenden und Machthabenden beneidet?
Oder daß es ihm geht, wie Homer sagt, und er viel lieber
als Tagelöhner bei einem linderen dürftigen
Manne das Feld bestellen und eher alles in derWelt
über sich ergehen lassen will, als jene Meinungen und
jenes Leben haben?
Letzteres glaube ich, sagte er, daß er nämlich sich
eher allen Leiden unterziehen als jenes Leben führen
wird.
Hierauf nun, fuhr ich fort, bedenke folgendes:
Wenn ein solcher wieder hinunterkäme und sich wieder
auf seinen Platz setzte: würde er da nicht die
Augen voll Finsternis bekommen, wenn er plötzlich
aus dem Sonnenlicht käme?
Ja, ganz sicherlich, sagte er.
Aber wenn er nun, während sein Blick noch verdunkelt
wäre, wiederum im Erraten jener Schattenwelt
mit jenen ewig Gefangenen wetteifern sollte, und
zwar ehe seine Augen wieder zurechtgekommen
wären – und die zu dieser Gewöhnung erforderliche
Zeit dürfte nicht ganz klein sein -: würde er da nicht
ein Gelächter veranlassen, und würde es nicht von
ihm heißen, weil er hinaufgegangen wäre, sei er mit
verdorbenen Augen zurückgekommen, und es sei
nicht der Mühe wert, nur den Versuch zu machen,
hinaufzugehen? Und wenn er sich gar erst
Platon: Der Staat 411
unterstände, sie zu entfesseln und hinaufzuführen, –
würden sie ihn nicht ermorden, wenn sie ihn in die
Hände bekommen und ermorden könnten?
Ja, gewiß, antwortete er.
Das Gleichnis hier also, mein lieber Glaukon, fuhr
ich fort, ist nun in jeder Beziehung auf die vorhin ausgesprochenen
Behauptungen anzuwenden: Die mittels
des Gesichts sich uns offenbarendeWelt vergleiche
einerseits mit der Wohnung im unterirdischen Gefängnisse,
und das Licht des Feuers in ihr mit dem
Vermögen der Sonne; das Hinaufsteigen und das Beschauen
der Gegenstände über der Erde andererseits
stelle dir als den Aufschwung der Seele in die nur
durch die Vernunft erkennbareWelt vor, – und du
wirst dann meine subjektive Ansicht hierüber haben,
dieweil du sie doch einmal zu hören verlangst; ein
Gott mag aber wissen, ob sie objektiv wahr ist! Aber
meine Ansichten hierüber sind nun einmal die: im Bereiche
der Vernunfterkenntnis sei die Idee des Guten
nur zu allerletzt und mühsam wahrzunehmen, und
nach ihrer Anschauung müsse man zur Einsicht kommen,
daß es für alle Dinge die Ursache von allen Regelmäßigkeiten
und Schönheiten sei, indem es erstlich
in der sichtbaren Welt das Licht und dessen Urprinzip
erzeugt, sodann auch in der durch die Vernunft erkennbarenWelt
selbst Urprinzip ist und sowohl die
objektiveWahrheit als auch unsere Vernunfteinsicht
Platon: Der Staat 412
gewährt; ferner zur Einsicht kommen, daß dasWesen
des Guten ein jeder erkannt haben müsse, der verständig
handeln will, sei es in seinem eigenen Leben oder
im Leben des Staates.
Ja, sagte er, auch ich teile deine Ansicht, wie ich
eben vermag.
Wohlan denn, fuhr ich fort, teile auch noch folgende
Ansicht mit mir und finde es gar nicht auffallend,
daß die, welche zu jener Erkenntnis gelangt
sind, gar keine Lust haben, sich mit den Händeln der
Menschen abzugeben, sondern daß sie immer zum
Verweilen im Überirdischen sich gezogen fühlen; begreiflich
wohl ja doch, wofern auch hier nach dem
vorerwähnten Gleichnisse es sich so verhält.
Begreiflich freilich, meinte er.
Und kann man denn es ferner auffallend finden, daß
jemand, von den göttlichen Anschauungen in dieWelt
der menschlichen Trübsale versetzt, sich ungeschickt
stellt und gar albern scheint, wenn er noch während
seines blöden Blickes und ohne hinreichende Gewöhnung
an die nunmehrige Finsternis in die Notwendigkeit
kommt, in Gerichtshöfen oder anderswo über die
Schatten der Gerechtigkeit oder über die Gebilde,
wovon die Schatten kommen, zu streiten und darüber
zu wetteifern, wie sie von den Menschenkindern aufgefaßt
werden, von ihnen, die die Gerechtigkeit an
sich niemals geschaut haben?
Platon: Der Staat 413
Das wäre, sagte er, in keinerWeise auffallend!
Ja, wenn jemand Verstand hat, fuhr ich fort, so erinnert
er sich, daß zweierlei und von zweierlei Ursachen
kommende Trübungen den Augen widerfahren,
nämlich einmal, wenn sie aus dem Licht in die Finsternis,
und dann, wenn sie aus der Finsternis ins
Licht versetzt werden; und wenn er nun daran festhält,
daß dieselben Erscheinungen in der Seele sich zutragen,
so wird er nicht unvernünftig lachen, sooft er
Verblüfftheit und Ungeschicktheit beim Erschauen
eines Gegenstandes bei einer Seele bemerkt, sondern
er wird untersuchen, ob sie aus einem lichtvolleren
Leben herkomme und aus Ungewohnheit verfinstert
wird, oder ob sie durch den Übergang aus einem ungebildeteren
Zustande in einen lichtvolleren von dem
helleren Lichtglanz verblüfft sei. Und demnach wird
er erstere wegen ihres Zustandes und Lebens glücklich
preisen, letztere aber bemitleiden; wenn er jedoch
über letztere lachen wollte, so würde dieses Lachen
ihm weniger Schande machen als das über eine aus
dem Licht kommende Seele.
Ja, sagte er, sicher hast du recht.
Wir müssen also, fuhr ich fort, dieWahrheit dieser
Ansichten vorausgesetzt, hierüber folgende Ansicht
festhalten: Die Jugendbildung sei nicht von der Art,
wofür sie einige Lehrer von Profession ausgeben.
Nach ihrem Vorgeben gibt es ganz und gar kein in der
Platon: Der Staat 414
Seele ursprünglich gelegenesWissen, und sie setzten
es hinein, als wenn sie blinden Augen ein Gesichtsvermögen
einsetzten.
Ja, sagte er, das geben sie vor.
Aber die gegenwärtige Theorie, sprach ich weiter,
deutet offenbar daraufhin, daß das Vermögen jenes
Wissens ursprünglich in der Seele gelegen sei; das
Organ, mit dem ein jeder erkennt, muß nur ebenso,
wie wenn ein Auge nicht anders als mit dem ganzen
Körper sich nach dem Hellen aus dem Dunklen umwenden
könnte, mit der ganzen Seele aus dem Bereiche
des wandelbarenWerdens umgelenkt werden, bis
diese die Anschauung des reinen Seins und die der
hellsten Region desselben ertragen kann; diese hellste
Region ist aber nach unserer Erklärung das höchste,
wesenhafteste Gute, nicht wahr?
Ja.
Jugendbildung, fuhr ich fort, wäre also von nichts
anderem die Kunst als eben hiervon: von der Herumdrehung,
auf welcheWeise nämlich jenes Organ mit
der möglichst größten Leichtigkeit undWirksamkeit
sich umwenden lasse, – nicht aber die Kunst, jenem
ein Sehvermögen einzusetzen; sie muß vielmehr annehmen,
daß jenes Organ dieses Vermögen schon besitze,
daß es aber noch nicht die gehörige Richtung
genommen habe und noch nicht dahin sähe, wohin es
sehen sollte, und muß ihm hierzu behilflich sein.
Platon: Der Staat 415
Ja, offenbar, sagte er.
Die übrigen sogenannten Seelenfähigkeiten scheinen
indes allerdings in einiger Beziehung mit den körperlichen
verwandt zu sein: sie scheinen in der Tat ursprünglich
nicht vorhanden und nachher erst durch
wiederholte Gewöhnung und Übung eingepflanzt zu
werden. Aber das Vermögen des intellektuellen Erkennens
hat nach aller Wahrscheinlichkeit jenen höheren
Ursprung, da dieses seine eigentliche Kraft niemals
verliert und, je nachdem es seine Lenkung erhält,
gut und heilsam, oder im Gegenteil schlecht und
schädlich wird. Oder hast du noch nicht an den Leuten,
die als Bösewichte bekannt sind und dabei als gescheit
gelten, die Bemerkung gemacht, wie spitz ihr
Seelchen sieht und wie scharfes das durchschaut, worauf
sein Ziel gerichtet ist, und daß es also gar keine
schlechte Sehkraft hat, sondern daß es damit nur gezwungen
der Schlechtigkeit dient? Daher es denn
auch kommt, daß eine Seele in diesem Falle desto
größere Übeltaten verübt, je schärfer ihr Geistesblick
ist.
Ja, allerdings, sagte er.
Wenn jedoch, fuhr ich fort, dieses Vermögen einer
solchen angeborenen Anlage gleich von Jugend auf
beschnitten worden wäre und die dem Reiche des vergänglichenWerdens
verwandten und ihr wie Bleikugeln
anhängenden Teile abgehauen bekommen hätte,
Platon: Der Staat 416
die Teile, die durch allzuvieles Essen sowie durch
ähnliche sinnliche Lüste und Schwelgereien mit ihr
verwachsen und die geistige Sehkraft natürlich hinab
auf das Irdische lenken, – wenn sie, sage ich, von diesen
Bleikugeln befreit und auf das Reich desWahren
hingelenkt worden wäre, so hätte eben diese Seelentätigkeit
jener Leute jenes Reich desWahren am schärfsten
geschaut, wie sie nun auch die Dinge sieht, worauf
sie jetzt gerichtet ist.
Natürlich, sagte er.
Nun, sprach ich, ist nicht auch das natürlich, ja
nach den vorausgeschickten Sätzen ganz notwendig,
daß weder die geistig Ungebildeten und mit dem
Reich derWahrheit Unbekannten je ordentlich einen
Staat verwalten, noch die, welche man mit geistiger
Bildung ihr ganzes Leben lang sich abgeben läßt: erstere
nicht, weil sie in ihrem Leben nicht ein bestimmtes
Ziel haben, wonach sich alle Handlungen
richten müßten, im Privatleben wie im Staat; letztere
nicht, weil sie gutwillig sich mit keinen Geschäften
abgeben wollen, indem sie meinen, sie seien schon
bei ihrem Leben auf die Inseln der Seligen versetzt?
Ja, richtig, sagte er.
Da ist’s für uns, fuhr ich fort, die Gründer des Staates,
eine Aufgabe, die fähigsten Köpfe anzuhalten,
daß sie zu jenerWissenschaft gelangen, die nach unserer
vorigen Erklärung die größte ist, daß sie
Platon: Der Staat 417
schauen das höchste, wesenhafteste Gut und denWeg
zu ihm emporklimmen, und wenn sie nach diesem
Emporklimmen sich satt geschaut haben, so dürfen
wir ihnen nicht mehr die Erlaubnis geben, die sie jetzt
haben.
Welche denn?
Dort droben, sprach ich, zu verweilen und sich
nicht dazu zu verstehen, wieder herunterzusteigen zu
jenen Gefangenen, sowie nicht Anteil zu nehmen an
ihren Mühseligkeiten und an ihren Ehren, mögen letztere
nun geringfügiger oder ernster Art sein.
So wollen wir, sagte er, ihnen Unrecht tun und sie
ein schlimmeres Leben haben lassen, während es
ihnen möglich ist, ein besseres zu führen?
Da hast du schon wieder vergessen, mein Lieber,
sprach ich, daß die Hauptsorge eines vernünftigen
Staatsgrundgesetzes nicht die ist, daß nur irgend ein
Stand im Staate besonders im Glücke lebe, sondern
daß es das Emporkommen dieses höheren Glückes in
dem ganzen Staate überhaupt bewerkstelligt, indem es
die Bürger teils durch Lehren, teils durch Zwang zu
einer Einheit bringt, indem es sie sich einander den
Vorteil mitteilen läßt, mit dem ein jeder in seinem besonderen
Stande nach Kräften zur Vervollkommnung
des Allgemeinen beiträgt, und indem es endlich dem
Geiste des Staates ähnliche Männer hervorbringt,
nicht daß es jeden eine beliebige Lebensrichtung
Platon: Der Staat 418
nehmen läßt, sondern daß es sie zur einheitlichen Zusammenhaltung
des Staates gebraucht.
Ja, richtig, sagte er, das hatte ich freilich vergessen.
So bedenke denn nun, mein lieber Glaukon, fuhr
ich fort, daß wir den in unserem Staate gereiften Jüngern
derWissenschaft gar kein Unrecht tun, sondern
gerechte Ansprüche an sie machen, wenn wir ihnen
den Zwang auflegen, für ihre übrigen Mitmenschen zu
sorgen und zu wachen. Mit Grund dürfen wir ihnen
vorstellen: »Die in anderen Staaten emporgekommenen
Männer euresgleichen nehmen mit ganz gutem
Grunde keinen Anteil an den Mühseligkeiten in ihnen;
sie wachsen darin nämlich von selbst hervor, ohne absichtliche
Pflege der jedesmaligen Staatsverfassung,
und da ist es denn ganz in der Ordnung, daß das von
selbst Gewachsene, weil es niemandem seine Pflege
verdankt, keine sonderliche Lust hat, die Pflegegelder
abzuverdienen. Euch aber haben wir zu eurem eigenen
und des übrigen Staates Besten, wie in Bienenstöcken,
zuWeiseln und Königen absichtlich erzogen,
euch eine theoretisch gründlichere und praktisch
tüchtigere Erziehung geben lassen, als jene Selbstgepflanzten
sie haben, und wir haben euch so eher in
den Stand gesetzt, in beiden Beziehungen euch zu beteiligen.
Hinab muß also jeder der Reihe nach steigen
in die Behausung der übrigen Mitmenschen und sich
angewöhnen, das Reich der Finsternis zu schauen;
Platon: Der Staat 419
denn gewöhnt ihr euch daran, so werdet ihr tausendmal
besser als jene Höhlenbewohner an den einzelnen
Schattenbildern sehen, was sie sind und wovon sie
sind, weil ihr eine Anschauung von den ewig währenden
Urbildern der einzelnen vergänglichen Erscheinungen
im Bereiche des Schönen, Gerechten und
Guten habt. Und so wird die Verwaltung des Staates
für uns wie für euch einem wachenden Zustande ähnlich
sein, nicht einem Schlaftaumel, in welchem die
meisten Staaten jetzt von Leuten verwaltet werden,
die um Schatten fechten und über das Herrschen
Krieg und Streit anfangen, als wäre es ein großes Gut,
während doch dieWahrheit sich also verhält: In dem
Staate, in dem die zum Herrschen Bestellten am wenigsten
Verlangen danach haben, in diesem muß die
beste und friedlichste Verwaltung sein; in dem Staate
mit Herrschern vom Gegenteil ist auch das Gegenteil
der Fall.«
Allerdings, sagte er.
Werden nun deiner Meinung nach nach Anhören
solcher Vorstellungen unsere Zöglinge sich gegen uns
noch unfolgsam beweisen und sich weigern, einzeln
reihum an den Beschwerden der Staatsregierung teilzunehmen,
und werden sie die ganze Lebenszeit mit
einander nur in der leinen Lichtwelt des Gedankens
wohnen wollen?
Unmöglich, sagte er; denn gerechte Forderungen
Platon: Der Staat 420
können wir ja an gerechte Männer stellen. Jedenfalls
jedoch wird ein jeder von ihnen zum Herrschen wie
zu einer unabwendbaren Notwendigkeit gehen, ganz
im Gegensatz zu denen, die jetzt in den einzelnen
Staaten das Ruder führen.
Ja, sprach ich, so ist’s, mein Freund; wenn du nämlich
für die zur Herrschaft Bestellten noch ein glücklicheres
Leben ausfindig machen wirst als das Herrschen,
dann wird bei dir die Möglichkeit zu einer
guten Staatsverwaltung vorhanden sein; denn nur in
ihm herrschen die wahrhaftig Reichen, nicht die an
Gold reich sind, sondern reich daran, woran der
Glückselige reich sein muß: an einem sittlich guten
und vernünftigen Leben.Wenn dagegen Bettelleute
und nur an ihren eigenen Beutel denkende Menschen
zu Staatsämtern kommen, die ihr vermeintliches
höchstes Gut sich von dort erst holen zu müssen glauben,
so gibt’s keine Möglichkeit zu einer guten Staatsverwaltung.
Denn wird das Staatsruder ein Gegenstand
des Raufens, so wird ein solcher Krieg, da er in
den eigenen Eingeweiden geführt wird, sowohl die
streitenden Parteien selbst als auch den übrigen Staat
verderben.
Ja, ganz recht, sagte er.
Kennst du nun, fuhr ich fort, noch eine andere Lebensweise,
die sich aus den Staatsämtern weniger
macht als die wahre und nur auf das sittlich gute
Platon: Der Staat 421
Leben zielendeWissenschaft (die Philosophie)?
Nein, wahrhaftig nicht, sagte er.
Aber nun sollen doch Nichtliebhaber zum Herrschen
kommen; sonst aber werden die erwähnten Nebenbuhler
sich darum raufen!
Allerdings.
Welche anderen sollte man also noch anhalten, an
die Obhut des Staates sich zu begeben, als diejenigen,
die erstlich in den Dingen am kundigsten sind, durch
die ein Staat am besten verwaltet wird, und die zweitens
noch andere, höhere Ehren und ein glücklicheres
Leben kennen als das eines gewöhnlichen Staatsmannes?
Nein, keine anderen, sagte er.
Wärst du nunmehr zu der Betrachtung bereit, auf
welcheWeise solche Männer im Staate hervorgebracht
werden, und wie sie jemand hinauf ans Licht
führen wird, wie etwa schon aus der Unterwelt einige
zu den Göttern aufgestiegen sein sollen?
Warum sollte ich nicht bereit sein? meinte er.
Da handelt es sich nun nicht um eine so leichte
Umwendung wie im Scherbenspiele, sondern um eine
Seelenumlenkung, d.h. um ihre Auffahrt aus einem
nächtlichen Tage zum wahren Tage des wesentlichen
Seins, in der nach unserer Erklärung die wahreWissenschaft
(Philosophie) besteht.
Allerdings.
Platon: Der Staat 422
Also müssen wir danach sehen, welcher der Lehrgegenstände
solche Kraft hat?
Allerdings.
Welcher Lehrgegenstand, mein lieber Glaukon,
könnte wohl nun einen solchen Zug für die Seele von
dem vergänglichenWerden zum wesenhaften Sein bewirken?
Doch während dieser Worte überlege ich zugleich,
jene Männer sollten ja auch in ihrer Jugend rüstige
Kriegskämpfer sein, nicht?
Ja, das sollten sie.
Es muß also jener Lehrgegenstand, den wir suchen,
nebst der erwähnten Eigenschaft auch noch folgende
haben…
Was für eine denn?
Daß sie auch praktischen Nutzen für Kriegsmänner
hat.
Ja, sagte er, das sollte sie, wenn’s möglich wäre.
In Turnkunst und Musenkunst wurden sie schon
früherhin von uns unterrichtet.
Es war so, sagte er.
Die Turnkunst nun erstlich hat es nur mit dem
Werdenden und Vergänglichen zu tun; sie ist die
Lehrmeisterin von des Körpers Zu- und Abnahme.
Offenbar.
Das einmal wäre also nicht der Lehrgegenstand,
den wir suchen.
Freilich nicht.
Platon: Der Staat 423
Nun denn vielleicht die Musenkunst in dem Umfange,
in dem wir sie früher dargestellt haben?
Aber die war ja, sagte er, nur ein Gegenstück zur
Turnkunst, wenn du dich erinnerst; sie bildete unsere
Wächter nur durch sittliche Gewöhnung, indem sie
ihnen erstlich durch die Harmonie der Töne nur eine
gewisse harmonische Stimmung, aber kein wirkliches
Wissen, und durch den Takt eine taktfeste Regelmäßigkeit
beibrachte; indem sie zweitens bei den mündlichen
Belehrungen ähnliche Zwecke verfolgte, sowohl
bei denen, die das Gewand der Fabel tragen, als
auch bei denen, die das Gepräge der nacktenWahrheit
haben; aber ein für einen solchen Zweck geeigneter
Unterrichtsgegenstand, wie du jetzt einen suchst,
war in jener Musenkunst nicht enthalten.
Sehr genau erinnerst du mich da, sprach ich; denn
in der Tat, einen solchen enthält sie nicht. Aber, mein
göttlicher Glaukon, welcher Lehrgegenstand hätte
denn besagte Eigenschaft? Denn auch die Künste
schienen uns ja schon insgesamt etwas handwerksmäßig
zu sein!
Aber welcher andere Zweig des Lernens bleibt uns
da noch übrig, der von Musenkunst, Turnkunst und
den handwerksmäßigen Künsten verschieden wäre?
Wohlan denn, sagte ich, wenn wir außer diesen
sonst keinen Lehrgegenstand mehr bekommen können,
so laß uns etwas nehmen, was sich auf alle
Platon: Der Staat 424
erstreckt!
Was denn?
So etwas, wie jener allgemeine Lehrgegenstand ist,
den alle Künste und Handwerke, Erkenntnisse und
Wissenschaften außerdem bedürfen, und den daher
auch ein jeder vor allem erlernen muß.
Welcher denn? fragte er.
Jener ganz einfache, antwortete ich: eins, zwei und
drei zu unterscheiden. Ich nenne das aber überhaupt
Zähl- und Rechenkunst. Oder ist es mit dieser nicht
so, daß jede Kunst und jedeWissenschaft sie noch
dazu unumgänglich nötig hat?
Ja, sagte er, sicher.
Also auch die Kriegswissenschaft? fragte ich.
Ja, erwiderte er, ganz notwendig.
Ja, sagte ich, als einen ganz lächerlichen Feldherrn
stellt daher Palamedes den Agamemnon jedesmal in
den Tragödien hin. Oder weißt du nicht, daß er sagt,
Agamemnon habe erst das Zählen erfunden, dann bei
dem Heere vor Ilion die Glieder geordnet, die Schiffe
und alles übrige gezählt, als ob sie vorher ungezählt
gewesen wären, und als wenn Agamemnon, demnach
zu schließen, nicht einmal gewußt hätte, wie viel
Füße er habe, wenn anders er nicht zu zählen verstanden
hätte? Und was für ein Feldherr war er wohl da,
meinst du?
Ein gar ungeschickter, sagte er, wenn dieses wahr
Platon: Der Staat 425
wäre.
Nicht wahr, fuhr ich fort, so dürfen wir also die Rechen-
und Zählkunst erstlich für eine ausgeben, die
einem Kriegsmanne unumgänglich notwendig ist?
Ja, sagte er, als die allernotwendigste, wenn er auch
nur ein klein wenig von der Ordnung eines Heeres
verstehen soll, ja wenn er überhaupt nur ein Mensch
sein will.
Bemerkst du sodann, fragte ich, an diesem Lehrgegenstande
die Eigenschaft, die ich daran bemerke?
Was für eine denn?
Er scheint mir einer der von Natur zur Vernunfterkenntnis
fuhrenden zu sein, nach denen wir suchen;
es: scheint mir aber niemand noch davon den richtigen
Gebrauch zu machen, wiewohl er eine besondere
Kraft hat, zum Reich des wesenhaften Seins hinzuziehen.
Wie meinst du denn? fragte er.
Ich will es versuchen, entgegnete ich, dir meine
Ansicht hierüber klarzumachen. Stelle dich nämlich
mit mir einmal auf den Standpunkt, von dem aus ich
bei mir unterscheide, was Lenkungsmittel zu dem von
uns angegebenen Ziele sind oder nicht, und gib hernach
dein Ja oder Nein dazu, damit wir auch in dieser
Beziehung zu einer klareren Anschauung darüber
kommen, ob es inWahrheit so ist, wie ich ahne.
Gib einmal, sagte er, einen näheren Fingerzeig;
Platon: Der Staat 426
Nun, erwiderte ich, ich gebe dir hier einen Fingerzeig,
wenn du ihm mit deinem Blicke folgen kannst: Manche
sinnliche Wahrnehmungen fordern das Denkvermögen
gar nicht zur Betrachtung auf, weil man
glaubt, hierin seien die Aussagen des Sinnes evident
genug; manche dagegen halten das Denkvermögen
ganz besonders an, jene Sinnenaussage dem Prüfsteine
des Denkens zu unterwerfen, weil dieWahrnehmung
des Sinnes nichtsWahrhaftes enthalte.
Offenbar, sagte er, meinst du wohl unter den letzteren
die aus der Ferne her sich zeigenden Gegenstände
und Schattengebilde.
Dein Blick, entgegnete ich, hat gar nicht getroffen,
was ich meine.
Nun, fragte er, was für Dinge meinst du denn da?
Unter die nicht zum Denken aufforderndenWahrnehmungen,
sprach ich, rechne ich überhaupt alle, bei
denen nicht zugleich schnurstracks entgegengesetzte
Wahrnehmungen vorgehen; bei denen diese aber vorgehen,
diese rechne ich unter die zum Denken auffordernden,
weil in diesem Falle der körperliche Sinn
von einem Gegenstande ebenso die eine wie die andere
ganz entgegengesetzte Eigenschaft angibt; ob er
dabei auf jenen Gegenstand in der Nähe oder Ferne
fällt, das tut hier gar nichts zur Sache. Doch auf folgendeWeise
wirst du meine Gedanken hierüber deutlicher
einsehen: Hier sind zum Beispiel meine drei
Platon: Der Staat 427
Finger: der kleinste, der folgende und der mittelste.
Sehr wohl, sagte er.
Denke also, daß ich von ihnen als in der Nähe gesehenen
Fingern rede, und stelle mir folgende Betrachtung
über sie an…
Was für eine?
Als Finger erscheint ein jeder von ihnen auf gleiche
Weise, und in dieser Beziehung macht es gar keinen
Unterschied, ob man ihn in der Mitte sieht oder am
Ende, ob er weiß ist oder schwarz, ob dick oder dünn,
und überhaupt in Beziehung auf jede allgemeine Eigenschaft.
Bei allen diesen Eigenschaften nämlich
wird die Seele der meisten Menschen nicht aufgefordert,
das Denkvermögen zu fragen, was eigentlich
denn ein Finger ist; in keiner Beziehung nämlich kündigt
hier der Gesichtssinn vom Finger zugleich an,
daß er auch das Gegenteil vom Finger ist.
Nein, sagte er.
Von einer solchen sinnlichenWahrnehmung, fuhr
ich fort, können wir also mit Recht sagen, daß mit ihr
keine Aufforderung und keine Erregung des Denkvermögens
verbunden sei, nicht wahr?
Ja, mit Recht.
Aber wie steht’s andererseits mit der Größe und
Kleinheit jener Finger? Gibt hierüber der Gesichtssinn
auch eine beruhigendeWahrnehmung, und ist es
ihm einerlei, ob einer in der Mitte oder am Ende
Platon: Der Staat 428
steht? Ferner wird ebenso das sinnliche Gefühl genügende
Auskunft über Dünnheit,Weichheit und Härte
geben können? Und die übrigen Sinne überhaupt,
sind ihre Berichte über ähnliche Eigenschaften ganz
befriedigend? Oder verfährt jeder von ihnen also, daß
erstlich der für das Harte bestimmte notwendig auch
für dasWeiche geschaffen ist und also der Seele berichtet,
daß er an einem und demselben Gegenstande
Hartes undWeiches wahrnehme ?
Ja, sagte er, so ist’s.
Muß alsdann, fuhr ich fort, bei solchen Erscheinungen
die Seele ihrerseits nicht in die Lage versetzt werden,
daß sie gar nicht weiß, was denn eigentlich der
Sinn unter dem Harten andeute, wenn er dasselbe
auch weich nenne; daß sie ferner nicht weiß, was der
Sinn des Leichten und Schweren unter dem Leichten
und Schweren verstanden haben will, wenn er das
Schwere auch als leicht und das Leichte als schwer
ankündigt?
Ja, sagte er, freilich müssen solche Berichte der
Seele auffallen und eine nähere Prüfung verlangen.
Natürlich, sprach ich, fordert die Seele dann in desgleichen
Fällen das rechnende Abstraktions- und
Denkvermögen auf und versucht dadurch zu erforschen,
ob ein oder zwei Objekte solchen einzelnen
Berichten zugrunde liegen.
Allerdings.
Platon: Der Staat 429
Nicht wahr, wenn sich ergibt, daß zwei zugrunde
liegen, so ist doch jedes von beiden ein vom anderen
Verschiedenes und eines?
Ja.
Und wenn also jedes von beiden eine Einheit ist
und beide zwei sind, so erkennt sie sodann durch ihr
Denken, daß die zwei gesondert sind; denn wären sie
nicht gesondert gewesen, so hätte sie sie ja nicht als
zwei, sondern nur als eines erkannt.
Richtig.
Großes und Kleines, um auf das vorige Beispiel
wieder zu kommen, nahm unser Gesichtssinn wahr,
jedoch nicht getrennt, sondern als etwas Vermischtes,
nicht wahr?
Ja.
Um also über diesenWiderspruch ins klare zu
kommen, muß auch seinerseits das Denkvermögen
notwendig ein Großes und Kleines sich begrifflich
vorstellen, nicht vermischt, sondern gepennt von einander,
gerade das Gegenteil wie der Gesichtsinn.
Richtig.
Nicht wähl, von diesemMomente an kommt uns
erst der Gedanke zu fragen:Was ist das vernünftig
begreifliche Große und Kleine im Gegensatz zum
sinnlich wahrnehmbaren?
Ja, allerdings.
Und daher nun bekanntlich unsere Benennungen:
Platon: Der Staat 430
durch die Vernunft Erkennbares einerseits, sinnlich
Wahrnehmbares andererseits.
Ja, ganz richtig, sagte er.
Das also waren meine Gedanken, die ich vorhin
ausdrücken wollte, als ich sagte: mancheWahrnehmungen
hätten die Eigenschaft, das Denkvermögen
anzuregen, und manche nicht, und als ich dazu den
Unterschied von ihnen also angab: Diejenigen sinnlichenWahrnehmungen,
die zugleich mit widersprechendenWahrnehmungen
uns zukommen, sind geeignet,
das Denkvermögen anzuregen; diejenigen aber,
bei denen dies nicht der Fall ist, haben nicht diese
Anregungskraft für dasselbe.
Ich begreife nun bereits, sagte er, und teile deine
Meinung.
Wie steht’s nun mit der Anwendung hiervon? Zählkunst
und das Eins, zu welcher von beiden Rubriken
scheinen sie dir zu gehören?
Ich bringe es nicht zusammen, erwiderte er.
Du brauchst ja nur, sprach ich, nach den vorhin erörterten
Grundsätzen zu schließen.Wenn nämlich das
Eins in seinem ganzenWesen vollständig mit dem
Gesichte oder mit einem anderen Sinne wahrgenommen
wird, so wäre es nicht imstande, zum wesenhaften
Sein hinzuziehen, wie wir am Beispiel vom Finger
zeigten; wenn aber immer mit ihm ein widersprechendes
Gegenteil wahrgenommen wird, so daß es ebenso
Platon: Der Staat 431
gut als Eins denn als das Entgegengesetzte erscheint,
so wäre natürlich bereits ein genauerer Prüfstein
nötig, und die Seele sähe sich gedrungen, Zweifel zu
hegen und mit der Weckung des in ihr liegenden
Denkvermögens zu untersuchen und zu fragen:Was
ist begrifflich das Eins an und für sich? Und sonach
wäre die Lehre vom Eins eines der Anleitungs- und
Lenkungsmittel zur begrifflichen Anschauung des wesenhaften
Seins.
Ja wirklich, sagte er, die sinnliche Gesichtswahrnehmung
des Eins hat diese Eigenschaft ganz besonders.
Denn dasselbe Ding sehen wir mit dem Sinne
zugleich als Eins und als mannigfaltige Vielheit.
Nicht wahr, sagte ich, wenn denn das Eins diese
Eigenschaft hat, so hat sie auch jede Zahl überhaupt?
Allerdings.
Nun hat es aber die Rechen- und Zählkunst durchweg
mit der Zahl zu tun?
Ja, sicher.
Diese stellen sich demnach ferner als Anleitungsmittel
zum wahren Sein heraus?
Ja, ganz vorzüglich.
Und gehörten also wohl offenbar zu den vorübenden
Lehrgegenständen, nach denen wir suchen; denn
erstlich ist ihre Erlernung für einen praktischen
Kriegsmann unerläßlich notwendig wegen der Anordnungen
des Kriegsheeres, zweitens auch für den
Platon: Der Staat 432
wahrenWissenschaftsfreund, weil er dadurch aus der
Welt des wandelbarenWerdens sich emporarbeiten
und mit dem unwandelbaren Sein umgehen lernen
muß, oder er wird niemals ein begrifflich berechnender
Kopf.
Es ist so, sagte er.
Unser Staatshüter ist nun ja doch Kriegsmann sowohl
wie Freund der wahrenWissenschaft?
Jawohl.
Es kommt uns also zu, lieber Glaukon, diesen
Lerngegenstand gesetzlich einzuführen und die, die
dereinst in dem Staate an den erhabensten Würden
teilnehmen wollen, anzuhalten, an die Rechenkunst zu
gehen und sie nicht bloß für den gemeinen Hausgebrauch
zu betreiben, sondern bis sie mittels des reinen
Denkvermögens zu einer begrifflichen Anschauung
vomWesen der Zahlen gelangen, nicht Kaufs und
Verkaufs halber, wie Kaufleute und Krämer sie betreiben,
sondern einmal des praktischen Nutzens
wegen für den Krieg und dann vorzüglich zur leichteren
Umlenkung der Seele vomWerden zuWahrheit
und Sein.
Ja, sagte er, trefflich bemerkt!
Ja, fuhr ich fort, während der Verhandlung über
den Lerngegenstand der Rechenkunst sehe ich auch
jetzt bei mir selbst ein, wie vortrefflich er ist und wie
ein vielfach gutes Hilfsmittel er zu unserem
Platon: Der Staat 433
Hauptzwecke abgibt, wenn jemand als Vorschule zur
höheren Erkenntnis und nicht der Krämerei wegen ihn
studiert.
Worin liegt denn jene Vortrefflichkeit? fragte er.
Darin gerade, was wir eben erwähnten, daß sie
nämlich ganz besonders nach oben leitet, mit rein abstrakten
Zahlen bei ihren Operationen zu verfahren
nötigt und es durchaus nicht gestattet, wenn jemand
körperlich sichtbare oder fühlbare Zahlen in sie hineinbringen
und damit rechnen wollte. Denn du weißt
ja, daß die echten Meister in dieser Kunst einen auslachen
und fortweisen, wenn einer das abstrakte Eins in
Gedanken Zerschneiden wollte, und wenn du es in
viele Stückchen zerschnittest, so würden sie diese vielen
Stückchen dann wiederum als ebensoviele Einheiten
setzen und so es nie geschehen lassen, daß die
Einheit einmal nicht als Einheit, sondern als Vielheit
von Teilchen erschiene.
Ganz richtig bemerkt, sagte er.
Was glaubst du nun, mein lieber Glaukon, wenn jemand
an sie die Frage stellte: »O ihr hochgelehrten
Meister, was für Zahlen sind es denn, von denen ihr
in eurer Wissenschaft redet, und bei denen das Eins
nach eurer Ansicht die Eigenschaft hat, daß jedes dem
anderen gleich, nicht im geringsten verschieden ist
und gar kein Teilchen in sich hat?«Welche Antwort
werden sie da wohl geben?
Platon: Der Staat 434
Folgende, glaube ich: daß sie von solchen Zahlen
sprächen, die man nur denken könne, und auf eine andere
Weise damit zu verfahren sei ganz unmöglich.
Siehst du es da, mein Lieber, fuhr ich fort, daß uns
jener Lehrgegenstand als ein in der Tat unumgänglich
notwendiger erscheint, daß sich außer dem praktischen
Nutzen bei ihm herausstellt, daß er die Seele
nötigt, das reine Denken zur Auffassung der reinen
Wahrheit zu gebrauchen?
Ja, wirklich, sagte er, das bewirkt er offenbar in
einem ganz besonderen Grade.
Endlich, hast du denn schon darauf gemerkt, daß
erstlich die von Geburt zur Rechenkunst Begabten
fast zu allen Lehrgegenständen eine scharfe Auffassung
angeboren haben, und zweitens, daß die von
Natur langsamen Köpfe durch die Bildung und
Übung in diesem Zweige desWissens, wenn sie auch
sonst nichts profitieren, wenigstens doch alle den Gewinn
haben, daß sie eine schnellere Fassungskraft als
vorbei bekommen?
Ja, sagte er, es ist so.
Und dann findet man nach meiner Ansicht wirklich
nicht viele Lehrgegenstände, die dem Lernenden und
Studierenden mehr Schwierigkeit zu überwinden
gäben, als eben dieser.
Nein, nicht leicht.
Aus allen diesen Gründen dürfen wir diesen
Platon: Der Staat 435
Lehrgegenstand ja nicht außer acht lassen, sondern
müssen die besten Köpfe sorgfältig darin unterrichten
lassen.
Ja, ich stimme bei, sprach er.
Dieser erste vorübende Lehrgegenstand, fuhr ich
fort, sei also abgemacht.Wir wollen jetzt zweitens
den damit verwandten näher betrachten, ob er etwas
zu unserem Zwecke beiträgt.
Was für einen? Vielleicht Geometrie meinst du?
fragte er.
Ja, eben diese, war meine Antwort.
Was nun hier fürs erste, sagte er, ihre Beziehung
auf das Kriegswesen betrifft, so versteht sich von
selbst, daß sie dafür einen praktischen Nutzen hat: um
nämlich Lager abzustecken, feste Plätze einzunehmen,
ein Heer zusammenzuziehen oder auszudehnen, sowie
in betreff aller sonstigenWendungen, die Heere nicht
nur im Gefechte selbst, sondern auch auf ihren Märschen
machen, wird es bei einem einen großen Unterschied
machen, ob er Geometrie versteht oder nicht.
Ja, gut, sprach ich, aber zu dergleichen würde offenbar
ein klein wenig Geometrie hinreichend sein;
darum müssen wir nun zweitens ihr umfassenderes
und tieferes Studium in Erwägung ziehen und nachsehen,
ob es etwas zu jenem Zwecke beiträgt, nämlich
zur Bewerkstelligung der leichteren begrifflichen Anschauung
der Idee des Guten. Es trägt aber nach
Platon: Der Staat 436
unserer Erklärung alles dazu bei, was die Seele nötigt,
sich nach jener Region hinzuwenden, wo das Himmlischste
des Seins sich befindet, was sie auf alle
Weise sehen muß.
Ja, richtig bemerkt, sagte er.
Nicht wahr, wenn Geometrie auf wesenhaftes Sein
zu schauen nötigt, so ist sie förderlich dazu, wenn
aber auf die sichtbare Welt des vergänglichen Werdens,
so ist sie es nicht? Ja, nach unserer Behauptung
wenigstens.
Darüber wenigstens, fuhr ich fort, wird also doch
bei denen kein Zweifel sein, die nur wenig in der Geometrie
erfahren sind, daß die genannteWissenschaft
etwas ganz anderes ist, als die Ausdrücke lauten, die
diejenigen imMunde führen, die sie berufsmäßig betreiben.
Wieso? fragte er.
Sie führen bekanntlich doch eine spaßhafte und
handwerksmäßige Sprache: denn gerade als verrichteten
sie eine mechanische Arbeit und als machten sie
nur dieser Arbeit wegen alle ihre Demonstrationen,
sprechen sie nur von quadrieren, prolongieren, addieren
und wie alle diese ihre Ausdrücke lauten, während
doch die ganzeWissenschaft einer geistigen Erkenntnis
wegen betrieben wird.
Ja, allerdings, sagte er.
Nicht wahr, nur über folgendes hätten wir uns noch
Platon: Der Staat 437
zu verständigen?
Worüber denn?
Daß es Erkenntnis des immer unveränderlichen
Seins ist und nicht des in der Zeit etwas Werdenden
und wieder Vergehenden?
Da haben wir uns gut zu verständigen, antwortete
er; denn bei dieser Alternative kann die Geometrie nur
Erkenntnis des immer unveränderlichen Seins sein!
Sie hätte nach deinem Zugeständnisse, mein Lieber,
die Kraft, die Seele zum immerwährenden Sein
hinzuziehen, und wäre eine Vorschule für einen wissenschaftlichen
Kopf, um Seelentätigkeiten nach dem
Überirdischen zu richten, die wir jetzt ungebührenderweise
nur auf das Irdische halten.
Ja, sagte er, sie ist jenes im höchsten Grade.
Im höchsten Grade, fuhr ich fort, müssen wir also
darauf halten, daß die Bürger in deinem Himmelsstaat
auf keineWeise der Geometrie abhold sind; denn
auch die Nebengewinne sind nicht unbedeutend.
Welche denn? fragte er.
Erstlich der, den du schon erwähntest, erwiderte
ich: der praktische Gewinn für den Krieg; zweitens
wird außerdem bekanntlich in bezug auf jedes andere
Lernen, um besser aufzufassen, ein himmelhoher Unterschied
sein zwischen einem, der sich mit Geometrie
befaßt hat, und dem, der es nicht getan hat.
Ja wahrhaftig, ein himmelhoher, bemerkte er.
Platon: Der Staat 438
Wollen wir diese also als die zweite Vorbereitungswissenschaft
für junge Männer aufstellen?
Ja, sagte er, das wollen wir.
Wie nun weiter? Sollen wir als die dritte die Sternkunde
auf stellen? Oder meinst du nicht?
Ja, ich denke, erwiderte er; denn die Zeitwechsel in
Monat und Jahr etwas prophetisch vorauszubemerken,
ist nicht nur ein Erfordernis für Ackerbau und
Schiffahrt, sondern auch in eben dem Grade für die
Kriegskunst.
Du bist naiv! sprach ich. Du scheinst Furcht vor
dem großen Publikum zu haben, es möchte scheinen,
du wolltest unpraktische Lehrgegenstände einführen.
Der Hauptnutzen aber, freilich schwer zu glauben,
liegt darin, daß einem jeden ein gewisses Organ der
Seele gereinigt und angefeuert wird, das unter den übrigen
Lebensbeschäftigungen abstirbt und erblindet,
obgleich an dessen Erhaltung mehr gelegen ist als an
tausend Augen; denn durch jenes Organ allein wird
dieWahrheit geschaut. Die nun diese Meinung teilen,
denen wirst du mit deiner Äußerung da außerordentlich
gefallen; diejenigen aber, die hiervon noch gar
keine Vorstellung haben, die werden natürlich glauben,
daß gar nichts daran sei; denn einen anderen bedeutenden
Nutzen von jenen Studien sehen sie gar
nicht ein. Daher bedenke nun, zu welcher von beiden
Parteien du sprichst, oder ob zu keiner von beiden,
Platon: Der Staat 439
sondern ob du hauptsächlich deiner selbst wegen die
Untersuchungen anstellst, ohne auch es einem anderen
zu mißgönnen, wenn er etwas davon profitieren könnte.
Ja, sagte er, letzteres will ich vorziehen, vorzüglich
meiner selbst wegen die Untersuchung führen helfen
durch Fragen und Antworten.
So lenke denn erst wieder zurück, sprach ich; denn
wir taten eben einen Mißgriff bei dem unmittelbar auf
die Geometrie folgenden Lerngegenstand.
Wieso? fragte er.
Dadurch, erwiderte ich, daß wir gleich nach der
Fläche das Körperliche in seiner Bewegung und nicht
zuvor dasselbe ohne Bewegung vornahmen, da es sich
doch gehört, unmittelbar nach der zweiten Ausdehnung
erst die dritte zu nehmen. Es handelt sich aber
hier um die Ausdehnung der Würfel und um das überhaupt,
was Tiefe hat.
Ja, freilich, sagte er; aber diese Dinge da, o Sokrates,
warten noch auf ihren Erfinder.
Ja, freilich, aus zweierlei Ursache, sprach ich; erstlich,
weil kein Staat sie hoch anschlägt, so ist die Forschung
darin schläfrig wegen der Schwierigkeit der
Sache; zweitens hätten die Forscher darin an ihrer
Spitze eine höhere Autorität nötig, ohne die sie keine
neuen Erfindungen machen können. Diese Autorität
steht nun einmal schwerlich auf, und stände sie auf,
Platon: Der Staat 440
so würden die hierfür geeigneten Köpfe unter den jetzigen
Verhältnissen ihr aus gelehrtem Handwerksdünkel
keine Folge leisten.Wenn aber sich an die Spitze
die ganze Autorität eines Staates stellte, der jeneWissenschaft
gehörig zu schätzen verstände, so würden
diese folgen, und die Sache müßte bei anhaltender
und angestrengter Forschung mit ihrem ganzenWesen
an das Licht kommen; wird sie doch schon jetzt, obwohl
von dem großen Publikum vernachlässigt und
gehemmt, von ihren eifrigen Liebhabern, obgleich sie
nicht angeben können, wozu sie nützt, dessen ungeachtet
trotz alledem aus reiner Liebe zur Sache vervollkommnet,
und es wäre keinWunder, wenn sie
auch auf diesemWege ganz ans Licht käme.
Ja, gewiß, sagte er, reizvoll ist sie auch in hohem
Grade; aber sage mir nur deutlicher, welcheWissenschaft
du hier meinst; denn du stelltest doch einmal
die ganze Behandlung der Fläche als Geometrie auf?
Ja, erwiderte ich.
Darauf, sprach er, stelltest du zuerst die Sternkunde
auf, machtest hernach aber einen Rückschritt.
Ja, sagte ich: während ich mich tummelte, recht
schnell alles abzumachen, verspätete ich mich noch
mehr; denn eigentlich wäre die Lehre von der Ausdehnung
nach der von der Tiefe an der Reihe gewesen;
aber weil die Untersuchung darüber noch ins Lächerliche
fällt, so überging ich sie und brachte nach der
Platon: Der Staat 441
Geometrie die Sternkunde vor, die sich mit der Bewegung
der Tiefe abgibt.
Ja, richtig bemerkt, sagte er.
Als vierte Vorbereitungswissenschaft, fuhr ich fort,
dürfen wir also die Sternkunde aufstellen, in der Voraussetzung,
daß die jetzt übergangene dritte (die Stereometrie)
sich schon einstellen werde, wenn einmal
ein Staat sich um sie bekümmert.
Ja, sagte er, wahrscheinlich; doch weil du, Sokrates,
mir eben in bezug auf die Sternkunde den Vorwurf
machtest, daß ich sie nur ihres gemeinen Nutzens
wegen empfohlen hätte, so will ich sie nun nach
deiner Weise loben! AllerWelt ist nämlich doch offenbar,
daß sie es ist, die eine Seele ganz besonders
nötigt, ihren Blick nach dem Überirdischen zu richten,
und sie aus dem Diesseits nach dem Jenseits
führt.
Vielleicht, sprach ich, allerWelt offenbar, nur mir
nicht; denn ich bin nicht dieser Meinung.
Nun, welcher denn? fragte er.
Daß sie, wie sie jetzt die Lehrer der Gelehrsamkeit
behandeln, den Blick ganz nach unten gewöhnt.
Wie meinst du das? fragte er.
Nicht übel scheinst du mir, sprach ich, dasWesen
des Studiums über das Überirdische in dir aufgefaßt
zu haben! Auch in dem Falle, wenn jemand an einer
Zimmerdecke Verzierungen beschaute und mit
Platon: Der Staat 442
zurückgebeugtem Kopfe etwas wahrnähme, so wärst
du imstande zu glauben, er schaue mit seiner Vernunft
und nicht mit seinen Augen. Doch vielleicht meinst
du recht, und ich bin der Einfältige. Denn ich kann
hier wiederum dieWirksamkeit, den Blick einer Seele
nach oben zu richten, keinem anderen Lehrgegenstande
zuschreiben als jenem, der sich mit dem reinen
und nicht sinnlich wahrnehmbaren Sein abgibt; wenn
aber jemand sich einfallen ließe, etwas von dem sinnlichWahrnehmbaren
zu studieren, möge er nun mit
aufgehobenem Nacken nach oben gaffen oder mit geschlossenen
Augen nach unten blicken, – so gestehe
ich ihm weder ein Studium zu, weil nichts dergleichen
eineWissenschaft enthält, noch einen wahren Blick
nach oben; sondern ich behaupte, daß seine Seele
nach unten schaue, wenn er auch auf dem Rücken liegend
studierte, zu Land oder zuWasser.
Ja, sagte er, da habe ich meinen Teil bekommen!
Mit Recht freilich hast du mich hergenommen. Aber
wie verstehst du denn das, wenn du sagtest, man
müsse die Sternkunde ganz anders studieren, als wie
sie sie jetzt treiben, wenn sie mit Nutzen für die von
uns angegebenen Zwecke sie studieren wollten?
Auf folgendeWeise, erwiderte ich: Man darf zwar
von jenen bunten Gebilden, weil sie denn einmal am
Himmel ein Zierat sind, die Meinung haben, daß sie
sehr schön seien und, mit andern Zieraten verglichen,
Platon: Der Staat 443
die vollkommensten der Art seien, muß aber dabei
den Gedanken festhalten, daß sie hinter den wahren
Schönheiten noch weit zurückbleiben, nach den Bewegungen
zu urteilen, die die wahre intellektuelle Geschwindigkeit
und die wahre intellektuelle Langsamkeit
in dem wahren intellektuellen Takte und überhaupt
in allen intellektuellen Verhältnissen zu einander
haben und dadurch die unter ihnen sichtbaren
Körper bewegen, lauter Dinge, die nur durch das
Denken und den Verstand sich erfassen lassen, nicht
aber mittels des Gesichtes; oder glaubst du?
Keineswegs, antwortete er.
Nicht wahr, sagte ich, jenen bunten Zierat am Himmel
muß man nur als Beispiele gebrauchen, um daran
jene ewig wahren Schönheiten zu studieren, so ähnlich
etwa, wie wenn jemand Figuren anträfe, die von
Daidalos oder einem anderen Meister oder Maler mit
Pinsel oder Meißel vorzüglich dargestellt wären.
Denn es würde wohl ein Geometrieverständiger beim
Anblicke solcher Gebilde hinsichtlich der Kunstschöpfung
sie zwar sehr schön finden; aber wahrhaft
lächerlich wäre es, wenn man sie ernstlich in der Absicht
studieren wollte, darin das wahreWesen des
Gleichen oder des Doppelten oder eines anderen Verhältnisses
finden zu können.
Ja, das wäre wirklich lächerlich, meinte er.
Wenn einer nun ein wahrer Sternkundiger ist, fuhr
Platon: Der Staat 444
ich fort, wird er da nicht beim Anblick der Bewegungen
von Sonne und Mond dieselbe Ansicht haben?
Nämlich wohl anerkennen, daß der Himmel samt
dem, was daran ist, von seinem Schöpfer so vollkommen
gebaut ist, wie immer nur dergleichenWerke gebaut
sein können. Aber das Verhältnis von Nacht und
Tag, das Verhältnis dieser zumMonat, das des Monates
zum Jahre und das der übrigen Gestirne zu jenen
und zu einander betreffend, glaubst du, er werde den
nicht für einen Einfaltspinsel halten, der da annähme,
diese Dinge erfolgten immer auf dieselbeWeise, und
die Himmelskörper wichen nie das mindeste ab, da
sie ja materiell und sinnlich sichtbar sind, – und der
da glaubte, er müsse auf alleWeise suchen, das wahre
Sein an ihnen zu erfassen?
Ja, sagte er, ich glaube es, da ich es jetzt von dir
höre.
Also um Übungen des denkenden Verstandes, sagte
ich, an ihnen zu haben, lassen wir Astronomie wie
Geometrie uns angelegen sein; die am Himmel befindlichen
Körper werden wir dabei nicht so hoch anschlagen,
wenn wir das in der Seele von Natur angelegte
Vernunftvermögen aus einem unbrauchbaren zu
einem brauchbaren zu machen beabsichtigen.
Ja wahrlich, bemerkte er, da stellst du eine viel
größere Aufgabe hin, als eben jetzt bei der Astronomie
stattfindet.
Platon: Der Staat 445
Freilich, sagte ich; aber ich glaube, daß wir bei den
übrigen Lehrgegenständen dieselbe Aufgabe zu stellen
haben, wenn wir als Gesetzgeber etwas nütze sein
wollen. – Aber, um weiterzukommen, was hast du
noch unter den zum fraglichen Zweck beitragenden
Vorbereitungswissenschaften zu erwähnen?
Ich habe keine mehr in dem Augenblicke jetzt,
sagte er.
Die Bewegung liefert jedoch meines Bedünkens,
sprach ich, nicht bloß eine Art von sich, sondern
mehrere. Sie alle hier aufzuzählen, vermag nur ein
Sachkundiger; derer aber, die uns hauptsächlich bekannt
sind, gibt es zwei.
Welche sind es denn?
Außer der Astronomie, sagte ich, noch ein Gegenstück
von ihr.
Und wie heißt das?
Wie es mir scheint, antwortete ich, so sind die
Ohren ebenso für die in harmonischen Tönen sich offenbarende
Bewegung bestimmt wie die Augen für die
Astronomie, und dieseWissenschaften sind mit einander
verschwistert, wie die Pythagoreer behaupten,
mit welcher Behauptung auch wir, mein Glaukon, einverstanden
sind, oder wie wollen wir es machen?
Ebenso, gab er zur Antwort.
Nicht wahr, fuhr ich fort, dieweil dies eine zu weitläufige
Materie wäre, so wollen wir uns bei jenen
Platon: Der Staat 446
erkundigen, wie ihre Lehren hierüber lauten, und ob
sie außerdem noch auf sonst etwas sich erstrecken;
wir aber wollen neben allem dem unseren Hauptgrundsatz
in acht nehmen.
Welchen?
Daß unsere Zöglinge sich nicht einfallen lassen,
etwas in diesem Fache stümperhaft zu treiben oder so,
daß es nicht beständig zu jenem Ziele führt, zu dem
alles führen muß, wie wir es vorhin an der Sternkunde
zeigten. Oder weißt du nicht, daß die Leute auch in
der Harmonie ein ähnliches Seitenstück darstellen?
Denn auch diese messen Akkorde und Töne nach einander
nur durch das Ohr und machen sich dadurch ihrerseits
ebenso eine nutzlose Arbeit wie die empirischen
Astronomen.
Ja, bei den Göttern, sagte er, gar lächerlich ist’s,
wenn sie ich weiß nicht welche »Verdichtungen« im
Munde führen und ihre Ohren hinhalten, als wollten
sie aus des Nachbars Haus herüber einen Ton erlauschen,
und wenn einige behaupten, sie vernähmen dazwischen
noch einen Ton, und dies sei das kleinste Intervall,
nach dem man messen müsse, während andere
es bestreiten und sagen, man vernehme bereits keinen
Unterschied der Intervalle; beide Parteien gebrauchen
aber dabei ihre Ohren statt ihrer Vernunft.
Du meinst gewiß hier, sprach ich, die guten armen
Tröpfe, die die Saiten quälen und foltern, indem sie
Platon: Der Staat 447
diese auf die Schrauben ziehen. Damit aber deine malerische
Schilderung von den Schlägen mit dem Hammer,
von dem Ansprechen und Versagen sowie von
der Sprödigkeit der Saiten nicht zu lang werde, so
will ich dieser Beschreibung ein Ende machen und bemerke,
daß ich an jene armen Tröpfe gar nicht denke,
sondern an diese, von denen wir eben sagten, daß wir
sie über die Musik zu Rate ziehen wollten. Diese
nämlich verfahren ebenso wie jene empirischen Astronomen:
denn sie forschen zwar in den wirklichen, mit
ihrem Ohre vernommenen Akkorden nach den ihnen
zugrunde liegenden Zahlen; aber sie bringen es darin
nicht zu den höheren Untersuchungen, welche harmonische
Zahlen sind, welche nicht, und weshalb sie beides
sind.
Ja, sagte er, da sprichst du von einer überaus herrlichen
Aufgabe!
Ja, sprach ich, von einer, die wahrhaft vorteilhaft
ist zur Erforschung des höchsten Schönen und Guten;
wenn sie aber anders betrieben würde, so wäre sie
dafür unnütz.
Wahrscheinlich wohl, sagte er.
Wenn, fuhr ich fort, das Studium aller dieser von
uns dargestellten vorbereitenden Lehrgegenstände zur
Einsicht ihrer wechselseitigen Gemeinschaft und Verwandtschaft
gelangt, und wenn man dabei die allgemeine
Übersicht gewinnt, daß sie mit einander nur
Platon: Der Staat 448
eine Familie ausmachen, so glaube ich, daß die Beschäftigung
mit ihnen nicht wenig zu dem von uns beabsichtigten
Ziele beiträgt, und daß die darauf verwandte
Mühe nicht verloren ist.Wenn aber diese Methode
nicht eingehalten wird, so ist alle Mühe verloren.
Auch mich will es so bedünken, sagte er. Aber, Sokrates,
eine ungeheure Aufgabe stellst du da hin!
Die vom Vorspiele, fragte ich, oder was meinst du?
Oder wissen wir denn nicht, daß alle jene Lehrgegenstände
nur Vorspiele sind zur Hauptmelodie, die das
Ziel alles Studiums ist? Denn diejenigen, welche in
diesen vorbereitenden Lehrgegenständen stark sind,
die scheinen dir wohl nicht deshalb schon im Besitze
der Wissenschaft der Dialektik?
Nein, sagte er, wahrhaftig nicht, mit Ausnahme einiger
ganz wenigen, die mir vorgekommen sind.
Aber, fuhr ich fort, scheinen dir diese einigen wenigen
schon etwas von dem Gebiet zu wissen, das man
nach unserer Lehre unerläßlich kennen muß, wenn sie
nicht imstande sind, bei irgend einem wissenschaftlichen
Diskurs den wahren Grund begrifflich anzugeben
oder zu fassen?
Nein, sagte er, das ebensowenig.
Nicht wahr, mein Glaukon, sprach ich, das ist erst
die wahre Hauptmelodie, die von der Kunst der Dialektik
durchgeführt wird? Von ihr, die nur durch die
Platon: Der Staat 449
Vernunft möglich ist, soll uns eine bildliche Darstellung
das Vermögen des sinnlichen Gesichtes geben,
das nach unserer obigen Darstellung schon die Tiere
selbst, die Gestirne selbst und die Sonne selbst anzuschauen
versuchte. Ähnlich geht’s, wenn jemand zur
Dialektik schreitet: ohne alle Beihilfe der Sinne dringt
er nur mittels der begrifflichen Tätigkeit des Verstandes
zum wesenhaften Sein eines jeden Dinges;
und wenn er nicht abläßt, bis er dasWesen des höchsten
Guten erfaßt hat, dann ist er natürlich an dem
Ziele des durch die VernunftWahrnehmbaren, gerade
wie einer in jenem Bilde (bei der Sonne selbst) am
Ziele des durchs körperliche AugeWahrnehmbaren
ist.
Ja, allerdings, sagte er.
Und diese Prozedur nennst du Dialektik, nicht?
Allerdings.
Dagegen, sagte ich, die dieser Prozedur vorhergehende
Entfesselung – und die Umlenkung von den
Schatten zu ihren (körperlich reellen) Bildern sowie
zu dem (von einem in der Höhle brennenden Feuer
bewirkten) Lichte – und das Emporklimmen aus dem
unterirdischen Kerker zur Sonne – und das dort im
Sonnenlichte (infolge des noch vorhandenen Unvermögens,
sogleich die Tiere, Pflanzen und den Sonnenglanz
anschauen zu können) zuerst gerichtete Schauen
auf die imWasser befindlichen Abspiegelungen vom
Platon: Der Staat 450
Göttlichen und auf die Schattenrisse von den intelligibel
wirklichen Urbildern, aber nicht von körperlich
wirklichen Bildern, welche Schattenrisse durch ein
anderes, im Vergleich mit der Sonne ähnliches Licht
(d.h. das höchste Gute) gebildet werden; – diese Kraft
hat die angestrengt geistige Beschäftigung mit den
von uns aufgestellten (mathematischen) Vorbereitungsstudien,
und diese Prozedur heißt die Hinaufführung
des edelsten Seelenvermögens zu der Anschauung
des Edelsten in den Dingen, eine ganz ähnliche
Hinaufführung, wie die oben erwähnte des hellsten
Teiles am Körper zur Anschauung des hellsten Gegenstandes
in der körperlichen und sichtbaren Welt.
Ja, ich für meinen Teil, bemerkte er, will die Dinge
einmal so annehmen. Obgleich sie durchaus anzunehmen
einerseits Bedenklichkeiten vorhanden scheinen,
so sind doch in anderer Beziehung wiederum Bedenklichkeiten,
sie nicht anzunehmen. Drum (sie sind ja
nicht bloß in diesem Augenblicke allein anzuhören,
man kann ja wiederum öfter zu ihnen zurückkommen),
drum, wie gesagt, will ich von den Dingen hier
annehmen, daß es mit ihnen ist, wie eben gesagt worden;
dagegen lasset uns nun zur eigentlichen Hauptmelodie
schreiten und sie so darstellen, wie wir das
Vorspiel dargestellt haben! Erkläre also nun, welches
ist der eigentliche Begriff der dialektischen Kunst,
welches sind ihre Teile, und worin besteht auch hier
Platon: Der Staat 451
wiederum der höhere geistige Weg dazu? Denn dieser
Weg muß doch offenbar zu jenem Ziele führen, bei
dessen Erreichung ein Ausruhen vomWege und das
Ende der Wanderung lacht.
Mein lieber Freund Glaukon, sprach ich, du wirst
hier nicht mehr imstande sein, zu folgen; denn an meinem
gutenWillen würde es nicht fehlen, auch würdest
du kein Bild von dem in Frage stehenden Hauptgegenstande
mehr zu sehen haben, sondern das reine
wahre Sein, natürlich, wie es mir erscheint. Ob es
aber in der Tat so ist, das kann noch nicht mit Zuversicht
behauptet werden; aber behauptet darf bekanntlich
werden, daß es ähnlich aussieht: oder nicht?
Jawohl!
Nicht wahr, und daß nur die Kunst der Dialektik
einem, der die oben beschriebenen Vorbereitungswissenschaften
studiert hat, dasselbe zeigen kann, auf
eine andereWeise aber es nicht möglich ist?
Auch das, sagte er, darf behauptet werden.
Und das wird uns weiter niemand in Abrede stellen,
fuhr ich fort, wenn wir behaupten, daß kein anderes
wissenschaftliches Verfahren das reine Sein eines
jeden Dinges von allem ordentlich zu erfassen strebt;
alles andere Können undWissen ist insgesamt gerichtet
entweder auf menschliche Meinungen und Begierden,
oder auf Natur- und Kunsterzeugnisse, oder auf
die Pflege von Natur- und Kunsterzeugnissen; die
Platon: Der Staat 452
übrigenWissenschaften, denen wir zugestanden, daß
sie etwas vom reinen Sein erfaßten, wie Geometrie
und die ihr verwandten, sehen wir zwar über das Sein
träumen, aber wachend es zu schauen ist ihnen unmöglich,
solange sie sich unerwiesener Voraussetzungen
bedienen und sie ganz unberührt lassen, weil sie
diese nicht begründen können. Denn bei einem Dinge,
wobei der Anfang aus dem besteht, was man nicht
weiß, Ende und Mitte aus dem Nichtgewußten zusammengeflochten
werden, – wie in allerWelt kann eine
solche Reihe von unbegründeten Folgerungen je eine
Wissenschaft werden?
Unmöglich, sagte er.
Nicht wahr, sprach ich weiter, das wissenschaftliche
Verfahren der Dialektik allein steigt, unter Aufhebung
der anfänglich aufgestellten Voraussetzungen,
zum Urgrunde, damit er dann unerschütterlich fest
steht; sie zieht das in einem gewissen barbarischen
Schlamme vergrabene Auge der Seele allmählich hervor
und führt es aufwärts, indem sie sich dabei als
Gehilfinnen und Dienerinnen bedient der erwähnten
vorbereitenden Lehrfächer, die von uns schon oft der
hergebrachten Gewohnheit zuliebe den Namen »Wissenschafter
« bekamen, aber eigentlich einen anderen
Namen haben sollten, der etwas Klareres ausdrückte
als »Meinung« und etwas Dunkleres als »Wissenschaft
«. In dem Vorhergehenden war es der Name
Platon: Der Staat 453
»Verstandeseinsicht«, womit wir sie charakterisierten.
Bei Männern aber, die, wie wir, eine Betrachtung
über so wichtige Gegenstände vor sich haben, gibt es,
denke ich, keinen Streit um einen Namen.
Gewiß nicht, sagte er, sondern nur soweit er zur
Verdeutlichung des in der Seele Gedachten beitragen
mag. Es genügt also, fuhr ich fort, den ersten und
obersten Abschnitt des Erkennens Wissenschaft zu
nennen, den zweiten Verstandeseinsicht, den dritten
Glauben an die Sinne, den vierten bloßen Schein von
Wahrheit, und einerseits die beiden letzten zusammen
Meinung, andererseits die ersten zusammen Vernunfteinsicht;
dabei bezieht sich Meinung auf das wandelbare
Werden, Vernunfteinsicht auf das unwandelbare
Sein, so daß wie Sein zumWerden, so Vernunfteinsicht
zu Meinung, und wieWissenschaft zu Glauben
an die Sinne, so Verstandeseinsicht zu Scheinwissen
sich verhält. Das entsprechende Verhältnis der Objekte
für jene Gliederung und die entsprechende Zweiteilung,
sowohl hinsichtlich des durch Meinung Erkennbaren
als auch bei dem durch Vernunft Erkennbaren,
wollen wir jetzt, mein lieber Glaukon, beiseite setzen,
damit wir nicht in noch viel umfassendere Erörterungen
geraten als vorher.
Ja gewiß, sagte er, mir scheint es ganz recht, das
Weitere zu behandeln, soweit ich ihm folgen kann.
Nennst du auch denjenigen einen Dialektiker, der
Platon: Der Staat 454
von jedem Dinge den Begriff desWesens auffaßt?
Und wirst du nicht dem dessen Unfähigen darüber
Vernunft absprechen, worüber er sich und einem anderen
nicht einen begrifflichen Grund angeben kann?
Wie könnte ich sie ihm doch zugestehen? sagte er.
Nicht wahr, in betreff des eigentlichen wesenhaften
Guten ist es ebenso? Wer nicht imstande ist, die Anschauung
vom wesenhaften Guten mit dem begrifflichen
Ausdrucke zu bestimmen und dadurch von allem
anderen zu begrenzen, wie in einer Schlacht durch alle
Angriffe sich durchzuschlagen, sie mutig zu verfechten
nicht im Hinblick auf einen Schein, sondern im
Hinblick auf wahres Sein, und in allen diesen Gefahren
mittels seines unerschütterlichen Begriffes durchzuschreiten:
von solchemMenschen wirst du sagen,
daß er wederWissenschaft vom wesenhaften Guten
habe noch von irgend einem anderen Gut; und wenn
er je einmal ein Schattenbild hiervon erfasse, so tue er
dies durch Meinung, nicht durch Wissenschaft; das
jetzige Leben verträume und verschlafe er und gelange,
ohne hier in dieserWelt erwacht zu sein, in die
Unterwelt und versinke da erst vollends in einen Todesschlaf?
Ja, bei Zeus, sagte er, ich werde gar sehr alles dies
sagen.
Wenn du daher deine eigenen Zöglinge zu künftigen
Staatsmännern, denen du jetzt in der Idee
Platon: Der Staat 455
Erziehung und Jugendunterricht gibst, einmal in der
Wirklichkeit erzögest, so würdest du nicht zugeben,
denke ich, daß sie ohne Rede und Antwort wie Figuren
im Staate die Herrschaft führen und über die
wichtigsten Angelegenheiten höchsten Orts entscheiden.
Gewiß nicht, sagte er.
Du wirst ihnen also gesetzlich auferlegen, daß sie
sich ganz besonders in ihrer Jugend mit dieserWissenschaft
hier befassen, durch die sie am gründlichsten
zu fragen und zu antworten imstande sein werden?
Ja, antwortete er, ich will das Gesetz aufstellen,
und zwar in Verbindung mit dir!
Scheint dir nun nicht, fragte ich, daß die Dialektik
uns wie ein Schlußstein auf denWissenschaften liegt,
und daß über diese hinaus keine andereWissenschaft
mehr mit Fug gestellt werden kann, sondern daß hier
das Bereich derWissenschaften sein Ende hat?
Ja, sagte er, mir wenigstens scheint es so.
Hierauf fuhr ich fort: Zu verteilen bleibt dir sonach
nur übrig, welchen Leuten und aufweicheWeise wir
diese hier aufgezähltenWissenschaften mitzuteilen
haben.
Offenbar, sagte er.
Du erinnerst dich doch noch der Eigenschaften, die
wir bei der Auswahl unserer Staatsoberhäupter
Platon: Der Staat 456
hervorhoben?
Sehr wohl, war seine Antwort.
So nimm denn an, sprach ich, daß sie vorerst im
allgemeinen nach den dort erwähnten natürlichen Eigenschaften
ausgewählt werden müssen: denn hiernach
sind nicht nur die Festesten und Mannhaftesten,
sondern womöglich zugleich auch dieWohlgestaltetsten
auszuwählen; insbesondere aber ist außer diesen
Eigenschaften nicht nur auf Adel und Ernst der Denkart
zu sehen, sondern auch auf die Erfordernisse, die
sie für die obenerwähnte wissenschaftliche Ausbildung
ihrer angeborenen Anlage haben müssen.
Welche bestimmst du denn als solche?
Erstlich, mein Bester, sagte ich, müssen sie eine
leicht auffassende Geistesschärfe für die wissenschaftlichen
Lehrgegenstände haben und dürfen nicht
schwer lernen; denn viel eher reißt doch eine Seele
vor der Schwierigkeit wissenschaftlicher Aufgaben
aus als vor der der Turnhalle: es geht nämlich ihr die
erstere Anstrengung näher, weil sie von ihr besonders
und nicht in Gemeinschaft des Körpers getragen wird.
Richtig, sagte er.
Zweitens ist natürlich auf gutes Gedächtnis, auf unverwüstlichen
Fleiß und allseitige Arbeitslust zu
sehen; oder glaubst du, daß jemand auf sonstige
Weise neben den Anstrengungen des Körpers noch so
vieles Lernen und Studieren fertigbringe?
Platon: Der Staat 457
Nein, sagte er, falls er nicht in allen Stücken ein
Günstling der Natur ist.
Der jetzige Verfall, fuhr ich fort, und die jetzige
Unehre, worin wahreWissenschaft geraten ist, ja
gewiß, sie rühren von keinen andern Ursachen als
davon, weil sie, wie vorhin schon bemerkt, nicht mit
den gehörigen Eigenschaften ausgerüstet sich mit ihr
befassen: denn nicht Bastardseelen dürfen sich mit ihr
befassen, sondern nur echte, edelgeborene.
Inwiefern? fragte er.
Einmal, erwiderte ich, darf einer, der sich mit ihr
abgeben will, in bezug auf Arbeitslust nicht hinkend
sein: d.h. er darf nicht in der einen Hälfte seiner Beschäftigungen
die Arbeit lieben, in der anderen dagegen
scheuen. Es ist dies aber der Fall, wenn jemand
zwar ein Liebhaber von Leibesübungen, von Jagd und
überhaupt von allen körperlichen Arbeiten ist, aber
nicht vom Studieren, vom Hören, vom Forschen, und
wenn er überhaupt in allen diesen Stücken die Anstrengungen
haßt. Hinkend ist aber auch der, der auf
das Gegenteil hiervon ganz seine Arbeitslust geworfen
hat.
Ja, sagte er, ganz recht.
Nicht wahr, fuhr ich fort, auch in bezug aufWahrhaftigkeit
werden wir ebenfalls eine Seele für verstümmelt
halten müssen, die zwar die absichtliche
Lüge an sich selbst haßt und unleidlich findet sowie
Platon: Der Staat 458
auch gar unwillig über Mitmenschen wird, wenn sie
lügen, dagegen aber die unfreiwillige Lüge gelassen
erträgt und, wenn sie auf einer Unwahrheit ertappt
wird, sich gar nichts daraus macht, sondern wohlbehaglich
wie eine Sau sich im Unrat seiner Unvernunft
herumwälzt?
Ja, allerdings, sagte er.
Auch in bezug auf besonnene Mäßigung der Begierden,
fuhr ich fort, mannhafte Tapferkeit, Hochherzigkeit
und überhaupt in allen Teilen der Tugend ist
vorzüglich darauf zu achten, was eine Bastardseele
und was eine edelgeborene ist: Denn wenn einer, sei
es ein einzelner Mann oder ein Staat, für solche Eigenschaften
keinen Blick hat, so hat er dann an ihnen
Krüppel und Bastarde, in was immer für einer Hinsicht
er ihnen in die Hände fallen mag, sei es hinsichtlich
der Freundschaft oder der Staatsregierung.
Ja, sprach er, wohl verhält sich’s so.
Wir müssen also, sagte ich, in allen dergleichen
Dingen Vorsichtsmaßregeln treffen. Denn wenn wir
lauter Geradgliederige und lauter Geraddenkende in
so ein Studium und in so eine Übungsschule bringen
und darin heranbilden, so wird uns die Gerechtigkeit
selber nicht tadeln können, und wir werden Staat und
Verfassung unversehrt erhalten; führen wir aber Andersartige
ihr zu, so werden wir in allem das Gegenteil
bewirken und wahreWissenschaft noch
Platon: Der Staat 459
lächerlicher machen.
Schmählich wäre das ja, sagte er.
Ja gewiß, erklärte ich; eine Lächerlichkeit aber
scheint mir auch im Augenblicke begegnet zu sein.
Welche denn? fragte er.
Ich hatte vergessen, sprach ich, daß wir uns hier
traulich unterhalten, und habe den Bogen meiner Rede
zu hart angespannt. Denn während meines Vertrags
warf ich einen Blick auf wahreWissenschaft, und
indem ich sie so unwürdig mit Füßen getreten sah,
habe ich wohl aus allzu großer Ereiferung, wie es
Hitzköpfen geht, gegen die, die daran schuld sind,
mich in meinen Ausdrücken allzu hart ausgesprochen.
Wahrlich, sagte er, mir als Zuhörer scheint es
nicht!
Aber mir als Redner, sagte ich. Aber eine weitere
Eigenschaft dürfen wir nicht vergessen: bei der ersten
Regentenauswahl hatten wir dazu Männer von schon
vorgerücktem Alter ersehen: das wird aber bei dieser
hier nicht angehen; denn dem Solon darf man nicht
trauen, wenn er sagt, daß man im Alter noch viel zu
lernen vermöge; man kann dies noch weniger als laufen.
Nur der Jugend gehören alle die großen und vielen
Anstrengungen.
Ja, sagte er, notwendig.
Rechenkunst, Geometrie und alle zur Vorbildung
gehörigen Lehrgegenstände, die der Dialektik
Platon: Der Staat 460
vorausgehen sollen, die muß man ihnen also in ihrer
Jugend vorlegen und dabei in der Methode des Unterrichtes
das Lernen nicht zum Zwange machen.
Warum denn?
Weil, antwortete ich, die edle freie Seele keinerlei
wissenschaftliche Kenntnis mit Sklavenfurcht erwerben
soll; denn die körperlichen Anstrengungen, mit
Zwang verrichtet, machen den Körper um nichts
schlechter; aber in einer Seele ist keine mit dem
Stocke beigebrachte Kenntnis von Dauer.
Richtig, sagte er.
Nicht also mit dem Stocke, mein Bester, sprach
ich, erziehe die jungen Leute in den erwähnten Lehrgegenständen,
sondern spielend, damit du auch eher
imstande bist, zu beobachten, wofür ein jeder geboren
ist!
Ja, sagte er, diesWort ist vernünftig.
Nicht wahr, fuhr ich fort, du hast noch im Gedächtnisse,
daß wir die jungen Männer als Zuschauer zu
Pferde auch in die Schlacht nehmen und, wenn es
ohne Gefahr geschehen könnte, nahe hinzuführen und,
wie junge Jagdhunde, Blut kosten lassen wollten?
Ja, gab er zur Antwort, ich erinnere mich.
Wer also in allen diesen Stücken, sprach ich, in
körperlichen Anstrengungen und Studien sowie in
Gefahren, jedesmal am gewandtesten sich zeigt, der
muß in die Zahl von Auserwählten kommen.
Platon: Der Staat 461
In welchem Alter? fragte er.
Wenn sie, war meine Antwort, von den notwendigen
Leibesübungen entbunden werden. Denn in dieser
Turnzeit, mag sie nun zwei oder drei Jahre dauern, ist
es nicht möglich, noch etwas anderes zu treiben: Müdigkeit
und Schläfrigkeit sind ja den Studien feind;
und dann besteht zugleich eben darin die erste und
nicht geringste Prüfung, wie ein jeder bei den Leibesübungen
die Probe besteht.
Jawohl, sagte er.
Nach dieser Turnzeit nun, fuhr ich fort, müssen die
vornweg Auserwählten vom zwanzigsten Jahre an
größere Ehren vor den übrigen genießen, und die
ihnen bei ihrer Jugendbildung ohne System erteilten
Kenntnisse müssen für sie systematisch zusammengestellt
werden, damit sie einen Überblick über die Verwandtschaft
der wissenschaftlichen Unterrichtsgegenstände
untereinander und mit der Natur des wesenhaften
Seins erhalten.
Ja, meinte er, nur ein solches Lernen faßtWurzel,
wo es eingepflanzt ist.
Und ist dazu, sprach ich, die größte Probe für einen
dialektischen Kopf und für einen nichtdialektischen:
denn wer Fähigkeit für jenen Überblick hat, der hat
auch Fähigkeit für Dialektik; wer aber jene nicht hat,
der hat auch diese nicht.
Einverstanden, erklärte er.
Platon: Der Staat 462
Sonach, fuhr ich fort, wirst du dein Augenmerk
darauf richten müssen, welche von ihnen die genannte
Eigenschaft in vorzüglichem Grade besitzen, außerdem
beharrlich im Studieren, beharrlich im Kriege
und in den übrigen Vorschriften des Gesetzes sind;
wirst sodann von den vorhin Auserwählten, wenn sie
das dreißigste Jahr überschritten haben, abermals eine
Auswahl treffen und diese zu noch größeren Ehren erheben,
mit ihnen eine Prüfung in der Dialektik anstellen,
wer imstande ist, sich der Hilfe der Augen und
der übrigen sinnlichenWahrnehmungen zu entäußern
und auf das wahrhafte Sein an sich loszugehen. Und
in diesem Zeitpunkte ist dann bekanntlich große
Achtsamkeit nötig, mein Freund!
Warum denn? fragte er.
Kennst du denn nicht, erwiderte ich, das große
Übel, welches heutzutage mit der Dialektik verbunden
zu sein pflegt?
Was für eines denn? fragte er.
Rebellischen Sinnes, sprach ich, werden da die jungen
Leute voll!
Jawohl, sagte er.
Ist das aber nun wohl zu verwundern, sprach ich,
und wirst du nicht Nachsicht mit den jungen Leuten
haben?
Inwiefern denn? fragte er.
In einem Gleichnisse will ich antworten, sprach
Platon: Der Staat 463
ich:Wenn jemand als untergeschobenes Kind unter
großem Reichtume in einer großen und vornehmen
Familie unter einer Menge von Schmeichlern aufgezogen
wäre und merkte, nachdem er ein Mann geworden,
daß er nicht das Kind derer sei, die sich für seine
Eltern ausgeben, ohne aber seine eigentlichen Eltern
zu finden, – kannst du wohl da vermuten, was für ein
Benehmen gegen die Schmeichler und gegen die vermeintlichen
Eltern er erstlich in jener Zeit annehmen
werde, während der er noch nichts von der Unterschiebung
weiß, und dann auch in jener, in der er
darum weiß? Oder willst du meine Vermutung darüber
hören?
Ja, ich will, sagte er.
Ich vermute so, fuhr ich fort: Er wird den Vater, die
Mutter und die übrigen vermeintlichen Blutsverwandten
weit mehr ehren als die Schmeichler; er übersieht
es nicht, wenn sie etwas bedürfen; er erlaubt sich
gegen sie keine ungezogenen Handlungen oder Worte;
in wichtigen Dingen ist er ihnen weniger ungehorsam
als den Schmeichlern, nämlich solange er dasWahre
noch nicht weiß.
Natürlich, sagte er.
Hat er aber nun das wahre Verhältnis erfahren, so
vermute ich nun das Gegenteil: An Hochachtung und
Dienstfertigkeit läßt er bei jenen nun ab, erhöht sie
dagegen bei den Schmeichlern; er ist diesen letzteren
Platon: Der Staat 464
folgsamer als vorher: er lebt nun schon nach ihrem
Willen, indem er sich unverhohlen zu ihnen hält; er
kümmert sich gar nicht mehr um jenen Vater und die
übrigen angeblichen Verwandten, wenn er nicht schon
von Natur ganz besonders gut ist.
Ganz nach derWirklichkeit, sagte er, sind deine
Schilderungen da; aber welche Beziehung hat dieses
Gleichnis auf die jungen Dialektiker?
Folgende:Wir haben doch von der ersten Kindheit
her gewisse Glaubenssätze über gerechte und sittliche
Handlungen, von welchen Sätzen wir wie von Eltern
auferzogen sind, gehorsam und achtungsvoll gegen
sie?
Ja, solche Glaubenssätze gibt’s.
Es gibt aber auch andere, diesen entgegenarbeitende
und mit sinnlichem Vergnügen in Verbindung
stehende Lebensprinzipien, die unserer Seele schmeicheln
und sie verlocken, aber die nur einigermaßen
Gesitteten nicht verführen; denn diese halten jene elterlichen
Glaubenssätze in Ehren und folgen nur ihren
Winken. Nicht wahr?
Ja, es gibt solche Lebensprinzipien.
Was ist nun die Folge? fuhr ich fort.Wenn an
einen in solchem Zustande eine dialektische Frage
herantritt, z.B. was der Begriff des Schönen sei, und
wenn ihn auf die Antwort dessen, was er von der positiven
Autorität gelehrt worden ist, das dialektische
Platon: Der Staat 465
Räsonnement auf den Sand setzt und ihm durch öftere
und mehrfache beschämendeWiderlegungen die Meinung
in den Kopf bringt, daß dasselbe konkrete Ding
bald schön, bald häßlich sei, daß es mit den Begriffen
von Gerechtigkeit und überhaupt mit allem von ihm
bisher Heiliggehaltenen dieselbe Bewandtnis habe:
wie wird es dann mit seiner Hochachtung gegen diese
aussehen?
Notwendige Folge, sagte er, ist, daß er ihnen weder
dieselbe Hochachtung noch dieselbe Folgsamkeit beweist.
Wenn er nun, sprach ich, diese positiven Grundsätze
nicht mehr für ehrwürdig, nicht mehr für blutsverwandt
hält wie ehedem, und wenn er auch die absolut
wahren noch nicht aufgefunden hat: kann er sich da
natürlicherweise zu einem anderen Leben wenden als
zu dem der schmeichlerischen Sinnlichkeit?
Nein, war seine Antwort.
Ein Rebell, denke ich, ist er also nun wohl statt
eines ordentlichenMenschen.
Notwendig.
Nicht wahr, sagte ich, also ganz natürlich ist die
Krankheit solcher jungen Dialektiker und verdient,
wie vorhin schon bemerkt, sehr unsere Nachsicht?
Ja, und unser Mitleid dazu, sagte er.
Damit dir nun dies Mitleid über deine dreißigjährigen
Schüler nicht nötig wird, so mußt du sie mit jeder
Platon: Der Staat 466
Art von Vorsicht die Dialektik anfangen lassen.
Ja, sicher, meinte er.
Ist das nun nicht schon einmal eine große Vorsicht,
wenn man sie nicht zu jung davon kosten läßt? Denn
es ist dir, glaube ich, nicht unbekannt, daß die jungen
Bürschlein, wenn sie zum ersten Male Dialektik
schmecken, wie mit einem Spielwerk damit umgehen,
immer zumWiderspruche sie gebrauchen, durch
Nachahmung der sie beschämenden Disputatoren
selbst auch andere niederdisputieren, dabei gleich jungen
Hündchen ihren Spaß daran haben, alle, die mit
ihnen in Berührung kommen, mit ihrer Disputation zu
zerren und zu rupfen.
Ja, sagte er, einen außerordentlichen Spaß macht
ihnen das.
Wenn sie nun recht viele selbst schon zuschanden
disputiert haben, andererseits auch von vielen schon
auf den Sand gesetzt worden sind, so müssen sie natürlich
gar leicht dahin geraten, daß sie gar nichts
mehr fürwahr halten, was sie früher glaubten. Und
aus diesen Gründen stehen sie selbst sowohl als auch
der ganze Stand wahrerWissenschaft bei der übrigen
Welt in üblem Ruf.
Sehr wahr, sagte er.
Dagegen der junge Mann von schon etwas reiferem
Alter, fuhr ich fort, wird sicher solche Verrücktheit
nicht mitmachen wollen und wird viel mehr den
Platon: Der Staat 467
Freund der vernünftigen Dialektik und den redlichen
Forscher derWahrheit als den des Spaßes wegen
streitenden Worthelden undWiderspruchsgeist nachahmen,
wird dadurch selbst achtbarer sein und seinem
Studium eher Ehre statt Unehre bereiten.
Richtig, bemerkte er.
Nicht wahr, auch die vor der hier erwähnten Vorsicht
geforderten Eigenschaften sind alle als ebensoviele
Vorsichtsmaßregeln aufgestellt, daß es nämlich
nur sittsame und ernste Talente sein sollen, die man
an der Dialektik Anteil nehmen läßt, und daß nicht
wie jetzt der nächste Beste und Unbefugte zu ihr Eingang
findet?
Jawohl, sagte er.
Bei der Teilnahme an der Dialektik mit anhaltendem
und angestrengtem Fleiße zu verweilen, ohne
sich noch mit sonst etwas abzugeben und sich so auf
eine den leiblichen Übungen entgegengesetzteWeise
geistig zu üben, – werden da für einen doppelt so viele
Jahre hinreichen als für die körperlichen Übungen?
Sechs oder vier Jahre meinst du? fragte er.
Setze ohne weiteres fünf gab ich zur Antwort.
Denn hierauf mußt du sie wieder in die vorhin erwähnte
Höhle bringen und sie anhalten, Ämter zu verwalten
sowohl im Kriegswesen als auch auf sonstigen,
für junge Männer geeigneten Posten, damit sie
auch nicht an Erfahrung den anderen Leuten
Platon: Der Staat 468
nachstehen. Und auch bei diesen Beschäftigungen
müssen sie geprüft werden, ob sie in Versuchungen
nach allen Richtungen standhalten, oder ob sie sich
vom rechtenWege abbringen lassen werden.
Den Zeitraum dafür, fragte er, wie groß bestimmst
du ihn?
Auf fünfzehn Jahre, antwortete ich.Wenn sie nun
so fünfzig Jahre alt geworden sind, so muß man die
davon, die in allen Stücken und in jeder Beziehung
sowohl in den Zweigen der Praxis wie in denWissenschaften
die Probe gehalten und sich ausgezeichnet
haben, endlich zum Ziele führen und sie anhalten, den
Lichtstrahl ihrer Seele nach dem allen Dingen Licht
spendenden Urlicht zu wenden und nach Anschauung
des wesenhaften Guten nach dessen Ideale ihr übriges
Leben lang der Reihe nach das Leben des Staates, der
Bürger und ihrer eigenen Personen einzurichten. Den
größten Teil ihres Lebens verwenden sie hierbei auf
dieWissenschaft; wenn aber die Reihe an einen
kommt, so muß er sich der Last der Staatsgeschäfte
unterziehen und Ämter dem Staate zuliebe annehmen,
nicht als einWerk der Herrlichkeit, sondern als eines
der Notwendigkeit. Und wenn sie immer wieder Männer
ihresgleichen herangebildet und an ihrer Stelle
dem Staate wieder andere Wächter geliefert haben, so
werden sie nach den Inseln der Seligen zu wohnen
kommen. Denkmäler aber und Opfer muß ihnen der
Platon: Der Staat 469
Staat auf öffentliche Kosten widmen, als wie höheren
göttlichenWesen, falls die Pythia mit ihrem Orakel
damit einverstanden ist, wo nicht, doch als Seligen
und Heiligen.
Ja, sagte er, ganz herrlich hast du, Sokrates, die
Staatsregenten wie ein Bildhauer herausgearbeitet.
Und auch die Staatsregentinnen dazu, sagte ich,
mein Glaukon! Denn glaube ja nicht, daß ich das Gesagte
nur auf die Männer bezöge und nicht in demselben
Grade auf alle die Frauen, die unter ihnen ihren
Anlagen nach dazu tauglich befunden werden mögen!
Ja, richtig, sagte er, wenn anders sie nach unserer
Darstellung ganz gleichmäßig an allen Geschäften
teilnehmen sollen.
Wie sieht’s nun aus? fuhr ich fort. Seid ihr nun einverstanden,
daß wir in bezug auf Staat und Staatsverfassung
durchaus keine Luftschlösser aufgebaut
haben? Allerdings zwar haben wir schwer ausführbare
Dinge behauptet, aber doch mögliche auf gewisse
Weise, und zwar nur auf die angedeutete: wenn nämlich
wahre Freunde derWissenschaft (Philosophie),
seien es mehrere oder sei es nur einer, in einem Staate
die Gewalthaber werden, indem sie einerseits die
heutzutage üblichen Ehren als eines freien Mannes
und des Aufhebens unwürdig verachten, dagegen die
Geradheit und die daraus entspringenden Ehren sehr
hoch, für das Höchste und Notwendigste aber die Idee
Platon: Der Staat 470
der Gerechtigkeit halten und sonach als ihre Diener
und Förderer ihren eigenen Staat neu einrichten.
Wie denn? fragte er.
Welche von der Bevölkerung in der Stadt, antwortete
ich, älter als zehn Jahre wären, diese Leute müßten
sie alle hinausschicken auf das Land, dann deren
Kinder nehmen und sie weit anders als nach den jetzigen
Sitten und Gewohnheiten, die ihre Eltern haben,
erziehen, nämlich nach ihren eigenen Sitten und Vorschriften,
die so sind, wie wir sie vorhin dargestellt
haben. Und seid ihr ferner einverstanden, daß auf solcheWeise
am schnellsten und leichtesten ein Staat
und eine Verfassung, wie wir sie in der Theorie aufstellten,
zustande gebracht werde, daß er selbst sowohl
glücklich sein als auch dem Volke, bei dem er
verwirklicht wird, zum größten Nutzen gereichen
werde?
Gewiß zum größten Nutzen, sagte er; auch wie er
entstehen würde, wenn er einmal entstände, scheinst
du mir gut angegeben zu haben.
Vollständig ist also, sprach ich, unsere Lehre sowohl
über diesen Staat als auch über das ihm entsprechende
Individuum? Klar steht nämlich offenbar auch
das Ideal vom letzteren da, wie es nach unserer Lehre
sein soll.
Jawohl, sagte er, und deine Frage scheint mir hiermit
erledigt zu sein.
Platon: Der Staat 471
Achtes Buch
Gut also! Über diese Punkte sind wir nun einverstanden,
mein lieber Glaukon: erstlich in dem dereinst
vollkommen einzurichtenden Staate sind gemeinschaftlich
Frauen, Kinder und die ganze Erziehung;
zweitens ebenso gemeinschaftlich ihre Beschäftigungen
im Kriege wie im Frieden; drittens ihre Könige
sind die, welche sowohl in der wahrenWissenschaft
wie in dem praktischen Kriegswesen als die Besten
geraten sind.
Ja, sagte er, darüber sind wir einverstanden.
Ferner auch über folgende Punkte haben wir uns
verständigt: Wenn die Regenten einmal auf die erwähnteWeise
eingesetzt sind, so nehmen sie die
Krieger und verlegen sie in die vorhin beschriebenen
Wohnungen, nämlich in solche, die für keinen etwas
Eigenes haben, sondern allen gemeinschaftlich sind;
und außer solchenWohnungen sind wir auch hinsichtlich
der Besitztümer, wenn du dich erinnerst,
einig geworden, wie sie bei ihnen sein sollen.
Ja, ich erinnere mich, sagte er, daß nach unserer
Meinung keiner etwas von den Besitztümern haben
solle, die heutzutage die übrige Welt hat: sondern sie
sollten als kunstgerechte Kriegskämpfer und Staatswächter
als Lohn für ihrWachen jährlich die hierzu
Platon: Der Staat 472
nötige Nahrung von den übrigen bekommen und für
nichts weiter besorgt sein als für das Heil ihrer Seelen
und für das des übrigen Staates.
Richtig bemerkt, sagte ich; aber nachdem wir hierüber
im reinen sind, wohlan, laß uns weiter erinnern,
von wo aus wir von der Hauptaufgabe hierher abgeschweift
sind, damit wir wieder auf demselbenWege
weitergehen können!
Das ist gar nicht schwer, erwiderte er: denn du tatest
in deinem Vortrage etwa gerade wie jetzt, als hättest
du die Darstellung des Staates vollendet, und du
bemerktest, du hättest an dem so beschaffenen Staate,
wie du ihn damals beschriebest, ein vollkommenes
Ideal aufgestellt, und ebenso eines an dem jenem verwandten
Individuum, obgleich du, wie die Folge gezeigt
hat, einen noch vollkommeneren Staat und ein
noch vollkommeneres Individuum hättest hinstellen
können; und wenn dieses der wahre Staat sei, so seien
im Gegensatze zu diesem nun die übrigen offenbar die
verfehlten. Der übrigen Staatsverfassungen gebe es
aber, soweit ich mich erinnere, nach deiner Ansicht
vier Hauptarten, worüber es der Mühe wert wäre,
einen Begriff zu haben und ihre Fehler zum Gegenstand
einer wissenschaftlichen Betrachtung zu machen,
und ebenso gebe es vier Hauptarten der jenen
Verfassungen entsprechenden individuellen Menschencharaktere,
und diese möchten wir sämtlich in
Platon: Der Staat 473
der Absicht betrachten, damit wir, nach beiderseitigem
Einverständnisse über den besten und schlechtesten
Menschen, darauf die zweite Hauptuntersuchung
anstellen, ob der beste der glücklichste und der
schlechteste der elendeste sei, oder ob es sich anders
verhalte. Und als ich darauf fragte, welche Verfassungen
du unter jenen vier verfehlten verständest, in diesem
Augenblicke unterbrachen dich Polemarchos und
Adeimantos, und durchWiederaufnahme ihrer Frage
bist du nun hierher gekommen.
Vollkommen richtig, sprach ich, sind deine Erinnerungen!
So nimm denn nun abermals wie ein Fechter dieselbe
Stellung und gib mir, wenn ich meine frühere
Frage wiederhole, die Aufschlüsse, die du damals
geben wolltest!
Ja, sagte er, wenn ich kann.
Ich bin auch, fuhr er fort, wirklich ohnehin begierig,
zu hören, welche Verfassungen du unter jenen
vier verfehlten verstanden haben wolltest.
Auf diese Frage, erwiderte ich, sollst du unschwer
die Antwort hören; denn es sind keine anderen, die ich
darunter verstehe, als die, welche schon ihre bestimmten
historischen Namen haben, nämlich: erstlich die
von den meisten so gepriesene kretische und auch lakedaimonische
zugleich; zweitens die auch dem
Range nach als die zweite gerühmte sogenannte
Platon: Der Staat 474
Oligarchie, eine mit den mannigfaltigsten Übeln beladene
Verfassung; drittens die, obwohl jener schnurstracks
entgegenstehende, jedoch unmittelbar aus ihr
entspringende Demokratie; endlich die bekanntlich
gar hübsche und von allen jenen verschiedene Tyrannis,
die vierte und auch die letzte Krankheit eines
Staates. Oder hast du noch eine bestimmte Anschauung
von Verfassung, in der ein wesentlicher Begriff
von Staat enthalten wäre? Denn Dynastien, käufliche
Monarchien und dergleichen Verfassungen mehr, die
liegen zwischen den genannten in der Mitte, und man
kann sie in nicht geringerer Zahl bei den Barbaren
wie bei den Hellenen finden.
Ja, freilich, sagte er, gar viele und sonderbare werden
noch genannt.
Selbstverständlich gibt es nun, fuhr ich fort, eben
notwendigerweise so viele Arten von Menschencharakteren
als Arten von Verfassungen. Oder meinst du,
aus Holz oder Stein bildeten sich die Verfassungen
und nicht aus den Charakteren der Einwohner in den
Staaten, je nachdem diese sich dahin oder dorthin neigen
und alles übrige mit sich fortreißen?
Nein, sagte er, ich glaube es keineswegs, daß sie
sich anderswoher als daraus bilden.
Nicht wahr, wenn es bei den Staaten fünf Arten
gibt, so gibt es auch bei den menschlichen Individuen
fünf Arten?
Platon: Der Staat 475
Allerdings.
Was also erstlich das dem besten Staate (der Aristokratie)
entsprechende Individuum betrifft, so
haben wir dieses bereits beschrieben, von dem wir mit
Recht sagen, daß er der Gute und Gerechte ist.
Ja, das ist bereits beschrieben.
Nicht wahr, nach diesem müssen wir nun die ausgearteten
charakterisieren, zuvörderst das kämpf- und
ehrgeizige Individuum, das der lakedaimonischen
Verfassung entspricht, hierauf das oligarchische, dann
das demokratische, endlich das tyrannische Individuum,
damit wir nach Anschauung des ungerechtesten
Menschen ihn dem gerechtesten gegenüberstellen
können, und damit also die Untersuchung unserer
zweiten Hauptfrage:Wie doch die vollkommene Gerechtigkeit
sich zur vollendeten Ungerechtigkeit in
Absicht auf Glückseligkeit und Elend bei ihrem Inhaber
verhalte? einmal zu Ende kommt, auf daß wir entweder
nach der Lehre des Thrasymachos entweder den
Weg der Ungerechtigkeit verfolgen, oder in dem jetzt
hervortretenden Lichte unserer Beweisführung den der
Gerechtigkeit.
Ja, sagte er, auf alleWeise muß so verfahren werden.
Wie wir nun angefangen haben, eher im Staate als
im Individuum den moralischen Charakter zu studieren,
weil er so deutlicher in die Augen springe, –
Platon: Der Staat 476
müssen wir nun nicht auch so zuerst die ehrliebende
Staatsverfassung (denn ich kenne keinen, anderen
gangbaren. Namen, man müßte sie denn Timokratie
oder Timarchie nennen), betrachten und das ihr ähnliche
Individuum: zweitens die Oligarchie und den oligarchischen
Menschen; dann drittens werden wir nach
dem Anblick der Demokratie den demokratischen
Menschen in Augenschein nehmen; und wenn wir
viertens zum tyrannisch beherrschten Staate gekommen
sind und ihn angeschaut haben, wollen wir dann
nicht wieder auf die tyrannischeMenschenseele sehen
und mit besonderem Hinblicke auf diese hierauf dann
versuchen, über die vorliegende Frage zu Gerichte zu
sitzen?
Ja, ganz nach der vernünftigen Ordnung, sagte er,
würde so unsere Betrachtung wie unser Richterspruch
geschehen.
Wohlan denn, fuhr ich fort, versuchen wir zu zeigen,
aufweicheWeise eine Timokratie aus einem nach
den moralisch besten Grundsätzen eingerichteten Vernunftstaate
(Aristokratie) entstehen kann! Oder ist das
einmal für allemal ohne Ausnahme als wahr anzunehmen,
daß die Umwandlung eines jeden Staates von
dem Teile ausgeht, der das Regiment in den Händen
hat, dann nämlich, wenn unter diesem selbst Zwietracht
entsteht; daß dagegen bei dessen Einmütigkeit,
und wenn er auch sehr klein wäre, unmöglich eine
Platon: Der Staat 477
Erschütterung entstehen könne?
Ja, freilich ist’s so.
Wie soll nun, sprach ich, mein lieber Glaukon, der
Staat nur erschüttert werden, wie soll der Wehr- und
Regentenstand gegen einander oder unter sich in
Zwietracht geraten? Oder wollen wir, wie Homer, die
Musen anrufen, uns anzusagen, wie zuerst Zwietracht
hineingeraten, und wollen wir sagen, sie hätten mit
uns wie mit Kindern auf eine rätselhafteWeise Scherz
und Neckerei getrieben und, als gäben sie ernstliche
Aufschlüsse, zu uns im erhabenen Stil der Tragödie
gesprochen?
Wie?
Folgendermaßen etwa: »Schwer ist es allerdings,
daß ein so aufgebauter Staat in Verfall gerät: allein da
allem, was entstanden ist, ein Untergang bevorsteht,
so kann auch nicht einmal ein solcher Bau auf alle
Zeit Bestand haben, sondern er muß seine Auflösung
erfahren. Die Auflösung aber ist folgende: Nicht nur
für die in der Erde stehenden Pflanzen, sondern auch
für die auf ihr lebenden Geschöpfe gibt es einWachsjahr
und ein Mißjahr an Seele wie an Körpern, jedesmal
nämlich, wenn bei einer jeden Gattung die Lebensperiode
einen Kreisumschwung vollendet; bei
kurzlebendenWesen ist dieser kürzer, bei langlebenden
länger. Obgleich nun diejenigen, die ihr zu
Staatshäuptern erzogen habt, theoretisch wie
Platon: Der Staat 478
praktisch weise sind, so werden sie aber dessenungeachtet
die Momente der günstigen und ungünstigen
Geburten durch theoretische Berechnung in Verbindung
mit praktischer Wahrnehmung nicht immer treffen,
sondern diese werden ihnen entgehen, und so
werden sie einmal Kinder erzeugen, wenn sie nicht
sollten. Für ein göttlich Erzeugtes gibt es aber einen
Lebensumlauf, den eine vollkommene Zahl umfaßt;
für das menschliche dagegen einen, den eine Zahl umfaßt,
in der als dem kleinsten Nenner sowohl potenzierende
als auch durch wechselseitige Multiplikation
hervorgebrachte Vermehrungen mit drei Abständen
und vier Gliedern alles ohne Bruch und unter gemeinschaftlichem
Nenner stehend erscheinen lassen, mag
man nun Ähnliches oder Unähnliches verbinden, multiplizieren
oder dividieren. Das kleinste Verhältnis
jener beiden menschlichen und göttlichen Zahlen ist
3:4; dieses mit 5 verbunden liefert zwei Proportionalzahlen,
nachdem dreimal vermehrt worden ist: die
eine, die gleiche, gleich vielmal genommen, nämlich
hundert mit sich selbst multipliziert; die andere aber,
die mit ersterer zwar gleiche Länge hat, aber oblong
ist, bestehend erstlich aus der hundertfachen Quadratzahl
einer der Diagonalen eines Quadrates, dessen
Seite = 5 ist, welche Diagonale rational ist, wenn 1
subtrahiert wird, dagegen irrational, wenn 2 subtrahiert
werden, wodurch beide irrational werden, –
Platon: Der Staat 479
ferner bestehend aus dem hundertfachen Kubus von
drei.. Diese gesamte geometrische Zahl ist hierüber
nun entscheidend, nämlich in betreff der glücklichen
oder unglücklichen Zeugung.Wenn nämlich eure
Staatswächter diese Zahl nicht verstehen und zur Unzeit
den Jünglingen Bräute zur Beiwohnung zugesellen,
so wird es Kinder geben, die weder eine vorzüglich
moralische Anlage noch ein guter Glücksstern
zum Rechten leitet. Denn zuerst werden zwar die
Wächter nur die verhältnismäßig besten von jenen
Kindern an ihre Stelle setzen; aber diese werden doch,
wenn sie bei ihremMangel an Seelenadel ihrerseits zu
den Machtstellen ihrer Väter gelangt sind, anfangen,
obwohl sie die Staatswächter sind, unsere Vorschriften
zu vernachlässigen, indem sie zuerst die musische
Bildung hintansetzen [, später dann auch die körperliche].
Und daraus werden dann Regenten aufkommen,
die nicht besonders wachsam sind, wenn es gilt, die
bei Hesiod sowohl wie auch in unserem Staate vorkommenden
Geschlechter aus Gold, Silber, Erz und
Eisen zu prüfen.Wenn aber Eisen mit Silber und Erz
mit Gold vermischt wird, so entsteht dann eine Ungleichartigkeit
der politischen Gesinnung und eine zu
keiner Harmonie mehr zurückführbare Unordnung,
und wo immer diese Übel sich einmal eingenistet
haben, da erzeugen sie nach ihrem Emporkommen
immer Krieg und Feindschaft. Solcher Abkunft muß
Platon: Der Staat 480
man also immer politische Zwietracht erklären, wo
auch immer sie emporkommen mag.«
Und daß diese Antwort richtig ist, sagte er, wollen
wir bejahen.
Ja, meinte ich, das müssen wir notwendig; sie
kommt ja von Musen.
Nun, was sagen denn die Musen weiter? fragte er.
»Ist einmal,« fuhr ich fort, »bürgerliche Zwietracht
da, so ziehen beide Teile jederseits nach entgegengesetzter
Richtung: der eiserne und eherne nach Erwerb,
nach Besitztum an Land, Haus, Gold und Silber; der
goldne und silberne dagegen führen die Seelen zur
Tugend und zur alten guten Staatseinrichtung, weil
sie keine Armut empfinden, sondern von Geburt den
größten Schatz in sich haben.Wenn es hierauf bei
ihnen zu offenem Kampfe mit der Faust und zur gegenseitigen
Parteiverfolgung kommt, so vergleichen
sie sich dahin, daß sie erstlich Land und Behausung
unter sich verteilen und als Eigentum besitzen, daß
sie sodann diejenigen, die von ihnen früher als freie
Leute, als Freunde und Ernährer behütet wurden, nunmehr
nach geschehener Unterjochung als Dienstleute
und Sklaven halten und selbst Kriegsführung sowie
Bewachung jener Unterjochten besorgen.«
Ja, es leuchtet mir ein, sagte er, wie dieser entartende
Übergang von da seinen Ursprung nimmt.
Nicht wahr, sprach ich, diese hier in Rede stehende
Platon: Der Staat 481
Verfassung wäre also ein gewisses Mittelding zwischen
der moralisch besten (der Aristokratie) und der
Oligarchie?
Allerdings.
Ihr Übergang wird also auf die besagte Weise geschehen;
nach geschehenem Übergange aber, wie wird
da die charakteristische Eigenschaft ihrer Einrichtung
sein? Oder ist in dieser Beziehung offenbar, daß sie in
manchen Einrichtungen die vorhergehende Verfassung
und in manchen die Oligarchie nachahmen wird,
weil sie ja in der Mitte von beiden liegt; daß sie ferner
dabei auch manches ihr ganz Eigentümliche haben
wird?
Ja, offenbar, sagte er.
Darin einerseits, daß sie Ehrerbietung gegen die
Regierenden vorschreibt; daß ihrWehrstand des
Ackerbaues, der Handwerke und jedes sonstigen Gewerbes
sich enthält; daß sie gemeinschaftliche Speisung
einrichtet; daß Leibesübung sowie der Kriegskampf
ein Hauptgegenstand ihrer Sorgfalt sind: in
allen diesen Stücken wird sie die vorige Verfassung
nachahmen, nicht wahr?
Ja.
Daß sie aber Bedenken trägt, die mit Erfahrung
verbundeneWissenschaft, die die wißbegierige Vernunft
aus dem Erforschen der ewigenWeltgesetze gewinnt,
zu den Staatsämtern zu befördern, weil sie
Platon: Der Staat 482
solche Männer nicht mehr von reinem und echtem
Golde besitzt, sondern nur mit einem Zusatz vom gemeinen
Metall der Begierlichkeit, und daß sie daher
ihre Hauptstütze mehr bei dem nur nach Ehre begierigen
Mut und der damit noch verbundenen größeren
Einfachheit sucht, obgleich die Männer der Art mehr
zum Kriege als zum Frieden geboren sind; ferner daß
sie Überlistung und Intrige in bezug auf den Krieg für
Ehrendinge hält; daß sie ewig im Kriege lebt: solche
und dergleichen Dinge mehr wird sie andrerseits als
charakteristische Eigentümlichkeiten haben?
Ja.
Als dritte charakteristische Eigentümlichkeit, fuhr
ich fort, wird sich bei solchen Staatsregenten heiße
Geldgier einstellen, wie es in den Oligarchien der Fall
ist: sie werden Gold und Silber leidenschaftlich im
geheimen verehren, weil sie nunmehr eigene Schatzkammern
und Geldkasten haben, wo sie es niederlegen
und verbergen können, weil sie ferner Umzäunungen
um ihreWohnungen recht wie eigne Nester
haben, in denen sieWeibern und andren Lieblingen
zu Gefallen vielen Aufwand machen können.
Ja, sehr wahr, sagte er.
Daher werden sie denn auch sparsüchtig mit dem
Gelde umgehen, weil sie viel darauf halten und nur im
Verborgenen erwerben dürfen; werden dagegen aber
auf Antrieb ihrer Begierlichkeit lieber mit fremdem
Platon: Der Staat 483
Gute Aufwand machen und verstohlenerweise die
Frucht der Lüste genießen, indem sie sich dabei vor
dem Gesetze wie Buben vor ihrem Vater verstecken.
Und dies geschieht aus keinem andern Grunde, als
weil sie nicht mittelst wissenschaftlich belehrender
Überzeugung, sondern mittelst äußeren Zwangs ihre
Jugendbildung erhalten, weil sie die in dialektischer
Methode und warmer Weisheitsliebe bestehendeWissenschaft
vernachlässigt und mehr auf die Übung des
Körpers als des Geistes gegeben haben.
Das ist ja, sagte er, eine gar gemischte Verfassung
aus Schlechtem und Gutem, von der du da sprichst!
Ja, sagte ich, freilich ist sie eine gemischte: ein
Kennzeichen ist aber darin wegen der Oberhand des
von uns genannten zornmütigen Seelenbestandteiles
besonders hervorstechend, nämlich Streitlust und
Ehrliebe.
Ja, meinte er, in hohem Grade.
Das wäre also nun, sprach ich weiter, die Entstehungsart
und die charakteristische Eigenschaft dieser
Verfassung, um hiervon in unserer Beschreibung nur
einen Grundriß, kein vollkommen ausgemaltes Bild
zu geben, da es uns ja auch genügt, nur in einem
Grundrisse eine Anschauung vom gerechtesten und
ungerechtesten Menschen zu gewinnen; auch wäre es
ein ungeheuer weitläufiges Werk, wenn man alle
möglichen Verfassungen und alle Charaktere ohne
Platon: Der Staat 484
irgend eine Auslassung darstellen wollte.
Ja, richtig, erwiderte er.
Welches wäre nun das dieser Staatsverfassung entsprechende
Individuum? Wie ist erstlich seine Entstehung,
zweitens sein Charakter?
Auf diese Frage antwortete Adeimantos: Ich meine,
dieses Individuum käme ziemlich nahe diesem Glaukon
da, wenigstens was die Streitlust anlangt.
Vielleicht, sagte ich, in dieser Beziehung; aber
nicht in folgenden Stücken scheint es mir von Natur
seiner Art zu sein…
In welchen denn?
Ein eingebildeter Trotzkopf, erwiderte ich, muß
jenes Individuum sein, ein Feind desWissens; er
kann keine Liebe für die musischen Künste, kein Ohr
für Belehrungen, keine Gewandtheit in der Redekunst
haben. Ferner gegen Sklaven roh, ohne ein Feind von
Sklaven zu sein, wie der vollkommen wissenschaftlich
Gebildete; gegen freie Männer gar zahm; gegen
die Regierenden gehorsamst untertänig; dabei
herrsch- und ehrsüchtig; anspruchsvoll auf Herrschaft
nicht wegen Beredsamkeit oder einer sonstigen geistigen
Eigenschaft, sondern wegen seiner Kriegstaten
und Kriegsfertigkeiten; ein Freund von Turnerei und
Weidwerk.
Ja, sagte er, dieser Charakter hier entspricht jener
timokratischen Staatsverfassung.
Platon: Der Staat 485
Nicht wahr, fuhr ich fort, Geld wird ein solcher
während des Übermutes seiner Jugend verachten; aber
je älter er wird, desto mehr wird er danach greifen,
teils weil er etwas von dem Charakter des geldgierigen
Menschen hat, teils weil sein Tugendstreben nicht
aufs reinste Gold gerichtet ist, da er von dem besten
Führer hierzu verlassen ist.
Von welchem denn? fragte Adeimantos.
Von jener Geisteskultur, antwortete ich, die besteht
aus einer sorgfältigen Jugendvorbildung in den musischen
Künsten in Verbindung mit einer gründlich
wissenschaftlichen Hauptbildung; denn diese Geisteskultur,
wenn sie bei einem einmal zur Reife gelangt
ist, wird allein nur als Schutzgeist der Tugend bei
ihrem Besitzer durch sein ganzes Leben wohnen.
Schön! sprach er.
Und das wäre denn erstlich, fuhr ich fort, der Charakter
unseres timokratischen Junkers, das Abbild des
Staates gleichen Namens.
Ja, allerdings.
Was nun zweitens, sprach ich weiter, seine Entstehung
anlangt, so erfolgt diese etwa auf folgende
Weise: Zuweilen gibt’s einen schon erwachsenen
Sohn von einem in einem unvernünftig verwalteten
Staate wohnenden braven Vater, der Ehren, Ämter,
Rechtshändel und alle solche Liebhaberei an Geschäften
des öffentlichen Lebens verabscheut und lieber
Platon: Der Staat 486
vor anderen zurückstehen will, um in keine widerwärtigen
Händel zu geraten.
Wie entsteht denn nun von solchem Vater ein timokratischer
Sohn? fragte er.
Wenn er, antwortete ich, erstlich von seiner Mutter
hört, wie sie sich darüber grämt, daß ihr Mann nicht
unter den leitenden Beamten wäre, und daß sie darum
unter den übrigen Frauen zurückstehe; dann, daß sie
ihn gar nicht nach Geld und Gut trachten, ihn nicht
Schneid und Zähne zeigen sehe in Gerichts- und
Staatsdebatten; sondern in allen diesen Dingen bemerke
sie an ihm eine unausstehliche Gleichgültigkeit;
immer seien seine Gedanken mit seinem Innern
beschäftigt, ihr dagegen bezeige er weder eine sonderliche
Aufmerksamkeit noch auch gerade eine Mißachtung:
über alle dieseWahrnehmungen müsse sie sich
sehr grämen und könne es nicht über das Herz bringen,
wie einen unmännlichen und gar fahrlässigen
Vater er habe, und wie die übrigen Klagelieder alle
lauten, welche dieWeiber bei dergleichen Gelegenheiten
anzustimmen pflegen.
Ja, sagte Adeimantos, gar viele und ihnen recht
ähnliche!
Der zweite Entstehungsgrund nun, fuhr ich fort,
liegt darin, daß bekanntlich auch die Hausgenossen in
dem Hause solcher Leute (Sklaven, Diener), die nämlich,
die es recht gut zu meinen glauben, manchmal
Platon: Der Staat 487
hinter ihrem Rücken deren Söhnen Reden ähnlichen
Inhaltes zuflüstern:Wenn sie nämlich einen bösen
Schuldner sehen, dem der Vater nicht zu Leibe geht,
oder einen in anderer Hinsicht ihm unrecht begegnenden
Menschen, so reden sie dem Sohne zu, er möge,
wenn er einmal ein Mann geworden, an allen solchen
dafür Rache nehmen und sich mehr als Mann beweisen
denn sein Vater. Und kommt ein Sohn aus dem
Hause des Vaters, so hört und sieht er dergleichen
noch mehr, daß die nur ihren nächsten Berufspflichten
treuen Männer in der Stadt Einfaltspinsel heißen und
in keinem besonderen Rufe stehen, während andrerseits
die ihre nächsten Berufspflichten vernachlässigenden
Rechtsverdreher und politischen Schreier Ehre
und Lob einernten. Hört und sieht nun alles dergleichen
der junge Mann, und hört und sieht er dann wiederum
die Sprache und Lebensweise seines Vaters
neben denen der übrigenWelt, so fühlt er sich von
diesen beiden Seiten angezogen, indem sein Vater den
vernünftigen Teil seiner Seele nährt und pflegt, die
übrige Welt aber dagegen die sinnliche Begierlichkeit
und die hitzige Zornmütigkeit. Und weil er von Natur
kein schlechter Mann ist, aber von schlechten Gesellschaften
der Welt beeinflußt ist, so wandelt er, von
diesen beiden Seiten hin und her gezerrt, den Mittelweg
und überliefert die Oberherrschaft seines Inneren
dem mittleren Seelenbestandteile, nämlich dem
Platon: Der Staat 488
streitlustigen Zornmut, und wird dadurch ein hochmütiger
und ehrgieriger Mensch.
Ja, sagte er, gar sorgfältig hast du wohl da die Entwicklung
dieses Individuums dargestellt.
Hiermit hätten wir also, sprach ich, die im Range
zweite Staatsverfassung und so auch das zweite Individuum.
Ja, die hätten wir, sagte er.
Nicht wahr, hierauf nun wollen wir, um mit Aischylos
zu reden, ein andres einem andren Staate zugeordnetes
Individuum, oder vielmehr dem vorhin
einmal gefaßten Plane gemäß wiederum erst den Staat
vornehmen?
Ja, allerdings, sagte er.
Da wäre aber, wie ich meine, nach der eben beschriebenen
Verfassung die Reihe an der Oligarchie.
Welche Staatseinrichtung, fragte er, verstehst du
denn unter dem Namen Oligarchie?
Ich antwortete: Die auf Vermögensschätzung gegründete
Staatsverfassung, in der nur die Reichen das
Ruder führen und dem Armen kein Anteil an der Regierung
zukommt.
Ich verstehe schon, sprach er.
Nicht wahr, da ist denn erstlich die Art des Überganges
der Timokratie in die Oligarchie darzustellen?
Ja.
Da ist nun, sagte ich, sogar einem Blinden
Platon: Der Staat 489
offenbar, wie sie vor sich geht.
Wie denn?
Jene vorhin erwähnte mit Gold gefüllte Privatschatzkammer
im Hause jedes einzelnen der Regierenden,
erwiderte ich, ist das Unheil für die vorhin beschriebene
Staatsverfassung (die Timokratie). Denn
erstlich sind sie für ihre eignen Personen erfinderisch
in Ausgaben und revidieren in dieser Absicht die bisher
bestehende Staatsverfassung, ohne daß sie und
ihre Weiber jenen revidierten Gesetzen gehorchen.
Natürlich, sagte er.
Zweitens machen sie sodann, glaube ich, das von
ihnen regierte Volk zum Affen ihres Modetons durch
den Anblick des verführenden Beispiels des einen
vom anderen und durch den gegenseitigen Wetteifer.
Ja, so geht’s.
Ist dieses Ziel erreicht, fuhr ich fort, so geht’s bei
ihnen vorwärts zum Geldschacher, und je höher sie
diesen angeschlagen, desto weniger achten sie moralisch
geistige Tüchtigkeit. Oder steht Tugend zu
Reichtum nicht in diesem Verhältnisse, daß sie
gleichsam auf zweiWaagschalen liegen und die eine
in eben demMaße sinkt, als die andere steigt?
Ja, sicher, sagte er.
Stehen also in einem Staate Reichtum und reiche
Leute hoch in Ehren, so müssen Tugend und edle
Männer in desto niederermWerte stehen.
Platon: Der Staat 490
Ja, offenbar.
Als Mode wird aber getrieben das allgemein Hochgeschätzte,
während das Nichtgeschätzte vernachlässigt
wird.
Ja, so ist’s.
Statt streit- und ehrgieriger Menschen sind es daher
endlich erwerb- und geldgierige geworden, und daher
preisen, bewundern und erheben sie zu Ehrenstellen
den Reichen, während sie den Armen verachten.
Jawohl.
Dann ziehen sie durch ein Gesetz einen Zaun um
die oligarchische Herrschaft, indem sie eine bestimmte
Menge von Vermögen festsetzen, die größer oder
kleiner ist, je nachdem an einem Orte eine größere
oder kleinere Oligarchie besteht, und indem sie ausdrücklich
bestimmen, daß derjenige keine Staatsämter
bekommen könne, dessen Vermögen nicht die bestimmte
Schätzung erreicht. Und dies setzen sie entweder
mit Gewalt derWaffen durch, oder sie bringen,
auch ehe es dazu kommt, durch Einschüchterung eine
solche Verfassung zustande. Oder geht es nicht so?
Ja, so geht’s.
Das wäre also, um es kurz zu sagen, das Zustandekommen
der Oligarchie.
Ja, sagte er; welches ist aber nun zweitens der Charakter
dieser Staatsverfassung, und welche Gebrechen
hat sie unseres Erachtens?
Platon: Der Staat 491
Erstlich, sagte ich, die erwähnte Hauptgrundlage,
ihre Umzäunung anlangend, wie sieht es in dieser Beziehung
damit aus! Stelle dir doch einmal vor, wenn
einer so Schiffssteuermänner nach der Vermögensschätzung
machen und den Armen, wenn er noch so
gute Eigenschaften zu einem Steuermann hätte, nicht
zulassen wollte!
Da sehe ich, sagte er, daß die Leute auf dem Schiffe
eine unheilvolle Fahrt haben.
Und nicht wahr, so ist’s überhaupt bei Leitung
jedes anderen Dinges?
Ich glaube es.
Vielleicht mit Ausnahme der eines Staates, fragte
ich, oder auch in bezug auf die Leitung eines Staates?
Ja, sagte er, sicher in desto höherem Grade, je
schwieriger und wichtiger diese Leitung ist.
Das wäre also ein Fehler von ungeheurer Größe,
den die Oligarchie hat.
Augenscheinlich.
Weiter! Ist der folgende zweite Fehler etwa kleiner
als der hier erwähnte erste?
Welcher denn?
Daß notwendigerweise ein so beschaffener Staat
keine Einheit bildet, sondern eigentlich zwei Staaten
auf demselbenWohnplatze, nämlich den Staat der
Armen und den der Reichen, daher beide in immer gegenseitiger
Auflauer.
Platon: Der Staat 492
Nein, wahrhaftig, bei Zeus, sagte er, dieser zweite
Fehler ist nicht kleiner!
Aber drittens ist auch das kein Vorzug an jenem
Staate zu nennen, daß die Regierenden desselben unmöglich
einen Krieg führen können, weil sie in der
Lage sich befinden, daß sie entweder die bewaffnete
arme Volksmenge gebrauchen und dann sie mehr
fürchten müssen als den Feind, oder sie nicht gebrauchen
und dann im wahren Sinne desWortes Oligarchie
als eine Macht von wenigen auch imMomente
der Schlacht erscheinen; daß sie zugleich als Erzpfennigfuchser
keine Kriegssteuern zahlen wollen.
Nein, das ist auch kein Vorzug.
Viertens, daß dieselben Herren, wogegen wir schon
lange und unaufhörlich loszogen, in solchem Staate
so vielgeschäftig sind: daß sie nicht nur Landwirte
und Geschäftsleute, sondern auch Kriegsmänner zugleich
sind, – scheint dir das in der Ordnung zu sein?
Nein, auf gar keineWeise.
Siehe nun fünftens, ob diese Verfassung nicht zuerst
von allen diesen Übeln dem größten Übel Tür
und Tor durch folgendes öffnet?
Wodurch?
Dadurch, daß ein jeder alle seine Besitztümer veräußern
und ein anderer von ihm solche erwerben
kann; daß er nach der Veräußerung noch in dem Staate
wohnt, ohne daß er einem der Stände im Staate
Platon: Der Staat 493
angehört: er ist dann weder ein Geschäftsmann noch
ein Handwerker, weder Reiter noch Fußgänger; sondern
er heißt ein Armer und Proletarier.
Ja, sagte er, diese Verfassung eröffnet zuerst unter
allen übrigen diesem Übel Tür und Tor.
Wenigstens wird zur Verhinderung solchen Übels
in den oligarchisch regierten Staaten nichts getan;
denn sonst würden ja einerseits nicht die übermäßig
Reichen, andrerseits die gänzlich Armen vorhanden
sein.
Richtig.
Erwäge sechstens noch folgendes Übel: Als so ein
herabgekommener Proletarier noch reich war und
Aufwand machte, war er da dem Staate von größerem
Nutzen in bezug auf die vorhin erwähnten Berufsarten;
Oder gehörte er nur dem Scheine nach zu dem regierenden
Beamtenstande, war aber in der Tat weder
ein Herrscher noch ein Diener des Staates, sondern
eben nur ein Verprasser seiner Besitztümer?
Ich glaube letzteres, sagte er: er war Regierender
nur dem Scheine nach, war aber wirklich nichts anderes
als ein Verprasser.
Dürfen wir daher nicht, fuhr ich fort, von ihm behaupten,
daß er bei solchem Charakter ebenso in seiner
Behausung eine Pest für den Staat wird, wie z.B.
eine Drohne in einer Honigwabe ein Verderben des
Bienenstockes ist?
Platon: Der Staat 494
Ja, sagte er, das dürfen wir allerdings, o Sokrates.
Die Drohnen mit Flügeln nun, nicht wahr, Adeimantos,
hat Gott alle ohne Stachel geschaffen, während
von den Drohnen mit Beinen einige zwar auch
Stachellos sind, andre aber gar gewaltige Stacheln
haben? Stachellos sind die, welche bis zum hohen
Alter hin Bettler bleiben, dagegen bestachelt alle jene,
welche Übeltäter heißen?
Ja, sagte er, sehr wahr!
Wenn man daher, sprach ich weiter, in einem Staate
Bettler sieht, so ist demnach offenbar, daß es da
auch heimliche Diebe, Beutelschneider, Räuber und
Meister in allen dergleichen Übeltaten gibt?
Ja, offenbar, sagte er.
Und was ist nun die Anwendung von diesem
Satze? Sind in den oligarchisch regierten Staaten
nicht augenscheinlich Bettler vorhanden?
Ja gewiß, sagte er, fast lauter Bettler, mit Ausnahme
der wirklich regierenden Herren.
Müssen wir demnach nicht meinen, fragte ich, daß
auch viele Übeltäter mit Stacheln darin sind, die von
den Obrigkeiten sorgfältig mit Gewalt niedergehalten
werden?
Ja, sagte er, das müssen wir hiernach.
Und dürfen wir daher nicht behaupten, daß infolge
von Mangel an gehöriger Jugendbildung, schlechter
Erziehung und schlechter Staatseinrichtung solche
Platon: Der Staat 495
Übeltäter darin emporwachsen?
Ja, das dürfen wir.
Nun, das wäre also etwa der Charakter des oligarchisch
regierten Staates, und mit solchen Gebrechen
ist er behaftet, vielleicht aber auch noch mit mehr.
Ja, das wäre er ungefähr, sagte er.
Damit möge denn, fuhr ich fort, die Darstellung
dieser Staatsverfassung ihr Ende haben, die Oligarchie
heißt, und die ihre regierenden Häupter nach der
Vermögensschätzung erhält; hierauf müssen wir sofort
das dieser Staatsverfassung ähnliche Individuum
in Betracht ziehen, und zwar erstens seine Entstehungsart,
zweitens seinen eigentümlichen Charakter.
Ja, sagte er, allerdings.
Geschieht nun nicht am gewöhnlichsten auf folgendeWeise
der Umschlag von einem timokratischen
Individuum in ein oligarchisches?
Wie denn?
Wenn einer als Sohn jenes timokratischenMenschen
anfangs seinem Vater nacheifert und seine Fußtapfen
verfolgt, hernach aber an ihm sieht, daß er an
dem Staate wie an einer Klippe plötzlich scheitert,
wie er nicht nur sein Vermögen, sondern auch sein
Selbst verschwendet, sei es durch Führung einer Feldherrnstelle
oder eines sonstigen wichtigen Staatsamtes,
wie er sodann dem Gerichte in die Hände fällt und
da, von falschen Ränkemachern mitgenommen,
Platon: Der Staat 496
entweder Leben oder Vaterland oder bürgerliche Ehre
und seine ganze Habe verliert.
Ja, sagte er, das ist ein treues Bild des Lebens!
War er aber, mein Lieber, nicht bloß ein Zuschauer
solcher Unfälle, sondern erfährt er sie dann auch in eigener
Person und verliert sein Vermögen, so stürzt er
jene Ehrliche und jenen feurigen Zornmut von dem
Herrscherthrone in seiner Seele gänzlich herab, legt
dann, von Armut herabgestimmt, sich auf Gelderwerb
und bringt durch Filzigkeit, Pfennigknauserei und
übermäßige Anstrengung sich wieder ein Sümmchen
zusammen. Und wird ein solcher dann wohl nicht auf
den erledigten Herrscherthron in seiner Seele nunmehr
den sinnlich begierlichen und den geldgierigen Seelenbestandteil
setzen, ihn zum Großmogul in seinem
Inneren machen, ihn mit Krone, Halskette und Prachtsäbel
zur Majestät herausschmücken?
Ich glaube es gern, sagte er.
Das wißbegierige Vernunftvermögen dagegen,
glaube ich, und den hochstrebenden Zornmut setzt er
zu Füßen auf beide Seiten des Thrones jener sinnlichen
Begierlichkeit als ihr unterworfene Sklaven, läßt
einerseits das Denkvermögen der Vernunft nichts anderes
denken und ins Auge fassen, als wie man aus
kleineren Kapitalien größere machen könne, andrerseits
den ehrbegierigen Feuermut nichts anderes bewundern
und ehren als Reichtum und reiche Leute,
Platon: Der Staat 497
und sich aus sonst gar nichts eine Ehre machen als
aus Geldbesitz und was dazu führt.
Nein, sagte er, auf keine andereWeise geschieht so
schnell und so gewaltig die Umwandlung eines ehrgierigen
Jünglings in einen geldgierigen.
Ist also letzterer, fragte ich, das der Oligarchie entsprechende
Individuum?
Seine Umwandlung geschieht wenigstens aus dem
Individuum, das entsprechend jener Staatsverfassung
ist, aus der die Oligarchie hervorging.
So laß uns nun in Betrachtung ziehen, ob das oligarchische
Individuum der Oligarchie ähnliche Eigenschaften
hat!
Ja, das wollen wir.
Nicht wahr, die erste ähnliche Eigenschaft ist die,
daß ihm Geld als Höchstes gilt?
Ohne Zweifel.
Und die zweite diese, daß solcher Mensch wie ein
Pfennigfuchser und Tagelöhner bloß die Begierden
nach den notwendigsten Naturbedürfnissen befriedigt,
zu anderen Ausgaben aber nichts hergibt, sondern die
übrigen Begierden als unvernünftige unterdrückt.
Allerdings.
So ein Schmutzlapp, fuhr ich fort, so ein Profitchen-,
so ein Kapitalmacher, eine Sorte Leute, die bekanntlich
der Pöbel sehr erhebt. Oder sollte nicht dieser
der der Oligarchie entsprechende
Platon: Der Staat 498
Menschencharakter sein?
Mir scheint es so, sagte er; Geld wenigstens ist das
Höchste sowohl bei solchem Staate wie bei solchem
Individuum.
Denn, sprach ich, auf den Schatz geistiger Bildung,
denke ich, hat ein solcher Mensch nie sein Augenmerk
gerichtet.
Ich glaube nicht, sagte er; denn wie hätte er sonst
einen Blinden zum Führer des Chores seiner Seelenvermögen
bestellt und ihn am höchsten geehrt?
Schön! sagte ich. Erwäge daher als die dritte ähnliche
Eigenschaft folgendes: Dürfen wir hiernach nicht
annehmen, daß drohnenartige Begierden in dem Inneren
jenes Menschen auf kommen, teils den Bettlern,
teils den Übeltätern nachgeartete, die nur mit Gewalt
durch die Zuchtrute eines anderen im Zaume gehalten
werden?
Ja, sicher, sagte er.
Weißt du denn nun, fragte ich, wohin du deinen
Blick richten mußt, wenn du ihre Übeltaten entdecken
willst?
Wohin? fragte er.
Auf die Vormundschaften über dieWaisen und
wenn ihnen sonst so ein Geschäftchen in die Hände
fällt, womit sie ein großes Feld bekommen, ungestraft
Unrecht zu verüben.
Wahrhaftig!
Platon: Der Staat 499
Ist dadurch nun nicht klar, daß ein solcher in dem
übrigen Geschäftsverkehr, in dem er durch Scheinheiligkeit
den Ruf eines gerechten Mannes bekommt,
durch eine ziemliche Gewaltübung über sich selbst
die übrigen einwohnenden teuflischen Begierden im
Zaume hält, nicht aus Überzeugung, daß das besser
sei, nicht durch Beruhigung von Vernunftgründen,
sondern durch Zwang und Furcht, indem er wegen
seines übrigen Vermögens zittert?
Ja, ganz klar, sagte er.
Ja, beim Zeus, fuhr ich fort, sei versichert, mein
Freund, in den meisten von ihnen wirst du der Drohne
verwandte Begierden finden, wenn es gilt, das Gut
des Nebenmenschen vertun zu können!
Ja, gar sehr, sagte er.
Demnach wäre ein solcher Mensch voll Zwiespalt
in seinem Inneren, hätte in sich keine Einheit, sondern
eine gewisse Zweiheit; aber im Kampfe der Begierden
über Begierden siegen meist die besseren über die
schlechteren.
So ist’s.
Aus diesen Gründen, denke ich, zeigt sich ein solcher
im Äußeren zwar anständiger als viele; aber die
wahre Tugend einer mit sich einigen und in ihren verschiedenen
Teilen harmonisch gestimmten Seele ist
weit von ihm entfernt.
So scheint mir.
Platon: Der Staat 500
Viertens, was die öffentlichenWettkämpfe mit seinen
Mitbürgern anbelangt, so wird der sparsüchtige
Geizkragen bei einem Ehrensiege oder bei Erringung
eines sonstigen Ehrenpreises im Gebiet des Schönen
ein schlechter Bewerber sein, weil er wegen eines gefeierten
Namens und wegen der dahin führenden
Wettkämpfe kein Geld aufwenden will, weil er fürchtet,
die Aufwand kostenden Begierden aufzuregen und
zur Beihilfe seiner herrschenden Begierde, aber hiermit
zugleich zumWettstreit mit dieser aufzufordern;
und daher rückt er auf echte Oligarchenart nur mit wenigen
Talern bei einem öffentlichen Kampfe zu Felde,
tut sich meist nicht hervor, wird aber ein reicher
Mann.
Ganz recht, sagte er.
Können wir nun noch zweifeln, daß dem oligarchisch
regierten Staate gegenüber mit entsprechender
Ähnlichkeit das sparsüchtige und geldhungrige Individuum
dasteht?
Keineswegs, sagte er.
Die Demokratie ist es also wohl, die wir hierauf
ausgemachterweise zu betrachten haben: erstlich, auf
welcheWeise sie entsteht, zweitens, welche charakteristische
Eigenschaft sie hat, – auf daß wir wiederum
den Innern moralischen Zustand des ihr entsprechenden
Individuums erkennen und dann ihn für das zu
fällende Urteil mit hinstellen.
Platon: Der Staat 501
Wir würden, sagte er, wenigstens also unseren eingeschlagenenWeg
konsequent verfolgen.
Den Übergang aus der Oligarchie in die Demokratie,
sprach ich weiter, bildet nun die Unersättlichkeit
dessen, was in jener als höchstes Gut aufgestellt ist:
daß man möglichst reich werden müsse?
Wieso denn?
Da, wie ich glaube, die regierenden Häupter in der
Oligarchie nur infolge der Größe des erworbenen Besitztums
regieren, so beeilen sie sich nicht, alle diejenigen
jungen Leute, die sich einem sinnlich ausschweifenden
Leben hingeben, durch ein Gesetz in
der Freiheit zu beschränken, das Ihrige zu verzehren
und zu verschleudern, und die Absicht der Oligarchen
hierbei ist keine andere, als daß sie das Vermögen
solcher jungen Leute durch KaufundWucher an sich
bringen, sonach reicher und damit auch vornehmer
werden.
Ja, auf alle Weise suchen sie das.
Nicht wahr, das ist also hinsichtlich eines Staates
eine bereits ausgemachteWahrheit, daß er unmöglich
Hochachtung vor Reichtum und zugleich vor weiser
Selbstbeherrschung unter den Bürgern behalten kann;
sondern er muß notwendigerweise entweder das eine
oder das andre hintansetzen?
Ja, sattsam ausgemacht, sagte er.
Dadurch, daß die Häupter in den Oligarchien die
Platon: Der Staat 502
liederliche Ausschweifung nicht kümmert, ja daß sie
ihr noch Vorschub leisten, zwingen sie zuweilen
Leute von gar nicht gemeiner Herkunft, arm zu werden.
Jawohl.
Da sitzen nun diese, denke ich, bestachelt und bewaffnet
im Staat, einige verschuldet, einige ihrer
Staatsbürgerrechte beraubt, einige beides, kochen
Haß und Pläne nicht nur gegen die Inhaber ihres
durchgebrachten Vermögens, sondern auch gegen die
übrigeWelt, und lauern auf eine Revolution.
Es ist so.
Jene geldhungrigen Schacherer aber ducken sich
bekanntlich und tun, als bemerkten sie diese Herabgesunkenen
gar nicht, schießen jeden nächsten besten
der übrigen jungen Herrn, der sich nicht zurWehr
setzt, mit einer Ladung ihres Geldes an, streichen die
das Kapital weit übersteigenden Zinsen ein und bringen
also eine große Drohnen- und Bettlerzahl in dem
Staate hervor.
Ja, sagte er, allerdings muß diese groß werden.
Weder auf die oben erwähnte Weise, fuhr ich fort,
wollen sie ja das auflodernde Feuer eines solchen
Übels ersticken, nämlich durch Beschränkung der
Freiheit, sein Vermögen auf beliebige Zwecke zu verwenden,
noch auf folgendeWeise, wonach zweitens
nach einem anderen Gesetze dergleichen Übelstände
Platon: Der Staat 503
sich erledigen…
Nach welchem Gesetze denn?
Welches nach jenem das zweite ist und darin besteht,
daß es den Bürgern einen absoluten Zwang auflegt,
Tugend üben zu müssen. Denn wenn einmal irgend
ein Gesetz verordnete, daß jeder Gläubiger auf
seine eigene Gefahr die freiwilligen Borgschuldverträge
abschließe, so würden einerseits die Schacherseelen
weniger schamlos ihre Geldgeschäfte in dem Staate
treiben, andrerseits würde weniger dergleichen Unkraut
darin emporwachsen können, von dem eben die
Rede war.
Ja, viel weniger, sagte er.
Wie es aber heutzutage hierin steht, fuhr ich fort,
so stürzen aus allen den gedachten Ursachen die Regierenden
erstlich die Regierten im Staate, wie wir gesehen
haben, in das vorhin beschriebene Unheil von
Proletariat; sodann, was ihre eigenen Personen und
ihre Familien betrifft, verleiten sie nicht vor allem die
Söhne zur luxuriösen Liederlichkeit, zur Untätigkeit
in bezug auf körperliche und geistige Anstrengungen,
zu allzu großerWeichlichkeit, um als Mann in Lust
und Schmerz sich zu benehmen, zum Hang für Faulenzerei?
Ohne Zweifel.
Und bringen sie nicht sich selbst dahin, daß sie
alles übrige außer dem Gelderwerb vernachlässigen,
Platon: Der Staat 504
und daß sie ebensowenig sich Mühe für wahre Mannestüchtigkeit
geben als ihre Proletarier?
Ja, ebensowenig.
Wenn nun bei solchen Beschaffenheiten Regierende
und Regierte zu einander geraten, sei es auf
Wegmärschen oder bei anderen Zusammenkünften,
z.B. bei Festgesandtschaften, bei Kriegszügen zu
Wasser oder zu Land, oder wenn sie sich gar in den
Gefahren der Schlacht zu Gesicht bekommen und in
dieser Hinsicht die Armen von den Reichen gar nicht
so verächtlich befunden werden, vielmehr wenn ein
rüstiger und in der Sonne abgehärteter Proletarier in
der Schlacht der Nebenmann eines reichen Herren mit
der Stubenfarbe und einem von fremdem Fette gemästeten
Balge wird und diesen voll Atemnot und ganz
unbeholfen sieht: glaubst du nicht, daß jener dann die
nicht ungegründete Ansicht gewinnt, daß solche Herren
nur allein durch ihre proletarische Schlechtigkeit
reich seien, und daß die Proletarier, wenn sie unter
sich allein zusammen sind, sich gegenseitig zuflüstern:
»Unsere Herren sind so viel wie nichts!« Nicht
wahr?
Ja, ich weiß es sehr wohl, sagte er, daß sie es so
machen.
Wie nun ein krankhafter Körper nur einen ganz
kleinen Anstoß von außen braucht, um in eine tödliche
Krankheit zu verfallen, ja bisweilen ohne die
Platon: Der Staat 505
äußeren Einwirkungen mit sich selbst in Zwiespalt
gerät, – nicht wahr, so verfällt auch der mit jenem
Körper in denselben Zuständen befindliche Staat auf
eine ganz geringfügige Veranlassung, mag nun die
eine Partei Hilfe von außen her von einem oligarchisch
regierten Staate oder die andre von einem demokratischen
Staate Hilfe zugeführt bekommen, in
eine Krankheit und gerät in einen Kampf mit sich
selbst, – ja zuweilen kommt es schon ohne diese äußeren
Veranlassungen zu einem Bürgerkrieg?
Ja, im höchsten Grade.
Eine Demokratie entsteht, denke ich, alsdann bekanntlich,
wenn die Armen nach gewonnenem Siege
einen Teil der anderen Partei ermorden, einen Teil
verbannen und dann die Übriggebliebenen gleichen
Anteil an der Staatsverwaltung und den Staatsämtern
nehmen lassen [, und gewöhnlich ist es darin, daß die
Obrigkeiten durch das Los gewählt werden].
Ja, sagte er, das ist allerdings die Einführung einer
Demokratie, mag sie nun durch den Sieg derWaffen
oder durch die aus Furcht erfolgende freiwillige
Flucht der Gegenpartei geschehen.
Auf welcheWeise nun, fuhr ich fort, werden diese
Leute in dem neuen Staate sich befinden, und was ist
wiederum die charakteristische Eigenschaft einer solchen
Staatsverfassung? Denn offenbar wird in dem
Einzelmenschen der Art das der Demokratie
Platon: Der Staat 506
entsprechende Individuum anschaulich werden.
Ja, offenbar, sagte er.
Nun, da ist wohl die allererste Eigenschaft, daß sie
frei sind, daß der Staat voll Freiheit und voll Redefreiheit
ist, und daß in ihm unbedingte Erlaubnis
herrscht, zu tun, was einer nur will, nicht wahr?
Ja, meinte er, man sagt wenigstens so.
Wo aber in einem Staate eine gänzliche Ungebundenheit
eintritt, da versteht sich von selbst, daß ein
jeder hinsichtlich seines Privatlebens eine Einrichtung
trifft, wie es seiner subjektiven Laune gefällt.
Ja, offenbar.
Menschen aller möglichen Art, denke ich, werden
also bei solcher Staatsverfassung am allermeisten sich
heranbilden.
Allerdings.
Es scheint demnach, fuhr ich fort, daß dies die
schönste der Staatsverfassungen sei: Wie ein buntes,
mit Blumen aller Art ausgesticktes Kleid, so ist auch
diese mit subjektiven Charakteren aller Art ausstaffierte
Verfassung dem Anscheine nach die schönste,
und die große Mehrheit, die mit einem Kinder und
Weiberverstande nur an dem Bunten ihr Auge ergötzt,
wird sie auch gewiß als die schönste wirklich anerkennen.
Ja, sicher, sagte er.
Eine zweite Eigenschaft dieses Staates, sprach ich
Platon: Der Staat 507
weiter, liegt darin, mein Schönster, daß man es so bequem
hat, wenn man darin sich nach einer Verfassung
umsieht.
Wieso denn?
Weil er alle möglichen Arten von Verfassungen in
sich hat, infolge des erwähnten großen freien Spielraumes,
zu treiben, was man will; und wer einen Staat
einrichten will, wie wir vorhin taten, muß, scheint es,
nur in einen demokratisch verwalteten Staat gehen, da
wie in einer Marktbude von Verfassungen sich eine
Sorte, die ihm etwa ansteht, auswählen, nach geschehener
Auswahl sie nach Hause bringen und da realisieren.
Ja, gewiß, sagte er, wohl wird er an Mustern keinen
Mangel haben.
Drittens, fuhr ich fort, die absolute Zügellosigkeit,
daß kein Zwang in diesem Staate ist, ein Regierungsamt
anzunehmen, selbst dann nicht, wenn du dazu der
Tüchtigste wärest; daß andrerseits auch kein Zwang
da ist, sich regieren zu lassen, wenn es dir nicht beliebt;
daß du nicht in den Krieg zu ziehen brauchst,
wenn andere dahin ziehen; daß du keinen Frieden zu
halten brauchst, wenn andre ihn halten, falls du keine
Lust nach Frieden hast: daß ferner andrerseits, falls
ein Gesetz dir verwehrt, den Staat zu verwalten oder
im Gericht zu rechten, du dessen ungeachtet die Freiheit
hast, zu regieren und zu rechten, falls es nur dir
Platon: Der Staat 508
selbst einfällt: eine solcheWirtschaft, ist sie nicht
göttlich bezaubernd für den Augenblick?
Jawohl, sagte er, für den Augenblick!
Und weiter: Ist die Humanität gegen manche der
nach dem Gesetze Verurteilten nicht etwas Hübsches?
Oder hast du in einem solchen Staate noch keine
Leute nach ihrer Verurteilung zum Tode oder zur Verbannung
nichtsdestoweniger dableiben und mitten in
der Stadt auf und ab spazieren sehen? Als habe kein
Mensch acht noch Auge auf ihn, stolziert ein solcher
Kerl wie ein Held einher!
Ja, sagte er, schon viele sah ich so.
Und endlich die größte Liberalität und gar keine
kleinliche Pedanterei in jenem Staate hinsichtlich des
Unterrichts- und Erziehungswesens! Im Gegenteil
stolzes Herabsehen auf die Vorschriften, die wir als
Dinge der größtenWichtigkeit hinstellten, als wir unseren
Staat gründeten, namentlich auf unseren Satz:
Niemand könne, er müsse denn von Geburt aus eine
außerordentliche Anlage zum Guten haben, je ein
wahrhaft guter Mann werden, wenn er nicht schon als
Knabe in Geist weckenden und zur Anschauung des
wesenhaften Guten entwickelnden Anschauungen und
Gegenständen nach Maßgabe der kindlichen Fassungskraft
spielend beschäftigt würde und dann lauter
dergleichen Studien triebe. O, mit welcher Großartigkeit
gibt der demokratische Staat allen diesen
Platon: Der Staat 509
Grundsätzen einen Tritt und bekümmert sich gar nicht
darum, von welcherlei Bänken der Kandidat eines
Staatsamtes herkommt, wenn er nur versichert, ein gesinnungstüchtiger
Volksfreund zu sein!
Ja, sagte er, eine außerordentlich liberale Verfassung!
Diese, fuhr ich fort, und andere diesen verschwisterte
Eigenschaften hätte also eine Demokratie, und
sie wäre nach diesem Ergebnis eine allerliebste
Staatsverfassung: zügellos, buntscheckig, eine Sorte
von Gleichheit gleicherweise unter Gleiche wie Ungleiche
verteilend.
Ja, sagte er, deine Schilderung ist sehr kenntlich
aus dem Leben genommen.
Mache dir, fuhr ich fort, nunmehr, wie ausgemacht
worden ist, in deinem Geiste ein Bild von demWesen
des solcher Verfassung entsprechenden Individuums!
Oder ist zuerst zu erwägen, was wir auch bei jener
Verfassung taten, aufweicheWeise sie entsteht?
Ja, sagte er.
Nun, nicht etwa folgendermaßen? Jener sparsüchtige
und der Oligarchie entsprechende individuelle
Mensch könnte wohl einen Sohn haben, der unter dem
Vater in dessen Sitten auf erzogen ist?
Natürlich, denn warum sollte dies unmöglich sein?
Der also auch mit Gewalt diejenigen sinnlichen
Lüste in seinem Inneren beherrscht, die
Platon: Der Staat 510
verschwenderischer, nicht einträglicher Art sind, und
diese haben bekanntlich den Namen »nicht notwendige
«?
Ja, offenbar, sagte er.
Wollen wir nun nicht, sprach ich weiter, damit wir
in keiner unklaren Gelehrtensprache reden, vorerst die
notwendigen Begierden und die nicht notwendigen
deutlicher bestimmen?
Ja, gern, sprach er.
Nicht wahr, die wir erstlich nicht abzuwenden vermögen
und die zweitens durch ihre Befriedigung uns
stärken helfen, diese heißen wohl mit Recht notwendige?
Denn aus beiderlei Gründen ist unsere Natur
genötigt, jene Begierden zu haben, oder nicht?
Jawohl.
Mit Recht also werden wir zur Bezeichnung jener
Begierden den Ausdruck notwendig gebrauchen.
Ja, mit Recht.
Nun weiter! Welcher man sich entledigen kann,
wenn man von Jugend an darin sich übt, und welche
im Falle ihres Vorhandenseins in keiner Beziehung
Gutes, vielmehr das Gegenteil stiften, – wenn wir alle
diese für nicht notwendige erklärten, würden wir uns
da gut ausdrücken?
Ja, hiernach gewiß richtig.
Wollen wir daher von beiden Arten von Begierden,
die existieren, ein Beispiel vornehmen, damit wir sie
Platon: Der Staat 511
nun in einer bestimmt bezeichnenden allgemeinen
Vorstellung erfassen?
Ja, das müssen wir demnach.
Wäre also nicht die Begierde nach dem Essen in
Absicht nicht nur auf Gesundheit, sondern auch auf
Schönheit und Kraft, sowie die Begierde nicht nur
nach bloßem Brote, sondern auch nach etwas Zukost
zu dem Brote eine notwendige?
Ich denke.
Die nach dem Brote erstlich ist wohl in beiden Hinsichten
eine notwendige, sofern sie einmal durch Befriedigung
stärken hilft und dann sofern bei ihrer
Nichtbefriedigung einer unmöglich leben kann.
Ja.
Und zweitens die Begierde nach Fleisch und dergleichen,
inwiefern sie irgendwie Kraft und Schönheit
befördern hilft?
Allerdings.
Aber wie steht’s mit den Begierden folgender Art?
Die über dieses Brot und Fleisch hinausgehende, nach
delikateren Bissen, als diese sind, lüsterne Begierde,
die aber durch gehörige Zucht von Jugend an und
durch eine gute Jugendbelehrung aus den meisten vertrieben
werden kann, die zudem nachteilig dem Körper
und nachteilig der Seele für geistige Tätigkeit
sowie für besonnene Selbstbeherrschung ist: dürfte
diese nicht mit Recht eine nicht notwendige genannt
Platon: Der Staat 512
werden?
Ja, mit dem größten Rechte.
Die Begierden der letzteren Art werden wir daher
für verschwenderische erklären dürfen, die der ersteren
dagegen für erwerbende, weil sie bei Betreibung
unseres Gewerbes förderlich sind?
Allerdings.
Diese Unterscheidung dürfen wir nun auch weiter
hinsichtlich der Liebesbegierden und der übrigen
überhaupt aufstellen?
Ja, das dürfen wir.
Und unter dem, den wir vorhin eine Drohne nannten,
verstanden wir doch den mit solchen Lüsten und
Begierden beladenen und von nicht notwendigen Begierden
beherrschten Menschen, dagegen unter dem
Sparsüchtigen und oligarchisch Gesinnten den nur
von den notwendigen Begierden Beherrschten, nicht
wahr?
Freilich.
Nun wollen wir denn wiederum, fuhr ich fort, auf
unsere Darstellung zurückkommen, wie aus dem oligarchischen
Individuum das demokratische entsteht.
Es scheint mir aber die Entstehung desselben in den
meisten Fällen so vor sich zu gehen…
Wie?
Wenn ein junger Mensch, geistig verwahrlost und
spärlich erzogen, wie wir es vorhin beschrieben
Platon: Der Staat 513
haben, einmal von dem Honig für Drohnen gekostet
hat und mit tollen Schweinigeln in Gesellschaft gerät,
die Vergnügen aller Alt und mit der größtenMannigfaltigkeit
und Abwechslung meisterlich zu verschaffen
wissen: so glaube, daß für ihn hier der Anfang ist, den
oligarchischen Zustand seines Inneren in einen demokratischen
zu verwandeln.
Ja, sehr notwendig, sagte er.
Wie nun der ihm verwandte Staat sich umwandelte,
indem der einen Partei in ihm Beistand von außen
zukam, eine Farbe der anderen, so wird, nicht wahr?,
nun auch bei jenem jungen Manne die Umwandlung
vor sich gehen, indem auch hier eine Art Begierden
von außen der einen von beiden Arten in seinem Inneren
zu Hilfe kommt, nämlich immer die der verwandten
und ähnlichen Farbe?
Ja, freilich.
Und wenn nun, meine ich, der oligarchischen Begierdenart
in seinem Innern auch eine Beihilfe gegen
jene Beihilfe unter die Arme greift, entweder vom
Vater her oder von Verwandten, die ihn durchWort
und Tat zurechtweisen, so steht dann Partei und Gegenpartei
mit denWaffen gegenüber, und es entbrennt
in ihm ein Kampf mit sich selbst.
Allerdings.
Und manchmal nun, glaube ich, weicht dann das
demokratische Begierdenheer dem oligarchischen,
Platon: Der Staat 514
und einige der demokratischen Begierden werden teils
abgetötet, teils verbannt infolge der in der Seele des
jungen Mannes sich ermannenden Scham, und er
kehrt wieder zur Ordnung zurück.
Ja, sagte er, das ist bisweilen der Fall.
Dann werden aber, glaube ich, wiederum andere,
den verbannten demokratischen Begierden verwandte
Begierden nachwachsen und infolge der Unwissenheit
des Vaters für Erziehungsfragen zahlreich und gewaltig
stark werden.
So pflegt es, sagte er, gern wenigstens zu geschehen.
Diese ziehen den Sohn dann wieder zu dem alten
Umgang, und infolge der hinter dem Rücken des Vaters
gepflogenen Zusammenkünfte gebären sie in ihm
unzählige junge.
Sicherlich.
Endlich nehmen sie dann wohl die Hauptfestung in
der Seele des Jünglings ein, wenn sie merken, daß
diese entblößt ist von Geisteswaffen, von wissenschaftlichen
Beschäftigungen und von wissenschaftlich
befestigten alten Grundsätzen, die bekanntlich ja
die besten Beschützer und Aufseher in den Seelen
gottgeliebter Menschen sind.
Ja, sicherlich, sagte er.
Statt deren nehmen dann offenbar falsche und neumodische
Grundsätze und Meinungen durch einen
Platon: Der Staat 515
Sturmlauf von demselben Platze bei einem solchen
Menschen Besitz.
Jawohl, meinte er.
Begibt er sich nun nicht wiederum zu jenen Lotterbuben
und hauset mit ihnen offenkundig? Und wenn
von seinen Verwandten dem sparsüchtigen Begierdenheere
seines Inneren irgend ein Beistand käme, –
würden da nicht jene neumodischen Grundsätze die
Tore an der königlichen Hauptfestung verschließen,
weder das Hilfsheer selbst einlassen noch belehrende
Gesandtschaften von selten einzelner älterer Männer,
und also im Kampfe den Sieg davontragen, indem sie
die Scham Einfaltspinselei nennen und mit Beschimpfung
als eine Verbannte verjagen, indem sie verständige
Besonnenheit Unmännlichkeit heißen, mit Füßen
treten und verbannen, indem sie Einschränkung und
Ordnung im Aufwande, die nach ihrer Versicherung
Ungeschliffenheit und Unvornehmheit sind, unter dem
Beistande von vielen anderen verschwenderischen Begierden
über die Grenze bringen?
Jawohl.
Haben aber diese Lügen- und neumodischen
Grundsätze die Seele jenes von ihnen eingenommenen
und in ihre großen Geheimnisse eingeweihten Jünglings
von jenen Tugenden geleert und gesäubert, da
führen sie hierauf dann ausgelassenen Frevelmut, Zügellosigkeit,
Liederlichkeit und Schamlosigkeit, alle
Platon: Der Staat 516
im Ehrenschmuck und Ehrenkranz, mit einer zahlreichen
Prozession wieder ein, unter Lobpreisungen und
beschönigenden Benennungen; Frevelmut heißt vornehme
Erziehung, Zügellosigkeit ein freies Leben,
Liederlichkeit noble Manier, Schamlosigkeit männliche
Bravour. Ist dies nicht etwa die Art des Übergangs
eines unter den nur notwendigen Begierden erzogenen
jungen Mannes zur Entfesselung und Loslassung
der nicht notwendigen?
Ja, sagte er, und zwar sehr anschaulich.
Was nun die Beschaffenheit des Lebens eines solchen
Menschen anlangt, so lebt, denke ich, hierauf ein
solcher dergestalt, daß er Geld, Mühe und Zeit ebenso
auf notwendige wie auf nicht notwendige Vergnügen
verwendet; und wenn er noch glücklich ist und nicht
über alle Schranken hinaus tollt, sondern wenn er
etwas in die Jahre kommt und der Taumel sich etwas
verlaufen hat, die Verbannten zum Teil wieder aufnimmt
und den Heimkehrenden sich doch nicht ganz
hingibt, so bringt er unter seine Lüste eine gewisse
Gleichheit und bringt sein Leben dahin, indem er der
jedesmal von ungefähr eintretenden Lust, als ob das
Los sie dazu gezogen hätte, die Herrschaft über sich
einhändigt, bis sie gestillt ist, und dann wiederum
einer anderen, keine hintansetzt, sondern alle gleichmäßig
hält.
Ja, ganz richtig.
Platon: Der Staat 517
Und einer wissenschaftlichenWahrheitspredigt,
fuhr ich fort, gönnt er bei solchem Leben kein Ohr
und keinen Eingang in seine Burg, wenn ihn jemand
in der Art belehren wollte: »einige Lüste rührten von
heilsamen und guten Begierden her, andere von
schlechten; die einen müsse man pflegen und hochhalten;
die anderen müsse man beschneiden und unterjochen
«. Bei allen solchen Belehrungen vielmehr schüttelt
er den Kopf und beharrt bei der Behauptung, alle
seien einander gleich, und einer wie der anderen sei
die gleiche Ehre zu erweisen.
Jawohl, sagte er, tut das ein Mensch in dieser Lage.
Nicht wahr, sprach ich weiter, und erlebt also sein
ganzes Leben lang jeden Tag der ersten besten sich
einstellenden Lust zu Gefallen: Bald berauscht er sich
und läßt sich durch Flötenspiel ergötzen: bald trinkt
erWasser und hungert sich ab; bald wiederum quält
er sich mit gymnastischen Übungen; bald faulenzt er
und vernachlässigt alle Geschäfte; bald tut er, als beschäftige
er sich mit tieferWissenschaft (Philosophie);
oft treibt er Politik und spricht und tut in der
Volksversammlung, was ihm nur während des Aufspringens
in den Sinn kommt; wird er einmal eifersüchtig
auf den Ruhm von Kriegsmännern, so stürzt
er sich auch darauf; wird er’s auf den Gewinn der Geschäftsleute,
so läßt er sich auch wiederum damit ein.
Kurz: weder eine Ordnung noch eine Konsequenz ist
Platon: Der Staat 518
in seinem Leben; sondern er nennt ein solches Leben
frei und selig und treibt es bis zu seinem Ende.
Ja, sagte er, ganz genau hast du das Leben eines
Gleichheits- und Freiheitsmannes geschildert.
Ich denke, fuhr ich fort, der Hauptcharakter dieses
Individuums drückt sich erstlich darin aus, daß er eine
Buntscheckigkeit und Fülle von fast allen Charakteren
darbietet; zweitens, daß ein solcher Mensch, gerade
wie die ihm entsprechende Verfassung, der schöne
und buntscheckige ist, den die Mehrheit der Männerwie
der Frauenwelt wegen seines herrlichen Lebens
bewundert, weil so ein Exemplar Muster von Staatsund
Herzensverfassungen in reichster Auswahl in sich
enthält.
Ja, sagte er, das ist sein Hauptcharakter.
Und darf demnach gegenüber einer Demokratie folgerecht
ein so beschaffenes Individuum als fertig hingestellt
sein, mit der Behauptung, daß es treffend ein
der demokratischen Verfassung entsprechendes genannt
wird?
Ja, sagte er.
So wäre uns, sprach ich weiter, noch die allerliebste
Verfassung und das allerliebste Individuum zu
schildern übrig, die Tyrannis und der Tyrann.
Ja, freilich, sagte er.
Wohlan denn, mein lieber Freund, welches ist der
Charakter der Tyrannis? Denn was ihre Entstehung
Platon: Der Staat 519
anlangt, so ist so viel gewiß, daß sie aus der Demokratie
durch deren Ausartung vor sich geht.
Ja, gewiß.
Entsteht also nicht auf dieselbeWeise, wie Demokratie
aus Oligarchie, so Tyrannis aus Demokratie?
Wie denn?
Was die Oligarchie, sprach ich, sich als das größte
Gut vorsteckte und wodurch sie auch zustande kam,
das war doch Reichtum, nicht wahr?
Ja.
Der unersättliche Hunger nach Reichtum also und
die Vernachlässigung aller anderen Dinge um des
Gelderwerbs willen waren ihr Verderben?
Richtig, sagte er.
Nicht wahr, auch die Unersättlichkeit in demjenigen
Gute, was sich die Demokratie als Ziel bestimmt,
richtet auch diese zugrunde?
Welches Gut bestimmt sie sich aber nach deiner
Meinung als Ziel?
Die Freiheit, antwortete ich; denn davon wirst du in
einem demokratisch regierten Staate immer hören, wie
sie das allerschönste Gut sei, und wie deshalb in solchem
Staate allein ein Freigeborener würdig leben
könne.
Ja freilich, sagte er, gar oft wird diese Sprache geführt.
Ist hiernach, fuhr ich fort, anzunehmen – das ist nun
Platon: Der Staat 520
die Frage, die ich vorhin folgen lassen wollte -, daß
die Unersättlichkeit in diesem Gute (der Freiheit)
auch diese Verfassung umwandelt und in die Lage
versetzt, daß sie eines Tyrannen bedürftig wird?
Wie soll das kommen? fragte er.
Wenn eine nach Freiheit durstige Demokratie,
denke ich, an ihre Spitze schlechte Mundschenke bekommt
und über Gebühr mit dem stärksten Feuergeiste
der Freiheit sich berauscht, so pflegt sie bekanntlich
ihre Regierenden, wenn sie nicht ganz nachgiebig
sind und im Übermaß die Freiheit verzapfen, als Verräter
und Oligarchen zu beschuldigen und zu bestrafen.
Ja, sagte er, so machen sie’s.
Und die den Obrigkeiten noch gehorsamen Bürger,
fuhr ich fort, diese tritt die Demokratie mit Füßen als
Bedientenseelen und Nichtswürdige; dagegen die Beamten,
die sich wie Untergebene gebärden, und Untergebene,
die sich das Ansehen von Beamten geben, die
lobt und erhebt die Demokratie im Privat- wie im
Staatsleben: ist es da nicht eine absolute Notwendigkeit,
daß in einem solchen Staate über alles der Freiheitsschwindel
kommt?
Allerdings.
Ja, daß er, mein Freund, sprach ich weiter, sogar in
das Familienleben eindringt und es endlich dahin
kommt, daß auch dem Vieh jene Zügellosigkeit sich
Platon: Der Staat 521
einpflanzt?
Wie meinen wir das z.B.? fragte er.
Wenn z.B., erwiderte ich, ein Vater sich gewöhnt,
einen Buben vorzustellen, und sich vor seinen Söhnen
fürchtet, wenn dagegen ein Sohn den Vater spielt und
weder Scham noch Furcht vor seinen Eltern hat, damit
er nämlich frei sei: wenn der bloße Beisasse sich dem
Altbürger gleichstellt und der Altbürger sich zum
Beisassen herabläßt, und ebenso der Ausländer.
Ja, so geht es, sagte er.
Und es bleibt nicht allein, fuhr ich fort, bei diesen
Freiheitserscheinungen, sondern es ereignen sich auch
noch andere Kleinigkeiten folgender Art: Der Lehrer
fürchtet und hätschelt seine Schüler, die Schüler fahren
den Lehrern über die Nase und so auch ihren Erziehern.
Und überhaupt spielen die jungen Leute die
Rolle der alten und wetteifern mit ihnen inWort und
Tat, während Männer mit grauen Köpfen sich in die
Gesellschaft der jungen Burschen herbeilassen, darin
von Possen und Späßen überfließen, ähnlich den Jungen,
damit sie nur ja nicht als ernste Murrköpfe, nicht
als strenge Gebieter erscheinen.
Ja, allerdings, sagte er.
Darauf sagte ich weiter; aber der höchste Grad von
Volksfreiheit, die in einem solchen Staate zum Vorschein
kommen kann, tritt ein, wenn bekanntlich die
gekauften Sklaven und Sklavinnen ebenso frei sind
Platon: Der Staat 522
wie die kaufenden Herren und Herrinnen. Im Verhalten
aber derWeiber zu Männern und der Männer zu
Weibern, wie groß da die Gleichheit und Freiheit ist,
das hätte ich beinahe vergessen zu erwähnen!
Wollen wir nicht, fragte er, um mit Aischylos zu
sprechen, vortragen, wie es uns eben in den Mund
kam?
Jawohl, antwortete ich, und ich wenigstens mache
es so.Was nun das Benehmen der unter der Herrschaft
der Menschen lebenden Tiere anlangt, so
glaubt niemand, der es nicht erfahren hat, um wieviel
freier diese hier sind als sonst. Denn nicht nur die
Hunde sind nach dem Sprichworte ganz wie ihre Herrinnen,
sondern auch Pferde und Esel sind da gewohnt,
ganz wie freie Leute und gravitätisch einherzuschreiten,
und fällen auf den Straßen jeden ihnen
Begegnenden an, wenn er vor ihnen nicht auf die Seite
geht, und so ist alles übrige voll von Freiheit.
Da sprichst du mir ganz aus der Seele, sagte er;
denn solche Erfahrung mache ich oft, wenn ich auf
das Land gehe.
Wenn du alle diese Erscheinungen zusammennimmst,
fuhr ich fort, siehst du nun ein, was das Allerschlimmste
hierbei ist? Daß sie die Seele der Bürger
so empfindlich machen, daß sie, wenn ihnen jemand
auch nur den mindesten Zwang antun will, sich
alsbald verletzt fühlen und es nicht ertragen; ja
Platon: Der Staat 523
endlich, wie du wohl weißt, verachten sie gar alle Gesetze,
die geschriebenen wie die ungeschriebenen, um
nur keinen Gebieter in irgend einer Beziehung über
sich zu haben.
Ja, sagte er, das weiß ich sehr wohl.
Diese so schöne, sagte ich, und jugendlich kecke
Wirtschaft, mein Lieber, ist also denn der Anfang,
woraus die Staatsform der Tyrannis erwächst, wie ich
glaube.
Ja, sagte er, freilich eine jugendlich keckeWirtschaft;
aber was folgt auf diesen Anfang?
Derselbe proletarische Krankheitsstoff, antwortete
ich, der in der Geldoligarchie sich erzeugte und sie
zugrunde richtete, dieser erzeugt sich in diesem Freistaate
in einem noch höheren und stärkeren Grade aus
der zügellosen Freiheit und bringt die Demokratie in
die Knechtschaft; und in der Tat führt überhaupt das
Allzuviel gern einen Umschlag in das Gegenteil mit
sich, z.B. in den Jahreszeiten, imWachsen der Pflanzen
und Körper, und so auch nun ganz vorzüglich in
den Verfassungen.
Natürlich , sagte er.
Denn die allzu große Freiheit schlägt offenbar in
nichts anderes um als in allzu große Knechtschaft, sowohl
beim Individuum wie beim Staate.
Natürlich.
Natürlich also denn, fuhr ich fort, geht die Tyrannis
Platon: Der Staat 524
aus keiner anderen Staatsverfassung hervor als aus
der Demokratie, aus der zur höchsten Spitze getriebenen
Freiheit die größte und drückendste Knechtschaft.
Das hat seine Richtigkeit, meinte er.
Aber nicht auf diese Folge des Allzuviel, glaube
ich, ging deine Frage vorhin, sondern vielmehr darauf:
Welcher ebenso in der Oligarchie wie in der Demokratie
sich erzeugende Krankheitsstoff bringt letztere
unter das Joch der Knechtschaft?
Ja, sagte er, richtig bemerkt.
Unter jenem Krankheitsstoffe also, sagte ich, verstand
ich das Pack der müßiggängerischen und alles
vertuenden Menschen, wovon der mannhaftere Teil
die Rolle der anführenden Rädelsführer spielt, der unmännliche
dagegen das Gefolge bildet: diese Menschen
verglichen wir vorhin mit Drohnen: die ersteren
mit gestachelten, die letzteren mit ungestachelten.
Und zwar ganz passend, bemerkte er.
Diese beiden Sorten von Unrat nun, sprach ich weiter,
zerrütten jeden Staat, in welchem sie sich ansammeln,
gerade wie Verschleimung und Galle einen
Körper; der gute Arzt und Gesetzgeber eines Staates
muß nun vor diesen beiden Arten von Ungeziefer, wie
der weise Bienenvater, von ferne schon Vorsichtsmaßregeln
ergreifen: die allerbesten Maßregeln sind
die, wodurch ihr Einnisten verhütet wird; die nächstbesten
solche, durch die sie da, wo sie sich eingenistet
Platon: Der Staat 525
haben, so schnell wie möglich samt denWaben ausgeschnitten
werden.
Ja wahrlich, bei Zeus, sagte er, auf alleWeise.
Damit wir indessen, fuhr ich fort, dieWahrheit der
Antwort auf die vorliegende Frage noch leichter und
verständlicher ansehen, wollen wir die Sache von folgender
Seite auffassen…
Von welcher?
Teilen wir in Gedanken die Bürgerschaft einer Demokratie
in drei Klassen, in die sie bekanntlich auch
in derWirklichkeit zerfällt: die erste, die eben erwähnte
Drohnenklasse, wächst in der Demokratie infolge
der übermäßigen Freiheit in nicht geringerer
Zahl empor als in dem von einer Oligarchie regierten
Staate.
Ja, so ist’s.
Aber in ersterer ist sie weit leidenschaftlicher als in
letzterer.
Wieso?
Weil sie in der Oligarchie nicht im Besitze der
Bürgergeltung ist und von der Staatsregierung ausgeschlossen
wird, kann sie dort ihre Geisteskraft nicht
entwickeln und kommt zu keiner durchdringenden
Kraft: in der Demokratie dagegen ist diese Klasse diejenige,
die die ganze Bürgerschaft derselben, mit Ausnahme
weniger, bevormundet: der leidenschaftlichste
Teil davon spielt die tätige Rolle der Politik inWort
Platon: Der Staat 526
und Tat, der übrige Schwarm umlagert passiv mit Gesumse
die Rednerbühne und läßt niemanden eine andere
Meinung vortragen, so daß bei einer solchen
Verfassung alle Geschäfte des Staates, mit Ausnahme
weniger, von der genannten Klasse abgemacht werden.
Ja freilich, sagte er.
Die zweite Klasse ist nun die, welche sich immer
vom Volke vornehm absondert.
Von welcher Beschaffenheit denn?
Wenn irgendwo alle Welt Gelderwerb treibt, so
werden diejenigen in der Regel am reichsten, die,
wenn auch nicht durch Geistesbildung, doch bloß
durch eine besondere Naturanlage am meisten Sinn
für Ordnung und Anstand haben.
Natürlich.
Von dieser zweiten Klasse nun, denke ich, läßt sich
für jene Drohnen Honig schneiden, im reichlichsten
Maße und ganz ohne alle Mühe.
Wie könnte auch einer, sagte er, bei denen Honig
schneiden wollen, welche wenig haben?
Diese zweite Klasse, die Reichen, führen bekanntlich
den Namen »Drohnenfutter«.
Ja, sagte er, so ungefähr.
Die dritte Klasse der Demokratie aber wäre das
niedere Volk, worunter alle gehören, die von eigner
Handarbeit leben, die keine Freunde von
Platon: Der Staat 527
Staatsgeschäften sind, die keinen großen Landbesitz
haben, und dieser Teil ist der zahlreichste und zugleich
der entscheidendste, wenn er ganz versammelt
ist.
Ja, sagte er, das ist er freilich; aber er hat keine
sonderliche Lust, eine solche vollständige Versammlung
zu bilden, wenn er keine Aussicht hat, Anteil am
Honig zu bekommen.
Nun, sagte ich, er bekommt immer, wenn die rädelsführenden
Volksführer imstande sind, die besitzende
Klasse zu berauben und den Raub unter das
Volk so zu verteilen, daß er den größten Teil davon
behalten kann.
Ja freilich, sagte er, so bekommt das Volk seinen
Anteil.
Die beraubten Reichen werden dann natürlich in
die Notwendigkeit versetzt, sich zur offenen Wehr zu
setzen, indem sie in der Volksversammlung auftreten
und Politik treiben, wie sie können.
Das müssen sie.
Dann werden sie von der Gegenpartei beschuldigt,
daß sie die Volkssouveränität stürzen wollten und der
Oligarchie zusteuerten, wenngleich sie gar keine
Neuerung beabsichtigen.
Ja, so kommt’s.
Wenn sie nun sehen, daß das Volk, nicht aus vorsätzlicher
Bosheit, sondern aus Unverstand und von
Platon: Der Staat 528
ihren anschwärzenden Gegnern betrogen, sie zu plündern
sucht, dann werden sie endlich, sie mögen wollen
oder nicht, in der Tat oligarchisch gesinnt, nicht
aus innerem Antriebe, sondern auch dieses Übel impft
jene Drohnenklasse ein durch ihre giftigen Stiche
gegen die Begüterten.
Ja, offenbar.
Es erfolgen nun öffentliche Anklagen auf gravierende
Staatsverbrechen, Gerichtsprozesse, öffentliche
Parteikämpfe.
Jawohl.
Nicht wahr, daher die bekannte Gewohnheit des
niederen Volkes, vorzugsweise irgend einen sich als
Volksanwalt an seine Spitze zu stellen, ihn dick und
mächtig groß zu füttern?
Ja, freilich ist das seine bekannte Gewohnheit.
Dies wäre also, sagte ich, erstlich außer Zweifel,
daß ein Tyrann, wenn er entsteht, nur aus dieser Wurzel
der Volksanwaltschaft und nirgends anderswoher
hervorkeimt?
Ja, ganz ohne Zweifel.
Wo ist nun der Anfang seiner Umwandlung aus
einem Volksanwalt zu einem Tyrannen? Oder ist der
Anfang offenbar da, wenn der Volksanwalt anfängt,
dasselbe zu tun, was der Mann in der Fabel tat, die
von dem Tempel, des Zeus auf demWolfsberg in Arkadien
erzählt wird?
Platon: Der Staat 529
Welche denn? fragte er.
Wer menschliches Eingeweide, wenn auch nur ein
einziges unter andere von anderen Opfertieren zerhackt
war, gekostet habe, dieser werde nach einem
unabwendbaren Verhängnisse in einenWolf verwandelt.
Oder hast du von dieser Sage noch nicht gehört?
O ja.
Wer nun dem Volke als Anwalt vorsteht, an ihm
eine auf sein Kommando fein merkende Masse unter
die Hände bekommt und sich nicht infolge solcher
Gewalt des Blutes seiner eigenen (reichen) Mitbürger
enthalten kann, sondern, wie es gern die Art solcher
Volksmänner ist, bald durch ungerechte Anklagen sie
vor die Kriminalgerichte bringt und sich mit Blutschuld
befleckt durch Vernichtung von Menschenleben
und durch das Kosten des verwandten Blutes mit
gottloser Zunge und Lippe, bald Verbannungen und
Todesurteile ausspricht, bald Schuldenerlaß und
Ackerverteilung predigt: kommt über einen solchen
hierauf nicht ebenso die zwingende Notwendigkeit
und das unabwendbare Verhängnis, zwischen dem
Tode von der Hand seiner Feinde und dem Tyrannenthrone
zu wählen und also aus einemMenschen ein
Wolf zu werden?
Ja, sagte er, die unabwendbarste Notwendigkeit!
Und dieser, sprach ich, und kein anderer wird sodann
das Haupt des Bürgerkrieges gegen die
Platon: Der Staat 530
begüterte Klasse?
Ja, kein anderer.
Er muß natürlich hierbei die Stadt räumen; und
kehrt er dann trotz seiner Feinde wieder zurück, so ist
wohl der Tyrann ausgebrütet?
Ja, offenbar.
Wenn aber nun die Reichen nicht imstande sind,
ihn zu vertreiben oder durch eine Kriminalanklage vor
der Volksgemeinde um das Leben zu bringen, so
schmieden sie dann bekanntlich Pläne, ihn durch gewaltsamen
Tod heimlich aus demWege zu räumen.
Ja, sagte er, so pflegt es wirklich zu gehen.
Daraufhin das bei allen, die bis zu dieser Stufe
kommen, übliche Hervortreten der bekannten Tyrannenbitte:
sie erbitten nämlich vom Volk sich einige
Leibwächter zum Schutze, damit ihnen doch der Beschützer
des Volkes am Leben bleibe!
Ganz richtig, bemerkte er.
Die Leute geben sie ihm, versteht sich, weil sie einerseits
wirklich für ihn Besorgnis tragen und andrerseits
wegen ihrer Personen und Freiheiten keinen Argwohn
hegen.
Richtig.
Wenn nun diesen Moment ein Mann wahrnimmt,
der mit Gütern und neben diesen Gütern natürlich
auch mit dem Verbrechen behaftet ist, ein »Volksfeind
« zu sein, dann wird ein solcher, mein Freund,
Platon: Der Staat 531
nach dem dem Kroisos gewordenen Orakel
zum Strom des kiesigten Hermos
Fliehen, er bleibt nicht mehr; nicht schämt er sich,
feige zu heißen.
Natürlich, sagte er, denn der würde sich auch nicht
zum zweiten Male zu schämen haben!
Ja, sprach ich, wird er nämlich erwischt, da ist er,
meine ich, dem Tode verfallen.
Ja, unrettbar!
Jener Herr Volksanwalt dagegen legt sich selbstverständlich
nicht groß großmächtig hin, sondern
steht nach Niederstreckung vieler anderer Thronkandidaten
am Ruder des Staates und ist nun ein Tyrann
in seiner Vollendung!
Ja, sagte er, das läßt er erwarten.
Wollen wir nun, fuhr ich fort, verabredetem Plane
gemäß die Glückseligkeit des Lebens sowohl des Individuums
wie des Staates darstellen, in dem es aufkommen
konnte?
Ja, sagte er, allerdings müssen wir das nun.
Nicht wahr, sprach ich, in den ersten Tagen und in
den Flitterwochen wirft er aller Welt, wer ihm auch
begegnen mag, lächelnde Mienen und Komplimente
zu, versichert, gar kein Tyrann zu sein, macht einzelnen
wie dem ganzen Gemeinwesen Aussichten auf
Platon: Der Staat 532
große Verbesserungen, mildert die Schuldenlast, verteilt
Land unter das Volk und unter seine erklärten
Anhänger und tut gegen alle huldvoll und sanftmütig?
Ja, notgedrungen, sagte er.
Hat er aber, glaube ich, was die emigrierten einheimischen
Feinde anlangt, sich mit einem Teile ausgesöhnt,
den anderen vernichtet und Ruhe vor diesen
einheimischen Feinden bekommen, so ist dann, denke
ich, sein erstes, immer einige Kriege mit dem Auslande
zu veranlassen, damit erstlich das Volk eines Anführers
benötigt bleibt.
Natürlich.
Nicht wahr, damit auch zweitens die Leute durch
Entrichtung der dadurch veranlaßten außerordentlichen
Kriegssteuern arm werden und ihre Gedanken
auf den Erwerb des täglichen Brotes zu richten gezwungen
sind und also ihm weniger gefährlich sein
können?
Offenbar.
Damit er drittens, denke ich, unter einem guten
Scheingrunde jene sich vom Halse schaffen und dem
Schwert der auswärtigen Feinde überliefern kann, von
denen er etwa argwöhnt, daß sie mit ihren freien Gesinnungen
ihn nicht am Ruder lassen werden?
Muß er nicht aller dieser Gründe wegen beständig
Krieg anzetteln?
Ja, notgedrungen.
Platon: Der Staat 533
Muß er nicht bei diesem Treiben sonach unfehlbar
in weiterem Kreise den Staatsbürgern verhaßt werden?
Freilich.
Daher werden dann auch wohl sicherlich einige von
denen, die ihn mit an das Ruder gebracht haben und
Einfluß besitzen, frei mit der Sprache herausrücken,
sowohl ihm selbst ins Angesicht als auch unter sich,
und gegen die Früchte, die sie jetzt reifen sehen, laut
losschlagen, da es Männer sind, die noch einigermaßen
das Herz am rechten Flecke haben?
Ja, natürlich, daß sie solche Sprache erheben.
Aus demWege räumen muß er also alle diese, der
Tyrann, wenn er das Regiment behalten will, bis er in
seiner Nähe keinen weder von Freunden noch Feinden
übrig hat, der noch etwas taugt.
Offenbar.
Sofort muß er sich eine feine Spürnase anschaffen,
wo es sonst noch einen Mann von Mut oder Stolz
oder Geist oder Geld gibt; und auf seinem Tyrannenthrone
ist er so glücklich, daß ihm sein Schicksal unbedingt
gebietet, allen solchen Männern ohne Ausnahme,
mag sein Herz wollen oder nicht, den Krieg
zu erklären und Schlingen zu legen, bis er den Staat
gereinigt hat.
Ja, sagte er, eine schöne Art zu reinigen!
Ja freilich, sagte ich, ganz das Gegenteil von dem,
Platon: Der Staat 534
wie vernünftige Ärzte die Körper der Patienten reinigen:
denn diese schaffen das Schlechteste in ihnen fort
und schonen das Beste, der Tyrann aber tut das Gegenteil.
Es gebietet’s ihm ja offenbar seine Situation, sagte
er, wenn er auf seinem Herrscherthrone bleiben will.
In einer sehr glückseligen Situation, fuhr ich fort,
steckt also fürs erste der Tyrann, in einer Situation,
die ihm die gebieterische Notwendigkeit auflegt, entweder
mit der Nichtsnutzigkeit der Masse und sogar
auch von dieser gehaßt zu hausen, oder überhaupt
nicht zu leben!
Ja, bemerkte er, in solcher Lage steckt er.
Ist nun nicht hiervon die weitere Folge, daß er eine
desto zahlreichere und treuere Leibwache bedarf, je
verhaßter er seinen Staatsbürgern durch jene Handlungen
wird Allerdings.
Welches sind nun die Treuen, und woher soll er sie
sich nehmen?
Von selbst, sagte er, kommen gar viele geflogen,
wenn er nur den Köder des Soldes aushängt.
Von einer neuen Sorte Drohnen, beim Hunde, sagte
ich, scheinst du mir wiederum zu reden, von ausländischem
Gesindel aus allerlei Herren Ländern!
Ja, sagte er, das tue ich aus gutem Grunde!
Aber wie? Sollte er nicht lieber in dem Inlande
wollen…?
Platon: Der Staat 535
Wie meinst du?
Die Sklaven den Staatsbürgern nehmen, sie mit der
Freiheit beschenken und sie zu seinen Leibwächtern
erheben.
Ja, sagte er, ganz wohl, denn diese wären ihm noch
am treuesten.
Fürwahr, sprach ich, ein schönes Stück von Glückseligkeit
zählst du weiter da von einem Tyrannen auf,
wenn er die Freundschaft und Treue solcher Früchtchen
zu genießen hat, nachdem er jene früheren
Freunde beiseite geschafft!
Aber er hat nun einmal, sagte er, nur solche Früchtchen
und keine anderen zu genießen!
Und dieser Genuß, sagte ich, besteht natürlich in
der Bewunderung von seiten dieser Kameraden sowie
in dem Umgang mit den von ihm neugebackenen
Staatsbürgern, während die noch ordentlichen Bürger
ihn hassen und wie die Pest fliehen?
Warum sollten sie das nicht?
Nun, fuhr ich fort, da wird gar nicht so übel die
dramatische Poesie überhaupt, insbesondere der darin
sich auszeichnende Euripides als ein Schatzkästlein
vonWeisheit ausgegeben!
Weshalb denn?
Weil er unter anderem auch folgendes inhaltsschwereWort
ausgesprochen hat: Hochweise seien
Tyrannen durch den Umgang mit großen Weisen,
Platon: Der Staat 536
und offenbar damit sagen wollte, daß die großenWeisen
die Personen wären, mit denen ein Tyrann Umgang
pflege!
Ja, sagte er, als göttergleich lobpreist er die Tyrannis,
und noch mit andern vielen Phrasen, und das tut
er nicht allein, sondern auch die übrigen Dichter!
Ja, sagte ich, das ist eben auch der Grund, warum
die Tragödiendichter als hochweise Leute uns und
allen überhaupt, die die Politik nach unseren Grundsätzen
treiben, gnädigst zu verzeihen haben, daß wir
ihnen als Lobpreisern der Tyrannis die Aufnahme in
unseren Staat versagen müssen.
Ja, meinte er, ich glaube, sie verzeihen uns gnädigst,
wenigstens die feingesitteten von ihnen.
Sie können ja doch, denke ich, in die übrigen Staaten
ziehen, da die Pöbelhaufen versammeln, schöne,
mächtige und verführerische Schauspielerstimmen engagieren
und dadurch zu ihrem Vergnügen die vernünftigen
Staatsverfassungen zu Tyranneien und Demokratien
herabziehen!
Jawohl.
Nicht wahr, und dazu können sie auch noch Sold
und Ehren empfangen, im höchsten Grade, wie natürlich,
von Tyranneien, im zweiten von der Demokratie?
Je höher aber sie sich in der Stufenleiter der
Staatsverfassungen versteigen, desto mehr nimmt ihr
Ruhm ab, als wenn er vor Beklemmung nicht
Platon: Der Staat 537
fortkommen könnte.
Allerdings.
Doch genug hiervon, sprach ich, wir sind ja von
unserem Thema abgekommen! Laß uns wieder zurückkommen
auf jene schöne, zahlreiche, buntscheckige
und einem immerwährendenWechsel unterworfene
Leibgarde des Tyrannen, und zunächst auf
die Frage, woher er sie ernähren werde.
Offenbar, sagte er, wenn Tempelgüter in dem Staate
vorhanden sind, so verwendet er diese hierzu, bis
wohin sie jedesmal reichen (nach der Mode der Leute,
die ihre liegenden Güter zu Gelde machen, um keine
Steuern zu bezahlen), und erpreßt daher nur geringe
Steuern von dem Volke.
Wie steht’s aber, wenn diese geistlichen Güter ausgehen?
Da werden sich offenbar, sagte er, er, seine Zechbrüder,
seine Freunde und Freundinnen von dem Vermögen
seines »Vaters« ernähren.
Ich verstehe, antwortete ich: das Volk, das ihn erzeugt
hat, wird ihn und seine Getreuen dann zu ernähren
haben.
Mit der größten ihm unausbleiblichen Notwendigkeit,
bemerkte er.
Aber was sagst du dazu? sprach ich weiter. Wenn
das Volk sich sträubte und schriee: es sei nicht erlaubt,
daß ein zur vollen Reife gekommener Sohn sich
Platon: Der Staat 538
von seinem Vater ernähren lasse, vielmehr müsse gerade
umgekehrt der Vater vom Sohn ernährt werden;
nicht habe es ihn deshalb erzeugt und gehoben, damit
es dann, wenn er groß geworden, sein und seiner
Sklaven Sklave werde und ihn sowie seine Sklaven
nebst anderem Gesindel ernähre: es habe im Gegenteil
beabsichtigt, er solle unter seiner Führerschaft es vom
Drucke der Geldsäcke und der sogenannten Gutgesinnten
befreien; und wenn es infolge der jetzigen Erlebnisse
wirklich ihn und seine Getreuen aus dem
Staate sich entfernen heißt, gerade wie ein Vater seinen
ungeratenen Sohn mit seinen lärmenden Zechbrüdern
aus seinem Hause wirft…?
Dann erst werden, bei Zeus, sagte er, dem Volk
gründlich die Augen aufgehen, was es für ein Früchtchen
erzeugt, geherzt und großgezogen hat, und daß
es nun als der schwächere Teil weit Stärkere auszutreiben
beabsichtige.
Was sagst du hiermit? fragte ich.Wird denn der
Tyrann sich erfrechen, gegen seinen »Vater« Gewalt
zu brauchen und, wenn er ihm nicht gehorcht, ihn
züchtigen?
Ja freilich, erwiderte er, und zwar nach Entwindung
der Waffen!
Für einen Vatermörder, fuhr ich fort, für einenWüterich
gegen hilfloses Alter erklärst du also den Tyrannen,
und mit diesemWorte wäre endlich nun die
Platon: Der Staat 539
charakteristische Eigenschaft einer entschiedenen Tyrannenstaatsverfassung
ausgedrückt! Und das Volk
wäre, wie’s im Sprichworte heißt, aus Scheu vor dein
Rauche einer Dienstbarkeit unter Freien in das Feuer
einer Despotie unter Sklavenseelen geraten, hätte statt
jenes gehofften herrlichen und weiten Gewandes der
Freiheit das gröbste und zwickendste Kleid der
Knechtschaft der Sklaven angezogen.
Ja, sagte er, sicher stellen sich diese Früchte ein.
Was nun noch weiter? fragte ich.Wird es eine Ungereimtheit
sein, wenn wir behaupten, vollkommen
dargestellt zu haben erstlich die Entstehungsweise der
Tyrannis aus der Demokratie, zweitens ihre charakteristische
Eigenschaft nach ihrer Entstehung?
Ja, erwiderte er, sie sind vollkommen dargestellt.
Platon: Der Staat 540
Neuntes Buch
Es wäre also, fuhr ich fort, nur noch das tyrannische
Individuum zu betrachten übrig: erstlich nämlich,
wie es sich aus dem demokratischen entwickelt,
zweitens, welchen Charakter es nach abgeschlossener
Entwicklung hat und auf welcheWeise es lebt, elend
oder glückselig.
Ja, sagte er, diese Betrachtung ist noch übrig.
Weißt du, fragte ich, was ich da nun vorher noch
vermisse?
Was denn?
Hinsichtlich der Begierden scheinen wir die Frage
über ihre Qualität und Quantität noch nicht gründlich
genug erörtert zu haben. Ist diese Erörterung nun
mangelhaft, so wird die Untersuchung der noch vorliegenden
Hauptfrage etwas unsicher sein.
Nicht wahr, fragte er, es ist doch noch Zeit?
Allerdings; betrachte daher die Seite, die ich an
ihnen zuvor ins Auge fassen will; sie ist aber folgende:
Unter die vorhin genannten nicht notwendigen
Lüste und Begierden scheinen mir einige zu gehören,
die unbändig jedem sittlichen Gesetze zu widerstreben
scheinen. Jeder Mensch zwar ist nun der Gefahr
ausgesetzt, solche Begierden in sich zu haben; aber
von den Gesetzen sowohl wie von den besseren
Platon: Der Staat 541
Begierden mittels Vernunft unter der Schere gehalten,
verschwinden sie bei einigen Menschen entweder
gänzlich oder bleiben nur in geringer Zahl und geschwächt,
bei anderen dagegen erscheinen sie in
größerer Kraft und Zahl.
Aber was meinst du denn für welche, fragte er,
unter den hier angedeuteten Lüsten?
Die, antwortete ich, welche während des Schlafes
zu erwachen pflegen, wenn nämlich einerseits der eine
Bestandteil der Seele, der Vernunft, Humanität und
Beherrschung jenes begierlichen Teiles in sich begreift,
im Schlafe liegt, und wenn andrerseits der tierische
und wilde Teil der Seele, von Speise oder Trank
angefüllt, sich bäumt und nach Abschüttelung des
Schlafes durchzugehen und seine Triebe zu befriedigen
sucht. Du weißt, daß letzterer dann in solchem
Zustande sich alle möglichen Dinge erlaubt, weil er
nun aller Scham und Vernunft los und ledig ist. Denn
er trägt kein Bedenken, sowohl seiner Mutter, wie er
wähnt, beizuwohnen, als auch jedem anderen Gegenstand
seiner Lust, sei es Gott, Mensch oder Tier; er
trägt kein Bedenken, sich mit jeder Blutschuld zu beladen,
jede Befriedigung seines Gaumens sich zu erlauben,
mit einemWorte: weder vor einem Unverstande
noch vor einer Unverschämtheit zurückzubleiben.
Ganz wahr ist deine Beschreibung, sagte er.
Platon: Der Staat 542
Wenn dagegen jemand, denke ich, sich schon in
bezug auf sein Inneres in gesundem und besonnenem
Zustande befindet und sich zu Bette begibt, nachdem
er erstens den vernünftigen Teil seiner Seele geweckt,
ihn mit schönen Gedanken und Betrachtungen genährt
hat und zu stiller Selbstprüfung gekommen ist; nachdem
er zweitens den begierlichen Teil seiner Seele
weder demMangel noch der Völlerei überlassen hat,
damit er sich ruhig verhält und damit er dem edelsten
Seelenbestandteile keine Unruhe verursacht durch
ausgelassene Freude oder Kummer, daß er im Gegenteil
diesen ganz für sich allein und von allem Körperlichen
gesondert betrachten, erstreben und wahrnehmen
läßt, was er noch nicht weiß, beziehe es sich nun
entweder auf die Vergangenheit oder auf die Gegenwart
oder auf die Zukunft; nachdem, er drittens ebenso
den zornmütigen Seelenteil gedämpft und nicht
etwa vorher mit irgendwelchen Personen in Zornausbrüche
geraten ist und mit aufgeregtem Gemüte einschläft,
sondern nach Einwiegung der zwei niederen
Seelenbestandteile und nachWeckung des edlen dritten,
bei dem sich das Denken befindet, zur Ruhe geht:
so weißt du, daß der Mensch in diesem Zustande
nicht nur am besten dieWahrheit erfaßt, sondern daß
auch dann die Traumgesichter am wenigsten unsittlich
erscheinen.
Ganz vollkommen bin ich allerdings dieser
Platon: Der Staat 543
Meinung, sagte er.
Diese letzteren Sätze haben wir indessen als eine
Abschweifung vorzutragen uns verleiten lassen; was
ich aber tiefer einsehen wollte, ist das: Eine heftige,
wilde und unbändige Gattung von Begierden gibt es
bei jedem von uns Menschen, wenn auch manche gar
ordentliche Leute zu sein scheinen, und hiervon haben
wir dem Gesagten zufolge den offenbaren Beweis in
den Träumen. Ob ich hiermit eineWahrheit sage und
ob du meiner Behauptung beitreten kannst, überlege!
Ja, ich trete ihr bei.
Stelle dir nun noch einmal das nach der Demokratie
geartete Individuum vor, wie wir es charakterisierten:
Es entstand aber demnach dadurch, daß es von Jugend
an von einem sparsüchtigen Vater erzogen wurde, der
allein die auf den Erwerb gerichteten Begierden
schätzte, dagegen die nicht notwendigen und nur auf
Vergnügen und äußere Pracht gehenden für nichts
achtete, nicht wahr?
Ja.
Nachdem aber unser nach der Demokratie geartetes
Individuum mit vornehmeren und von den eben beschriebenen
Begierden erfüllten Herren zusammengekommen
war und aus Haß gegen die Knickerei seines
Vaters sich allem Frevelmut und der Lebensweise
jener Herren überlassen hatte, aber im Besitze einer
besseren Anlage als seine Verführer nach beiden
Platon: Der Staat 544
Seiten gezogen wurde, so stand es in der Mitte beider
Lebensarten, und alles, wonach es jedesmal Lust
hatte, maßvoll versteht sich, wie es damals meinte,
genießend, führt er weder ein schmutzig-geiziges
noch ein alle Gesetze der Ordnung überschreitendes
Leben und ist so aus einem der Oligarchie verwandten
Charakter ein der Demokratie ähnlicher geworden.
Ja, sagte er, das war und ist unsere Ansicht über
einen solchen Charakter.
Stelle dir nun, fuhr ich fort, von einem solchen Individuum,
wenn es bereits älter geworden ist, wiederum
einen Sohn vor, der ebenso in dessen Sitten erzogen
ist!
Ich tue es.
Nun, so denke also auch, daß dieselben vorhin erwähnten
Verführungen um ihn sich begeben, die auch
um seinen Vater sich begaben: daß er zu jeder gesetzwidrigen
Zügellosigkeit sich hinreißen lasse, was aber
von seinen Anführern lauter Freiheit geheißen wird;
daß jenen die Mitte haltenden Begierden der Vater
und die übrigen Verwandten noch einigen Beistand
leisten, daß andererseits jene Gesellen dagegen operieren;
daß endlich jene gewaltigen Schwarzkünstler
und Tyrannenfabrikanten, falls sie auf andere Art den
jungen Menschen nicht mehr in ihren Fesseln zu halten
hoffen können, ihm durch Intrige eine Liebschaft
beibrächten, die dann die Vorsteherin der nichts
Platon: Der Staat 545
verdienenden und das Vermögen nur verwirtschaftenden
Begierden ist, eine recht geflügelte und große
Drohne; oder glaubst du, daß der Eros solcher Leute
etwas anderes sei?
Meines Bedünkens, sagte er, nichts anderes als
dies.
Nicht wahr, wenn nun die übrigen Begierden mit
wohlriechenden Düften, Salben, Kränzen,Weinräuschen
und den in solchen Gesellschaften ausgelassenen
Vergnügungen um jene Liebe herumsumsen, und
wenn sie diese nicht nur bis aufs höchste steigern und
erziehen, sondern dieser Drohne noch den Stachel der
Lust nach Befriedigung des Geschlechtstriebes einsetzen,
dann hat dieser Demagog der Seele schon eine
Leibwache an der Unvernunft und tobt. Und wenn er
etwa noch einige früher auf guten Glauben angenommene
gute und noch Scham empfindende Empfindungen
und Gefühle in seinem Inneren ertappen sollte, so
erwürgt er sie teils, feils verbannt er sie aus seinem
Inneren, bis er sich von der die Begierden im Zaume
haltenden Besonnenheit gereinigt, dafür aber mit
selbstverschuldeter toller Unvernunft angefüllt hat.
Ganz vollkommen, sagte er, beschreibst du die Entstehung
des tyrannischen Individuums.
Nicht wahr, fragte ich, daher heißt auch schon von
alters her wegen dieser Eigenschaft Eros ein Tyrann?
Ja, sagte er, mag sein.
Platon: Der Staat 546
Nicht wahr, mein Lieber, fuhr ich fort, auch der
Trunkenbold hat einen der Tyrannenherrschaft verwandten
Geist?
Freilich.
Und auch der Rasende und Verrückte erst sucht
und hofft nicht nur Menschen, sondern auch Götter tyrannisieren
zu können?
Ja, sicher, erwiderte er.
Ein der tyrannischen Staatsverfassung ähnliches Individuum,
mein Schönster, sprach ich weiter, wird
aber erst vollständig fertig, wenn es entweder durch
angeborene Anlage oder durch Lebensweise oder
durch beides trunksüchtig, ein Liebesnarr und ein
Geisteskranker geworden ist.
Ja, ganz richtig.
Was also erstens die Entstehung eines tyrannischen
Menschencharakters anlangt, so geschieht sie offenbar
auf die besagteWeise; die zweite Frage ist bekanntlich
nun:Wie lebt er?
Das wird wohl, wie es im Spiele heißt, niemand
mir sagen, als du, bemerkte er.
Nun denn, sagte ich, meine Gedanken hierüber sind
diese: Ich glaube nämlich, hierauf werden bei ihnen
Feste, lustige Aufzüge, Schmausereien, Freudenmädchen
und alles dergleichen gehalten, wobei Eros als
Tyrann im Innern wohnt und alle Seelenbestandteile
beherrscht.
Platon: Der Staat 547
Notwendig, sagte er.
Werden nun nicht Tag und Nacht noch viele heftige
Begierden daneben aufsprossen, die gar viel nötig
haben?
Viele freilich.
Wenn einige Einkünfte da sind, so werden sie also
bald erschöpft sein?
Allerdings.
Und hernach gibt’s offenbar Schulden und Vermögensveräußerungen?
Was denn sonst?
Wenn nun aber alles ausgeht, müssen da nicht die
vielen heftigen eingenisteten Begierden ein Gebrüll
anfangen, und müssen diese Menschen dann nicht sowohl
von den übrigen Begierden, als auch ganz besonders
vom Herrn Eros, der alle übrigen wie seine
Söldner anführt, wie von Stacheln getrieben wütend
umherschwärmen und auskundschaften, wer etwas
habe, dem man es mit List oder Gewalt abnehmen
könne?
Ja, sagte er, ganz gewiß.
Notwendigerweise müssen sie also von überallher
zusammenraffen, oder sie werden von schrecklichen
Schmerzen undWehen gezwickt.
Ja, notwendig.
Wie nun bei jenem tyrannischenMenschencharakter
die neu hinzugekommenen Lüste vor den alten den
Platon: Der Staat 548
Vorzug haben und ihnen das Ihrige entreißen wollten,
wird nicht ebenso auch er selbst kein Bedenken tragen,
vor Vater und Mutter, obwohl er jünger ist, den
Vorrang zu haben und sie berauben zu wollen, nachdem
er sein Erbteil, das er sich hatte geben lassen,
durchgebracht hat?
Ja, ohne Zweifel, sagte er.
Wenn die Eltern es ihm aber nun nicht gestatten
sollten, – nicht wahr, so würde er erstlich den Versuch
machen, seine Eltern zu bestehlen und zu betrügen?
Auf alleWeise.
Wenn er es aber nicht vermöchte, so würde er hierauf
sie plündern und mit Gewalt berauben?
Ja, ich glaube es, sagte er.
Wenn aber nun der alte Mann und die alte Frau
sich ihm entgegenstellten und zurWehr setzten, –
würde er da wohl, mein Bester, Scheu und Mäßigung
haben, um keine der ärgsten Tyrannenhandlungen zu
verüben?
Ich meinerseits, antwortete er, prophezeie den Eltern
eines solchen Subjektes gar nichts Gutes.
Nun, bei Zeus, Adeimantos, hältst du gar einen solchen
für fähig, daß er wegen einer erst kürzlich ihm
befreundeten Geliebten, an die er gar nicht durch enge
Bande gebunden ist, seine längst befreundete und
durch die Natur mit ihm verbundene Mutter, oder
wegen eines erst kürzlich befreundeten und gar nicht
Platon: Der Staat 549
mit ihm durch ein enges Band verbundenen jugendlichen
Lieblings seinen abgelebten und durch die Natur
mit ihm verbundenen alten Vater, den ältesten seiner
Freunde, mit Schlägen mißhandelt und sie jenen
dienstbar macht, wenn er sie in demselben Hause zusammengebracht
haben sollte?
Ja, bei Zeus, sagte er, ich halte ihn dessen fähig.
Eine ungeheuer große Glückseligkeit, sagte ich, ist
es also, wenn man einen tyrannischen Sohn erzeugt
hat!
Ja, sagte er, eine gewaltige!
Und wie weiter? Wenn nun das Vater und Mutter
gehörige Vermögen einem solchen Menschen ausgeht,
dabei aber der Schwarm der Lüste in ihm sich ungeheuer
groß angesammelt hat, – wird er da nicht zuerst
an einem Hause dieWand einbrechen oder einem zur
Nachtzeit späten Spaziergänger nach demMantel
greifen und nach diesen Anfängen später einen Tempel
rein ausleeren? Und während aller dieser Verbrechen
werden nun natürlich von seinen erst neulich aus
der Zucht entkommenen und die Leibwache des Eros
bildenden Begierden mit dessen Hilfe jene von Kindheit
über Sittlichkeit und Unsittlichkeit auf guten
Glauben sich angeeigneten Lehren, an denen er bisher
noch hielt, überwunden, von ihnen, die früher sich nur
im Traume während des Schlafes freimachten, als ihr
Inhaber noch unter sittlichen Gesetzen und unter
Platon: Der Staat 550
seinem Vater mit einer noch demokratischen Verfassung
seines Inneren lebte. Aber nachdem von Eros
seine Seele eine tyrannische Verfassung erhalten hat,
wird er nun wirklich wachend immerfort so ruchlos,
wie er früher selten im Traume war, wird er sich keiner
greulichenMordtat, keiner Gaumenbefriedigung
und keiner Schandtat enthalten: es lebt ja in seinem
Inneren tyrannisch der Eros in aller Zügel- und Gesetzlosigkeit,
und da er allein zur absoluten Herrschaft
gelangt ist, so wird er das von ihm besessene
Individuum, wie der Tyrann einen Staat, zu jedwedem
Wagnis führen, um daher sich selbst sowohl wie seinen
geräuschvollen Trabantenschwarm unterhalten zu
können, sowohl den infolge schlechten Umgangs von
außen eingedrungenen als auch den in seinem Inneren
ursprünglich vorhandenen, die aber erst von eben solchen
schlechten Sitten und von ihm selbst losgelassen
und entfesselt wurden. Oder ist dies nicht das Leben
solcher Menschen?
Ja, sagte er, das ist es.
Wenn nun, fuhr ich fort, nur wenige von solchem
Schlage in einem Staate sich befinden und die übrige
Bevölkerung ein vernünftig sittliches Leben führt, so
werden sie auswandern und bei einem anderen Tyrannen
Leibwächter werden oder als Hilfstruppen sich
verdingen, falls Krieg wäre; wenn sie aber in Friedens-
und ruhiger Zeit leben, so richten sie natürlich
Platon: Der Staat 551
daheim in ihrem Staate mancherlei kleine Übel an.
Was für welche meinst du denn?
Zum Beispiel Diebstähle, Einbrüche, Beutelschneidereien,
gewaltsame Kleiderräubereien (in Bädern
oder von Leichen), Tempelräubereien, Seelenverkäufereien;
bisweilen auch werden sie, wenn sie Fertigkeit
der Rede haben, sich zu hinterlistigen und bösartigen
Anklagen, zu falschen Zeugnissen, zu Bestechungen
hergeben.
Nur klein, sagte er, kannst du die Übel nennen,
wenn dergleichen Leute nur wenige sein sollten!
Ja, sagte ich, allerdings sind die von mir klein genannten
Übel im Vergleich zu großen klein, und alle
die hier aufgezählten Übel reichen bekanntlich, wenn
sie neben das einem Staate von einem wirklichen Tyrannen
zugefügte Verderbnis und Elend gestellt werden,
letzterem, wie man zu sagen pflegt, kaum das
Wasser. Denn wenn viele von solchem Charakter in
einem Staate von Geburt da sind und viele andere
auch sich ihnen zugesellen, und wenn diese dann sich
als die Mehrzahl fühlen, – so sind sie es dann sicherlich,
die mit Hilfe des Unverstandes des gemeinen
Volkes den Tyrannen erzeugen, und zwar den, der
ganz besonders von ihnen als Individuum den größten
und stärksten Tyrannen von Leidenschaft in seiner
Seele trägt.
Natürlich wohl, sagte er; denn er ist zum
Platon: Der Staat 552
wirklichen Tyrannen am besten gemacht.
Nicht wahr, falls sich die Leute nämlich gutwillig
unterwerfen; wenn es aber seine Mitbürgerschaft nicht
zugeben sollte, so wird er, wie er vormals Mutter und
Vater Gewalt antat, so auch hier wiederum sein Vaterland,
falls er es vermag, sich mit Gewalt unterwürfig
machen, indem er sich noch neue Helfershelfer zu
den vorigen dazu erwirbt, und er wird nun das ihm
längst befreundeteMutterland, wie die Kreter sich
ausdrücken, und Vaterland im Zustande der Sklaverei
haben und halten. Und das wäre denn das endliche
Ziel der Begierlichkeit eines solchen Individuums.
Ja, sagte er, das ist’s allerdings.
Nicht wahr, sprach ich weiter, im Bürgerstande und
ehe sie zum Herrscherthrone gelangen, zeigen die
eben beschriebenen tyrannischen Individuen folgenden
Charakter? Erstlich, was ihren Umgang betrifft,
so gehen sie entweder nur mit Schmeichlern und mit
Leuten um, die immer bereit sind, auf ihreWinke zu
warten; oder sie selbst, wenn sie etwas bedürfen, machen
schmeichelnde Bücklinge und nehmen alle möglichen
Freundschaftsmienen an, aber nach Durchsetzung
ihres Planes stellen sie sich wieder fremd!
Ja, gar sehr zeigen sie diesen Charakter.
In ihrem ganzen Leben also leben sie mit niemandem
je in wahrer Freundschaft, sondern sie bringen
ihr ganzes Leben hin, indem sie über einen den
Platon: Der Staat 553
Despoten spielen oder einem andren sklavisch kriechen;
wahre Freiheit und Freundschaft aber hat eine
tyrannische Natur in ihrem Leben nicht gekostet.
Ja, allerdings.
Daher werden wir erstlich solchen Leuten ganz
richtig das Prädikat perfid beilegen dürfen?
Jawohl!
Ferner Ungerechtigkeit im allerhöchsten Grade,
falls unsere früheren Bestimmungen über dasWesen
der Gerechtigkeit in Ordnung waren?
Und das waren sie doch! sagte er.
Laß uns also, fuhr ich fort, die Charakteristik des
moralisch schlechtestenMenschen noch einmal rekapitulieren:
seinWesen besteht darin, daß er wachend
so ist, wie der vorhin Beschriebene im Traume war.
Allerdings.
Und nicht wahr, dahin kommt es inWirklichkeit
bei jenem, der von Geburt aus die größten Anlagen zu
einer Tyrannenseele hat und auch auf den Thron einer
unumschränkten Alleinherrschaft gelangt, und je längere
Zeit er auf einem Tyrannenthrone sitzt, um so
mehr wird er so werden?
Notwendig, antwortete Glaukon, der hier wieder
dasWort nahm.
Wer sich, fuhr ich fort, als den moralisch Schlechtesten
gezeigt hat, wird sich an diesem nun auch zeigen,
daß er der Unglückseligste ist? Ferner daß der,
Platon: Der Staat 554
welcher am längsten auf einem Tyrannenthrone gesessen
hat, auch am längsten der Unglückseligste war,
wenn man die Sache im Lichte der philosophischen
Wahrheit besieht? Denn die große Menge hat hierüber
auch eine große Menge Ansichten.
Ja, sagte er, jene Fragen müssen notwendig bejaht
werden.
Nicht wahr, fragte ich nun, das ist erstlich eine ausgemachteWahrheit,
daß das tyrannische Individuum
dem tyrannisch beherrschten Staate ähnlich ist, das
demokratische dem demokratisch verwalteten, und so
weiter?
Ohne Zweifel.
Und nicht wahr, daraus folgt der Satz: In welchem
Verhältnisse ein Staat zu einem anderen hinsichtlich
Tugend und Glückseligkeit steht, in demselben steht
auch ein Individuum zu einem anderen?
Allerdings.
In welchem Verhältnisse steht nun in bezug auf Tugend
ein tyrannisch beherrschter Staat zum philosophisch-
königlich regierten, wie wir ihn in der ersten
Beschreibung hingestellt haben?
Gerade in dem entgegengesetzten, erwiderte er: der
eine ist der beste, der andere ist der schlechteste.
Ich will nicht fragen, fuhr ich fort, welchen von
beiden du so und welchen du so nennst, denn es versteht
sich von selbst; sondern ich frage jetzt nach
Platon: Der Staat 555
ihrem Verhältnisse in bezug auf Glückseligkeit und
Unglückseligkeit: lautet hier dein Urteil ebenso oder
anders? Und lassen wir uns hier nicht bestechen durch
den Anblick der einen Person des Tyrannen und der
wenigen ihn umlagernden Schranzen; sondern bedenke,
daß wir erst den gesamten Staat in Augenschein
nehmen, ja daß wir in jedenWinkel desselben hinabsteigen
müssen, und erst nach solchem Augenscheine
dürfen wir unsere Meinung aussprechen!
Ja, sagte er, diese deine feierliche Aufforderung ist
ganz am rechten Orte; und allerWelt muß es klar
sein, daß ein tyrannisch beherrschter Staat der allerunglücklichste,
dagegen ein philosophisch-königlicher
der allerglückseligste ist.
Nicht wahr, sprach ich weiter, es ist folglich auch
am rechten Orte, wenn ich auch in bezug auf die jenen
beiden Staaten entsprechenden Individuen dieselbe
feierliche Aufforderung tue und verlange, daß nur
jener ein Urteil über sie fällen könne, der imstande ist,
mit dem Blick seines Verstandes in das Gemüt eines
Menschen einzudringen und da eine genaue Besichtigung
anzustellen, und der nicht wie ein Kind beim äußeren
Anblick sich bestechen läßt von der hohen
Rolle der tyrannischen Individuen, die sie gegen die
Außenwelt annehmen: sondern der den durchdringenden
Blick eines reifen Verstandes hat? Wenn ich also
meinte, wir alle müßten hierin auf denjenigen hören,
Platon: Der Staat 556
der erstlich hier ein kompetentes Urteil hat, und der
zweitens mit einer Tyrannenseele unter demselben
Dache gewohnt hat und ihm zur Seite stand sowohl in
seinen häuslichen Handlungen im Verhalten zu seinen
Hausgenossen (wobei er am meisten von seinem theatralischen
Flitterstaat entblößt gesehen werden kann),
als auch gleicherweise in den Momenten wichtiger
Staatsunternehmungen, und wenn wir also einen Augenzeugen
aller dieser Talsachen den Urteilsspruch
verkünden ließen, in welchem Verhältnisse das tyrannische
Individuum in bezug auf Glückseligkeit und
Unglückseligkeit stände, – würde…
Ja, sagte er, auch diese feierliche Aufforderung
würde an ihrem Orte sein.
Wäre es dir nun genehm, fuhr ich fort, wir stellten
uns an, als gehörten wir zu den Richtern, die erstlich
hierin ein kompetentes Urteil haben, und die zweitens
auch mit solchen Individuen bereits Erfahrungen
machten, damit wir eine antwortende Person auf unsere
Fragen haben?
Jawohl.
Wohlan denn, sprach ich weiter, und hilf mir, die
dem Urteilsspruche vorauszuschickende genauere Untersuchung
auf folgendeWeise anstellen: Mit Erinnerung
an die Ähnlichkeit des Staates und des Individuums
schaue bei ihnen jedesmal herüber und hinüber
und berichte uns die Zustände jedes von beiden!
Platon: Der Staat 557
Welche Zustände denn? fragte er.
Wirst du erstlich, sagte ich, um mit dem Staate zu
beginnen, dem tyrannisch beherrschten Staate Freiheit
oder Knechtschaft beilegen?
Im höchsten Grade Knechtschaft, war seine Antwort.
Und doch kannst du in ihm Herren und Freie wahrnehmen.
Nur eine ganz kleineWenigkeit sehe ich davon,
sagte er; die Gesamtheit dagegen, darf man sagen,
und der edelste Teil schmachtet in schmählicher und
unseliger Knechtschaft.
Wenn nun, fuhr ich fort, ein individueller Mensch
diesem Staate ähnlich ist, muß in jenem nicht nach
einer notwendigen Folge dasselbe Verhältnis statthaben?
Muß nicht von Sklavensinn und Niederträchtigkeit
seine Seele gebeugt sein, und müssen nicht jene
Seelenbestandteile, die ursprünglich die edelsten
waren, in Sklaverei sich befinden, während dagegen
der geringste, schlechteste und tollste Teil über jene
den Herrscherstab schwingt?
Ja, notwendig, sagte er.
Wie sieht es also aus? Wirst du die Eigenschaft der
knechtischen Sklaverei oder die der edlen Freiheit
einer solchen Seele beilegen?
Ich meinerseits lege ihr die der knechtischen Sklaverei
bei.
Platon: Der Staat 558
Der in Sklaverei und in Tyrannei sich befindende
Staat kann fürs zweite am allerwenigsten tun, was er
vernünftig will, nicht wahr?
Kein Zweifel.
Sonach wird auch die tyrannisch beherrschte Seele,
wenn von der ganzen die Rede ist, am allerwenigsten
tun können, was sie vernünftig wollen sollte: immer
von einem Stachel fortgetrieben, muß sie immer voll
Schrecken und Reue sein.
Ja, das muß sie.
Fürs dritte: Reich oder arm ist nach notwendiger
Folge der tyrannisch beherrschte Staat?
Arm.
So muß demnach auch die tyrannisch beherrschte
Seele immer arm und heißhungrig sein.
Ja, sagte er.
Viertens: Muß nicht ferner der hier gemeinte Staat
und das ihm entsprechende Individuum auch notwendig
von Furcht erfüllt sein?
Ja, in hohem Grade.
Fünftens: Klagen, Seufzer, Tränen und Herzenskummer,
– wird man die wohl in einem anderen Staate
häufiger antreffen?
Keineswegs.
Was nun wieder das Individuum anlangt, sind nach
deiner Ansicht dergleichen Unheilszustände in einem
anderen häufiger vorhanden als bei dem, das vor
Platon: Der Staat 559
Begierden und Liebschaften den Verstand verloren
hat, d.h. bei dem tyrannischen?
Unmöglich, sagte er.
In Rücksicht auf diese und dergleichenWahrnehmungen
hast du also, glaube ich, den hier in Rede stehenden
Staat unter den Staaten für den unseligsten erklärt?
Und nicht mit Recht? fragte er.
Ja, sicher, antwortete ich; aber was hast du für ein
Urteil andererseits über das tyrannische Individuum
im Hinblick auf eben dieselbenWahrnehmungen?
Daß es unter allen übrigen, sagte er, bei weitem das
unglückseligste ist.
Dieser Ausdruck, bemerkte ich, ist hier noch nicht
am rechten Platze.
Warum? fragte er.
Jener ist, sagte ich, meiner Meinung nach noch
nicht der unglückseligste im höchsten Grade!
Aber wer denn sonst?
Folgender scheint dir vielleicht noch unglücklicher
zu sein als jener…
Welcher?
Wer, fuhr ich fort, von Geburt mit einer Tyrannenseele
begabt kein bürgerliches Leben verlebt, sondern
das Unglück hat und von irgend einem schlimmen Zufall
die Gelegenheit bekommt, zu einem Tyrannenthrone
zu gelangen.
Platon: Der Staat 560
Ja, sagte er, ich vermute aus den vorhergehenden
Andeutungen, daß du recht hast.
Gut, sagte ich, aber in dergleichen Dingen darf man
sich nicht mit Mutmaßungen begnügen, sondern muß
sie noch recht gründlich einer entsprechenden Untersuchung
unterwerfen; denn sie betrifft den allerwichtigsten
Gegenstand in derWelt: Himmel oder Hölle
des Lebens.
Ja, ganz recht, sagte er.
So gib denn acht, ob ich gründlich verfahre: Mich
deucht nämlich, wir müßten den Zustand jenes wirklichen
Tyrannen gründlich einsehen, wenn wir bei unserer
Untersuchung von dem Standpunkte folgender
Leute ausgehen…
Vom Standpunkte welcher Leute denn?
Von dem jedes Einzelnen der Menschen im Privatleben,
die als reiche Leute in Städten eine Menge von
Sklaven besitzen; denn diese haben darin wenigstens
mit den Tyrannen eine Ähnlichkeit, daß sie über viele
herrschen, nur die Zahl ist bei jenen größer.
Ja, das ist der Unterschied.
Dir ist doch bekannt, daß diese Leute ganz getrost
leben und vor ihren Hausgenossen gar keine Furcht
haben?
Was sollten sie auch fürchten?
Gar nichts, erwiderte ich; und du siehst auch die
Ursache hiervon ein?
Platon: Der Staat 561
Freilich, weil ja die ganze Stadt jedem Einzelnen
der Privaten Beistand leisten kann.
Richtig bemerkt, sagte ich; aber wie wird die Sache
in folgendem Falle stehen? Wenn irgend einer der
Götter einen einzigen Mann, der fünfzig oder mehrere
Sklaven hätte, samt Frau und Kindern aus der Stadt
nähme und ihn mit seiner übrigen Habe und seiner
Sklavenzahl in eineWüste versetzte, wo ihm gar niemand
von den freien Menschen im Falle der Not zu
Hilfe kommen könnte: in welcher und in wie großer
Todesfurcht über sich, über Kinder und Frau wird
dann dieser sich deines Erachtens vor seinen Sklaven
befinden?
In der allerärgsten, meine ich, war seine Antwort.
Nicht wahr, er würde in die Notwendigkeit versetzt
werden, nunmehr einigen selbst aus der Zahl der Sklaven
zu schmeicheln, mancherlei Versprechungen zu
machen, die Freiheit zu schenken, und zwar ohne
allen Grund, und müßte nicht er, der Herr, sich als
einen Schmeichler seiner Sklaven bloßstellen?
Ja, sagte er, das müßte er unbedingt tun, oder er
müßte zugrunde gehen.
Wie würde es aber endlich aussehen, fuhr ich fort,
wenn jener Gott noch viele andere als Nachbarn rings
um ihn ansiedelte, die es nicht ertragen könnten, daß
ein Mensch über seinen Mitmenschen den willkürlichen
Herrn zu spielen sich anmaße, sondern, wenn sie
Platon: Der Staat 562
irgend so einen erwischten, mit den äußersten Strafen
dafür an ihm Rache nähmen?
Er würde, sagte er, wohl noch tiefer in dem ärgsten
Elende sich befinden, wenn er ringsum von lauter
Feinden bewacht würde.
Liegt nun nicht in einem ähnlichen Gefängnisse der
mit einem angeborenen Charakter der oben beschriebenen
Art behaftete, von vielen und allerlei Ängsten
und heißen Gelüsten erfüllte Tyrann, während er, von
Natur voll von Vorwitz, allein von allen Bürgern der
Stadt nirgendwohin verreisen noch sein Auge mit dem
Anblicke von Festlichkeiten ergötzen kann, nach
denen bekanntlich die übrigen Freien doch so große
Lust haben, sondern, in seinem Hause vergraben, die
größte Zeit seines Lebens wie einWeib hinbringen
muß, mit Neid im Herzen über die übrigen Bürger,
wenn einer außer Land sich begibt und etwas Herrliches
sieht?
Ja, sagte er, allerdings ist er ein solcher Gefangener.
Nicht wahr, um solche Maße von Übeln leidet ein
Individuum noch mehr, das bei einer moralisch
schlechten, d.h. dem tyrannischen Staate entsprechenden
Verfassung seines Inneren (die du vorhin schon
für das größte Unglück erklärtest) nicht im bürgerlichen
Stande sein Leben verbringt, sondern von irgend
einem Geschicke veranlaßt wird, einen wirklichen
Platon: Der Staat 563
Tyrannenthron zu besteigen und, unfähig, sich selbst
zu beherrschen, über andere zu herrschen sich unterfangen
sollte: was gerade so wäre, wie wenn jemand
mit einem krankenden, seiner selbst nicht mächtigen
Körper nicht im stillen Bürgerleben bliebe, sondern
sich veranlassen ließe, sein Leben in körperlichen
Wettkämpfen und auf dem Schlachtfelde hinzubringen.
Ja, Sokrates, sagte er, ganz treffend und wahr ist
dein Bild hier.
Nicht wahr, Freund Glaukon, fuhr ich fort, das ist
nun erst der unglückseligste Zustand im höchsten
Grade: im Vergleich zu dem von dir für den unglücklichst
Lebenden erklärten Menschen lebt noch weit
unglücklicher die auch auf einem Tyrannenthrone sitzende
Tyrannenseele?
Ja, offenbar, sagte er.
Es ist also in derWirklichkeit, selbst wenn er vor
manchem Auge einen anderen Schein verbreitete, der
auf einem wirklichen Tyrannenthrone sitzende Tyrannenmensch
ein wirklicher Sklave im Dienste der
größten Augendienerei und Sklaverei und ein
Schmeichler gegen die Verworfensten; sodann kann er
seine Begierden durchaus nicht befriedigen: im Gegenteil,
wenn man seine gesamte Seele zu durchschauen
versteht, so ist einem klar, daß er an den meisten
Dingen den größtenMangel leidet, daß er in
Platon: Der Staat 564
Wahrheit arm ist, daß er sein ganzes Leben lang gedrückt,
daß er von dem Stachel seiner Begierden beständig
gefoltert und gepeinigt wird, wofern er ein
Bild der Verfassung des von ihm beherrschten Staates
ist, der er doch ganz gleicht, nicht wahr?
Ja, sicher, sagte er.
Nicht wahr, und zu diesen inneren Seelenqualen
müssen wir nun demManne auch die noch hinzufügen,
welche wir vor seiner Thronbesteigung erwähnten,
daß er nämlich ursprünglich neidisch, perfid, ungerecht,
freundlos, gottlos, jeder Schlechtigkeit Hehler
und Pfleger sein und es infolge seiner Tyrannenschaft
immer mehr als früher werden müsse, lauter
moralische Übel, wodurch er selbst nicht nur der Allerunglücklichste
ist, sondern auch nachher seine Umgebung
dazu macht?
Keiner der Verständigen, meinte er, wird dir widersprechen.
Wohlan denn, sprach ich weiter, und gib nun einmal,
wie z.B. der oberste Kampfrichter beidenWettspielen
tut endlich mir die Entscheidung, wer nach
deiner Ansicht in der Glückseligkeit den ersten Rang
hat, wer den zweiten, und weise sofort den übrigen
nach einander, zusammen fünf an der Zahl, nach deiner
Entscheidung den verdienten Platz an: dem philosophisch-
königlichen, dem timokratischen, dem oligarchischen,
dem demokratischen und dem
Platon: Der Staat 565
tyrannischen Individuum!
Aber diese Entscheidung, sagte er, ist nicht schwer;
denn gerade wie sie aufgetreten sind, so gebe ich
ihnen wie Chören ihren Platz: in welchem Range
einer in bezug auf moralische Tüchtigkeit und
Schlechtigkeit steht, in demselben Range steht er auch
in bezug auf Glückseligkeit und Unglückseligkeit.
Wollen wir nun einen Herold mieten, fuhr ich fort,
oder soll ich selbst diese endliche Entscheidung ausrufen:
»Der Sohn des Ariston erklärte den moralisch
besten und gerechtesten Menschen auch allemal für
den glückseligsten. Unter jenem versteht er aber den,
der das treueste Bild des philosophischköniglichen
Staates und König über seine eigene Begierlichkeit
ist; dagegen ist der moralisch schlechteste und ungerechteste
auch allemal der unseligste; dieser aber ist
andererseits der, der die meisten Anlagen zu einem
Tyrannen hat und sowohl sein Inneres wie auch den
Staat tyrannisch beherrscht.«
Ja, sagte er, dein Ausruf soll gelten.
Oder muß ich, fragte ich, infolge des Resultates unserer
Untersuchung dem Ausrufe deines Urteiles noch
beifügen: »Mögen solche Menschen allen Göttern und
Menschen verborgen bleiben oder nicht?«
Ja, das mußt du, sagte er.
Gut also denn! sprach ich weiter. Da haben wir einmal
den ersten Beweis unseres Satzes; ein zweiter
Platon: Der Staat 566
soll, wenn es dir gefallen sollte, folgender sein…
Welcher ist dies?
Da, wie bekannt, erwiderte ich, auch die Seele
jedes einzelnen Menschen drei Bestandteile hat, gerade
wie ein Staat in drei Stände sich zerlegt, so läßt
dieser psychologische Gesichtspunkt auch noch eine
andere, von der ersten verschiedene Beweisführung
zu.
Welche meinst du denn damit?
Folgende: Da es drei Seelenbestandteile gibt, so ergeben
sich hieraus auch bei mir dreifache Vergnügungen,
für jeden einzelnen Bestandteil eine eigene besondere;
dann ebenso viele Bestrebungen und vorherrschende
Richtungen der drei Seelenbestandteile.
Wie meinst du das? fragte er.
Der eine Seelenbestandteil, lehren wir, ist der,
womit ein Mensch nachWissenschaft strebt; der
zweite, das Zornmütige, wodurch er das Feuer seines
heftigen Gemüts namentlich im Zorn äußert; den dritten
konnten wir wegen seiner Vielgestaltigkeit mit
einem ihm eigentümlichen Namen nicht benennen,
sondern wir gaben ihm den Namen von dem größten
und stärksten Triebe, den er in sich enthielt: der »begehrliche
« heißt er nämlich bei uns wegen seiner Heftigkeit
in den auf Speise, Trank, Liebesgenuß und
sonst auf dergleichen bezüglichen sinnlichen Begierden;
ferner heißt er bekanntlich auch der
Platon: Der Staat 567
»geldgierige«, weil sich durch Geld am meisten befriedigen
lassen dergleichen Begierden.
Und ganz mit Recht, sagte er, heißt dieser dritte
Seelenbestandteil so.
Nicht wahr, wenn wir in bezug auf dessen Lust und
Liebe sagten, daß sie besonders auf den Gewinn gehe,
so würden wir demnach uns auch auf eine hervorstechende
Haupteigenschaft bei diesem Ausdrucke stützen,
um für uns selbst eine Bezeichnung zu haben,
sooft wir diesen Seelenbestandteil ausdrücken wollen,
und wenn wir ihn daher den geld- und gewinngierigen
nennen, so hat diese Benennung ihre Richtigkeit?
Ja, sagte er, ich wenigstens glaube es.
Wie sieht es ferner mit dem feurigen und zornmütigen
Seelenbestandteil aus? Von ihm dürfen wir sagen,
daß die Lust seiner Bestrebung im allgemeinen immer
aufMachthaben, Siegen und Berühmtsein gerichtet
sei?
Ja, sicher.
Wenn wir ihn demnach den sieg- und ehrgierigen
nennten, würde dieser Name wohl treffend sein?
Ja, ganz treffend.
Drittens endlich, in betreff des Seelenteiles, womit
wir lernen, ist doch aller Welt offenbar, daß sein Vergnügen
auf dasWissen der eigentlichen und ewigen
Wahrheit ganz und gar immer hinzielt, und daß diesem
unter jenen Seelenteilen am wenigsten an Geld
Platon: Der Staat 568
und Ruhm gelegen ist?
Bei weitem am wenigsten.
Wenn wir ihn nun den lern- und wißbegierigen
hießen, so würden wir ihm seine charakteristische Benennung
geben?
Allerdings.
Nicht wahr, fuhr ich fort, und die vorherrschende
Richtung hat in den Seelen bei einigen bald dieser,
bei einigen ein anderer jener Seelenbestandteile, wie
es sich eben trifft?
So ist’s, sagte er.
Aus diesen Gründen dürfen wir offenbar nun auch
behaupten, daß es vornehmlich drei Arten von Menschen
gebe: eine wißbegierige, eine siegbegierige,
eine gewinnbegierige?
Ja, gewiß.
Und also auch drei Arten von Seelenvergnügungen,
d.h. jeder jener drei Menschenarten steht eine Art von
Vergnügen zu Gebote?
Ja, gewiß.
Wenn du nun, fuhr ich fort, drei solche Menschen,
der Reihe nach einen jeden einzeln, fragen wolltest,
welche von jenen Lebensarten die vergnügteste sei, –
so weißt du, daß ein jeder die seinige besonders herausstreichen
würde? Der Geldgierige wird behaupten,
daß im Vergleiche mit dem Vergnügen bei dem Gewinnen
das Vergnügen des Geehrtseins und das des
Platon: Der Staat 569
Studierens gar nichts wert sei, ausgenommen wenn
eins davon Geld eintrage.
Richtig, sagte er.
Und was wird der Ehrbegierige sagen? fragte ich.
Wird er nicht das Vergnügen am Gelde für ein niederträchtiges,
und so auch das aus dem Studieren entspringende,
falls nicht eineWissenschaft auch Ehre
mit sich brächte, für Rauch und Tand erklären?
Ja, so geht’s, war seine Antwort.
Und endlich derWißbegierige, fuhr ich fort, wofür
müssen wir glauben, daß der alle übrigen Vergnügen
hält im Vergleich mit dem Vergnügen, dasWesen der
Wahrheit zu erkennen und in einem solchen Gegenstande
immer mit dem Forschen danach beschäftigt zu
sein? Wird er nicht die übrigen Vergnügen von dem
eigentlichen Vergnügen himmelweit entfernt halten?
Und wird er die Vergnügen der anderen nicht in der
Tat nur »notdürftige« nennen, weil er die übrigen gar
nicht brauchte, wenn keine Notdurft dazu zwänge?
Da brauchen wir nicht zu glauben, sagte er, das
müssen wir als Philosophen wohl wissen.
Wenn nun bei solcher Bewandtnis, sprach ich weiter,
die Vergnügungen und die Lebensweise selbst
jeder dieser Menschenarten mit einander in Streit geraten,
ich will nicht sagen in bezug auf die Frage, wer
moralischer und unmoralischer, wer schlechter und
besser lebe, sondern rein hinsichtlich des größeren
Platon: Der Staat 570
subjektiven Vergnügens und geringeren Schmerzes:
wie könnten wir da wissen, wer von ihnen am meisten
recht hat?
Darauf, sagte er, weiß ich keine rechte Antwort zu
geben.
Nun, so sieh einmal die Sache von folgender Seite:
Mit was muß man die Dinge beurteilen, die richtig
beurteilt werden sollen? Nicht etwa mit Erfahrung
sowie mit der Tätigkeit des Geistes und mit Verfahren
durch Begriffe? Oder könnte jemand noch ein besseres
Beurteilungsmittel besitzen als diese hier genannten?
Unmöglich, sagte er.
So gib nun acht: Wenn von den erwähnten drei
Klassen drei Menschen vorhanden wären, – welcher
wird da in den sämtlichen Vergnügungen, von denen
wir sprachen, erfahrener sein? Scheint dir etwa der
Gewinngierige durch das Studium der reinen Wahrheit
erfahrener zu sein in dem aus demWissen entspringenden
Vergnügen, als derWißbegierige in dem
aus dem Gewinnen entspringenden Vergnügen?
Da ist ein großer Unterschied, sagte er: denn bei
demWißbegierigen war von Jugend auf ein unwillkürlicher
Naturzwang vorhanden, sich von den Vergnügungen
seines Gegners einen Geschmack zu verschaffen;
bei dem Gewinngierigen dagegen ist kein
Naturzwang vorhanden, das wahreWesen der Dinge
Platon: Der Staat 571
zu studieren und von dem daraus entstehenden Vergnügen
sich einen Geschmack oder eine Erfahrung zu
verschaffen, wie süß es ist: im Gegenteil, auch bei
allem Fleiß und Eifer würde es ihm doch nicht leicht
fallen.
Bei weitem übertrifft also, sagte ich, der Wißbegierige
den Gewinngierigen an Erfahrung in den beiderseitigen
Vergnügungen.
Ja freilich, bei weitem.
Und ferner, wie verhält er sich in dieser Beziehung
zum Ehrgierigen? Wird er, derWißbegierige, unerfahrener
sein in dem aus dem Geehrtwerden entspringenden
Vergnügen, als jener es in dem vomWeisesein
entstehenden ist?
Nein, sagte er, denn Ehre folgt allen von selbst,
wenn ein jeder sich in der Tätigkeit auszeichnet, der
er sich hingegeben hat: denn so wird z.B. der Reiche
von vielen geehrt, so der physisch Starke, so der Lebens-
und Staatskluge, woraus also folgt, daß, was
das Geehrtwerden anbelangt, alleWelt wohl von dem
daraus entspringenden Vergnügen erfährt, was es für
ein Ding ist; aber von dem aus dem Schauen des wahren
Seins der Dinge hervorgehenden Vergnügen zu
kosten ist keinem anderen möglich als demWißbegierigen.
Was also erstlich Erfahrung betrifft, sagte ich, so
urteilt dieser unter jenen drei Menschen am
Platon: Der Staat 572
richtigsten.
Bei weitem.
Zweitens wird er nur seine überlegene Erfahrung
haben können in Verbindung mit der denkenden Tätigkeit
seines Geistes.
Wie sonst?
Und drittens endlich dasWerkzeug, womit man urteilen
muß, dies befindet sich nicht bei dem Gewinngierigen,
nicht bei dem Ehrgierigen; sondern es befindet
sich nur bei demWißbegierigen.
Was ist das für einWerkzeug?
Mittels Begriffen, sagten wir doch, müsse geurteilt
werden, nicht wahr?
Ja.
Begriffe sind aber vorzüglich bei demWißbegierigen
dasWerkzeug, womit er seinen Beruf erfüllt.
Allerdings.
Nicht wahr, wenn durch Reichtum und Gewinn die
Dinge sich am besten beurteilen ließen, so würde notwendig
das am wahrsten sein, was der Gewinngierige
lobt und tadelt?
Ja, dann ganz notwendig.
Ferner, wenn durch Ehre sowohl wie durch Sieg
und durch physische Mannesstärke, – nicht wahr, in
diesem Falle würde dann das am wahrsten sein, was
der Ehr- und Siegbegierige lobt und tadelt?
Offenbar.
Platon: Der Staat 573
Nicht wahr, dieweil aber nun es durch Erfahrung,
durch denkende Tätigkeit des Geistes und durch das
Vermögen des Verstandes, mit Begriffen zu verfahren,
geschieht, so muß…?
… notwendig, sagte er, das dasWahrste sein, was
der Freund desWissens und der Verstandestätigkeit
in seinem Lobe erhebt.
Unter den drei möglichen Vergnügen also wäre das
jenes Seelenbestandteiles, wodurch wir nachWissen
streben, das allervergnügteste, und das Leben dessen,
in dem von uns Menschen jener wißbegierige Seelenbestandteil
das Regiment führt, auch das allervergnügteste?
Warum sollte es das nicht sein? meinte er. Als
kompetenter Schätzer schätzt ja seine eigene Lebensweise
der denkende Freund desWissens!
Welcher Lebensweise aber, fragte ich weiter, und
welchem Vergnügen weist der Richter den zweiten
Rang zu?
Offenbar dem des Kriegshelden und Ehrgierigen;
denn es steht dem jenesWißbegierigen näher als das
des Geldgierigen.
Den allerletzten Rang also demzufolge dem Vergnügen
des Gewinngierigen.
Wie anders? sagte er.
Dies wären also zwei Beweise hinter einander, und
zweimal hätte der Gerechte über den Ungerechten den
Platon: Der Staat 574
Sieg davongetragen; zum dritten, zu guter Letzt, auf
olympischeWeise dem rettenden und olympischen
Zeus die schuldige Dankspende weihend, sieh nun,
daß das Vergnügen der übrigen Menschenarten, das
des vernünftigen Freundes desWissens ausgenommen,
gar kein echtes, kein reines, sondern nur ein
Schatten von Vergnügen ist, wie ich von einem der
Weisen gehört zu haben glaube. Und dies würde dann
doch die größte und entscheidendste der Niederlagen
sein.
Ja, freilich, aber welchen Beweis meinst du hiermit?
Ich werde ihn, sagte ich, auf folgendeWeise finden,
indem du durch Antworten zugleich suchen
hilfst.
So frage denn! sagte er.
Nun, so antworte mir, sprach ich: Geben wir zu,
daß Schmerz das Gegenteil von Vergnügen sei?
Ja, sicher.
Nicht wahr, auch weder Freude noch Schmerz zu
haben, ist etwas?
Ja, freilich.
Als Mittelding zwischen beiden (Freude und
Schmerz) eine gewisse Pause hinsichtlich dieser Zustände
der Seele? Oder nennst du es nicht so?
Ja, sagte er.
Erinnerst du dich da nicht, fuhr ich fort, der Reden
Platon: Der Staat 575
der Kranken, die sie imMunde führen, wenn sie
krank daniederliegen?
Welcher Reden denn?
Wie doch gar kein Vergnügen über die Gesundheit
gehe; ja vor ihrer Krankheit hätten sie gar nicht gewußt,
daß die Gesundheit das süßeste Vergnügen sei.
Ja, sagte er, ich erinnere mich.
Nicht wahr, auch die, welche von einem heftigen
Schmerz befallen sind, hörst du sagen, daß nichts angenehmer
sei, als wenn der Schmerz aufhört?
Ja.
Auch viele andere ähnliche Lagen der Menschen
nimmst du wohl wahr, bei welchen sie imMomente
des Schmerzes den schmerzenlosen Zustand und die
Ruhe hiervor als das größte Vergnügen preisen, nicht
den Zustand der Freude.
Ja, sagte er, freilich ist dieser Zustand, die Ruhe, in
jenemMomente wohl ein Vergnügen und der Gegenstand
des sehnlichsten Verlangens.
Ferner, wenn einer aufhört, Freude zu empfinden,
so wird ihm bekanntlich die Ruhe vom Vergnügen
auch schmerzlich sein.
Allerdings, sagte er.
Was nach unserer Erklärung von vorhin in der
Mitte von beiden lag, die Ruhe, das wird demnach zuweilen
beides sein, Schmerz und Vergnügen.
Ja, wie es scheint.
Platon: Der Staat 576
Ist es aber nur möglich, daß das, was keines von
beiden ist, beides werde?
Ich meine, nicht.
Noch ein weiterer Grund: Das Vergnügende wie
das Schmerzliche sind doch bei ihrer Entstehung in
der Seele eine Art von Bewegung, oder nicht?
Ja.
Der weder schmerzliche noch vergnügte Zustand,
zeigte der sich licht doch eben als Ruhe und in der
Mitte von beiden befindlich?
Ja, freilich.
Wie kann es nun richtig sein, vernünftigerweise
Schmerzlosigkeit für ein Vergnügen zu halten und
Freudlosigkeit für etwasWiderwärtiges?
Keineswegs.
Dieser Mittelzustand, die Ruhe, fuhr ich fort, ist
also nicht wirklich, sondern scheint nur ein Vergnügen
im Vergleich mit dem Schmerzlichen, und scheint
etwas Schmerzliches im Vergleich mit dem Vergnügenden,
und bei allen diesen Erscheinungen gibt es
mit bezug auf wirkliches Vergnügen gar nichts Reelles,
sondern nur ein eitles Gaukelspiel.
Ja, sagte er, wie wenigstens unsere Schlußweise
hier dartut.
Damit du nicht, sagte ich weiter, noch etwa im Augenblick
an der Meinung hängen bleibst, Vergnügen
und Schmerz hätten von Natur ihrWesen darin, daß
Platon: Der Staat 577
jenes im Aufhören von Schmerz und dieser im Aufhören
von Vergnügen bestehe, so schaue denn nun noch
auf Vergnügungen, die nicht aus Schmerzen entspringen!
Wohin denn soll ich schauen, fragte er, und was für
welche meinst du?
Es gibt deren viele andere, erwiderte ich; besonders
aber kannst du es sehen, wenn du die Vergnügungen
bei den Gerüchen in Betracht ziehen willst. Denn
diese kommen einem ohne vorhergegangenen
Schmerz plötzlich in außerordentlicher Größe und
hinterlassen, wenn sie aufhören, keinen Schmerz.
Ganz richtig, sagte er.
Demnach also dürfen wir uns nicht weismachen,
reines echtes Vergnügen bestehe in Entledigung von
Schmerz, auch nicht, Schmerz bestehe in Entledigung
von Vergnügen.
Nein, das dürfen wir nicht.
Aber, fuhr ich fort, von den durch den Körper zur
Seele gelangenden sogenannten Vergnügungen sind
freilich die meisten und größten von der eben erwähnten
Art, nämlich nichts anderes als gewisse Befreiungen
von Schmerzen.
Ja, freilich sind sie das.
Und nicht wahr, die vor dem Eintreten dieser aus
Erwartung entstehenden Vorfreuden und Vorschmerzen
verhalten sich ebenso?
Platon: Der Staat 578
Ebenso.
Weißt du nun, fuhr ich fort, wie die sämtlichen körperlichen
Vergnügen beschaffen sind und womit sie
die größte Ähnlichkeit haben?
Womit? fragte er.
Du bist doch, sagte ich, der herkömmlichen Meinung,
daß es in der Welt ein Oben, ein Unten und
eine Mitte gibt?
O ja.
Glaubst du nun, es werde jemand, wenn er von dem
Unten zur Mitte emporgebracht würde, etwas anderes
meinen, als daß er nach dem Oben gebracht würde?
Und wenn er in der Mitte stände und hinabschaute,
woher er heraufgefahren, wird er anderswo sich zu befinden
meinen als in dem Oben, wenn er das wahre
Oben noch nicht gesehen hat?
Nein, wahrhaftig, antwortete er, bei Zeus, ich glaube
nicht, daß er eine andere Meinung hat.
Und wenn er, sagte ich weiter, wieder nach Unten
gebracht würde, so würde er auch glauben, nach
Unten gebracht zu werden, und diesmal auch richtig
glauben?
Ohne Zweifel.
Nicht wahr, jene leidigen Erfahrungen müßte er
machen, weil er keine Kunde vom wahrhaft Oben,
Mitten und Unten hat?
Ja, offenbar.
Platon: Der Staat 579
Kann es dir demnach noch auffallen, wenn auch
des wahrenWesens der Dinge Unkundige überhaupt
in vielen anderen Stücken keine gesunden Vorstellungen
haben, insbesondere in bezug auf Vergnügen,
Schmerz und das Mittelding zwischen ihnen sich in
einer solchen Lage befinden, daß sie nur dann, wenn
sie in das Schmerzliche versetzt werden, eineWahrheit
glauben und in der Tat Schinerz empfinden; daß
sie aber, wenn sie von Schmerz in den Mittelzustand
versetzt werden, den festesten Glauben haben, sie
seien bei der Stillung ihrer Lust und Vergnügung angelangt:
daß sie also aus Unerfahrenheit in dem wahren
Vergnügen bei der Vergleichung der Schmerzlosigkeit
mit dem Schmerze sich ebenso täuschen, wie
es Leuten aus Unbekanntschaft mit der weißen Farbe
geht, wenn sie graue gegen schwarze betrachten?
Nein, wahrhaftig, sagte er, ich kann es nicht mehr
auffallend finden; ich würde es vielmehr auffallend
finden, wenn es nicht so wäre.
Bedenke die Sache, fuhr ich fort, nun noch aus folgendem
Gesichtspunkte: Sind nicht Hunger und Durst
gewisse Leerheiten des körperlichen Zustandes?
Was denn sonst?
Und sind nicht Unwissenheit und Unverstand
gleichfalls auch eine Leerheit in bezug auf den Seelenzustand?
Ja, sicher.
Platon: Der Staat 580
Angefüllt würde also sowohl, wer Speise zu sich
nimmt, als auch, wer Verstand bekommt?
Ohne Zweifel.
In welchem Falle hat aber nun Anfüllung in einem
wirklicheren Grade statt: wenn sie mit etwas von höherem
Sein oder wenn sie mit etwas von minder reellem
Sein geschieht?
Offenbar, wenn sie mit etwas von höherem Sein geschieht.
Welche von beiden Hauptlebensbedingungen
scheinen nun nach deiner Meinung des höheren reinen
Seins teilhaftiger zu sein: etwa die wie Brot, Trank,
Fleisch, überhaupt sämtliche leibliche Nahrung; oder
das, was in sich begreift wahre Vorstellung,Wissenschaft,
Vernunfteinsicht und überhaupt wiederum jede
geistige Stärkung! Bilde aber dein Urteil hier auf folgendeWeise:
Das an das immer Gleichbleibende, Unsterbliche
und an die ewigeWahrheit sich Haltende,
das selbst so Beschaffene und in einem solchen Entstehende,
ist das ein wesenhafteres Sein als das mit
dem niemals sich Gleichbleibenden und Vergänglichen
Verwandte, selbst so Beschaffene und auch in
einem solchen Entstehendes.
Ein weit wesenhafteres Sein, sagte er, hat das mit
dem ewig Gleichbleibenden Verwandte.
Ist nun das Sein des nicht Gleichbleibenden teilhaftiger
des ewig wesenhaften Seins als die
Platon: Der Staat 581
Wissenschaft?
Keineswegs.
Ferner teilhaftiger als ewigeWahrheit?
Auch das nicht.
Wenn aber weniger teilhaftig anWahrheit, nicht
auch weniger teilhaftig an ewig wesenhaftem Sein?
Notwendig.
Nicht wahr, man kann demnach überhaupt den Satz
aufstellen: Die auf die Nahrung des Körpers gehenden
Lebenbedingungen sind weniger derWahrheit und
des wesenhaften Seins teilhaftig als die Lebensbedingungen,
die sich andererseits auf die Nahrung der
Seele beziehen?
Ja, bei weitem.
Und glaubst du nicht dasselbe vom menschlichen
Körper selbst im Vergleich mit der Seele?
Ja.
Nicht wahr, daraus folgt, daß das, was sich nur von
Dingen höheren Seins anfüllen läßt und selbst ein höheres
wesenhafteres Sein ist, auch wesenhafter und in
höherem Grade angefüllt wird im Vergleich mit dem,
was sich mit Dingen geringeren Seins anfüllt und
selbst auch ein geringeres Sein ist?
Ohne Zweifel.
Wenn das Angefülltwerden mit dem seiner Natur
Zuträglichen Vergnügen heißt, so muß demnach auch
das wesenhaft und von Dingen höheren Seins
Platon: Der Staat 582
Angefüllte durch wahres Vergnügen eine wesenhaftere
und wahrere Freude gewähren; dagegen kann das
an minder echtem Sein Teilnehmende auch minder
wahr und solid angefüllt werden und daher auch nur
an einem minder haltbaren und minder wahren Vergnügen
teilhaben.
Ja, ganz notwendig, sagte er.
Diejenigen also, welche im Reich des Gedankens
und der geistigen Stärkung Fremdlinge, bei Schmausereien
aber und dergleichen Freuden des Fleisches
immer zu Hause sind, die bewegen sich also nach unserer
Sprache nur nach Unten, von da wiederum nach
der Mitte und fahren in dieser Region ihr ganzes
Leben lang herum; über diese hinaus zu dem wahrhaft
Oben haben sie weder je aufgesehen noch darauf einmal
losgesteuert, haben niemals sich mit dem höheren
wesenhaften Sein wirklich angefüllt, nie ein unvergängliches
und reines Vergnügen gekostet: sondern
nach Art der Rinder immer mit dem Blicke nach
Unten gerichtet, zur Erde und zur Krippe gebückt, liegen
sie nur auf denWeideplätzen, indem sie sonst
nichts tun als sich den Magen anfüllen, sich bespringen,
wegen des gegenseitigen Wegschnappens dieser
Genüsse mit eisernen Hörnern und Hufen sich stoßen,
treten und infolge der Unersättlichkeit ihrer Begierden
sich den Tod antun, eben weil sie mit den Dingen besseren
Seins nicht sich, nicht das bessere Sein ihres
Platon: Der Staat 583
Selbsts, nicht den das wahrhafte Sein festhaltenden
Teil ihrer Seele angefüllt haben.
Ganz wie durch prophetische Eingebung, sagte
Glaukon, schilderst du, Sokrates, das Leben des großen
Sünderhaufens!
Ist hiervon nicht notwendige Folge, daß sie nur
Vergnügen nachlaufen, die, mit Schmerzen gemischt,
nur Trug- und Schattenbilder des wahren Vergnügens
sind und nur durch Nebeneinanderstellung von Freuden
und Schmerzen eine reizende Farbe bekommen,
so daß beide unwiderstehlich scheinen, den Unverständigen
wütende Gelüste zu sich einflößen und ein
Gegenstand des Streites werden, so wie etwa das
Trugbild von der Helena nach dem Berichte des Stesichoros
auch aus Unbekanntschaft mit dem wahren
Originale der Gegenstand des Kampfes wurde?
Ja, sagte er, ganz notwendig muß es so gehen.
Ferner, wie wird’s mit dem zornmütigen Seelenbestandteil
und seinen Vergnügen stehen? Müssen nicht
notwendig zwar andere, aber ähnliche Folgen sich
einstellen, wenn er eben diesem Seelenteile allein
frönt und entweder neidisch aus Ehrgeiz, oder gewalttätig
aus Siegeslust, oder rachsüchtig aus Reizbarkeit,
der Stillung seines Durstes nach Ehre und Sieg, nach
Rache usw. nachrennt, ohne Zuziehung von Vernunft
und Überlegung?
Ja, sagte er, dergleichen Folgen müssen notwendig
Platon: Der Staat 584
auch in bezug auf diesen Seelenbestandteil sich einstellen.
Nach Darlegung der Nichtigkeit der Vergnügen der
zwei niederen Seelenbestandteile, fuhr ich fort, wie
steht es nun mit dem wahren Vergnügen? Dürfen wir
zuversichtlich die Schlußfolgerung ziehen: sämtliche
sowohl auf den gewinn- wie auf den sieggierigen Seelenbestandteil
sich beziehenden Begierden, die unter
Leitung des sittlichen Wesens und der Vernunft und
mit Hilfe dieser nur diejenigen Vergnügen verfolgen
und wählen, die der vernünftige Teil ihnen zeigt, werden
nicht nur die wahrsten Vergnügen erlangen, soweit
es ihnen möglich ist, an der Hand derWahrheit
wahre zu erlangen, sondern auch die ihrer Eigentümlichkeit
entsprechendsten, somit besten, wofern überhaupt
das der Eigentümlichkeit eines jeden Entsprechendste
auch das Beste ist?
Ja, sagte er, unstreitig besteht darin sein Eigentümlichstes.
Wenn also von dem wißbegierigen Seelenbestandteile
die Seele sich samt und sonders leiten läßt und
nicht dagegen sich auflehnt, so kann jeder einzelne
Teil derselben überhaupt seine von der Natur angewiesene
Bestimmung erfüllen, d.h. gerecht sein; sodann
kann ein jeder auch noch dazu die ihm eigentümlichen
Vergnügen genießen, d.h. die möglichst besten
und wahrsten.
Platon: Der Staat 585
Ja, offenbar.
Wenn aber dagegen einer von den übrigen zwei
Seelenbestandteilen die Oberhand gewinnt, so ist die
Folge davon, daß er nicht nur nicht das ihm eigentümliche
Vergnügen findet, sondern daß er auch noch
dazu die übrigen zwingt, ein ihrer Natur fremdes und
unwahres Vergnügen zu verfolgen.
So ist’s, sagte er.
Und nicht wahr, je weiter etwas vonWeisheitsstreben
und Vernunft entfernt ist, um so mehr hat es auch
die besagteWirkung in sich?
Jawohl.
Ist aber nun nicht am weitesten von Verstand und
Vernunft entfernt, was auch von Gesetz und moralischer
Ordnung am weitesten entfernt ist?
Ja, offenbar.
Waren aber nach unserem obigen Beweise die im
Gefolge des Eros und der Tyrannenseele befindlichen
Begierden nicht am weitesten davon entfernt?
Bei weitem.
Am wenigsten aber die des vernünftig königlichen
und sich selbst beherrschenden Individuums?
Ja.
Am meisten wird demnach auch, denke ich, der Tyrann
sowohl von dem an sich wahren als auch von
dem ihm eigentümlichen besten Vergnügen entfernt
stehen, am wenigsten aber der andere, ihm
Platon: Der Staat 586
Gegenüberstehende?
Notwendig.
Daraus folgt nun, fuhr ich fort: Am unvergnügtesten
lebt die Tyrannenseele, am vergnügtesten aber
die vernünftig königliche.
Ja, mit der größten Notwendigkeit.
Weißt du nach diesem Beweise nun auch, fragte ich
weiter, den bestimmten Grad, um wieviel das Leben
einer Tyrannenseele unvergnügter ist als das der vernünftig
königlichen?
Wenn du es mir sagst, war seine Antwort.
Es gibt drei Hauptarten von Vergnügen nach dem
Ergebnis unserer Untersuchung: eine von echten und
zwei von unechten; die Tyrannenseele ist nun dadurch,
daß sie Gesetz und Vernunft absichtlich aus
demWege geht, noch weit über die Grenze der unechten
hinausgegangen und haust dort gewissermaßen
mit den Vergnügen eines Sklaven und gemeinen Söldners.
Und wie weit er nun vom wahren Vergnügen
entfernt ist, kann nun gar nicht leicht ausgedrückt
werden, als vielleicht folgendermaßen…
Wie denn? fragte er.
Der Abstand der Tyrannenseele von dem oligarchischen
Individuum betrug drei; denn in der Mitte von
ihnen stand das der Demokratie ähnliche Individuum.
Ja.
Also wird sie auch, wenn das Frühere wahr ist, mit
Platon: Der Staat 587
einem Schattenbild von Vergnügen leben, welches an
Wahrheit um das Dreifache hinter dem oligarchischen
Menschen steht?
So ist’s.
Aber das der Oligarchie entsprechende Individuum
hatte von dem vernünftig königlichen Charakter
gleichfalls einen Abstand von drei, wenn wir das aristokratische
Individuum (im edelsten Sinne desWortes)
und das philosophisch-königliche als eines setzen.
Ja, der betrug auch drei.
Also, fuhr ich fort, steht der Tyrann in Summa um
das dreimal Dreifache von dem wahren Vergnügen
entfernt.
Es scheint so.
Als Fläche wird also, sagte ich, das Schattenbild
des Vergnügens eines Tyrannen einen dieser Längezahl
entsprechenden Inhalt haben?
Ja, offenbar.
Und wenn man sie potenziert bis zur dritten Vermehrung,
so kommt ganz augenfällig heraus, wie groß
der Abstand ist.
Ja, sagte er, augenfällig wenigstens für einen Rechenmeister.
Nicht wahr, wenn einer umgekehrt die Größe des
Abstandes des vernünftig königlichen Individuums
von dem Tyrannen hinsichtlich der gediegenen
Platon: Der Staat 588
Wahrheit seines Vergnügens mathematisch ausdrücken
wollte, so würde er nach angestellter Multiplikation
finden, daß ersterer siebenhundertundneunundzwanzigmal
vergnügter, der Tyrann aber um eben
diesen Abstand unglücklicher lebe.
Eine ganz unvergleichliche Berechnung der Differenz,
sagte er, zwischen beiden Individuen, dem Gerechten
und dem Ungerechten, in bezug auf Vergnügen
und Schmerz hast du da vorgebracht!
Und doch, sagte ich, eine sowohl richtige wie den
Lebensweisen beider ganz entsprechende Zahl, wenn
jenen Lebensweisen Tage, Nächte, Monate und Jahre
zukommen.
Und die, sagte er, kommen ihnen doch gewiß entsprechend
zu!
Wenn nun der gute und gerechte Mensch den
schlechten und ungerechten in solchem Grade an Vergnügen
übertrifft, um wieviel unendlich mehr muß er
ihn erst an innerer und äußerer Bildung, an moralischem
Adel, an geistiger Stärke übertreffen!
Freilich unendlich, bei Zeus! sagte er.
Gut denn! sprach ich weiter. Da wir nun an diesem
Punkte unserer Aufgabe angelangt sind, wollen wir
auf diejenige Behauptung zurückkommen, die am Anfang
von einem Herrn aufgestellt wurde und auf deren
Veranlassung wir nach langer Untersuchung hierher
zu diesem Resultate gekommen sind. Es lautete aber
Platon: Der Staat 589
jene Behauptung: Unrechttun sei vorteilhaft dem meisterhaft
Ungerechten, wenn er dabei den Schein des
Gerechten habe. Oder lautete sie nicht so?
Ja, so lautete sie.
Nun, sagte ich, dann wollen wir mit jenem Herrn
noch einWort reden, nachdem wir durch unsere Untersuchung
sowohl hinsichtlich des Unrechttuns als
des Rechttuns darüber einig sind, welche eigeneWirkung
jedes von beiden an und für sich hat.
Wie denn? fragte er.
Indem wir in Gedanken ein Bild von der Seele aufstellen,
damit der, welcher jene Behauptung äußerte,
recht augenfällig sieht, was er damit für Dinge behauptet.
Was für ein Bild denn? fragte er.
Eines von solchenWesen, antwortete ich, wie es
solche der Fabel nach vor alters gab, wie z.B. das
Bild von der Chimaira, von der Skylla, vom Kerberos,
und wie noch von vielen anderen gefabelt wird,
daß bei ihnen viele Tiergestalten in eine einzige verwachsen
gewesen seien.
Ja, sagte er, freilich wird so gefabelt.
So schaffe dir denn einmal erstlich eine Gestalt
eines mannigfach zusammengesetzten und vielköpfigen
Ungeheuers, das rundum Köpfe von teils zahmen,
teils wilden Tieren hat, dabei imstande ist, sich in alle
diese Tiere zu verwandeln und auch alle diese Tiere
Platon: Der Staat 590
aus sich zu erzeugen.
Dazu erfordert’s, sagte er, einen erstaunlich geschickten
Schöpfer: da aber indessen ein Gedanke
sich leichter alsWachs behandeln läßt, so soll jenes
Bild in Gedanken geschaffen sein.
So schaffe dir denn zweitens eine Gestalt eines
Löwen, drittens in Menschengestalt einen Engel;
denke dir dabei die erste Gestalt bei weitem als die
größte, die zweite auch der Größe nach als die zweite.
Die zwei letzteren Gestalten, sagte er, sind schon
leichter: sie sind geschaffen!
Diese drei Geschöpfe verbinde nun zu einem, so
daß sie irgendwie mit einander verwachsen sind!
Es ist geschehen, sagte er.
Nun umhülle sie mit der Gestalt eines Einzelwesens,
nämlich mit der eines Menschen, so daß es dem,
der nicht in das Innere zu schauen imstande ist, sondern
bloß auf die äußere Umhüllung sieht, nur als ein
einziges lebendesWesen erscheint, nämlich ein
Mensch.
Die Umhüllung ist in Gedanken geschehen, sagte
er.
So lasse uns denn dem Herrn mit der Behauptung,
diesemMenschen sei Unrechttun vorteilhaft und
Rechttun unzuträglich, bedeuten, daß er hiermit nichts
anderes sage, als es nütze demselben, wenn er durch
Schwelgerei das vielgestaltige Ungeheuer, den Löwen
Platon: Der Staat 591
und das, was zum Löwen gehört, stark machte, wenn
er dagegen den Engel durch Hunger abzehrte und entkräftete,
so daß dieser sich müßte hinschleppen lassen,
wohin jedes von jenen beiden Ungetümen wollte,
und wenn er nicht eines an den anderen gewöhnte und
mit ihm befreundet machte, sondern sie einander sich
zerbeißen, bekämpfen und auffressen ließe.
Ja, sagte er, das würde ganz der Sinn dessen sein,
was der behauptet, der das Unrechttun anpreist.
Und nicht wahr, wer andererseits behauptet, gerechte
Handlungen seien vorteilhaft, der würde damit
sagen, man müsse in Tat undWort sich so betragen,
daß dadurch in jenemMenschen der Engel seiner
Brust immer kräftiger werden und auf die Zähmung
jenes vielköpfigen Ungeheuers seine Sorgfalt verwenden
könne, indem er dem Ackerbauer gleich die guten
Triebe nährt und pflegt, die wilden am Emporwuchern
hindert, an demMut des Löwen sich einen Gehilfen
erzieht, für die Bildung aller Seelenbestandteile zusammen
Sorge trägt, sie untereinander sowohl wie
sich selbst befreundet und in diesem Zustand erhält?
Ja, dies würde andererseits der Sinn dessen sein,
was der behauptet, der die Gerechtigkeit preist.
In jeder Beziehung also würde der Lobpreiser der
gerechten Handlungen haltbare Wahrheiten behaupten,
der der ungerechten dagegen unhaltbare Unwahrheiten.
Denn man mag auf Vergnügen, auf guten Ruf,
Platon: Der Staat 592
auf Vorteil sehen, – so behauptet der Lobredner der
Gerechtigkeit Wahrheit, der Tadler derselben aber gar
nichts Haltbares und tadelt, ohne zu kennen, was er
tadelt.
Nein, sagte er, das kennt er wohl durchaus nicht.
Wir wollen also jenem Herrn mit gutenWorten
eine andere Ansicht beibringen, denn er ist auf dem
Irrwege, ohne zu wissen, was er tut, und wir wollen
an ihn die Frage richten: »O Bester, sollten nicht auch
die moralischen und unmoralischen Handlungen aus
solchen Gründen ihre herkömmliche Geltung bekommen
haben? Haben die moralischen Handlungen einerseits
ihre Geltung nicht darum, weil sie die tierischen
Bestandteile unserer Natur unter den Engel oder
vielmehr unter das Göttliche bringen? Andererseits
die unmoralischen, tragen sie ihren Namen nicht
darum, weil sie den edlen Teil der Seele in die Sklaverei
des wilden bringen? Wird jener Herr Ja dazu
sagen oder Nein?«
Ja, sagte er, wenn er mir folgen wollte.
Kann es also, fuhr ich fort, nach dieser Untersuchung
noch jemanden geben, bei dem es als Vorteil
gelten könnte, mit Ungerechtigkeit Gold zu erhaschen,
wenn dabei der Fall der ist, daß er mit dem Gewinne
des Goldes zugleich das Edelste seines Selbst
in die Dienstbarkeit des Schlechtesten versetzt; Oder
in anderenWorten:Wenn jemand für Gold einen
Platon: Der Staat 593
Sohn oder eine Tochter in die Sklaverei, und zwar in
das Haus wilder und schlechter Menschen, verkaufte,
so wäre dies für ihn kein Vorteil, und wenn er noch
soviel bekäme: wenn er aber erst das Göttlichste seines
eigenen Selbst unter die Knechtschaft des Ungöttlichsten
und Abscheulichsten bringt, ohne daß er es
sich im geringsten dauern läßt, – ist er da nicht unglücklich
und bringt er da für Gold nicht ein bei weitem
noch grausameres Opfer als Eriphyle, die für
ihres Mannes Leben jene bekannte goldene Kette annahm?
Ja, erwiderte Glaukon, ein bei weitem noch grausameres;
denn ich will statt jenes Mannes Antwort
geben.
Nicht wahr, was die einzelnen moralischen Gebrechen
betrifft, so gibst du demnach auch zu, daß sinnliche
Ausschweifung der Begierlichkeit von alters her
aus solchen Gründen als tadelnswert gilt, weil in solchemWandel
jenes böse, große und vielgestaltige
Ungeheuer allzu freies Spiel bekommt?
Offenbar, sagte er.
Ferner: Roher Übermut sowohl wie empfindelnder
Mißmut wird getadelt, wenn der löwenartige und bissige
Seelenbestandteil übertrieben wird und mit der
Vernunft nicht harmonisch gestimmt wird, nicht?
Ja, gewiß.
Weiter: Üppigkeit undWeichlichkeit, werden sie
Platon: Der Staat 594
nicht in Rücksicht der übermäßigen Herabstimmung
und Abspannung eben dieses Seelenteiles getadelt,
wenn sie Feigheit in ihm hervorbringt?
Warum sonst?
Ferner: Die Laster des Schmeichlers und der niederträchtigen
Bedientenseele, werden die nicht getadelt,
weil dann jemand wieder eben jenen Seelenbestandteil,
den stolzen Zornmut, unter das gemeine Ungetüm
bringt, wegen des Geldes und der Freßgierde
jenes Ungetüms ihn treten läßt und von Jugend an gewöhnt,
statt eines Löwen ein Affe zu werden?
Ja, sicher, sagte er.
Stubenhockerei und Handwerksweise, weshalb,
meinst du, bringen sie Schimpf und Schande mit sich?
Wohl wegen etwas anderem, als weil jemand den
edelsten Seelenbestandteil von Geburt schon so
schwach hat, daß er damit die wilden Tiere in sich
nicht beherrschen kann, sondern ihnen damit dienen
muß und nur die Künste für ihren Kitzel und ihre Behaglichkeit
zu lernen vermag?
Ja, offenbar, sagte er.
Nicht wahr, damit auch der unvernünftige gemeine
Mensch unter gleicher Herrschaft stehe wie der vernünftig
edelste, dürfen wir wohl behaupten, er müsse
Untertan sein jenes vernünftig Edelsten, der das Göttliche
als den Herrscher in seiner Brust besitzt? Mit
dieser Behauptung wollen wir jedoch nicht gemeint
Platon: Der Staat 595
haben, der Untertan müsse zu seinem, des Untertanen,
Nachteil beherrscht werden, wie Thrasymachos von
den Beherrschten wähnte: sondern, nicht wahr, wir
lassen uns hierbei von dem Grundsatze leiten, daß es
überhaupt für jeden Menschen das Beste ist, sich vom
Göttlichen und Vernünftigen beherrschen zu lassen,
am allerbesten zwar so, wenn er es als Eigentum in
seinem Inneren hat, im anderen Falle aber, daß es als
Regent von außen ihm vorgesetzt ist, auf daß wir alle
insgesamt so viel als möglich in Gleichheit und Brüderlichkeit
leben, indem wir uns durch ein und dasselbe
göttliche Prinzip lenken und leiten lassen.
Ja, sagte er, und dieser Grundsatz ist richtig.
Ja, auch das positive Gesetz, fuhr ich fort, spricht
deutlich aus, daß es so etwas beabsichtigt, indem es
allen ohne Ausnahme mit seinem Schutze beisteht; es
beabsichtigt dies auch die Kinderzucht, wenn wir den
Kindern nicht freienWillen lassen, bis wir in ihnen,
wie in einem Staate, eine feste Verfassung eingesetzt,
bis wir durch Entwicklung des Edelsten in ihnen mittels
des Edelsten in uns statt unserer Aufsicht einen
ähnlichen Aufseher und Gebieter in ihrer Brust aufgestellt
haben, und dann erst lassen wir ihnen ihre Freiheit.
Ja, sagte er, dieselbe Absicht liegt auch hier zutage.
Auf welcheWeise denn und aus welchem Grunde
könnten wir, o Glaukon, nun noch behaupten.
Platon: Der Staat 596
Unrechttun, Unzucht oder sonst etwas Unsittliches
bringe einen Vorteil, Handlungen, durch die man an
seiner Seele den größten Schaden leidet, wenn man
dabei auch in einen größeren Besitz von Geld oder
sonstiger Macht gelangt?
Auf keineWeise können wir es, war seine Antwort.
Ferner: Wie könnten wir behaupten, es sei ein
Glück, wenn einer beim Unrechttun verborgen bliebe
und keine Strafe dafür zu leiden brauche? Oder leidet
der Verborgenbleibende nicht noch immer mehr Schaden
an seiner Seele, während bei dem, der nicht verborgen
bleibt und gestraft wird, das Tierische gestillt
und gezähmt, das Himmlische entfesselt und überhaupt
die ganze Seele in die beste natürliche Verfassung
gesetzt wird? Und durch den hiermit verbundenen
Gewinn an besonnener Selbstbeherrschung, Gerechtigkeitssinn
und Vernunft erlangt er wohl einen
viel wertvolleren Vorzug als ein Körper, der Kraft,
Schönheit und Gesundheit bekommt, nämlich einen in
eben dem Grade wertvolleren Vorzug, als eine Seele
einen Körper anWert übertrifft?
Ja, sagte er, allerdings.
Nicht wahr, wer Verstand hat, wird demnach mit
Anstrengung aller seiner Kräfte das Leben so einrichten,
daß er erstlich in bezug auf die in denWissenschaften
liegende geistige Nahrung nur diejenigen
Wissenschaften hoch ehrt, die seine Seele zu einer
Platon: Der Staat 597
solchen Verfassung heranbilden, das übrigeWissen
aber gering anschlägt?
Versteht sich, meinte er.
Daß er zweitens, fuhr ich fort, in bezug auf Unterhalt
und Pflege des Körpers diese nicht dem tierischen
und unvernünftigen Gefühle der Lust und Unlust anheimstellt
und danach nur seine Lebensrichtung
nimmt; ja, er sieht dabei nicht einmal die Gesundheit
als das Hauptziel an: er wird größere Körperstärke,
Gesundheit, Schönheit nicht hoch anschlagen, wenn
er nicht zugleich auch an besonnener Selbstbeherrschung
bei ihnen gewinnen sollte; sein Bestreben
wird vielmehr dahin gehen, immer bei der Regulierung
des Körpers von der Vernunft der Seele sich den
Ton angeben zu lassen.
Ja, allerdings, sagte er, wenn er ein echter Musiker
sein will.
Nicht wahr, sprach ich weiter, auch drittens wird er
von der Vernunft der Seele sich den Ton angeben lassen
hinsichtlich der Liebe für Talerkomposition und
Talerklang, und er wird nicht, von der Stimme des
Pöbels verführt, die Masse seines Reichtums ins Unendliche
vermehren und dadurch mit unendlichen
Übeln sich behaften?
Nein, ich glaube nicht, daß er letzteres tut, sagte er.
Sondern, sagte ich, er wird in bezug auf Erwerb
jene vernünftige Verfassung in seinem Inneren zur
Platon: Der Staat 598
Richtschnur nehmen und wohl wachsam sein, damit
er in seinem Inneren keines der dortigen drei Vermögen
in der ihm bestimmten Stellung verrücke, sei es
infolge von Übermaß an Vermögen oder infolge von
Mangel, und er wird also bei solcher Richtschnur hinsichtlich
des Vermögens erwerben und aufwenden,
soweit es nach jener Richtschnur möglich ist.
Ja, gewiß, sagte er.
Was viertens Ehren anlangt, so wird er im Hinblick
auf dieselbe Richtschnur manche annehmen und ohne
Widerwillen genießen, von denen er nämlich mit
Grund annehmen darf, daß sie die Verfassung seines
Inneren vervollkommnen helfen; von welchen er dagegen
Grund hat zu fürchten, daß sie den Bestand jener
Seelenverfassung zerrütten können, denen wird er
ausweichen im Privat- wie im Staatsleben.
Demnach, sagte er, wird er keine besondere Lust
und Liebe daran haben, sich mit den Angelegenheiten
des Staates zu befassen, falls er Rücksicht auf diese
Richtschnur nehmen sollte.
Jawohl, beim Hunde, sagte ich, jawohl hat er Lust
und Liebe dazu in dem für ihn geeigneten Staate,
nicht jedoch in dem, in dem er geboren ist, wenn nicht
ein besonderes Gottesgeschick ihn hierzu bestimmen
sollte.
Ja, ich begreife, sagte er; in dem Staate nämlich,
meinst du, würde er Lust und Liebe daran haben, mit
Platon: Der Staat 599
dessen Gründung wir uns eben beschäftigten, in dem
im Reich der Gedanken liegenden Staate: denn auf
Erden existiert er, glaube ich, nirgends.
Nun, sagte ich, dann ist er doch wohl im Himmel
als ein heiliges Mustervorbild für jeden aufgestellt,
der ihn anschauen und durch seine Anschauung danach
den Haushalt seines Inneren einrichten will; es
liegt aber gar nichts daran, ob er irgendwo existiert
oder noch existieren wird: denn nur mit den Angelegenheiten
dieses Staates allein befaßt er sich, aber mit
keinem anderen.
Ja, selbstverständlich, bemerkte er.
Platon: Der Staat 600
Zehntes Buch
Und in der Tat, hob ich wieder an, überhaupt in
vielen anderen Bestimmungen nehme ich an unserem
Staate wahr, daß wir ihn ganz nach richtigen Grundsätzen
der Vernunft anlegten; insbesondere behaupte
ich das aber in Rücksicht auf jene über die Poesie.
Welche denn? fragte er.
Daß wir sie auf keinerlei Weise aufnahmen, soweit
sie in das Gebiet der Nachahmungspoesie einschlägt;
denn daß diese durchaus nicht aufgenommen werden
darf, das stellt sich meines Bedünkens jetzt noch deutlicher
heraus, nachdem die drei Hauptseelenbestandteile
einzeln besonders in bestimmter Unterscheidung
dargestellt worden sind.
Was willst du damit sagen?
Unter euch gesagt (denn ihr werdet mich doch bei
den tragischen und den übrigen nachahmend darstellenden
Dichtern nicht verraten!), so ist sie offenbar
ein Grundverderben für den denkenden Geist aller, die
alle dergleichen poetische Produkte anhören, ohne ein
Gegengift zu haben an dem gründlichenWissen dessen,
was eigentlich an ihnen ist.
In welcher Beziehung, fragte er, äußerst du denn
diesen Gedanken?
Ja, antwortete ich, obwohl eine von Jugend auf an
Platon: Der Staat 601
Homer mich fesselnde Liebe und Ehrfurcht mich abhält,
zu äußern, was ich denke, es muß einmal heraus!
Denn er ist offenbar von allen diesen feinen Theaterhelden
der Urlehrmeister und Führer. Heraus muß es
darum, was ich über ihn denke; denn eine menschliche
Person darf nicht über dieWahrheit gestellt werden!
Ja, sagte er, allerdings!
So höre denn, oder vielmehr: antworte!
Frage nur!
Nachahmende Darstellung überhaupt, kannst du
mir einen allgemeinen Begriff dessen angeben, was
sie eigentlich ist? Denn ich selbst finde es gar nicht
recht zusammen, was sie eigentlich sein will.
Nun, sagte er, da soll ich es etwa zusammenfinden?
Wäre gar keinWunder, meinte ich; denn mancherlei
schon haben blödere Augen früher gefunden als Leute
mit schärferem Blicke!
Ja, sagte er, das ist der Fall; aber in deiner Gegenwart
könnte ich nicht einmal das Herz fassen, eine
Ansicht auszusprechen, wenn eine solche sich mir
zeigt: drum richte selbst dein Auge darauf!
Wollen wir also von folgendem Standpunkte aus
nach unserer gewöhnlichen Methode die Betrachtung
beginnen? Unser gewöhnlicher Standpunkt ist nämlich,
daß wir eine ideelle Einheit allemal bei jeder Art
von Vielheiten annehmen, denen wir denselben
Platon: Der Staat 602
Namen geben, – oder begreifst du’s nicht?
Ja, ich begreife.
So wollen wir denn auch jetzt, wenn’s gefällt, einige
beliebige Vielheiten annehmen: es gibt z.B. eine
Vielheit von Stühlen und Tischen.
Allerdings.
Aber ideelle Einheiten gibt es von diesen Gerätschaften
nur zwei: eine vom Stuhl, eine vom Tisch.
Ja.
Nicht wahr, nach unserer Gewohnheit drücken wir
uns aus, daß der Fabrikant jeder der beiden Gerätschaften
im Hinblick auf die ideelle Einheit schafft:
der eine Stühle, der andere Tische zu unserem praktischen
Gebrauche; denn die abstrakte ideelle Einheit
davon fabriziert uns keiner der menschlichenWerkmeister;
wie wäre es denn auch möglich?
Auf keineWeise.
Aber jetzt weiter, sieh dir einmal folgenden Fabrikanten
an!
Welchen Namen wirst du ihm geben?
Welchem denn?
Der alle möglichen Dinge fabriziert, die nur immer
jeder einzelne der Künstler hervorbringt.
Von einem außerordentlichenManne sprichst du
da, und von einem, der den Namen einesWundermannes
verdient!
Noch gar nicht! Du wirst ihm gleich noch einen
Platon: Der Staat 603
besseren und höheren Namen geben: denn derselbe
Künstler kann nicht nur alle Gerätschaften bilden,
sondern er bildet auch alle Erzeugnisse der Erde, fabriziert
alle lebendenWesen, alles übrige sowohl als
auch sich selbst, außerdem Erde, Himmel, Götter,
alles am Himmel und im Hades unter der Erde, – alles
fabriziert er!
Ja, sagte er, da sprichst du von einem Erzwundermann
und Tausendkünstler!
Es kommt dir unglaublich vor? fragte ich. Gib mir
nur eine Antwort auf folgende Frage: Soll es ganz und
gar nicht nach deiner Ansicht einen solchen Fabrikanten
geben, oder kann er auf gewisseWeise die genannten
Dinge alle machen, auf gewisseWeise aber
auch nicht? Oder merkst du noch nicht, daß du selbst
auf eine gewisseWeise imstande wärest, alle jene
Dinge zu machen?
Und worin besteht denn dieseWeise? fragte er.
Es hat gar keine Schwierigkeit, erwiderte ich, sondern
läßt sich vielfach und schnell bewerkstelligen,
am schnellsten wohl, wenn du einen Spiegel zur Hand
nehmen und überall herumtragen wolltest: da wirst du
bald eine Sonne machen und sonstige Himmelskörper,
bald dich selbst sowohl wie alle übrigen lebendenWesen,
überhaupt alle eben genannten Kunstund
Naturerzeugnisse.
Ja, freilich, sagte er, dem Scheine nach, aber wohl
Platon: Der Staat 604
nicht inWahrheit!
Ganz gut, bemerkte ich, und recht zupasse kommst
du da mit dieser Antwort unserer Untersuchung! Denn
zu solchen Künstlern, meine ich, gehört auch der
Maler, oder nicht?
Jawohl.
Aber, wirst du, glaube ich, einwenden, seine Fabrikate
seien keine wirklich wahren; und doch fabriziert
auch auf eine gewisseWeise der Maler einen Stuhl,
oder nicht?
Ja, freilich, sagte er, aber auch er nur einen scheinbaren.
Wie sieht’s dagegen mit dem eigentlichen Macher
des Stuhles aus? Nicht wahr, eben stelltest du ja doch
den Satz auf, nicht den allgemeinen ideellen Begriff
davon, in welchem nach unserer Lehre besteht, was
ein Stuhl eigentlich ist, fabriziere er, sondern diesen
oder jenen individuellen Stuhl?
Ja, den Satz stellte ich auf.
Nicht wahr, wenn er macht, was eigentlich nicht
ist, so macht er auch nichtsWesenhaftes, sondern nur
etwas demWesenhaften Ähnliches, dasWesenhafte
aber nicht; daß aber das Produkt des Stuhlmachers
oder das eines anderen handarbeiten den Künstlers
eine vollkommeneWesenheit sei, – wenn das jemand
behauptete, so würde dieser demnach keine Dinge von
Grund undWahrheit vorbringen.
Platon: Der Staat 605
Freilich nein, sagte er, wenigstens nach den Grundsätzen
derer, die sich mit solchen philosophischen
Fragen beschäftigen.
Demnach dürfen wir es nicht auffallend finden, daß
ein solches Produkt im Vergleich mit dem ewig währenden
Sein ein ganz schwaches Sein hat.
Freilich nicht.
Wollen wir nun, sprach ich, an eben diesen Beispielen
den vorhin erwähnten Nachahmer untersuchen,
was er eigentlich ist?
Ja, sagte er, wenn es dir gefällig ist.
Nicht wahr, dreierlei Stühle kommen da heraus?
Ein ursprünglich ideell existierender, den wohl nach
meiner Ansicht wenigstens ein Gott geschaffen hat,
oder wer sonst?
Niemand anders, denke ich.
Zweitens einer, den der Stuhlmacher gezimmert
hat.
Ja, sagte er.
Drittens einer, den der Maler gemalt hat, oder
nicht?
Es ist so.
AlsoMaler, Stuhlmacher und Gott sind drei Meister
für drei Arten von Stühlen.
Ja, drei.
Der Gott nun erstlich hat, sei es, daß es ihm so beliebte,
oder daß er vermöge einer höheren
Platon: Der Staat 606
Notwendigkeit nicht mehr als einen ursprünglich ideellen
Urstuhl schaffen durfte, nur jenen einen eigentlichen
Stuhl gemacht, der der wahre wesenhafte Stuhl
ist: zwei aber oder mehrere dergleichen Stühle sind
nicht geschaffen worden von dem Gotte und werden
auch nicht geschaffen werden.
Warum denn? fragte er.
Weil, erwiderte ich, wenn er auch nur zwei machen
sollte, von neuem darüber eines erscheinen würde,
dessen Urbild wiederum jene zwei an sich trügen, und
dieses neue ideelle Urbild würde dann der wesenhafte
Stuhl sein, und nicht jene zwei.
Richtig, sagte er.
Weil nun diese Unfüglichkeiten, denke ich, der
Gott natürlich wußte, so hat er nur jenes eine ideelle
Urbild von Stuhl geschaffen, weil er inWahrheit
Schöpfer eines wahrhaft wesenhaften Stuhles sein
wollte, aber nicht dieses oder jenes individuell bestimmten
Stuhles, und auch kein individuell bestimmter
Stuhlmacher.
Ja, offenbar.
Wollen wir nun erstlich diesen Gott den Urschöpfer
dieses Dinges oder mit sonst einem ähnlichen
Namen benennen?
Ja, ganz mit Recht, sagte er, dieweil er ja von Uranfang
an dieses ideelle Ding und alle übrigen geschaffen
hat.
Platon: Der Staat 607
Und wie nennen wir zweitens den Zimmerer des
Stuhles? Nicht etwa denWerkmeister davon?
Ja.
Und drittens der Maler, nennen wir etwa auch diesen
den Meister und Schöpfer eines solchen Dinges?
Keineswegs.
Aber was soll der denn nach deiner Erklärung vom
Stuhle sein?
Da scheint mir, erwiderte er, wenigstens der angemessenste
Name der zu sein: Nachahmer des Dinges,
von dem jene dieWerkmeister sind.
Gut! sagte ich. Den Verteidiger des von der wahren
Urschöpfung an erst den dritten Rang einnehmenden
Erzeugnisses nennst du also einen Nachahmer?
Allerdings, war seine Antwort.
Demnach wird auch der Schauspielmacher, wofern
er ein Nachahmer ist, eigentlich nur ein Abbild im
dritten Grade, z.B. von dem Ur- und wahren Könige
geben, und so alle übrigen Nachahmer überhaupt.
Es scheint so.
Über den eigentlichen Begriff des Nachahmers
überhaupt wären wir also einmal im reinen; aber über
den Maler insbesondere gib mir noch Antwort auf folgende
Frage: Scheint er dir jenes ideelle Urbild von
jedem Dinge in der Schöpfung nachahmen zu wollen,
oder die Erzeugnisse der menschlichen Meister?
Die der menschlichen Meister, sagte er.
Platon: Der Staat 608
So wie sie sind, oder sowie sie scheinen? Denn
das ist noch bestimmter anzugeben.
Wie verstehst du das? fragte er.
Auf folgendeWeise: Ein Stuhl z.B., wenn du ihn
von der Seite oder von vorn oder wie immer ansiehst,
hat er da nicht jedesmal eine von der vorigen verschiedene
Gestalt, oder ist eigentlich kein Unterschied
vorhanden, sondern nur der Schein einer Verschiedenheit,
und so hinsichtlich aller Dinge überhaupt?
Ich meine letzteres, sagte er: es ist nur ein Schein
von Unterschied vorhanden, aber kein eigentlicher.
Diesen Punkt nun halte fest im Auge! Für welchen
der beiden Zwecke hinsichtlich jeden Dinges ist die
Malerei vorhanden: für das Nachahmen desWesenhaften,
wie es wirklich ist, oder für das des Scheinenden,
wie es sich im Scheine gibt, d.h. ist sie eine
Nachahmung von Schein oder von wesenhafterWahrheit?
Vom Scheine, antwortete er.
Weit also von der wesenhaftenWahrheit ist offenbar
die Nachahmung entfernt; deswegen macht sie
auch alles mögliche nach, weil sie sich nur mit dem
Oberflächlichsten eines jeden Dinges befaßt, und
dazu noch mit einem Schattenbilde davon. So wird
der Maler in unserem Beispiele einen Schuhmachermeister,
einen Zimmermeister und überhaupt alle übrigen
Meister malen, ohne das geringste von allen
Platon: Der Staat 609
diesen Handwerken zu verstehen, dessenungeachtet
aber wird er, wenn er ein guter Maler ist, durch das
Bild eines Zimmermanns und durch Hinstellung desselben
aus der Ferne Kinder sowie unvernünftige
Menschen zur Verblendung verführen, als wäre es ein
Zimmermann, wie er leibt und lebt.
Ohne Zweifel.
Aber, mein Freund, dies gilt, denke ich, nicht von
demMaler allein; denn von allen dergleichen Leuten,
deren Beschäftigung in die Nachahmung einschlägt,
muß man folgenden Gedanken festhalten: Falls jemand
von einem gewissen Manne berichtete, er habe
in ihm einWesen menschlicher Natur kennengelernt,
das nicht nur alle Künste und Handwerke, sondern
auch von allen übrigenWissenschaften, wovon jede
die Aufgabe eines Einzelnen ist, jeden möglichen
Zweig so gut als irgend einer verstände, so muß man
von einem solchen Berichterstatter annehmen, daß er
ein einfältiger Mensch ist, daß er offenbar auf eine Art
Taschenspieler und Nachahmer geraten war und von
diesem zur Verblendung, jener sei ein Allwisser, verführt
wurde, aus keiner anderen Ursache, als weil
jener Einfaltspinsel nicht imstande ist, zu prüfen, was
wahreWissenschaft, was Unwissenheit, was Nachahmung
ist.
Ja, ganz recht, sagte er.
Nicht wahr, fuhr ich fort, auf der Grundlage dieser
Platon: Der Staat 610
allgemeinen Untersuchung müssen wir nun die besondere
über die dramatische Dichtung überhaupt und
vornehmlich über ihren Führer Homer anstellen, dieweil
wir von einigen Leuten hören, diese Dichter hätten
nicht nur alle Künste, sondern auch alle in das
praktische Menschenleben sowie in die spekulative
Naturphilosophie einschlagendenWissenschaften
inne; denn der gute Dichter müsse natürlich, wenn er
über einen Gegenstand schön dichten wolle, das wissen,
worüber er dichtet, oder er wäre gar nicht imstande
zu dichten. Es muß natürlich nun untersucht werden,
ob jene Leute nicht auf Nachahmer der vorhin
beschriebenen Art geraten sind, von ihnen sich haben
anführen lassen und daher bei Betrachtung ihrer Erzeugnisse
nicht bemerken, daß diese Nachahmer drei
Grade vom wahren Sein entfernt sind, und daß es
einem gar leicht ist, darüber zu dichten, ohne die eigentliche
Wahrheit davon zu kennen (denn Trugbilder
und keine wirklicheWesenheiten stellen ja die Nachahmer
dar); oder ob die Behauptung jener Leute doch
begründet ist und die guten Dichter wirklich einWissen
über die Dinge haben, worüber sie dem Volke
herrlich zu reden scheinen.
Ja, sagte er, allerdings ist das zu prüfen!
Glaubst du nun bei dieser Alternative, es würde
einer, wenn er beides darstellen könnte, sowohl das
nachzuahmende Original wie das Schattenbild davon,
Platon: Der Staat 611
sich im Ernst auf die Erzeugung von Schattenbildern
legen und diese sich zum Ziele seines Lebens setzen
in dem Glauben, als habe er den besten Teil erwählt?
Nein, ich glaube es nicht.
Sondern er würde, denke ich, wenn er denn doch in
Wahrheit von den Dingen, die er alle nachahmt, eine
gründlicheWissenschaft hätte, sich mit mehr Eifer
auf die Heldentaten verlegen als auf die nachahmenden
Schildereien davon, würde eher sich anstrengen,
viele schöne eigeneWerke als Denkmale von sich zu
hinterlassen, würde viel eher der Gepriesene als der
Preisende sein wollen.
Ja, ich glaube, erwiderte er; denn nicht nur die
Ehre, sondern auch der Vorteil sind nicht gleich.
Über manche andere Zweige desWissens wollen
wir nun Homer oder überhaupt jeden anderen der
Dichter nicht zur Rede stellen, wie etwa durch die
Fragen: wenn denn wirklich ein Heilkünstler unter
ihnen und nicht bloß ein Nachahmer heilkundiger
Phrasen gewesen wäre, welche Leute denn da ein
Dichter aus der alten oder neueren Zeit gesund gemacht
haben solle, wie z.B. Asklepios dies getan;
oder welche Schüler er in der Heilkunde hinterlassen
habe, wie z.B. jener Asklepios seine Jünger? Auch
wollen wir die Dichter ferner über die übrigen Künste
nicht fragen, sondern es ihnen hierin hingehen lassen;
aber über die wichtigsten Gegenstände, worüber zu
Platon: Der Staat 612
sprechen sich Homer unterfangen hat, über Kriegsschlachten
und Heeresführung, über Staatsverwaltung
und Menschenbildung, darüber müssen wir pflichtgemäß
ihn durch Vorlegung folgender Fragen examinieren:
»Mein lieber Homer, wenn du denn in bezug auf
geistige Tüchtigkeit nicht etwa gar im dritten Grade
von der Wahrheit entfernt stehst, als ein Schattenbildfabrikant,
wie wir den Nachahmer definiert haben,
sondern nur im zweiten Grade und demnach imstande
sein mußtest, praktisch zu erkennen, welche Lebenseinrichtungen
die Menschen sowohl im Häuslichen
wie im Staatsleben besser oder schlechter machen, so
gib uns Red’ und Antwort, welcher Staat durch dich
besser eingerichtet worden ist, wie z.B. durch Lykurg
Lakedaimon, und wie durch sonst viele andere es
noch viele große und kleine Staaten wurden? Welcher
dagegen rühmt dich als guten Gesetzgeber und seinen
Heiland? So rühmen z.B. Italien und Sizilien Charondas,
wir unseren Solon; wer aber dich?«Wird er
einen angeben können?
Ich glaube nicht, sagte Glaukon; wenigstens wird
keiner angeführt, nicht einmal von den Homeriden.
Nun, da wird wohl aus den Zeiten Homers eines
Krieges gedacht, der unter seinem Kommando oder
auf seinen Rat glücklich geführt wurde?
Gar keiner!
Nun, da werden denn von ihm, als einem
Platon: Der Staat 613
praktischen Kopfe für das Leben, viele geistreiche Erfindungen
in bezug auf Künste und andere bürgerliche
Geschäfte berichtet, wie dies wiederum in dieser Beziehung
von Thales aus Milet und von dem Skythen
Anacharsis geschieht?
Keineswegs so etwas!
Nun denn, wenn demnach Homer kein Held im
Kriegs- und Staatsleben war, so wird doch vielleicht
von ihm erzählt, daß er im Privatleben das Haupt
einer geistigen Bildungsschule bei Lebzeiten für einige
war, die ihm wegen seines lehrreichen Umganges
anhingen und dann an ihre Nachfolger eine gewisse
homerische Lebensregel fortpflanzten, wie z.B. Pythagoras
schon zu seiner eigenen Lebzeit aus diesem
Grunde einen ausgezeichneten Anhang hatte und auch
jetzt noch seine Nachfolger durch ihre pythagoreische
Lebensregel, wie sie sie nennen, als ausgezeichnet
unter den übrigen gelten?
Auch von der Art, sagte er, wird nichts berichtet;
denn der Kreophylos (›Fleischmann‹), o Sokrates, der
Jünger Homers, muß gewiß in Ansehung seiner geistigen
Bildung noch lächerlicher gewesen sein als hinsichtlich
seines Namens, wenn die Berichte über
Homer wahr sind. Es wird nämlich berichtet, daß er
zu seiner eigenen Lebenszeit auf das veranlassende
Beispiel eben jenes seines Jüngers einen sehr geringen
Anhang hatte.
Platon: Der Staat 614
Ja, sprach ich, berichtet wird das freilich; aber,
mein lieber Glaukon, wenn Homer wirklich imstande
gewesen wäre, Menschen geistig zu bilden und moralisch
besser zu machen, als ein Mann, der in dieser
Beziehung nicht nur Nachbildungen zu liefern, sondern
mit praktischem Verstande zu verfahren verstand,
– müßte er da nicht wohl sich viele Anhänger
verschafft haben, und müßte er nicht von ihnen sehr
geehrt und geschätzt worden sein? Können ja doch
ein Protagoras von Abdera, ein Prodikos von Keos
und andre dergleichen mehr durch den Unterricht
ihres Privatumganges ihre Zeitgenossen in den Glauben
versetzen, daß sie weder ihr Haus noch ihren
Staat zu verwalten imstande sein würden, wenn nicht
diese ihre Lehrmeister wären, und wegen dieser ihrer
praktischenWeisheit sind sie so beliebt, daß ihre Anhänger
sie fast auf den Händen herumtragen! Und da
sollen nun einen Homer, als Förderer geistiger Tüchtigkeit
unter seinen Mitmenschen, oder einen Hesiod
die Zeitgenossen haben herumziehen und bänkelsängern
lassen! Ja, würden sie nicht mehr an ihnen als an
dem Geldbeutel gehängt und sie eingeladen haben,
bei ihnen im Hause zu wohnen, und würden sie nicht,
falls die Einladung fruchtlos geblieben wäre, selbst
ihrem Unterrichte auf allen ihrenWegen nachgezogen
sein, bis sie genügend Bildung empfangen hätten?
Ja, sagte er, lieber Sokrates, du scheinst mir
Platon: Der Staat 615
durchaus recht zu haben.
Wir dürfen also als ausgemacht annehmen, daß alle
Künstler in der Nachahmungspoesie, von Homer an
gerechnet, in bezug auf geistige Tüchtigkeit und die
anderen Gegenstände ihrer Darstellung nur nachahmende
Schattenbildkünstler sind und die eigentliche
Wahrheit nicht erfassen; sondern, um in dem Beispiel
von vorhin fortzufahren, der Maler stellt einen Schuhmacher
nur zum Scheine hin, ohne daß er selbst etwas
von der Schuhmacherei versteht noch die Leute, für
die er ihn darstellt, indem diese nur nach den Farben
und Umrissen gucken, nicht wahr?
Ja, allerdings.
Und ebenso dürfen wir natürlich auch von dem dramatisch
darstellenden Dichter sagen, daß er gleichsam
auch nur Farben von dieser und jener Kunst undWissenschaft
in Floskeln und Phrasen auftrage, ohne
selbst davon etwas gründlich zu verstehen als eben
das Nachahmen, so daß es dann anderen ebenso unverständigen
Menschen, die nur den Glanz der Phrasen
begaffen, eine ganz gediegene Darstellung zu sein
scheint, mag es sich nun um Schuhmacherei oder
Feldherrnkunst oder um jede beliebige andere Sache
handeln, wenn es nur in Versen sowie in musikalischer
Takt- und Tonart geschieht: so groß sei der Zauber,
den eben diese musikalische Begleitung von
Natur ausübe! Denn entblößt von dem Farbenglanz
Platon: Der Staat 616
des musikalischen Zaubers und rein nach dem bloßen
Texte vorgetragen, weißt du, glaube ich, selbst, wie
die Erzeugnisse der dramatisch darstellenden Dichter
erscheinen; denn du hast es wohl beobachtet!
Ja, sagte er.
Nicht wahr, fuhr ich fort, sie sehen dann aus wie
die Gesichter jugendlicher, aber nicht schöner Menschen,
wenn sie die Jugendblüte verlieren?
Ein ganz richtiger Vergleich, sagte er.
Komm mit mir jetzt zu einer weiteren Betrachtung:
Das ein Schattenbild äußerlich darstellende Kunstgenie,
der Nachahmer, versteht nach unserem ausgemachten
Satze gar nichts vomWesenhaften, sondern
nur etwas vom Scheine, nicht so?
Ja.
Aber wir dürfen diesen Satz nicht zur Hälfte ausgeführt
lassen, sondern wollen ihn gründlich untersuchen.
Sprich nur! sagte er.
Ein Maler, denken wir, malt sowohl Zaum wie
Gebiß?
Ja.
Es fabriziert sie aber der Sattler und der Schmied?
Jawohl!
Versteht denn nun auch der Maler, welche Eigenschaften
der Zaum und das Gebiß haben müssen?
Oder versteht das nicht einmal der, welcher sie
Platon: Der Staat 617
fabriziert, der Schmied und der Sattler, sondern nur
jener allein, der sie braucht: der Reiter?
Sehr richtig.
Wird’s nun nicht überhaupt so in allen Dingen
sein?
Wie?
Daß es überhaupt bei jedem Dinge drei Wissenschaften
gibt: die des Gebrauches, die der Herstellung,
die der Nachahmung?
Ja.
Nicht wahr, Tüchtigkeit, Schönheit, Richtigkeit
eines jeden Gerätes, lebendenWesens, Handelns bezieht
sich auf sonst nichts anderes als auf den Gebrauch,
wofür ein jedes bestimmt ist, rühre diese Bestimmung
nun von Menschen oder von der Natur her?
Ja, so ist’s.
Mit großer Notwendigkeit folgt also daraus, daß
der Gebrauchende von jedem Gegenstand auch der
Erfahrenste sein und dem Hersteller berichten muß,
welche Exemplare er von dem Gegenstand, den er gebraucht,
gut oder schlecht mit bezug auf den Gebrauch
macht; so berichtet z.B. der Flötenspieler dem
Flötenmacher, welche Flöten im Spielen taugen, und
gibt ihm auf, wie er sie machen soll, und dieser befolgt
seine Vorschriften.
Ja.
Nicht wahr, der erstere berichtet als einWissender
Platon: Der Staat 618
über gute und schlechte Flöten, während letzterer nur
als ein Glaubender die Verfertigung bewerkstelligt?
Ja.
Von einem und demselben Instrumente wird also in
bezug auf Brauchbarkeit und Unbrauchbarkeit der
Herstellende davon nur darum den rechten Glauben
haben, weil ihm derWissende zur Seite steht und er
notgedrungen auf denWissenden hören muß; dagegen
der davon Gebrauch machende Künstler hat dieWissenschaft.
Jawohl.
Der Nachahmer (der Maler) dagegen, – hat der aus
dem Gebrauche eineWissenschaft bezüglich der von
ihm gemalten Dinge, ob sie schön und richtig oder es
nicht sind, oder hat er einen richtigen Glauben infolge
der notwendigen Verbindung mit demWissenden und
der Angabe, wie er die Dinge machen soll?
Keines von beiden.
Der Nachahmer hat also in den Dingen, welche er
nachahmt, in bezug auf Güte und Schlechtigkeit
weder einWissen noch einen richtigen Glauben.
Hiernach nicht, wie es scheint.
Ein großer Gelehrter wäre da der in der Poesie sich
mit nachahmender Darstellung befassende Künstler in
bezug auf dieWissenschaft dessen, worüber er dichtet?
Nein, kein sonderlicher!
Platon: Der Staat 619
Aber dessenungeachtet wird er doch seine Nachahmung
forttreiben, ohne bei dem einzelnen Dinge zu
wissen, inwiefern es unbrauchbar oder brauchbar ist;
sondern er wird nur das nachahmen, was dem großen
und ebenfalls auch keineWissenschaft davon besitzenden
Haufen schön zu sein scheint.
Nichts anderes.
Darüber nun sind wir uns, sollte ich doch meinen,
hinlänglich einig, daß erstlich das Nachahmungsgenie
gar kein ordentlichesWissen besitzt von dem, was es
nachahmt, sondern daß die nachahmende Kunst nur
eine Spielerei und keine ernstliche Beschäftigung ist;
daß zweitens die, welche sich mit dramatisch darstellender
Poesie, sei es in theatralischen Iamben oder
epischen Hexametern befassen, Nachahmer im höchsten
Grade sind.
Allerdings.
Wohlan denn, bei Zeus! fuhr ich fort. In bezug auf
diese Nachahmung ist bereits bewiesen, daß sie mit
einem im dritten Grade von der Wahrheit entfernten
Objekte sich beschäftigt, nicht wahr?
Ja.
Daran knüpft sich nun die weitere Frage: Auf welches
der menschlichen Seelenvermögen ist sie mit der
ihr eigenenWirkungskraft offenbar gerichtet?
Was ist denn das für ein Vermögen, wovon du hier
redest?
Platon: Der Staat 620
Folgendes: eine und dieselbe Größe, in der Nähe
und der Ferne durch das Gesicht wahrgenommen, erscheint
uns wohl nicht gleich?
Nein.
So erscheinen uns dieselben körperlichen Gegenstände
krumm und gerade, je nachdem wir sie in oder
außer demWasser schauen, ferner dieselben gezeichneten
Gegenstände bekanntlich hohl und erhaben
gleichfalls infolge einer bei den Farben statthabenden
Täuschung des Gesichtssinnes, und so hat überhaupt
eine jede sinnliche Verblendung der Art offenbar
ihren Grund in unserer Seele: dieser schwache Teil
unserer Natur ist es nun, auf den die Zeichen- und
Malerkunst, die Gaukelkunst und die vielen übrigen
Taschenspielereien ähnlicher Art es anlegen und kein
Blendmittel unversucht lassen.
Ja, richtig.
Erscheinen nun nicht das Messen, Rechnen und
Wägen gegen jene Sinnentäuschungen als die geeignetsten
Hilfsmittel, infolge welcher nicht der Eindruck
der sinnlichen Erscheinung vom Größeren oder Kleineren
oder Mehreren oder Gewichtigeren in uns das
Urteil regiert, sondern ein Vermögen, das jene sinnlichen
Erscheinungen vorher objektiv zu berechnen, zu
messen und zu wägen verstand?
Jawohl!
Aber dies ist doch nun das Geschäft des
Platon: Der Staat 621
rechnenden Verstandes und Vernunftvermögens in
unserer Seele?
Ja, freilich ist es das Geschäft nur dieses vernünftigen
Seelenvermögens.
Wenn dieses Seelenvermögen des Verstandes aber
die sinnlichen Eindrücke mit seinemMaßstabe prüft
und dann findet, daß diese oder jene Dinge größer
oder kleiner sind als diese oder jene (die die Sinne als
gleich darstellten), oder auch daß Dinge gleich sind
(die jene als verschieden ansehen), so kommen ihm
oftmals über dieselben Gegenstände zugleich mit den
Sinnenwahrnehmungen ganz widersprechende Resultate
heraus.
Ja.
Nicht wahr, nach unseren obigen Grundsätzen ist
es aber unmöglich, daß ein und dasselbe Subjekt über
dieselben Objekte entgegengesetzte Vorstellungen
hat?
Und diese Grundsätze waren richtig!
Das ohne den Maßstab logischer Prüfung Vorstellungen
gewinnende Seelenvermögen ist also nicht
identisch mit dem, das mit dem logischen Maßstabe
solche Vorstellungen gewinnt.
Gewiß nicht.
Da ist aber nun doch das demMessen und Berechnen
den Vorzug gebende Seelenvermögen das edelste?
Platon: Der Staat 622
Allerdings.
Somit gehört das mit diesem inWiderspruch stehende
zu den niedrigen Vermögen in unserer Seele.
Notwendig.
Das war es also, was ich vorhin als Behauptung
aufstellte und durch die Erörterung mit dir zur evidentenWahrheit
bringen wollte, daß nämlich die Malerei
und überhaupt die mit Nachahmung sich abgebende
Kunst nicht nur weit von der Wahrheit entfernt ihr
Wesen treibt, sondern auch nur mit einem gleichfalls
von höherer Geistestätigkeit entfernten Vermögen in
uns Verkehr hat, mit ihm buhlt und liebelt zu einem
Endzwecke, der durchaus kein solider, kein wahrer
ist.
Ganz recht, sagte er.
Als etwas Schlechtes galtet also die Nachahmungskunst
sich mit dem Schlechten unserer Seele und muß
demnach auch nur schlechte Folgen erzeugen.
Ja, offenbar.
Tut dies, fuhr ich fort, bloß die auf den Gesichtssinn
sich beziehende Nachahmungskunst oder auch
die auf das Gehör sich beziehende, die wir bekanntlich
Poesie nennen?
Wahrscheinlich, sagte er, tut’s auch diese.
Laß uns jedoch, sprach ich weiter, nicht bloß einem
von der Malerei hergeleiteten Wahrscheinlichkeitsschlusse
unseren Glauben schenken, sondern laß uns
Platon: Der Staat 623
nun auch behufs eines weiteren Beweises direkt zu
eben dem Seelenvermögen treten, mit dem das Nachahmungsgenie
in der Poesie seinen Verkehr hat, und
laß uns einen eigenen Augenschein nehmen, ob es
schlecht oder edel ist.
Ja, das müssen wir.
Laß uns dabei denn auf folgendeWeise zuWerke
gehen: Die Nachahmungspoesie ahmt, denken wir,
Menschen nach, die gezwungene oder freiwillige
Handlungen verrichten, die durch ihr Handeln entweder
glücklich oder unglücklich geworden zu sein meinen,
und die bei allen diesen Handlungen denn entweder
traurig oder lustig sind; oder sollte es außer diesen
zwei Zuständen noch irgend einen anderen geben?
Nein.
Bleibt nun ein Mensch in allen diesen Lagen in
einer harmonischen Seelenverfassung? Oder wird er
nicht hier bei den Handlungen ebenso uneinig mit
sich und kommt er dabei nicht mit sich selbst in einen
Kampf, wie er hinsichtlich des Gesichtssinnes mit
sich uneinig wurde und entgegengesetzte Vorstellungen
zugleich über dieselben Gegenstände in seinem
Inneren erhielt? Doch ich erinnere mich, wir brauchen
diesen Satz wenigstens jetzt gar nicht mehr mit einander
festzustellen; denn in unseren früheren Unterredungen
haben wir uns über alles dieses geeinigt, daß
unsere Seele zu gleicher Zeit voll tausend solcher
Platon: Der Staat 624
Widersprüche ist.
Ja, richtig, sagte er.
Ja, sagte ich, freilich ist dieser Satz richtig; aber die
Erörterung dessen, den wir damals übergangen haben,
müssen wir jetzt noch notwendigerweise nachholen.
Was für ein Satz ist denn dies? fragte er.
Daß ein vernünftiger Mann, antwortete ich, der
z.B. so ein Unglück habe, daß er einen Sohn oder
sonst etwas sehr Teueres verlöre, dies bei weitem
leichter als die übrigen Leute ertragen werde, – diesen
Satz stellten wir schon früher auf.
Ganz recht.
Hierzu müssen wir aber nun noch den Satz erwägen:
ob es ihn nämlich gar nicht schmerzen wird, oder
ob dies zwar unmöglich wäre, aber er den Schmerz
doch einigermaßen bemeistern könne?
Das letztere, sagte er, wird wohl eher das Richtige
sein.
So antworte mir jetzt zur nunmehrigen Erörterung
jenes Satzes auf folgende Fragen:Wenn er von seinesgleichen
gesehen werden kann, wird er da wohl
den Schmerz eher bekämpfen und bemeistern, als
wenn er in einer Einöde allein für sich ist?
Viel eher, erwiderte er, wenn er gesehen wird.
Ja, in der Einsamkeit wird er, denke ich, kein Bedenken
tragen, manche Klagelaute fahren zu lassen,
worüber er sich schämen würde, wenn sie jemand
Platon: Der Staat 625
hörte, und er wird auch manche Handlungen sich erlauben,
bei welchen einen Zuschauer zu haben ihm
nicht lieb wäre.
Ja, so ist’s, sagte er.
Nicht wahr, was einerseits zumWiderstande ermahnt,
ist Vernunft und Sitte, was aber zuWehklagen
zieht, ist eben der für den Schmerz empfindliche
schwache Teil unserer Seele?
Richtig.
Wenn aber in demMenschen über denselben Gegenstand
ein Zug nach entgegengesetzten Richtungen
entsteht, so müssen wohl notwendig zwei Kräfte zugleich
in ihm tätig sein.
Allerdings.
Nicht wahr, die eine ist bereit, der vernünftigen
Sitte zu folgen, wohin die Sitte ihr Anleitung gibt?
Welche Anleitung denn?
Es lehrt die Sitte wohl, es sei am schönsten, bei
Unglücksfallen möglichst ruhig sich zu verhalten und
nicht dem Ausbruche seines Schmerzes sich zu überlassen:
denn man könne ja erstlich nicht wissen, ob
ein Gut oder ein Übel mit dergleichen Zufällen verbunden
sei: zweitens komme einem etwas Ersprießliches
dabei für die Zukunft nicht heraus, wenn man sie
ungeduldig ertrage: drittens sei keiner der menschlichen
Verluste eines so großen Aufhebens wert; viertens
sei das ewige Ach undWeh dem
Platon: Der Staat 626
Geistesvermögen hinderlich, was in jenen menschlichen
Zufällen augenblicklich zur Hand sein muß.
Welchem Geistesvermögen denn hinderlich nach
deiner Meinung? fragte er.
Dem Vermögen, antwortete ich, bei einem geschehenen
Unfall mit sich vernünftig zu Rate zu gehen
und wie bei einemWürfelwurf nach dem, was liegt,
seine Maßregeln zu treffen, wie der vernünftig berechnende
Verstand nach den obwaltenden Verhältnissen
es für das beste hält, statt wie Knaben nach dem Falle
die wunde Stelle mit der Hand zu halten und immerfort
zu schreien; im Gegenteil soll man die Seele
immer gewöhnen, sobald als möglich an das Heilen
undWiedergutmachen des Falles und derWunde zu
gehen, und man soll durch die Heilkunde die Klagelieder
beschwichtigen.
Ja, sagte er, das wäre gewiß die richtigste Art, mit
welcher jemand den Unglücksfällen begegnen könnte.
Wir räumen also damit ein, daß der beste Teil in
uns dem logisch prüfenden Vernunftvermögen gerne
folgt.
Offenbar natürlich.
Der andere Teil dagegen, der zu den Erinnerungen
an den Schmerz und zumWehgeklage hinzieht und
darin unersättlich ist, – nicht wahr, den werden wir für
unvernünftig, für tat- und ratlos erklären dürfen?
Ja, das dürfen wir.
Platon: Der Staat 627
Der ungeduldig sich gebärdende Teil der Seele liefert
nun bekanntlich Stoff zu vieler und mancherlei
Nachahmung; dagegen die verständig überlegende
und ruhige Sinnesart ist, weil sie sich immer gleichbleibt,
weder leicht nachzuahmen noch durch Nachahmung
leicht begreiflich, besonders für einen Volkshaufen
und für eine bunte Menschenversammlung in
Theatern; denn es wäre die Nachbildung eines ihnen
ganz fremden Seelenzustandes.
Ja, ganz und gar.
Nun hat doch offenbar der für die Nachahmungspoesie
geschickte Dichter zu einer solchen verständig
ruhigen Gemütsart keine ursprünglich angeborene
Anlagen, und seine Kunstgeschicklichkeit kann gar
nicht das Ziel haben, derselben zu gefallen, wofern er
den Beifall bei der großen Mehrzahl davontragen
will; vielmehr hat er nur Anlagen für die zu kläglicher
und ungeduldiger Gebärdung und zu vielfacher Änderung
aufgelegte Sinnesart, weil diese leicht nachzuahmen
ist.
Offenbar.
Nicht wahr, jetzt erst können wir dem poetischen
Nachahmungsdichter mit vollständigem Grunde zu
Leibe gehen und ihn als vollkommenes Seitenstück
zumMaler hinstellen? Denn ihm ja ist jener Dichter
ganz ähnlich erstlich dadurch, daß er im Vergleich
mit der eigentlichen Wahrheit nur schlechte
Platon: Der Staat 628
Scheinerzeugnisse hervorbringt; zweitens ist er ihm
such insofern ganz gleich dadurch, daß er nur mit
einem gleichfalls schlechten Seelenvermögen in uns
verkehrt und nicht mit dem besten. Und so dürften wir
denn nun aus vollkommenen Rechtsgründen ihn nicht
in einen Staat aufnehmen, der eine vollkommene Verfassung
hat und behalten soll, weil er das niedere Seelenvermögen
weckt, nährt und durch dessen Großfütterung
das edle vernünftige verdirbt, geradeso wie
wenn einer in einem Staate die gemeinen schlechten
Kerle zu Machthabern machte, ihren Händen den
Staat überlieferte und die feingesitteteren Edlen zugrunde
richtete; auf gleicheWeise dürfen wir von dem
poetischen Nachahmungsgenie behaupten, daß es in
der Seele jedes individuellen Menschen eine schlechte
Verfassung einführt, indem es dem unvernünftigen
Teile derselben, der z.B. weder das Größere noch das
Kleinere gründlich unterscheidet, sondern dieselben
Objekte bald für groß, bald für klein ausgibt, dadurch
verführerisch zuWillen ist, daß es von ohnehin unwesenhaften
Bildern nur hohle Schattenbilder fabriziert,
die von der eigentlichen wahrenWesenheit ganz weit
entfernt sind.
Allerdings.
Des allergrößten Übels jedoch haben wir die Nachahmungspoesie
noch nicht angeklagt: Daß sie nämlich
sogar auch die anständigen Freunde der Ordnung
Platon: Der Staat 629
und Vernunft, mit Ausnahme einiger ganz wenigen,
zu verderben imstande ist, das ist das allerschrecklichste
Unheil.
Das müßte wohl sein, wenn anders sie solches verübt.
Höre nur und hilf mir jenen Satz beweisen:Wenn
die Besten von uns den Homer oder einen anderen
Dramatiker hören, wie er irgend einen trauernden und
unterWehgeklage eine lange Tirade hersagenden Helden
nachahmend darstellt, oder wie er Helden eine
Jammermusik machen und die Brust sich zerschlagen
läßt, – so weißt du ja wohl, daß wir daran unsere
Freude haben, daß wir mit gänzlicher Hingebung
ihnen mit unserem Mitgefühl folgen, daß wir ganz
ernstlich denjenigen als einen guten Dichter loben, der
uns am stärksten in solchen Gemütszustand versetzen
kann.
Ja, das weiß ich allerdings.
Wenn aber einem von uns ein eigenes Herzensleid
zustößt, so sieht dein Verstand auch wiederum ein,
daß wir in das Gegenteil unsere Ehre setzen, darin
nämlich, ruhig und standhaft sein zu können, überzeugt,
daß dies das Zeichen eines Mannes, jenes aber,
dem wir vormals unseren Beifall zollten, das Zeichen
einesWeibes ist.
Ja, sagte er, das sehe ich ein.
Kann nun, fuhr ich fort, ein solches
Platon: Der Staat 630
Beifallklatschen einem Ehre machen, wenn man beim
Anblicke eines Helden in solchem Zustande, den man
unter seiner eigenen sittlichen Würde hält und dessen
man sich schämen würde, statt des Abscheues Freude
und Lobsprüche äußert!
Nein, wirklich, sagte er, solches Beifallklatschen
kann ich nicht für vernünftig halten.
Wahrlich nicht, sprach ich, zumal wenn du die
Sache von einer weiteren Seite betrachten wolltest!
Von welcher denn?
Wenn du beherzigen wolltest, daß der niedere Teil
unserer Seele, der früher mit Gewalt niedergehalten
wurde und einen Heißhunger hatte, sich einmal recht
satt zu weinen, satt zu heulen und dran zu laben, weil
er seiner natürlichen Beschaffenheit wegen hiernach
verlangen muß, – daß er es dann gerade ist, der von
den erwähnten Dichtern seinen Hunger und seine Lust
gestillt bekommt; ferner daß, während der edelste Teil
in uns, aus Mangel an hinlänglicher geistiger Bildung,
auch aus Mangel an Erziehung, dann in seiner
Obhut über jenen klagsüchtigen Teil nicht so strenge
ist, weil dieser ja doch nur an fremden Leidensgeschichten
seinen Blick weide und es ihm selbst keine
Unehre bringe, einem anderen, seiner Äußerung nach
braven Manne, wenn er auch unangemessen trauert,
seinen Beifall und sein Mitleid zu schenken; ja, daß
der vernünftige Seelenteil daraus gar einen Gewinn zu
Platon: Der Staat 631
ziehen glaubt, nämlich das dort entstehende Vergnügen,
auf das er durch Verachtung all der Dichterei
überhaupt nicht gern verzichten würde. Denn nur wenige,
denke ich, haben die Gabe der vernünftigen
Überlegung, daß man dabei nach einem unwandelbaren
psychologischen Gesetze von den fremden tragischen
Leiden mancherlei für seine eigenen profitiert:
hat man nämlich durch das Schauen jener fremden tragischen
Fälle den Jammerseelenteil großgefüttert, so
ist es dann gar nicht leicht, diesen bei eigenen tragischen
Fällen im Zaume zu halten.
Ja, ganz richtig, sagte er.
Gilt nicht dieselbe Überlegung auch vom Komischen?
Falls du nämlich an Schwanken und Spaßen,
die selbst zu machen du dich schämen würdest, eine
gewaltige Freude hättest und sie nicht als Schlechtigkeiten
verabscheutest, wenn du sie bei einer komisch
nachahmenden Darstellung auf der öffentlichen
Bühne oder auch im Privatkreise anhörtest, – da verübst
du dieselbe Sünde an deiner Seele wie bei den
tragischen Jammerszenen: Dem niederen Seelenvermögen
nämlich, welches bei seiner Lust zu Spaßmacherei
du auch in dieser Beziehung durch die Vernunft,
aus Furcht vor dem Rufe eines Hanswurstes, in
deiner Brust niederhieltest, läßt du dann wiederum die
Zügel schießen; und hast du es dort, ohne es gewahr
zu werden, bis zur bübischen Ausgelassenheit
Platon: Der Staat 632
herangefüttert, so läßt du dich oftmals von ihm in den
eigenen Kreisen über die sittlichen Grenzen hinausreißen,
so daß du ein ganzer Komödiant wirst.
Ja, sicher, sagte er.
Und wird nicht auch von dem Geschlechtstriebe,
von der Zornmütigkeit, überhaupt von allen den begierlichen
Regungen sowohl wie von Empfindungen
von Unlust und Lust in der Seele, die bekanntlich
nach unserer Lehre bei jeder Handlung folgen, selbstverständlich
gelten, daß die Nachahmungspoesie ähnliche
nachteilige Folgen in uns hervorbringt? Denn sie
füttert und tränkt diese Triebe, statt daß sie absterben
sollen; sie macht sie zu unseren Gebietern, statt daß
sie beherrscht werden sollen, auf daß wir besser und
glücklicher statt schlechter und unglücklicher werden.
Ich kann hiergegen nichts einwenden, erwiderte er.
Wenn du daher, mein lieber Glaukon, fuhr ich fort,
wiederum auf Lobpreiser Homers triffst, die da behaupten,
daß dieser Dichter Griechenland gebildet,
daß in bezug auf Staats- und Kriegsregiment sowie
auf Unterrichtung der Menschheit man ihn in die
Hand nehmen und studieren müsse, daß man nach
diesem Dichter sein ganzes Leben einrichten und führen
müsse, – so mußt du ihnen zwar in Liebe und
Freundlichkeit begegnen, als Leuten, die so gut sind,
als sie sein können, mußt auch zugeben, daß Homer
der größte Dichter und der Fürst der Dramatiker ist:
Platon: Der Staat 633
darfst dabei aber nicht vergessen, daß von Dichtkunst
einzig nur Hymnen auf die Götter und Lobgesänge
auf die tüchtigen Männer in unseren Staat aufgenommen
werden dürfen.Wenn du dagegen jene sentimentale
Poesie, sei es in dramatischen Chören oder in epischen
Gesängen, aufnimmst, so wird nur die Empfindung
von Lust und Unlust in dem Staate das Szepter
führen, statt des herkömmlichen Gesetzes und statt
dessen, was allgemein zu allen Zeiten als das Beste
gegolten hat: statt der Vernunft!
Ja, sagte er, sehr wahr!
So weit, sagte ich, unsere Rechtfertigung in betreff
unserer abermaligen Erinnerung über die Nachahmungspoesie,
daß wir sie früher wegen ihrer erwähnten
heillosen Untugenden mit Fug und Recht aus
dem Staate verbannten; denn das objektive Sittengesetz
der Vernunft leitet unsere Überzeugung. Damit
ihr jedoch nicht einfällt, dagegen uns Philosophen der
Härte und Inhumanität anzuschuldigen, wollen wir zu
allem Überflusse dazu bemerken, daß schon von alters
her ein gewisser Streit zwischen der wahrenWissenschaft
und der Poesie besteht. Denn Beweise
davon sind die Phrasen: Es bellt gegen seinen Herrn
ein kläffender Hund; fernen ein Meister in den Windbeuteleien
von Toren; ferner: das die Gottheit meisternde
Volk der Philosophen; ferner: die fein grübelnden
Hungerleider, und noch tausend andere
Platon: Der Staat 634
zeugen von einer uralten Feindschaft beider. Dessenungeachtet
soll von unserer Seite die Erklärung gegeben
werden, daß wir die sentimentale und Nachahmungspoesie
gern mit offenen Armen wieder aufnehmen
wollen, wenn sie nur irgend einen vernünftigen
Grund angeben könnte, weshalb sie in einem
Staate von moralisch vollkommener Verfassung vorhanden
sein müßte, denn wir kennen aus Erfahrung
ihre entzückenden Reize; aber darum dürfen wir eine
gewonnene wahre Überzeugung nicht verraten, denn
es wäre eine Sünde und nicht zu verantworten. Nicht
wahr, auch du, mein Lieber, bist ein Freund der Poesie,
besonders wenn sie dir in der Person des Homer
erscheint?
Ja, sehr.
Ihr ist also das Recht eingeräumt, aus der Verbannung
wieder zurückzukehren, wenn sie sich gründlich
verteidigen können wird, sei es in einem Lied oder in
einer anderen Versart?
Jawohl.
Und dazu wollen wir auch ihren Schutzherren, sofern
sie nicht selbst Dichtergenien sein wollen, sondern
nur Dichterfreunde, die außerordentliche Erlaubnis
geben, für sie eine Verteidigungsrede, aber in verständiger
Prosa, über das Thema zu halten, wie sie
nicht bloß eine Lust, sondern auch ein Vorteil und
nützlich für Staatsverfassungen und das menschliche
Platon: Der Staat 635
Privatleben wäre. Denn unserem Staate ja käme der
Gewinn zugute, wenn sich herausstellen sollte, daß
sie nicht bloß eine Lust, sondern auch nützlich zu sein
scheint.
Ja, sagte er, allerdings wäre der Gewinn auf unserer
Seite.
Wenn sich dieser aber nicht herausstellt, dann müssen
wir es, mein lieber Freund, machen wie die, die
einmal in jemanden verliebt waren;Wie diese nämlich,
wenn sie zur Einsicht kommen, daß die Liebe
nichts taugt, zwar mit Gewalt, aber dennoch sich von
ihr losreißen, so wollen auch wir, weil uns denn von
der in gebildeten Staaten üblichen Erziehungsweise
eine Liebe für die Poesie der vorhin beschriebenen
Art eingepflanzt ist, ihr zwar wohlwollend Gelegenheit
geben, sich als eine Kunst vom edelsten und
wahrsten Gehalte zu erweisen; solange sie aber nicht
imstande ist, sich gegen die von uns vorgebrachten
Gründe völlig zu rechtfertigen, so werden wir sie
nicht anders hören, als indem wir mit dem Resultate
der hier angestellten Untersuchung und mit dieser Art
von Bannspruch uns unverwundbar gegen sie machen
und uns also wohl in acht nehmen, nicht wieder in
jene jugendlich leichtsinnige und nur dem ungebildeten
Volke eigene Liebe zu verfallen. Aus jenem Resultate
entnehmen wir aber nun, daß man auf die Poesie
der beschriebenen Art als einen Gegenstand von
Platon: Der Staat 636
wahrerWesenheit und von wirklichem Gehalte sich
nicht verlegen soll, daß vielmehr der Zuhörer, der um
die moralische Verfassung seines Inneren gewissenhaft
besorgt ist, sich vor ihr wohl in acht nehmen muß
und alle Grundsätze unverbrüchlich festzuhalten hat,
die wir über Poesie hier erörtert haben.
Ja, sagte er, ich stimme dir ganz bei.
Ja, viel, mein lieber Glaukon, sagte ich, viel steht
auf dem Spiele, viel mehr, als du glauben kannst, ob
einer sittlich gut oder schlecht ist, so daß er sich
weder durch Ehre noch durch Geld noch selbst durch
ein Königtum, geschweige denn durch Poesie hinreißen
lassen darf, die Gerechtigkeit und den übrigen
Adel der Seele zu vernachlässigen!
Ja, sagte er, ich stimme dieser deiner Ansicht infolge
unserer bisher dargestellten Gründe bei, und es
tut’s auch wohl jeder andere.
Und doch, fuhr ich fort, haben wir die größten Belohnungen
und ausgesetzten Preise der Tugend noch
nicht dargestellt!
Eine ungeheure Größe, sagte er, denkst du da,
wenn es sonst noch größere gibt als die bereits von
uns besprochenen!
Aber was, fragte ich, könnte in einer so kleinen Lebenszeit
sonderlich Großes einem zuteil werden?
Denn diese ganze Zeit von der Wiege bis zum hohen
Greisenalter ist, mit der Ewigkeit verglichen, nur eine
Platon: Der Staat 637
Spanne lang.
Ja, antwortete er, freilich gar nichts.
Was sagst du nun zu folgendem? Ein unsterbliches
Wesen, soll das wohl für eine solche Spanne Zeit oder
für die Ewigkeit gerungen haben?
Ich wenigstens, sagte er, glaube wohl letzteres;
aber was willst du mit diesem allgemeinen Satze
sagen?
Weißt du denn nicht, fragte ich weiter, daß unsere
Seele unsterblich ist und in Ewigkeit nicht vergeht?
Auf diese Frage antwortete er, mich mit sich verwunderndem
Blicke anschauend:Wahrhaftig, ich
weiß es noch nicht, – und du? Kannst du denn den Beweis
davon liefern?
Wenn ich mir nicht zu viel zutraue, sagte ich; aber
ich glaube, auch du kannst ihn liefern; denn er ist gar
nicht schwer.
Für mich doch, sagte er; drum möchte ich gar zu
gerne jenes »gar nicht Schwere« von dir hören.
Du sollst es hören, sprach ich.
So sprich nur! sagte er.
Du nennst doch, fuhr ich fort, etwas gut und etwas
schlecht?
Allerdings.
Hast du denn nun auch die Ansicht darüber, die ich
habe?
Welche denn?
Platon: Der Staat 638
Daß zerstörend und verderbend alles Übel, daß dagegen
erhaltend und wohltuend das Gute ist.
Ja, sagte er, ich habe diese Ansicht.
Weiter: Nimmst du auch folgenden Satz an? Ein
Übel gibt’s für jedes Ding sowie auch ein Gut: so z.B.
ist das Übel für Augen Augenweh, im allgemeinen für
jeden organischen Körper Krankheit, für Getreide
Brand, für Gehölz Fäulnis, für Eisen und Erz Rost,
und so gibt’s, wie gesagt, fast für alle Dinge ein ursprünglich
eigenes Übel und Leiden.
O ja, sagte er, den Satz nehme ich an.
Nicht wahr, wenn ein Übel der Art einem Dinge
sich ansetzt, so macht es das, woran es sich ansetzte,
nicht nur schadhaft, sondern bewirkt auch endlich
dessen gänzliche Auflösung und Vernichtung?
Allerdings.
Entweder das einem jeden Dinge ursprünglich eigene
Übel und Schädliche vernichtet es, oder wenn dies
es nicht vernichtet, so kann sonst nichts anderes in der
Welt es verderben. Denn einen dritten Fall gibt es
nicht: es kann ja weder das (erhaltende) Gute es vernichten
noch auch das, was weder gut noch übel ist.
Unmöglich, sagte er.
Finden wir also eines der Wesen, wofür es zwar ein
eigenes Übel gibt, das es schlecht macht, ohne es jedoch
vernichtend aufzulösen, so haben wir da den
wissenschaftlichen Beweis, daß es für einWesen
Platon: Der Staat 639
solcher Natur keine Vernichtung gibt?
Ja, sagte er, in diesem Falle offenbar.
Nun, fuhr ich fort, die Anwendung dieser allgemeinenWahrheiten
auf die menschliche Seele! Nicht
wahr, auch für sie gibt’s ein Übel, das sie schlecht
macht?
Ja, sicher, sagte er, zumal jene moralischen Übel,
die wir vorhin namentlich durchgenommen haben:
Ungerechtigkeit, sinnliche Ausschweifung, Feigherzigkeit,
Vernachlässigung des wissenschaftlichen Unterrichtes
und der Erziehung.
Kann nun eines dieser Übel die menschliche Seele
auflösen und vernichten? Vor der Antwort auf diese
Frage gib aber acht, daß wir uns nicht irreführen lassen
durch die Einbildung, daß ein ungerechter und
vernunftloser Mensch, wenn er durch Ertappung auf
einer ungerechten Handlung den physischen Tod findet,
durch die Ungerechtigkeit, als eine Schadhaftigkeit
der Seele, zugrunde gehe; du mußt vielmehr deine
Überlegung so anstellen: Den Körper reibt und zernichtet
des Körpers Schadhaftigkeit, d.h. die Krankheit,
und bringt ihn endlich dahin, daß er als Körper
nicht mehr ist, und so werden überhaupt alle vorhin
genannten Dinge von dem durch sein Anhaften und
Einwohnen verderbenden Übel zum Nichtmehrsein
gebracht; ist es nicht so?
Jawohl!
Platon: Der Staat 640
Wohlan, gib nur acht bei Anwendung desselben
Satzes auf die Seele! Vermag auf dieselbeWeise eine
in der Seele einwohnende Ungerechtigkeit oder ein
anderer Seelenschaden durch sein bloßes Einwohnen
und Anhaften sie zu verderben und ganz aufzuzehren,
bis er sie endlich zum Tode und zur Trennung vom
Körper bringt?
Nein, sagte er, das ist noch gar nicht auf irgend
eineWeise erlebt worden!
Nun ist es aber, fuhr ich fort, nach den vorigen allgemeinen
Sätzen ein logischerWiderspruch, daß die
Schadhaftigkeit eines anderen fremden Dinges ein
Etwas vernichten soll, wenn die eigene Schadhaftigkeit
dieses Etwas nicht vernichten kann.
Ja, ein logischerWiderspruch!
Ja freilich, Glaukon, sprach ich, denn du brauchst
nur zu bedenken, daß wir ebenso z.B. auch nicht
glauben, daß ein menschlicher Körper von der nur
dem Getreide eigenen Schadhaftigkeit zugrunde gehen
müsse, bestehe nun jene Schadhaftigkeit in Ungenießbarkeit
infolge Alters oder Fäulnis oder dergleichen, –
sondern wir denken vernünftigerweise dann so: Wenn
die Schadhaftigkeit des Getreides dem Körper ein unheilbares
Verderbnis beibringt, so gehe der Körper an
einer durch jenes Getreide veranlaßten eigenen Schadhaftigkeit
zugrunde, welche Krankheit heißt; daß aber
von der Schadhaftigkeit des Getreides, als der eines
Platon: Der Staat 641
anderen fremdenWesens, der davon verschiedene
menschliche Körper jemals zerstört werde, also von
einem fremden Übel, welches das eigene nicht in ihm
hervorbringen konnte, – das werden wir niemals behaupten.
Ja, sagte er, ganz vernünftig wäre deine Überlegung!
Nach derselben Schlußweise, fuhr ich fort, dürfen
wir, wenn des Körpers Schadhaftigkeit einer Seele
keine Seelenschadhaftigkeit verursachen kann, uns
auch nicht die Behauptung einfallen lassen, daß eine
Seele von einem fremden Schaden außer ihr ohne das
Dazukommen der ihr eigenen Schadhaftigkeit, d.h.
daß ein ganz verschiedenesWesen durch das Übel
eines ganz von ihm verschiedenen Dinges vernichtet
werde.
Ja, meinte er, logisch ganz richtig.
Wir müssen also die logische Unrichtigkeit dieser
Schlußweise nachweisen, oder wir dürfen, solange sie
unnachgewiesen bleibt, nicht behaupten, daß die
Seele durch ein Fieber, überhaupt durch eine Krankheit,
daß sie durch einen Schwertstreich, selbst wenn
jemand den ganzen Körper in die kleinsten Atome
zerschnitte, deshalb im geringsten vernichtet werde,
bevor nicht einer nachgewiesen haben wird, daß durch
diese körperlichen Leidenszustände sie selbst, die
Seele, ungerechter und unheiliger werde; daß aber von
Platon: Der Staat 642
einem in einem anderenWesen vorhandenen fremden
Übel, ohne daß das jedemWesen eigentümliche Übel
dareinkommt, eine Seele oder überhaupt ein anderes
Wesen vernichtet werden könne, – diese Behauptung
können wir logisch von niemandem zulassen.
Nun, sagte er, das wird doch niemand nachweisen
wollen, daß die Seelen der Sterbenden durch den Tod
z.B. ungerechter werden!
Wenn jemand aber, sprach ich weiter, dennoch unserer
Schlußweise keck ins Messer laufen und behaupten
wollte, daß ein Mensch durch das Sterben
ungerechter werde, um nämlich sich nicht gezwungen
zu sehen, die Unsterblichkeit der Seelen einräumen zu
müssen, – so werden wir, dieWahrheit jener Behauptung
einmal als wahr angenommen, hierauf für erwiesen
halten können, daß die Ungerechtigkeit für ihren
Inhaber geradeso tödlich wie eine Krankheit sei, daß
die von der Ungerechtigkeit Behafteten, je nach dem
Grade ihrer Teilnahme, früher oder später, von nichts
anderem den Tod erleiden als eben von der Ungerechtigkeit
infolge ihrer natürlichen Tötungskraft, und daß
nicht, wie bis auf diese Stunde, die Ungerechten von
einer anderen, außer ihnen befindlichen Macht, von
der der strafenden Gerechtigkeit, ihren Tod finden.
Wahrhaftig, versetzte er, nicht so ganz fürchterlich
würde die Ungerechtigkeit erscheinen, wenn sie für
den damit Behafteten tödlich sein würde; denn eine
Platon: Der Staat 643
Befreiung von bösen Menschen würde sie in diesem
Falle sein. Aber in der Wirklichkeit erscheint sie ganz
als das Gegenteil: hier vernichtet sie, die Ungerechtigkeit,
die andereWelt, wenn sie es vermag, und macht
den damit Behafteten sehr lebenskräftig, und nicht
bloß lebenskräftig, sondern auch wacker bei der
Nacht; so weit ist die Ungerechtigkeit von der Gefahr
entfernt, ihrem Inhaber tödlich zu sein!
Ganz richtig bemerkt, erwiderte ich; denn wenn die
eigne Schadhaftigkeit und Schlechtigkeit nicht mächtig
genug ist, die Seele zu vernichten, so wird offenbar
schwerlich von einem zur Vernichtung eines anderen
ganz verschiedenenWesens bestimmten Übel eine
Seele oder sonst etwas überhaupt vernichtet werden,
mit Ausnahme desWesens, zu dessen Untergang es
ursprünglich bestimmt ist.
Jawohl, schwerlich, sagte er, wie sich offenbar aus
dieser Schlußfolgerung ergibt.
Wenn sie also von gar keinem Übel in der Welt
sich vernichten läßt, weder vom eigenen in sich noch
von einem fremden außer sich, so folgt offenbar mit
unbestreitbarer Gewißheit, daß sie ein ewiges und,
wenn ewiges, unsterbliches Wesen sein müsse.
Ja, sagte er, unbestreitbar.
So weit also dieser Beweis! fuhr ich fort. Hat er
aber seine Richtigkeit, so siehst du ein, daß die Seelen
auch an Zahl ebenso viele bleiben. Denn weder
Platon: Der Staat 644
weniger können ihrer werden, wenn keine zugrunde
geht, noch mehr.Wenn nämlich die unsterblichen
Wesen irgend einer Art mehr werden könnten, so
müßte der Zuwachs offenbar aus dem Bereiche des
Sterblichen geschaffen werden, und so müßte zuletzt
alles unsterblich sein.
Richtig bemerkt.
Aber, sprach ich weiter, an das wollen wir nicht
glauben, weil es den allgemeinen Verstandesgesetzen
widerstreitet, und wollen auch nicht glauben, daß die
Seele, ihrem innersten Wesen nach betrachtet, so ein
Ding sei, in dem nichts als eine große Buntscheckigkeit
des Charakters, eine stündliche Veränderlichkeit
und Inkonsequenz stecke.
Wie meinst du das? fragte er.
Es ist nicht wohl möglich, antwortete ich, daß
etwas ewig ist, was mehrfache Bestandteile hat, ohne
daß diese in der schönsten Harmonie zu einander stehen,
wie sich es jetzt von der Seele herausgestellt hat.
Nein, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht möglich.
Daß die Seele also ein unsterbliches Wesen ist, das
beweisen unbestreitbar sowohl die hier eben als auch
die sonst darüber geführten Untersuchungen; aber was
ihr wirklichesWesen im reinsten Lichte ist, das darf
man nicht an ihr ersehen wollen nach ihrer Verunreinigung
durch die Gemeinschaft mit dem Körper sowie
durch andere verunstaltende Übel: ihr reines Wesen
Platon: Der Staat 645
läßt sich vielmehr nur völlig durch das Auge des vernünftig
forschenden Verstandes erschauen; und mit
diesem Auge wird man ihrWesen viel schöner erblicken,
wird man Gerechtigkeiten und Ungerechtigkeiten,
überhaupt alle vorhin erörterten Tugenden und
Untugenden, klarer in die Augen springend finden.
Die jetzt hier über ihrWesen vorgetragenenWahrheiten
aber stehen im Verhältnisse zu dem Zustande, in
dem sie gegenwärtig auf Erden sich zu erkennen gibt;
wir haben sie jedoch nur in einem Zustande geschaut
wie die, welche den Meergott Glaukos sehen: Nicht
leicht können diese nämlich seines ursprünglichen
Wesens ansichtig werden, weil seine ursprünglichen
Gliedmaßen teils zerschlagen, teils zerstoßen und von
denWellen auf allerlei Weise verunstaltet, teils auch,
weil sie mit anderen, fremden Körpern, wie z.B. mit
Muscheln, Seemoos und Gestein bewachsen sind, so
daß er eher jedemMeerungeheuer gleicht als seiner
ursprünglichen natürlichen Gestalt. Einen solchen von
tausenderlei beschädigenden und verunstaltenden
Übeln herbeigeführten Zustand bietet auch die Seele
hier unserer Betrachtung dar; darum, mein Glaukon,
muß man dahin die Blicke richten!
Wohin? fragte er.
Nach ihrer Wißbegierde, und hier beachte die Objekte
ihres Verlangens und die Qualität ihres geistigen
Verkehrs: dann nimm davon ab, wie sie mit dem
Platon: Der Staat 646
Göttlichen, Unsterblichen und ewigWesenhaften verwandt
ist, und was sie erst werden könnte, wenn sie
einmal jenem Göttlichen usw. mit ungeteilter Kraft
folgt, wenn sie mittels solchen Schwunges aus der
Meerestiefe, worin sie sich jetzt befindet, erhoben und
das Gestein und Muschelwerk von sich abgestoßen
hat, mit dem sie jetzt, weil sie sich nur mir Irdischem
nährt, erdig und steinig ringsum bunt und wild bewachsen
ist, und zwar infolge jener von der Welt als
Glückseligkeit gepriesenen irdischen Genüsse. Und
dann erst würde man ihr wahres ursprüngliches
Wesen sehen können, ob sie vielgestaltig, ob sie eingestaltig,
ob sie so oder so beschaffen ist. Für jetzt
aber haben wir, denke ich wenigstens, ihre im irdischen
Menschenleben sich zu erkennen gebenden Zustände
und Formen gründlich genug dargestellt.
Ja, sagte er, allerdings.
Nicht wahr, sprach ich weiter, hier bei der Beantwortung
unserer zweiten Hauptfrage haben wir uns
überhaupt aller äußeren Rücksichten entledigt, insbesondere
haben wir nicht die baren Belohnungen, nicht
die äußeren Anerkennungen derWelt bei Gerechtigkeit
in Anschlag gebracht, wie dies nach eurer Bemerkung
Homer und Hesiod bei ihren Lobgesängen auf
diese getan haben; sondern wir haben bei der Gerechtigkeit
an und für sich, ohne alle Rücksicht auf Belohnung,
gefunden, daß sie für den Hauptteil des
Platon: Der Staat 647
Menschen, die Seele, das Beste sei, daß sie gerecht
handeln müsse, mag sie nun den Gygesring haben
oder nicht, und zu solchem Ringe noch den Helm des
Pluton dazu!
Sehr wahr bemerkt, sagte er.
Würde es denn also, fragte ich, mein lieber Glaukon,
nunmehr ohne alle Besorgnis einer Verunglimpfung
gegen die Gerechtigkeit und die übrige Geistestüchtigkeit
geschehen können, daß man ihr zu jenen
Vorteilen, die sie an sich hat, noch als Zulage die
ganze Summe und Qualität aller jener baren Belohnungen
wieder zustellte, die sie der Seele von seilen
der Menschen wie der Götter nicht nur im Leben des
Menschen hiernieden, sondern auch nach dessen Ende
darbietet?
Ja, sagte er, allerdings können wir das.
Werdet ihr mir also die Tugendpreise jetzt wieder
zurückgeben, die ihr während der Beantwortung der
zwei Streitfragen über dasWesen und die absolute
Vorzüglichkeit der Tugend euch als Vorsprung hattet
geben lassen?
Was war denn das doch?
Ich habe euch dabei den Vorsprung gegeben, daß
der Gerechte das Ansehen eines Ungerechten und der
Ungerechte das Ansehen eines Gerechten haben solle.
Denn ihr wäret der verständigen Ansicht, daß man,
wenn auch diese Verhältnisse Göttern und Menschen
Platon: Der Staat 648
nicht verborgen bleiben könnten, doch der streng wissenschaftlichen
Untersuchung wegen diese vorläufige
Annahme einräumen müsse, damit das reine Wesen
der Gerechtigkeit, ohne Rücksicht auf Belohnung, im
Vergleiche zum reinen Wesen der Ungerechtigkeit,
ohne Rücksicht auf Strafe, sich endgültig beurteilen
lasse; oder erinnerst du dich nicht mehr?
Es wäre von mir sehr unrecht, bemerkte er, wenn
ich mich dessen nicht mehr erinnerte.
Nachdem nun diese endgültigen Urteile vorliegen,
fuhr ich fort, so mache ich im Namen der Gerechtigkeit
die Rückforderung, daß die wohltätigen Anerkennungen,
die von selten der Götter und Menschen für
sie wirklich statthaben, auch von uns als wirklich vorhanden
zugegeben werden, damit sie auch jene Siegespreise
davontrage, die sie von ihrem äußeren Ansehen
erwirbt und unter ihre Anhänger verteilt, nachdem
sie ausgemachterweise auch die von ihrem inneren
reinen Sein undWesen entspringenden geistigen
Güter verteilt und noch nicht diejenigen getäuscht hat,
die sie im Geist und in derWahrheit angeeignet
haben.
Ja, sagte er, gerecht sind deine Forderungen.
Da werdet ihr mir nun, sprach ich, erstlich dies zurückgeben,
daß der Gottheit gewiß nicht verborgen
bleibt, welchen Charakter jeder von beiden hat?
Ja, sagte er, das wollen wir.
Platon: Der Staat 649
Bleiben sie aber nicht verborgen, so muß der eine
Gott lieb, der andere Gott verhaßt sein, wie wir auch
im Anfange einräumten.
Es ist so.
Werden wir hierauf hinsichtlich des von Gott geliebten
Gerechten nicht weiter zugeben müssen, daß
alle von Gottes Hand kommenden Schickungen ihm
allemal als die möglichst besten zuteil werden, mit
Ausnahme des Falles, daß ihm von einem früheren
Vergehen eine nach der moralischenWeltordnung unabwendbare
Büßung bevorstand?
Jawohl.
Es ist also bei dem gerechten Manne, wenn er in
Armut, Krankheit oder in einem anderen scheinbaren
Übel sich befindet, anzunehmen, daß ihm diese
scheinbaren Übel endlich doch zu irgend einem Gut
ausschlagen werden, in diesem Leben oder nach dem
Tode. Denn offenbar wird von der Gottheit der nicht
verlassen, wer sich eifrig bemühen will, gerecht zu
werden und durch Übung der Tugend Gott ähnlich zu
weiden, soweit es einemMenschen möglich ist.
Ja, sagte er, sicherlich wird ein solcher Mann Gottes
von seinesgleichen nicht verlassen.
Nicht wahr, von dem Ungerechten müssen wir das
Gegenteil von allem dem denken?
Ja, durchaus!
Dieses wären denn einmal die von Seiten der
Platon: Der Staat 650
Gottheit dem Gerechten zukommenden äußeren Siegespreise.
Ja, das sind sie, meines Bedünkens wenigstens,
sagte er.
Wie steht es nun, fuhr ich fort, zweitens mit denen
von menschlicher Seite? Wenn man in dieser Beziehung
das eigentlich wahre Verhältnis ausdrücken soll,
spricht sich das nicht in folgendem Gleichrusse aus?
Geht es nicht den Meistern in der Ungerechtigkeit einerseits
wie allen denWettläufern, die in der Rennbahn
hinunter gut laufen, herauf aber nicht? Zuerst
bei ihrem Auslaufe geht es frisch und munter; aber am
Ende werden sie ein Gegenstand des Spottgelächters,
wenn sie die Ohren bis auf die Achseln hängen lassen
und ohne Siegeskranz davoneilen; die wahren Laufkünstler
dagegen gelangen an das bestimmte Ziel,
empfangen ihre Siegespreise und werden bekränzt. Ist
das nun nicht auch bei den Gerechten meist der Fall?
Am Ende eines jeden Geschäftes, eines jeden menschlichen
Verhältnisses sowie am Ende des Lebens gewinnen
sie das Ansehen in den Augen derWelt und
bekommen auch von Seiten der Menschen die Preise
der Tugend.
Ja, das ist sicher meist der Fall.
Wirst du nun nichts dagegen haben, wenn ich von
solchen Gerechten da behaupte, was du deinerseits
von den Ungerechten behauptetest? Denn ich werde
Platon: Der Staat 651
doch nun behaupten dürfen, daß die Gerechten, wenn
sie älter geworden sind, in ihrem Staate die Ämter
haben, wenn sie wollen, daß sie aus einer Familie heiraten,
aus welcher sie wollen, daß sie ihre Töchter
verehelichen, an wen sie wollen, und überhaupt alle
äußeren Vorteile, die du von deinen Ungerechten behauptest,
behaupte ich nun von meinen Gerechten.
Und andererseits werde ich doch auch von Ungerechten
sagen dürfen, daß die meisten von ihnen, wenn sie
auch in den früheren Jahren unentlarvt bleiben sollten,
am Ende ihrer Laufbahn erwischt und zuschanden
werden; daß sie im späteren Alter im Elende leben;
daß sie von Mitbürgern wie Fremdlingen bittere Mißhandlungen,
Peitschenhiebe und alles andere erleiden,
dessen Aufzählung nach deiner Aussage allerdings
etwas plump lautet: alle diese Qualen denke auch von
mir aufgezählt gehört zu haben, in der Überzeugung,
daß sie den Ungerechten widerfahren; aber sieh zu, ob
du nicht gegen diese meine Behauptung noch etwas
einzuwenden hast!
Gar nichts, sagte er; denn deine Behauptungen sind
gerecht.
Das wären also, fuhr ich fort, die äußeren Preise,
Belohnungen und Geschenke, die dem Gerechten
schon in diesem Leben auf Erden von Göttern und
Menschen außer jenen inneren Gütern zuteil werden,
die die Gerechtigkeit an sich schon gewährt.
Platon: Der Staat 652
Ja, sagte er, herrliche und sichere Belohnungen!
Diese hier erwähnten Resultate, sprach ich weiter,
sind nun doch nichts, weder an Menge noch an
Größe, im Vergleich mit jenen, die beide (den Gerechten
und den Ungerechten, Tilgend und Laster)
nach dem Tode erwarten. Aber diese letzteren Folgen
nach dem Tode muß man auch noch hören, damit
jeder von beiden seine vollständige Auszahlung von
dem erhält, was unsere Untersuchung ihm zu verkünden
schuldig ist.
O rücke doch damit heraus! sagte er. Denn keine
anderen Dinge in der Welt würde ich lieber hören!
Ich werde jedoch, sagte ich, keine Erzählung eines
Freundes von Mären, wie Alkinoos einer war, sondern
eines Mannes von Ehren berichten, von Er, dem
Sohne des Armenios, eines Pamphyliers von Geburt.
Dieser war einst in einer Kriegsschlacht gefallen, und
als nach zehn Tagen die Leichname bereits verwest
aufgehoben wurden, ward er noch unversehrt gefunden;
nach Hause gebracht, lebte er im Augenblicke
seiner Bestattung am zwölften Tage auf dem Scheiterhaufen
wieder auf, und nach seinemWiederaufleben
erzählte er die Dinge, die er im Jenseits gesellen habe.
Er sprach aber wie folgt: Nachdem seine Seele aus
ihm gefahren, sei er mit vielen anderen gewandelt,
und sie seien an einen wunderbaren Ort gekommen,
wo in der Erde zwei nahe an einander stoßende
Platon: Der Staat 653
Öffnungen gewesen seien, und am Himmel gleichfalls
oberhalb zwei andere ihnen gegenüber. Zwischen diesen
Öffnungen seien nun Richter gesessen: diese hätten
allemal, nachdem sie ihren Urteilsspruch getan,
den Gerechten befohlen, denWeg rechts und durch
den Himmel zu wandern, nachdem sie ihnen zuvor
vorn ein Zeichen von beurteilten Taten angehängt; die
Ungerechten aber hätten sie nach der Öffnung zur linken
Hand, und zwar nach unten (unter die Erde), verwiesen,
und auch diese hätten ihre Zeichen, aber hinten,
anhängen gehabt über alles das, was sie verübt
hätten. Als nun auch er vorgekommen sei, hätten sie
ihm bekannt gemacht, er müsse den Menschen ein
Verkündiger des Jenseits werden, und sie hätten ihn
aufgefordert, alles an diesem Orte zu hören und zu
schauen. Da habe er denn nun gesehen, wie nach der
einen Öffnung in dem Himmel (rechter Hand) und
nach der andern in der Erde (linker Hand) die Seelen
abgegangen seien, nachdem sie jedesmal ihren Urteilsspruch
vernommen hätten; aus den beiden anderen
neben jenen beiden seien aus der in der Erde Seelen
hervorgekommen voll Schmutz und Staub, aus der
im Himmel dagegen seien andere, von jenen verschiedene,
reine Seelen herabgestiegen. Und die jedesmal
ankommenden Seelen hätten den Anschein gehabt, als
kämen sie von einer langenWanderung, wären sehr
vergnügt auf der bekanntenWiese angelangt und
Platon: Der Staat 654
hätten wie zu einer festlichen Versammlung sich hingelagert.
Die mit einander Bekannten hätten sich gegenseitig
begrüßt, und die aus der Erde Angekommenen
hätten bei den andern sich um die Verhältnisse
des Jenseits erkundigt, und die aus dem Himmel
Kommenden hätten jene gefragt, wie es bei ihnen herginge.
Da hätten sie nun einander erzählt, die einen
klagend und weinend, indem sie sich erinnerten, wie
große und was für Leiden und Anblicke sie auf der
Wanderung unter der Erde gehabt hätten (dieWanderung
dauere nämlich tausend Jahre); die anderen dagegen
aus dem Himmel hätten von ihremWohlergehen
erzählt und von dem unbeschreiblich Schönen, das sie
geschaut hätten. Die vielen Dinge nun, o Glaukon, die
er gesehen, ausführlich zu erzählen, erforderte eine
lange Zeit; die Hauptsache aber, jagte er, sei dies: Für
alle Ungerechtigkeiten, die nur jeder einzelne an
einem verübt gehabt, dafür habe er wegen jeder einzelnen
eine besondere Strafe bekommen, nämlich
wegen eines jeden Vergehens eine zehnfache (d.h.
jede einzelne Strafe dauert hundert Jahre, weil dies
das Maß des menschlichen Lebens sei), so daß man
für eine ungerechte Handlung eine zehnfache Strafe
entgelte. So hätten diejenigen, die dadurch, daß sie
Städte oder Heere verraten und in Knechtschaft gestürzt
oder sonst ein großes Unglück mit angefangen
hatten, eines mehrfachen Todes schuldig waren, für
Platon: Der Staat 655
jede einzelne aller dieser Taten zehnfache Peinen bekommen;
und waren sie andererseits Urheber einiger
Wohltaten, auch gerecht und fromm, so empfingen sie
auch dafür ihren Preis nach demselben Maßstabe. In
bezug auf die, welche, sobald sie geboren waren,
nicht lange lebten, erzählte er auch mancherlei, was
aber hier der Erwähnung nicht wert ist. Für Ruchlosigkeit
und Ehrfurcht gegen Götter und Eltern sowie
für eigenhändigen Mord gibt es seiner Erzählung nach
eine Vergeltung in größeremMaßstabe. So stand er
nämlich, wie et sagte, neben einem anderen, der von
einem anderen gefragt wurde, wo Ardiaios der Große
sei. Dieser Ardiaios aber war in einer Stadt Pamphyliens
schon damals vor tausend Jahren Tyrann gewesen,
hatte seinen greisen Vater und seinen älteren Bruder
ermordet und natürlich auch noch viele andere Freveltaten
verübt, wie die Sage ging. Jener Gefragte nun,
wie er sagte, habe geantwortet: »Er ist nicht hierher
gekommen«, habe er gesagt, »und wird auch wohl gar
nicht hierher kommen. Denn wir sahen unter anderen
schrecklichen Schauspielen auch dieses: Nachdem wir
nahe bei der Öffnung und im Begriffe waren, nach
Ausstehung aller übrigen Leiden, herauszutreten, da
erblickten wir jenen Ardiaios auf einmal nebst vielen
anderen, meistenteils Tyrannen: es waren nämlich
darunter auch solche, die nichts mit dem Staate zu tun
gehabt, aber zu den größten Verbrechern gehörten.
Platon: Der Staat 656
Als diese meinten, daß sie nun heraussteigen könnten,
da gestattete es die Öffnung nicht, sondern ließ jedesmal
ein Gebrüll hören, wenn einer von diesen in ihrer
Seelenverderbnis Unheilbaren oder einer, der noch
nicht hinlänglich gebüßt hatte, herauszutreten wagen
wollte. Da waren nun«, sagte er, »gleich wilde und
feurig aussehende Männer bei der Hand, die jenen
Laut verstanden, einige ergriffen und wegführten; dem
Ardiaios aber und andern banden sie Hände, Füße
und Kopf zusammen, warfen sie nieder, schunden sie
recht, schleiften sie hernach aus demWege und marterten
sie auf Dornhecken herum; dabei deuteten sie
den jedesmal Vorbeigehenden an, weswegen sie dies
erlitten, und daß sie abgeführt würden, um in den Tartaros
geworfen zu werden.« Und so sei denn, sagte er,
unter vielen und allerlei ihnen widerfahrenen Furchtbarkeiten
am größten gewesen jene Furcht, es möchte
in dem Augenblicke, da man herausstiege, jenes Gebrüll
entstehen, und mit der größten Freude sei ein
jeder, wenn es geschwiegen habe, herausgetreten.
Die Strafen und Büßungen seien also denn etwa
von der erwähnten Art gewesen; die ihnen andererseits
gegenüberstehenden Belohnungen beständen in
folgenden: Nachdem nämlich die jedesmal Ankommenden
auf jenerWiese sieben Tage zugebracht, hätten
sie sich an dem achten aufmachen und von hier an
weiterwandern müssen, und da wären sie dann am
Platon: Der Staat 657
vierten Tage in eine Region gekommen, wo man von
oben herab einen durch den ganzen Himmelsraum
über die Erde hin ausgebreiteten geraden Lichtstrom
gesehen habe, wie eine Säule, ganz dem Regenbogen
vergleichbar, aber heller und reiner. Nach einer Tagreise
wären sie nun da hineingekommen und hätten
dort mitten in jenem Lichte gesehen, wie die äußersten
Enden der Himmelsbänder am Himmel angebracht
seien; denn nichts anderes als jener Lichtstreif
sei das Land des Himmelsgewölbes, wie etwa die verbindenden
Querbänke an den Dreiruderern, und halte
so den ganzen Himmelskreis zusammen; an jenen
Enden aber sei die Spindel der Notwendigkeit angebracht,
durch welche Spindel alle möglichen Sphären
bewegt würden; daran seien nun Stange und Haken
aus Stahl, der Wirtel aber habe aus einer Mischung
von Stahl und anderen Metallarten bestanden. Die Beschaffenheit
diesesWirtels sei nun folgende gewesen:
Die äußere Gestalt sei so gewesen, wie sie der Wirtel
bei uns hat; man muß sich jedoch seiner Erzählung
nach ihn so vorstellen, als wenn in einem großen und
durch und durch ausgehöhltenWirtel ein anderer eben
solcher kleinerer eingepaßt wäre, so wie man Gefäße
hat, die in einander passen; und auf dieselbeWeise
muß man sich noch einen anderen dritten, vierten und
noch vierWirtel ineinander gepaßt denken. Denn acht
Wirtel seien es insgesamt, die ineinander lägen und
Platon: Der Staat 658
ihre Ränder von oben her als Kreise zeigten und um
die Stange nur eine zusammenhängende Oberfläche
eines einzigenWirtels darstellten; jene Stange sei
aber durch den achten mitten ganz durchgezogen. So
habe nun der erste und äußerste Wirtel den breitesten
Randkreis, der sechste den zweiten, den dritten der
vierte, den vierten der achte, den fünften der siebente,
den sechsten der fünfte, den siebenten der dritte, den
achten der zweite. Der des größtenWirtels sei nun
buntfarbig, der des siebenten am glänzendsten, der
des achten erhalte seine Farbe von der Beleuchtung
des siebenten, der des zweiten und fünften seien einander
sehr ähnlich und zwar gelblicher als jene, der
dritte habe die weißeste färbe, der vierte sei rötlich,
der zweite aber übertreffe anWeiße den sechsten.
Wenn nun so die ganze Spindel sich herumdrehe, so
kreise sie zwar in demselben Schwünge; während des
Umschwunges des Ganzen aber bewegten sich die
sieben inneren Kreise langsamer, in einem dem Ganzen
entgegengesetzten Schwünge. Am schnellsten von
ihnen gehe aber der achte; den zweiten Rang der
Schnelligkeit hätten zugleich mit einander der siebente,
sechste und fünfte; den dritten im Umschwünge,
wie es ihnen geschienen, habe der vierte Kreis gehabt;
den vierten der dritte, und den fünften der zweite. Gedreht
aber werde die Spindel zwischen den Knieen der
Notwendigkeit. Auf ihren Kreisen aber säßen oben
Platon: Der Staat 659
auf jeglichem eine sich mit umschwingende Sirene,
welche eine Stimme, jedesmal einen zum Ganzen verhältnismäßigen
Ton, hören läßt: aus allen acht insgesamt
aber erschalle eine Harmonie. Rings aber säßen
drei andere Gestalten in gleicher Entfernung von einander,
eine jede auf einem Throne, nämlich die Töchter
der Notwendigkeit, die Parzen, in weißen Gewändern
und mit Kränzen auf dem Haupte: Lachesis, Klotho
und Atropos, und sängen zu der Harmonie der Sirenen;
Lachesis besänge die Vergangenheit, Klotho
die Gegenwart, Atropos die Zukunft. Und Klotho berühre
von Zeit zu Zeit mit ihrer rechten Hand den äußeren
Umkreis der Spindel und drehe sie mit, Atropos
ebenso die inneren Umkreise mit der linken, Lachesis
aber berühre abwechselnd die inneren und äußeren
mit beiden Händen.
Sie hätten nun, nachdem sie angekommen seien,
alsbald sich zur Lachesis begeben. Da habe eine Art
von Prophet sie in eine Reihe gestellt; er habe hierauf
aus dem Schoße der Lachesis Lose und Lebensmuster
genommen, sei damit auf eine hohe Bühne gestiegen
und habe da also geredet: »Es spricht die Jungfrau
Lachesis, die Tochter der Notwendigkeit: Eintägige
Seelen! Es beginnt mit euch eine andere Periode eines
sterblichen und todbringenden Geschlechts; nicht
euch erlost das Lebensverhängnis, sondern ihr wählt
euch das Geschick. Sobald einer gelost hat, so wähle
Platon: Der Staat 660
er sich eine Lebensbahn, womit er nach dem Gesetze
der Notwendigkeit vermählt bleiben wird. Die Tugend
ist aber unabhängig von jedem Herrn: von ihr erhält
ein jeder mehr oder weniger, je nachdem er sie in
Ehren hält oder vernachlässigt. Die Schuld liegt an
dem, der gewählt hat. Gott ist daran schuldlos.« Auf
dieseWorte habe er die Lose auf sie hin geworfen.
Ein jeder habe nun das neben ihm liegende Los aufgehoben,
nur er selbst nicht; ihm habe er es nicht gestattet.
Wer es aber aufgehoben habe, dem sei klar gewesen,
die wievielste Stelle er bekommen habe. Hierauf
habe er sogleich die Muster der Lebensweisen vor sie
auf den Boden gestellt in weit größerer Anzahl als die
der Anwesenden. Da hätte es denn allerlei gegeben:
Lebensweisen von allen Tieren und auch, versteht
sich, alle menschlichen. Darunter hätten sich nun unumschränkte
Tyrannenherrschaften befunden, zum
Teil lebenslängliche, zum Teil auch solche, die mitten
im Leben verloren gehen und mit Armut, Verbannung
und mit dem Bettelstab endigen. Auch hätten sich
darunter befunden Lebensweisen von wohlangesehenen
Männern teils durch Gestalt, Schönheit und außerdem
durch körperliche Stärke und Kampftüchtigkeit,
teils ihrer Geburt und der Vorzüge ihrer Ahnen
wegen; ferner ebenfalls Lebensweisen solcher, die in
den genannten Rücksichten unansehnlich waren, und
ebenso habe es sich mit denWeibern verhalten. Eine
Platon: Der Staat 661
Seelenrangordnung habe aber nicht dabei stattgefunden,
weil es eine unbedingte Notwendigkeit ist, daß
eine Seele, welche eine andere Lebensweise wählt,
auch eine andere wird. Im übrigen seien die Lebensweisen
durcheinander gemischt und teils mit Reichtum
oder Armut, teils mit Krankheit, teils mit Gesundheit
verbunden; manche lägen auch zwischen den
genannten Zuständen in der Mitte. Hier ist nun offenbar,
mein lieber Glaukon, für den Menschen die allergrößte
Gefahr. Und deshalb muß man besonders dafür
sorgen, daß jeder von uns mit Hintansetzung aller anderen
Wissenschaften nach jener besonders trachte
und forsche, wodurch er zu erfahren und zu finden imstande
ist, wer ihm die Geschicklichkeit und dieWissenschaft
beibringen könnte, eine gute und schlechte
Lebensweise zu unterscheiden und aus den jedesmal
wählbaren überall die bessere herauszuwählen, dabei
auch wohl in Anschlag zu bringen alle unsere obigen
Lehren, gegenseitige Vergleichungen und Bestimmungen
in bezug auf die vorzügliche Lebensweise; ferner
zu wissen, was Schönheit, mit Armut oder Reichtum
gemischt, tut, und bei welcher Beschaffenheit der
Seele sie Gutes oder Schlimmes bewirkt; was ingleichen
edle Geburt und niedere Abkunft, was stille Zurückgezogenheit
und Staatsbeamtenstand, was körperliche
Kraft und Schwäche, was Gelehrtheit und
Ungelehrtheit, was fürWirkungen überhaupt
Platon: Der Staat 662
dergleichen ursprüngliche Eigentümlichkeiten der
Seele und ihre dazu erworbenen Eigenheiten tun,
wenn sie mit einander vermischt werden. Und so kann
man erst nach Erwägung aller dieser Umstände imstande
sein, mit Berücksichtigung der eigentlichen
Natur der Seele bei seiner Wahl die schlechtere und
bessere Lebensweise zu unterscheiden und dabei diejenige
einerseits die schlechtere zu nennen, welche die
Seele dahin bringt, daß sie ungerechter wird, die bessere
andererseits diejenige, die sie immer mehr gerecht
macht. Um alles übrige wird man dabei sein
Herz unbekümmert lassen; denn wir haben gesehen,
daß dies sowohl für das Leben als auch nach dem
Tode die beste Wahl ist. Darum muß man eisenfest an
dieser Meinung hängen, bis man in die andereWelt
kommt, und darf auch dort von Reichtum und dergleichen
Übeln nicht sich erschüttern lassen; ingleichen
muß man auch auf seiner Hut sein, daß man nicht auf
Tyrannenherrschaften und sonstige Geschäfte der Art
verfällt und dadurch viele unheilbare Übel verübt,
sich selbst aber eben dadurch noch weit größere zuzieht.
Man verstehe vielmehr in Beziehung auf jene
Lebensbeschäftigung die mittlere Laufbahn zu wählen
und sowohl in diesem Leben hier als in dem ewigen
der Zukunft die Extreme an beiden Seiten nach Kräften
zu vermeiden; denn so wird ein Mensch am glücklichsten.
Platon: Der Staat 663
Und so habe denn auch damals, lautet die Botschaft
aus jenerWelt, jener Prophet sich ausgedrückt:
»Auch den, der zuletzt hinzutritt, aber mit Vernunft
wählt und mit Anstrengung aller Kräfte der Tugend
lebt, erwartet ein Leben, mit dem er zufrieden sein
kann, und das nicht schlecht ist. Darum sei weder der
erste bei derWahl unachtsam, noch lasse der letzte
seinen Mut sinken!« Auf dieseWorte habe der, sagte
er, welcher zuerst gelost habe, in großer Hast sich die
größte Tyrannenherrschaft gewählt; mit Unverstand
und ehrsüchtigem Heißhunger sei er bei seiner Wahl
verfahren, nicht mit reiflicher Erwägung aller obwaltenden
Umstände, und darum habe er übersehen das
damit unzertrennliche Geschick, das Essen seiner eigenen
Kinder und sonstiges Unheil. Nachdem er aber
mit der Zeit seineWahl reiflicher überlegt hätte, da
habe er sich darüber die Haare gerauft und gejammert
und nicht die Vorerinnerung des Propheten bedacht;
denn er habe von seinem Unheil nicht sich die Schuld
gegeben, sondern dem Schicksale, den Göttern und
eher allem in der Welt als sich selbst. Er sei aber
einer von denen gewesen, die aus dem Himmel gekommen,
habe in einer geregelten Verfassung sein erstes
Leben vollbracht und sei tugendhaft nur durch
Gewöhnung, nicht durch wahreWissenschaft (Philosophie)
gewesen. Man könne daher behaupten, daß
die aus dem Himmel Kommenden gar nicht die
Platon: Der Staat 664
geringste Zahl seien, die durch dergleichen Dinge geangelt
würden, weil sie in Mühseligkeiten unerfahren
wären, während die meisten aus der Erde Anlangenden
nicht so hastig ihreWahlen machten, weil sie sowohl
an ihrer eigenen Person als auch durch Beobachtung
anderer Erfahrung von Leiden und Mühseligkeiten
haben. Daher denn, und auch vom Zufall des
Loses, die meisten Seelen einenWechsel von
Schlechtem und Gutem erführen. Sonst könnte jemand,
wenn er jedesmal, sooft er in dieses Leben
käme, sich mit Ernst derWahrheit befleißigte, und
wenn ihm dann das Los zur Wahl nicht unter den letzten
falle, nach den Ankündigungen jenerWelt ziemlich
gewiß sein, daß er nicht nur hienieden glücklich
sein, sondern daß er auch seine Wanderung aus dieser
in jeneWelt und aus der dortigen in diese wiederum
zurück auf keinem unterirdischen und rauhen, sondern
auf einem glatten und himmlischenWege machen
würde. Dieses Schauspiel nämlich, sagte er, sei sehenswert
gewesen, wie jede Seele sich ihre Lebensweise
gewählt habe; denn der Anblick habe Mitleid,
Lachen und Bewunderung erregt. Meist hätten sie
nach der Gewohnheit ihres früheren Lebens ihreWahl
getroffen. So hätte man z.B. die einst dem Orpheus
gewesene Seele das Leben eines Schwanes wählen
sehen, indem sie aus Haß gegen das weibliche Geschlecht
wegen des von ihm erlittenen Todes von
Platon: Der Staat 665
keinemWeibe habe wollen geboren werden; die des
Thamyris hätte man das einer Nachtigall wählen
sehen. So habe man dagegen von einem Schwan gesehen,
daß er sich durch dieWahl eines Menschenlebens
umgestaltet habe, und noch andere sangreiche
Vögel, wie natürlich. Die zwanzigste Seele habe sich
das Leben eines Löwen gewählt: und dies sei die des
Telamoniers Aias gewesen, welche sich durchaus gesträubt
habe, wieder ein Mensch zu werden, weil sie
noch immer an dasWaffengericht gedacht habe. Hierauf
sei die Seele Agamemnons herangekommen: auch
diese habe aus Haß gegen das Menschengeschlecht
wegen der von ihm erfahrenen Leiden das Leben eines
Adlers eingetauscht. In der Mitte der Losenden sei
Atalante gewesen, und da sie große Ehren eines
kampfverständigen Mannes gesehen, habe sie nicht
dabei vorübergehen können, sondern habe dieses Los
genommen. Nach dieser habe man die Seele des Epeios
von Panope in die Gestalt einer ränkevollen Frau
übergehen sehen.Weit unter den letzten hätte man
den Possenreißer Thersites erblickt, während er die
Natur eines Affen annahm. Aus Zufall sei die Seele
des Odysseus die letzte bei der Losung gewesen und
wäre nun auch herangetreten, um zu wählen: im Andenken
an die früherenMühen und Gefahren sei sie
von allem Ehrgeize ledig gewesen, sei lange herumgegangen
und habe nach dem Leben eines von
Platon: Der Staat 666
Staatsgeschäften entfernten Privatmannes gesucht; mit
Mühe habe sie es endlich gefunden, wo es von allen
übrigen verachtet gelegen habe, und sie habe bei dessen
Anblick gesagt, daß sie ebenso bei ihrer Wahl
verfahren wäre, wenn sie auch als erste zu losen gehabt
hätte, und habe es darauf mit großer Freude zu
sich genommen. Gleichermaßen seien außerdem auch
Tiere in Menschen übergegangen, und auch eine Gattung
in die andere: die unbändigen in wilde und die zu
bändigenden in zahme, und so seien überall Verwandlungen
vorgegangen.
Nachdem nun alle Seelen so ihre Lebensweisen gewählt
hatten, so seien sie in der Ordnung, wie sie gelost
hätten, zur Lachesis geschritten; jene habe nun
einem jeden den Genius der von ihm erwählten Lebensweise
zum Beschützer seines Lebens und zum
Vollstrecker seiner Wahl mitgeschickt. Dieser Genius
habe nun seine Seele zunächst zur Klotho gebracht
und unter ihre denWirbel der Spindel treibende Hand
geführt, um das Geschick, welches jene gelost, zu befestigen.
Nachdem er diese berührt hatte, habe er
seine Seele alsbald zur Spinnerei der Atropos geführt,
um ihren angesponnenen Faden unveränderlich zu
machen. Von hier sei er nun stracks unter den Thron
der Notwendigkeit getreten. Und als er nach dem Vorgange
der übrigen durch diesen hindurchgegangen
wäre, seien sie sämtlich durch furchtbare Hitze und
Platon: Der Staat 667
Stickluft hindurch auf das Feld der Vergessenheit gekommen.
Da sei nun nichts von Bäumen und allem
dem gewesen, was die Erde trägt. Hier hätten sie sich
nun nach schon angebrochenem Abend an dem Flusse
Sorgenlos gelagert, dessenWasser kein Gefäß zu halten
vermöge. Notwendig müßten nun freilich alle ein
gewisses Maß von diesemWasser trinken; die aber
durch Vernunft sich nicht wahren ließen, tränken über
jenes Maß, und wer immerfort davon tränke, der vergesse
alles. Nachdem sie sich nun niedergelegt hatten
und Mitternacht gekommen war, sei ein Ungewitter
und ein Erdbeben entstanden, und plötzlich seien sie
dann wie Sternschnuppen der eine dahin, der andere
dorthin gefahren, um ins Leben zu treten. Er selbst
habe nun nicht von jenemWasser trinken dürfen; aufweiche
Art undWeise er jedoch wieder in seinen Körper
gekommen sei, das wisse er nicht, sondern nur so
viel, daß er des Morgens auf einmal die Augen aufgemacht
und sich auf dem Scheiterhaufen liegend gefunden
habe…
Und so, mein lieber Glaukon, ist denn dieser Mythos
erhalten worden und ist nicht untergegangen, und
er wird vielleicht auch unsere Seelen retten, wenn wir
ihm nämlich folgen; wir werden dann glücklich über
den Fluß Lethe setzen und uns an unserer Seele nicht
besudeln.Wenn wir daher meiner Meinung folgen, so
wollen wir fest daran halten, daß die Seele unsterblich
ist und alle möglichen Übel überlebt und alles Gute bekommen könne, wollen immer denWeg nach oben
im Auge haben, wollen mit vernünftiger Einsicht auf
allen unseren Wegen Gerechtigkeit üben. Und so werden
wir mit uns selbst befreundet sein und mit den
Göttern, sowohl in diesem Leben als auch dann, wenn
wir den Kampfpreis dafür davontragen, den wir wie
siegreiche Kämpfer überall einsammeln, und werden
sowohl hienieden als auch in der von uns beschriebenen
tausendjährigen Wanderung glücklich sein.