Platon – Der Staat (Politeia)

Sokrates erzählt:

Sokrates · Glaukon · Polemarchos · Thrasymachos · Adeimantos · Kephalos · Kleitophon

Erstes Buch

Gestern ging ich in den Peiraieus hinab mit Glaukon, dem Sohne des Ariston, um zur Göttin zu beten und zugleich das Fest zu schauen, wie sie es begehen würden, da sie es jetzt zum ersten Male feiern. Wirklich fand ich den Zug der Einheimischen schön; doch nicht minder gut nahm sich der aus, welchen die Thraker bildeten. Nachdem wir gebetet und uns satt gesehen, kehrten wir zur Stadt zurück. Da sah uns von weitem Polemarchos, Kephalos’ Sohn, heimeilen und gab seinem Burschen Befehl, zu laufen und uns auf ihn warten zu heißen. Der Bursche faßte mich hinten am Rocke und sagte: “Polemarchos wünscht, daß ihr wartet!”

Ich drehte mich um und fragte, wo sein Herr denn sei? Dort hinten kommt er nach, gab er zur Antwort; aber wartet! Nun, so wollen wir warten, sagte Glaukon. Und bald darauf kam Polemarchos und Adeimantos, Glaukons Bruder, und Nikeratos, Nikias’ Sohn, und einige andere, weil der Festzug sie zusammengeführt hatte.

Polemarchos begann: Sokrates, ich glaube ihr wollt fort, der Stadt zu? Nicht unrichtig vermutet, sprach ich. Siehst du aber, zu wie viel wir sind? fragte er. Freilich. Entweder also müßt ihr uns überwältigen, oder ihr müßt hier bleiben, meinte er.

Da gibt es, sagte ich, noch ein Drittes: die Möglichkeit, daß ihr uns fortlassen müßt. Vermögt ihr, fragte er, auch Leute zu überzeugen, die nicht hören? Das nicht, versetzte Glaukon. So richtet euch darauf ein, daß wir nicht hören werden, erwiderte er.

Und Adeimantos sagte: Am Ende wißt ihr nicht einmal, daß auf den Abend ein Fackelrennen zu Roß der Göttin zu Ehren stattfinden wird? Zu Roß? sagte ich; das ist neu. Werden sie die Fackeln im Wettlauf zu Roß einander weitergeben? Oder wie sonst meinst du? Wie du gesagt hast, antwortete Polemarchos; und dazu werden sie eine Nachtfeier halten, welche zu sehen der Mühe wert ist. Wir wollen darum nach dem Mahle uns erheben und der Nachtfeier zusehen und werden auf dem Platze viele junge Leute treffen und mit ihnen uns unterhalten. So bleibt denn also und sträubt euch nicht!

Da meinte Glaukon: Ich denke, wir müssen bleiben. Nun, wenn du meinst, antwortete ich, so soll es geschehen. Wir gingen nun zurück ins Haus des Polemarchos und trafen dort den Lysias und Euthydemos, Polemarchos’ Brüder, und dann auch Thrasymachos aus Chalkedon und Charmantides aus Paiania, und Kleitophon, Aristonymos’ Sohn. Auch Kephalos war drinnen, der Vater des Polemarchos. Er kam mir sehr alt vor; denn es war auch schon lange her, daß ich ihn gesehen hatte. Bekränzt saß er auf einem Kissen auf dem Stuhle; denn er hatte eben im Hofe geopfert. Wir setzten uns nun zu ihm, denn es standen daselbst einige Stühle im Kreise herum.

Gleich wie mich Kephalos sah, grüßte er mich und sagte: Sokrates, du kommst auch gar nicht oft zu uns herunter in den Peiraieus, und solltest doch. Denn wäre ich noch imstande, ohne Anstrengung in die Stadt zu gehen, so brauchtest du nicht hierher zu kommen, sondern wir kämen zu dir. So aber mußt du häufiger hierher kommen; denn wisse nur, in demselben Maße als sonst die sinnlichen Genüsse für mich absterben, wächst mein Verlangen und meine Freude an Gesprächen. Tu’ mir also den Gefallen, schenke diesen jungen Leuten deinen Umgang und komme oft hierher zu uns als zu Freunden und ganz guten Bekannten?

Wirklich, Kephalos, antwortete ich, unterhalte ich mich gern mit besonders alten Männern; denn ich meine, man muß sich bei ihnen erkundigen als Vorgängern auf einem Pfade, den auch wir vielleicht werden gehen müssen, wie derselbe beschaffen ist, ob rauh und beschwerlich oder leicht und bequem. Und so möchte ich auch dich fragen, was du davon hältst, da du bereits die Jahre erreicht hast, welche die Dichter als »Schwelle des Alters« bezeichnen, ob für einen beschwerlichen Teil des Lebens, oder was du sonst darüber aussagst?

Ich will dir, Sokrates, versetzte er, bei Gott sagen, wie es mir vorkommt. Oftmals kommen unser mehrere zusammen, die in gleichem Alter stehen, das alte Sprichwort in Ehren haltend. Bei diesen Zusammenkünften nun jammern die meisten von uns, indem sie sich nach den Freuden der Jugend sehnen und der Liebesgenüsse gedenken und der Trinkgelage und Schmause und was es sonst noch ähnliches gibt, und sind verdrießlich, weil sie etwas Großes verloren und damals ein glückliches Leben geführt haben, jetzt aber eigentlich gar keines. Einige beklagen auch die Mißhandlungen des Alters durch die Angehörigen und stimmen deshalb über das Alter ein Lied an, was es ihnen alles für Unglück bringe. Mir scheint aber, Sokrates, als würden diese nicht den wahren Schuldigen beschuldigen; denn wäre das Alter schuldig, so müßte auch ich um seinetwillen dieselbe Erfahrung gemacht haben, und die übrigen alle, welche diese Lebensstufe erreicht haben. Nun aber habe ich auch schon andere getroffen, bei denen es nicht so war; namentlich war ich einmal dabei, wie jemand an den Dichter Sophokles die Frage richtete: »Wie sieht’s bei dir aus, Sophokles, mit der Liebe? Vermagst du noch einem Weibe beizuwohnen?«

Der antwortete: »Nimm deine Zunge in acht, Mensch; bin ich doch herzlich froh, daß ich davon erlöst bin, wie ein Sklave, der von einem tobsüchtigen und wilden Herrn erlöst worden ist!« Schon damals deuchte mir das wohlgesprochen und auch jetzt nicht minder: denn immerhin hat man im Alter in diesen Beziehungen vollkommenen Frieden und Freiheit. Wenn nämlich die Anspannung durch die Begierden aufgehört hat und sie nachgelassen haben, so wird allerdings das Wort des Sophokles wahr: von sehr zahlreichen tollen Gebietern kommt man los. Aber in dieser Beziehung und in betreff des Verhältnisses zu den Angehörigen ist die Ursache dieselbe, und zwar nicht das Alter, Sokrates, sondern der Charakter der Menschen. Sind sie geordnet und verträglich, so sind auch die Beschwerden des Alters mäßig; wo nicht, – so ist für einen solchen, Sokrates, Alter wie Jugend beschwerlich.

Ich hatte meine Freude daran, ihn so sprechen zu hören, und da ich wollte, daß er weiter rede, so stachelte ich ihn mit den Worten: Kephalos, ich meine, die Menge wird dich nicht ankommen lassen, wenn du so sprichst, sondern meint, du tragest leicht am Alter nicht wegen deines Charakters, sondern weil du ein großes Vermögen besitzest: denn die Reichen, heißt es, haben viele Tröstungen.

Du hast recht, antwortete er; freilich lassen sie’s nicht gelten; und etwas ist daran, aber so viel nicht, als sie meinen; sondern das Wort des Themistokles trifft zu, der dem Seriphier, der ihn schmähte und meinte, nicht sich selbst, sondern seiner Heimat habe er seinen Ruhm zu verdanken, die Antwort gab: »Ich wäre als Seriphier nicht berühmt geworden, und du nicht als Athener.« Und das paßt ganz gut auf die, welche nicht reich sind und schwer am Alter tragen: weder wird der Brave, wenn er arm ist, das Alter vollkommen leicht ertragen, noch wird der Nichtbrave, auch wenn er reich ist, je mit sich zufrieden sein.

Hast du, Kephalos, fragte ich, dein Vermögen zum größeren Teile überkommen oder selbst erworben? Was soll ich erworben haben, Sokrates? erwiderte er; ich habe in bezug auf das Geschäftsglück die Mitte gehalten zwischen meinem Großvater und meinem Vater: mein Großvater, dessen Namen ich trage, hat ungefähr so viel Vermögen, als ich besitze, geerbt und hat es vervielfacht: mein Vater Lysanias aber hat es noch kleiner gemacht, als es jetzt ist: ich bin zufrieden, wenn ich diesen da nicht weniger hinterlasse, sondern ein bißchen mehr, als ich überkommen.

Nun, weshalb ich dich fragte, fuhr ich fort, war, weil es mir schien, als ob du auf das Geld keinen besonderen Wert legtest. So machen es gewöhnlich solche, welche es nicht selbst erworben haben; wer es erworben hat, der hat es doppelt so lieb als die anderen.

Denn wie die Dichter ihre Gedichte und die Väter ihre Kinder lieb haben, so ist es denen, welche das Geld erworben haben, Ernst mit dem Gelde, als ihrem eigenen Werke, und dann noch überdies wegen seiner Nützlichkeit, wie den andern auch. Daher ist es auch unangenehm, mit ihnen umzugehen, weil sie nichts loben mögen als den Reichtum.

Das ist wahr, sagte er.

Immerhin, sprach ich; aber sage mir noch so viel:

Was hältst du für den bedeutendsten Vorteil, den du

von deinem großen Vermögen gehabt hast?

Etwas, antwortete er, was mir vielleicht nicht viele

glauben werden. Denn wisse nur, Sokrates, wenn man

nahe daran ist, daß man glaubt sterben zu müssen, so

wandelt einen Furcht und Sorge an über Dinge, an die

Platon: Der Staat 9

man vorher nicht gedacht hat. Denn die bekannten

Sagen vom Zustand in der Unterwelt, daß, wer hier

Unrecht getan, dort Strafe leiden müsse, über die man

sich bis dahin lustig gemacht, beunruhigen nunmehr

einen innerlich, ob sie nicht am Ende doch wahr

seien, und entweder aus Altersschwäche oder auch,

weil man jenerWelt jetzt näher ist, beschaut man sie

mehr. Da wird man voll Unruhe und Furcht und besinnt

sich und prüft sich, ob man einmal jemandem

Unrecht getan.Wer nun in seinem Leben viele ungerechte

Handlungen findet, der fährt sogar oft erschrocken

aus dem Schlafe auf, wie die Kinder, und

lebt in schlimmer Erwartung; dem aber, der sich keines

Unrechts bewußt ist, dem steht immer frohe Hoffnung

zur Seite, und die gute Alterspflegerin, wie Pindar

sich ausdrückt. Denn anmutig, Sokrates, sagt er,

wer gerecht und heilig das Leben verbringe,

Von solchem weicht nie des Herzens Labsal, die

freudvolle Alterspflegerin

Hoffnung, die am allermeisten der Erdensöhn’

unstäten Sinn lenkt.

Das ist ausgezeichnet schön gesprochen; und in

dieser Beziehung, behaupte ich, ist der Besitz von

Geld sehr viel wert, jedoch nicht für jedermann, sondern

nur für den Braven. Denn daß man auch nicht

Platon: Der Staat 10

unfreiwillig jemand betrogen oder belegen hat, noch

auch einem Gotte Opfer oder einemMenschen Geld

schuldig ist und deshalb sich fürchtet, dorthin abzugehen,

dazu trägt einen bedeutenden Teil der Besitz von

Geld bei. Es hat auch noch viele andere nützliche Seiten;

aber, eins mit dem andern verglichen, möchte ich

als nicht das Unbedeutendste aufstellen, daß hierzu,

Sokrates, für einen verständigen Mann der Reichtum

von größtem Nutzen ist. Sehr schön gesprochen, Kephalos,

sagte ich. Dieses eben aber, die Gerechtigkeit,

sollen wir es nur so einfach als dieWahrhaftigkeit bezeichnen

und als das Zurückgeben, wenn man etwas

von jemand bekommen hat, oder heißt dieses selbst

bald gerecht, bald ungerecht handeln? Ich meine z.B.

einen Fall wie folgenden:Wenn jemand bei gesundem

Verstande einem FreundeWaffen übergäbe und im

Zustande desWahnsinns sie zurückforderte, so wird

wohl jedermann sagen, daß man weder zur Zurückgabe

von dergleichen verpflichtet sei, noch der Zurückgebende

gerecht wäre noch auch einer, der einem

Menschen von diesem Zustande die volleWahrheit

sagen wollte.

Du hast recht, antwortete er.

Also ist nicht dies die Begriffsbestimmung der Gerechtigkeit,

daß man dieWahrheit sagt und das Anvertraute

zurückgibt.

O ja, doch, Sokrates, sprach Polemarchos, das

Platon: Der Staat 11

Wort ergreifend, wofern man wenigstens dem Simonides

recht geben darf.

Nun ja, sagte Kephalos, gern übergebe ich euch

das Gespräch; denn ich muß jetzt nach dem Opfer

sehen.

Du setzest also, fragte ich, den Polemarchos zu deinem

Erben ein?

Jawohl, antwortete er lachend und ging damit zum

Opfer.

So sage denn also, begann ich, du Erbe des Gesprächs,

welches ist die Äußerung des Simonides

über die Gerechtigkeit, die du richtig findest?

Daß gerecht ist, jedem geben, was man ihm schuldig

ist, antwortete er; mit diesem Satze scheint er mir

wenigstens recht zu haben.

Freilich, sagte ich, dem Simonides ist es nicht

leicht den Glauben zu versagen: denn es ist ein weiser

und göttlicher Mann; indessen was das heißt, was er

da sagt, verstehst vielleicht du, Polemarchos, – ich

aber begreife es nicht; denn offenbar ist, daß er nicht

das meint, wovon wir eben gesprochen, das Zurückgeben

anvertrauten Gutes an wen auch immer, wenn

er es bei getrübtem Verstande zurückfordert; und

doch ist man schuldig, was man uns anvertraut hat, –

nicht wahr?

Freilich.

Man darf also schlechterdings nicht zurückgeben,

Platon: Der Staat 12

wenn jemand bei getrübtem Verstande zurückfordert?

Du hast recht, antwortete er.

Es scheint also, daß Simonides etwas anderes

meint als derartiges, wenn er sagt, daß es gerecht sei,

zurückzugeben, was man schuldig sei.

Freilich, bei Zeus, etwas anderes, erwiderte er: er

meint nämlich, daß Freunde schuldig seien. Freunden

Gutes zu tun und nichts Böses.

Ich verstehe, sagte ich: denn der tut nicht seine

Schuldigkeit, welcher jemandem, der ihm Gold anvertraut

hat, es zurückgibt, wofern das Zurückgeben und

Inempfangnehmen nachteilig ist und der Zurücknehmende

und der Zurückgebende Freunde sind; meinst

du nicht, daß Simonides so es versteht?

Allerdings.

Wie aber – den Feinden muß man geben, was

immer man ihnen gerade schuldig ist?

Jedenfalls, antwortete er, was man ihnen schuldig

ist; schuldig aber ist, denke ich, ein Feind dem Feinde,

wie billig, etwas Böses.

So hat denn also, sagte ich, wie es scheint, Simonides

nach Dichterart angedeutet, was das Gerechte sei:

er dachte nämlich, wie sich herausstellt, gerecht sei,

daß man jedem gebe, was ihm gebühre, und hat dies

als Schuldigkeit bezeichnet.

Was ist aber deine Ansicht? fragte er.

Bei Zeus, erwiderte ich, wenn nun jemand die

Platon: Der Staat 13

Frage an ihn richtete: »Simonides, wem gibt die

Kunst, welche man Arzneikunst nennt, das Schuldige

und Gebührende, und was gibt sie?«- was glaubst du,

daß er uns antworten würde?

Offenbar, antwortete er, diejenige, die den Körpern

Heilmittel gibt und Speise und Trank.

Und wem gibt die als Kochkunst bezeichnete

Kunst das Schuldige und Gebührende, und was gibt

sie?

Den Speisen denWohlgeschmack.

Nun ja; wem gibt nun aber die als Gerechtigkeit zu

bezeichnende Kunst etwas, und was gibt sie ihnen?

Wenn man sich an das früher Gesagte anschließen

soll, Sokrates, erwiderte er, – gibt sie den Freunden

und den Feinden Nutzen und Schaden.

Also den Freunden Gutes und den Feinden

Schlechtes tun nennt er Gerechtigkeit?

So deucht mir.

Wer vermag nun am meisten, kranken Freunden

Gutes zu tun und kranken Feinden Schlechtes in

bezug auf Krankheit und Genesung?

Der Arzt.

Und wer den zu Schiff Fahrenden in bezug auf die

Gefahren der See?

Der Steuermann.

Wie ist’s nun mit dem Gerechten? In welcher Lage

und in welcher Beziehung vermag er am meisten

Platon: Der Staat 14

Freunden zu nützen und Feinden zu schaden?

Im Bekriegen und im Beistandleisten, deucht mir.

Gut; für Nichtkranke ist nun aber doch, mein lieber

Polemarchos, der Arzt unbrauchbar?

Allerdings.

Und für Nichtschiffahrende der Steuermann.

Freilich.

So ist denn also auch für Nichtkriegführende der

Gerechte unbrauchbar?

Das meine ich durchaus nicht.

Also ist die Gerechtigkeit auch im Frieden brauchbar?

Sie ist es.

Das ist auch der Ackerbau; oder nicht?

Ja.

Und zwar zur Gewinnung von Frucht?

Ja.

Aber auch die Schusterkunst?

Ja.

Und zur Gewinnung von Schuhen, wirst du wohl

sagen?

Natürlich.

Was ist nun aber das, zu dessen Gebrauch oder Gewinnung

die Gerechtigkeit dir im Frieden brauchbar

zu sein scheint?

Zum Verkehr, Sokrates.

Unter Verkehr verstehst du gemeinschaftliches

Platon: Der Staat 15

Treiben; oder etwas anderes?

Ja, gemeinschaftliches Treiben.

Ist aber der Gerechte gut und brauchbar zur Gemeinschaft

im Setzen der Steine des Brettspiels, oder

der Brettspielkundige?

Letzterer.

Aber zur Gemeinschaft im Setzen der Ziegel und

Bausteine ist wohl der Gerechte brauchbarer und besser

als der Baukundige?

Keineswegs.

Zu welcher Gemeinschaft ist nun also der Gerechte

ein passenderer Teilnehmer als der Zitherkundige, wie

der Zitherkundige ein besserer als der Gerechte ist in

bezug auf die im Saitenschlagen?

Zu der im Gelde, deucht mir.

Ausgenommen etwa, Polemarchos, zum Gebrauchen

des Geldes, wenn man für Geld gemeinsam ein

Pferd kaufen oder verkaufen muß? In diesem Falle

ist’s, meine ich, der Pferdekundige; ist’s so?

Offenbar.

Und wenn ein Fahrzeug – der Schiffsbauer oder der

Steuermann?

So scheint’s.

Bei welcher Art von gemeinschaftlichem Gebrauche

des Silbers oder Goldes ist nun also der Gerechte

brauchbarer als die übrigen?

Wenn es aufbewahrt und erhalten werden soll.

Platon: Der Staat 16

Du meinst also, wenn es nicht gebraucht, sondern

hingelegt werden soll?

Allerdings.

Wenn also das Geld unbrauchbar ist, dann ist die

Gerechtigkeit bei ihm brauchbar?

So scheint’s.

Und wenn ferner eine Hippe aufbewahrt werden

soll, ist die Gerechtigkeit brauchbar, gemeinschaftlich

und für den Einzelnen; wenn sie aber gebraucht werden

soll, dann dieWinzerkunst?

Offenbar.

So wirst du auch sagen, daß, wenn ein Schild und

eine Leier aufbewahrt werden soll und nicht gebraucht,

– die Gerechtigkeit brauchbar ist; wenn aber

gebraucht, dann die Fechtkunst und die Tonkunst?

Notwendig.

Und so ist auch bei allen andern Dingen die Gerechtigkeit

zum Gebrauch eines jeden unbrauchbar,

bei dessen Nichtgebrauch aber brauchbar?

So scheint es.

Da wäre nun also, mein Lieber, die Gerechtigkeit

nichts besonders Wertvolles, wenn sie zum Nichtgebrauch

brauchbar ist. Wir wollen aber folgendes in

Betracht ziehen: Ist nicht derjenige, welcher am kräftigsten

dreinschlägt im Kampfe, sei es nun im Faustkampf

oder in einem anderen, auch am kräftigsten,

sich zu schützen?

Platon: Der Staat 17

Allerdings.

Und wer befähigt ist, vor einer Krankheit sich zu

schützen und sie nicht zu bekommen, der ist auch besonders

fähig, sie jemandem beizubringen?

Ich glaube.

Dann ist der ein guter Hüter eines Heeres, der auch

der Feinde Pläne und sonstige Angelegenheiten wegzustehlen

vermag?

Allerdings.

Wovon also jemand ein geschickter Hüter ist,

davon ist er auch ein geschickter Stehler.

So scheint’s.

Wenn nun also der Gerechte geschickt ist, das Geld

zu bewahren, so ist er auch geschickt, es zu stehlen?

Das folgt wenigstens aus der Entwicklung.

Als ein Dieb wäre demnach, scheint es, der Gerechte

erwiesen, und du scheinst das von Homer gelernt

zu haben; denn der hat an Odysseus’ mütterlichem

Großvater Autolykos seine Freude und sagt, er habe

alle Menschen überboten im Stehlen und Schwören.

Es scheint demnach die Gerechtigkeit nach dir und

nach Homer und nach Simonides eine Fertigkeit im

Stehlen zu sein, nur zum Vorteil der Freunde und zum

Nachteil der Feinde; hast du nicht so gesagt?

Nein, bei Zeus, antwortete er; aber ich weiß selbst

nicht mehr, was ich gesagt habe: doch das meine ich

immer noch, daß die Gerechtigkeit ist, den Freunden

Platon: Der Staat 18

nützen und den Feinden schaden.

Verstehst du unter Freunden diejenigen, welche

jeder für rechtschaffen hält, oder diejenigen, welche es

sind, auch ohne daß sie es scheinen? Und unter Feinden

ebenso?

Es ist doch wohl natürlich, daß man diejenigen

liebt, die man für rechtschaffen hält, und haßt, wen

man für schlecht hält.

Täuschen sich aber nicht die Menschen in dieser

Beziehung, so daß sie viele für rechtschaffen halten,

die es nicht sind, und viele umgekehrt?

Allerdings.

Für diese also sind die Guten Feinde, die Schlechten

Freunde?

Freilich.

Dennoch aber ist es dann für diese gerecht, den

Schlechten zu nützen und den Guten zu schaden?

Offenbar.

Nun sind aber doch die Guten gerecht und nicht

von der Art, daß sie Unrecht tun.

Das ist wahr.

Nach deinenWorten wäre es also gerecht, denen

Schlechtes zu tun, die nicht Unrecht tun.

Beileibe nicht, Sokrates, erwiderte er: denn eine

schlechte Rede scheint das zu sein.

So ist es also, sagte ich, gerecht, den Ungerechten

zu schaden und den Gerechten zu nützen.

Platon: Der Staat 19

Das ist offenbar besser als vorhin.

Vielen also, Polemarchos, die sich in den Menschen

getäuscht haben, wird es begegnen, daß für sie

es gerecht ist, ihren Freunden zu schaden – denn sie

haben schlechte – und ihren Feinden zu nützen – denn

sie haben gute; und so kommen wir auf das gerade

Gegenteil von dem, was wir als Meinung des Simonides

bezeichnet haben.

Freilich, antwortete er, geht es so; doch wir wollen

eine Abänderung vornehmen: denn es scheint, als hätten

wir den Freund und den Feind nicht richtig bestimmt.

Inwiefern, Polemarchos?

Sofern wir annahmen, daß Freund der sei, den man

für rechtschaffen halte.

Wie wollen wir’s nun abändern? fragte ich.

Daß Freund derjenige sei, antwortete er, wer rechtschaffen

scheine und es auch sei, und daß der, welcher

es scheine, aber nicht sei, gleichfalls nur Freund

scheine, aber nicht sei; und in betreff des Feindes

gelte dieselbe Bestimmung.

Freund wäre dann also, wie es scheint, nach diesen

Worten der Gute, Feind aber der Schlechte?

Ja.

Du heißt uns also dem Gerechten etwas beifügen,

was wir zuerst nicht sagten, indem wir als gerecht bezeichneten,

dem Freunde Gutes zu erweisen und dem

Platon: Der Staat 20

Feinde Schlechtes; jetzt aber sollen wir außerdem

noch sagen, daß gerecht ist, dem Freunde, als einem

Guten, Gutes zu erweisen und dem Feinde, als einem

Schlechten, zu schaden?

Allerdings, erwiderte er; so scheint es mir richtig

gesprochen. Es gehört also, sagte ich, zu einem gerechten

Manne, daß er irgend jemandem schade?

Allerdings, antwortete er; den Schlechten und Feinden

muß man schaden.

Werden Pferde, denen man Schaden antut, besser

oder schlechter?

Schlechter.

In bezug auf das, was die Tüchtigkeit der Hunde

ausmacht, oder was die der Pferde ausmacht?

Letzteres.

Werden also auch Hunde, denen man Schaden tut,

schlechter in bezug auf ihre Tüchtigkeit als Hunde,

aber nicht als Pferde?

Notwendig.

Von den Menschen aber, mein Freund, werden wir

nicht sagen müssen, daß sie, wenn man ihnen Schaden

antut, schlechter werden in bezug auf die menschliche

Tugend?

Freilich.

Ist aber die Gerechtigkeit nicht eine menschliche

Tugend?

Auch das ist notwendig.

Platon: Der Staat 21

Die Menschen also, mein Lieber, denen man schadet,

müssen notwendig ungerechter werden?

So scheint es.

Können nun aber die Tonkünstler jemand durch die

Tonkunst zum Tonkunstlaien machen?

Unmöglich.

Aber die Reitkünstler durch die Reitkunst zum

Nichtreiter?

Kann nicht sein.

Aber also die Gerechten durch die Gerechtigkeit

zum Ungerechten? Oder überhaupt die Guten durch

die Tugend zum Schlechten?

Unmöglich.

Denn nicht der Hitze Sache ist es, denke ich, kalt

zu machen, sondern des Gegenteils.

Ja.

Und nicht der Trockenheit, feucht zu machen, sondern

des Gegenteils.

Allerdings.

Also auch nicht des Guten, zu schaden, sondern des

Gegenteils.

Offenbar.

Der Gerechte aber ist doch gut?

Allerdings.

So ist es also, Polemarchos, nicht des Gerechten

Sache, zu schaden, weder einem Freunde noch sonst

jemandem, sondern des Gegenteils, des Ungerechten.

Platon: Der Staat 22

Du scheinst mir vollständig recht zu haben, Sokrates,

erwiderte er.

Wenn also jemand sagt, gerecht sei, daß man jedem

gebe, was man ihm schuldig sei, und darunter das versteht,

daß der gerechte Mann den Feinden Schaden

schuldig sei und den Freunden Nutzen, so war der

nicht weise, der so gesprochen hat; denn er hat etwas

gesagt, was nicht wahr ist, da wir nirgends gefunden

haben, daß gerecht sei, irgend jemandem zu schaden.

Ich gebe es zu, sagte er.

So wollen wir also, sprach ich, gemeinsam kämpfen,

ich und du, wenn jemand behauptet, Simonides

habe es gesagt oder Bias oder Pittakos oder sonst

einer der weisen und gepriesenen Männer.

Ich bin jedenfalls bereit, am Kampfe teilzunehmen,

sprach er.

Aber weißt du, sagte ich, wem nach meiner Ansicht

die Äußerung angehört, dasWort, es sei gerecht, den

Freunden zu nützen und den Feinden zu schaden?

Nun? fragte er.

Ich glaube, daß sie von Periandros herrührt oder

Perdikkas oder Xerxes oder dem Thebaner Ismenias

oder einem anderen sich für mächtig haltenden reichen

Manne.

Du hast ganz recht, sagte er.

Gut, fuhr ich fort; da nun aber auch dies weder als

die Gerechtigkeit noch als das Gerechte sich erwiesen

Platon: Der Staat 23

hat, als was anderes soll man es dann bezeichnen?

Noch während unseres Gespräches hatte Thrasymachos

öfters einen Anlauf genommen, uns zu unterbrechen

und dasWort zu ergreifen, war aber von seinen

Nebensitzern daran gehindert worden, weil diese das

Gespräch zu Ende hören wollten; als wir aber eine

Pause machten und ich jeneWorte gesprochen hatte,

konnte er nicht mehr ruhig bleiben, sondern sich zusammenkrümmend

stürzte er wie ein wildes Tier auf

uns los, um uns zu zerreißen. Ich und Polemarchos

gerieten in Angst und Bestürzung; er aber schrie mitten

unter uns hinein: Was für Unsinn treibt ihr da

schon lange, Sokrates? Und wie mögt ihr so einfältig

euch anstellen und einander selbst ausweichen? Wenn

du wirklich erfahren willst, was das Gerechte ist, so

mußt du nicht bloß fragen und deine Eitelkeit damit

kitzeln, es zu widerlegen, wenn dir jemand eine Antwort

gibt, weil du wohl weißt, daß es leichter ist, zu

fragen, als zu antworten, sondern du mußt auch selbst

antworten und sagen, was du als das Gerechte bezeichnest.

Und daß du mir nur nicht sagst, es sei das

Pflichtmäßige oder das Nützliche oder das Vorteilhafte

oder das Gewinnbringende oder das Zuträgliche;

sondern deutlich und genau mußt du mir sagen, was

du sagst: denn ich werde es nicht gelten lassen, wenn

du mir mit solchem Zeuge kommst.

Wie ich das hörte, erschrak ich und blickte ihn voll

Platon: Der Staat 24

Angst an, und ich glaube, hätte ich ihn nicht eher angesehen

als er mich, so hätte ich die Stimme verloren.

So aber blickte ich ihn zuerst an, als er sich in die

Hitze hineinzusprechen anfing, und infolgedessen war

ich imstande, ihm zu antworten, und sprach denn mit

einigem Zittern: Thrasymachos, sei nicht böse auf

uns; denn haben wir uns verfehlt in der Erörterung

des Gesprächs, ich und dieser da; so wisse nur, daß

wir es nicht absichtlich getan haben! Denn glaube nur

nicht, daß wir zwar, wenn wir nach Gold suchten, einander

nimmermehr mitWillen höflich aus demWege

gingen beim Suchen und das Finden vereiteln würden,

aber beim Suchen nach der Gerechtigkeit, die doch

wertvoller ist als viele Goldhaufen, so unverständig

vor einander ausweichen und uns nicht ernsthaft bemühen,

daß sie möglichst zutage komme. Das glaube

ja nicht, mein Lieber! Sondern ich glaube, an unsern

Kräften fehlt es. Darum solltet ihr Starken billigerweise

viel eher Mitleid mit uns fühlen als uns böse

werden!

Und wie er das hörte, schlug er ein ganz höhnisches

Gelächter auf und rief: Ach du lieber Herakles,

da haben wir wieder die gewöhnliche Ironie des Sokrates!

Und das habe ich wohl gewußt und diesen da

vorausgesagt, daß du eine Antwort nicht werdest

geben wollen, sondern dich unwissend stellen und

alles eher tun, als eine Frage beantworten.

Platon: Der Staat 25

Drum bist du auch einWeiser, Thrasymachos,

sagte ich. Demgemäß mußtest du wohl wissen, daß,

wenn du jemanden fragtest, wieviel zwölf sei, und

dabei im voraus erklärtest: »Daß du, Mensch, mir

aber nur nicht sagst, zwölf sei zweimal sechs oder

dreimal vier oder sechsmal zwei oder viermal drei, –

denn ich werde es nicht gelten lassen, wenn du mir

mit solchem Zeuge kommst« – da wußtest du, denke

ich, doch wohl, daß auf eine solche Frage niemand

eine Antwort geben wird. Aber wenn er zu dir sagte:

»Thrasymachos, wie meinst du? Keine von den Antworten,

die du vorausbezeichnet, soll ich geben?

Auch nicht, du Unbegreiflicher, wenn eine von diesen

etwa die rechte ist? Sondern soll ich etwas anderes

sagen als dasWahre? Oder wie sonst meinst du« –

was würdest du ihm darauf erwidern?

Schön, erwiderte er; dieser Fall hat mit jenem wirklich

ungeheure Ähnlichkeit!

Das macht nichts, sagte ich; wenn er nun aber auch

keine Ähnlichkeit hat, der Gefragte aber glaubt einmal,

er habe eine solche, – meinst du, er werde weniger

antworten, wie es ihm vorkommt, ob wir es ihm

verbieten oder nicht?

Du wirst es also auch so machen? fragte er; du

wirst eine von den Antworten geben, die ich verboten

habe?

Es würde mich nicht wundernehmen, erwiderte ich,

Platon: Der Staat 26

wenn meine Untersuchung auf dieses Ergebnis führte.

Wie ist’s nun, sprach er, wenn ich in betreff der Gerechtigkeit

eine Antwort zum besten gebe, die anders

ist als alle diese und besser als sie: wozu erbietest du

dich dann?

Zu was anderem, erwiderte ich, als was gebührendermaßen

der Nichtwissende zu leiden hat? Und das

ist: zu lernen von demWissenden. Dem will denn

auch ich mich unterziehen.

Du bist sehr liebenswürdig, erwiderte er; aber

außer dem Lernen mußt du auch Geld zahlen.

Nun ja, wenn ich habe, sagte ich.

Oh, da fehlt’s nicht, sprach Glaukon; wegen des

Geldes sage es immerhin, Thrasymachos: wir alle

werden dem Sokrates beisteuern.

Ja, ja, das glaube ich, antwortete er: damit Sokrates

es wieder macht wie gewöhnlich und selbst keine

Antwort gibt, sondern die Antworten anderer aufgreift

und widerlegt.

Wie könnte denn auch, mein Bester, sagte ich, jemand

Antworten geben, der erstens nichts weiß und

auch nichts zu wissen behauptet, und dem zweitens,

wenn er auch darüber etwas glaubt, verboten ist, zu

sagen, was er meint, von einem nicht schlechten

Manne? Aber an dir ist’s vielmehr zu sprechen; denn

du behauptest ja, etwas zu wissen und sagen zu können.

Mache es denn also so: tue mir den Gefallen und

Platon: Der Staat 27

gib die Antwort, und mißgönne auch dem Glaukon da

und den andern die Belehrung nicht ?

Als ich so sprach, baten ihn Glaukon und die andern,

darauf einzugehen. Dem Thrasymachos sah man

wohl an, wie begierig er sei, zu sprechen, um Ruhm

zu ernten, da er eine ausgezeichnete Antwort zu haben

glaubte; indessen stellte er sich, als bestände er eigensinnig

darauf, daß ich antworte.

Zuletzt gab er jedoch nach und sprach: Das ist eben

dieWeisheit des Sokrates, daß er selbst nicht belehren

will, sondern bei den andern herumgehen und von

ihnen lernen und dafür nicht einmal sich bedanken.

Daß ich von den andern lerne, antwortete ich, darin

hast du recht, Thrasymachos; daß du aber behauptest,

ich danke dafür nicht, damit sagst du eine Unwahrheit;

denn ich danke, so sehr ich kann; ich kann aber

nur loben, weil ich Geld nicht habe.Wie gern ich aber

das tue, wofern ich glaube, daß jemand gut spreche,

das sollst du gar bald erfahren, falls du antwortest;

denn ich glaube, daß du gut sprechen wirst.

So höre denn, sagte er: Ich behaupte, daß das Gerechte

nichts anderes ist als das dem Überlegenen

Zuträgliche. – Nun, warum lobst du nicht? Du wirst

eben nicht mögen!

Sobald ich verstehe, was du meinst, erwiderte ich;

denn für jetzt weiß ich’s noch nicht. Das dem Überlegenen

Zuträgliche, behauptest du, sei das Gerechte.

Platon: Der Staat 28

Wie verstehst du das nun, Thrasymachos? Denn du

meinst es wohl jedenfalls nicht so: wenn der Pankrationsleger

Pulydamas uns überlegen ist und ihm Rindfleisch

für den Leib zuträglich ist, sei diese Nahrung

zugleich auch uns, die wir schwächer sind als er, zuträglich

und gerecht?

Du bist ein abscheulicher Mensch, Sokrates, sagte

er, und faßt dieWorte immer von der Seite auf, wo du

sie recht schlecht machen kannst.

Keineswegs, mein Bester, sagte ich; aber sprich

deutlicher aus, was du meinst!

Weißt du denn nicht, sprach er, daß von den Staaten

die einen durch Tyrannen beherrscht, die andern

demokratisch und wieder andere aristokratisch eingerichtet

sind?

Wie sollte ich nicht?

Ist denn nun nicht dieses, das Regierende, in jedem

Staat das Überlegene?

Freilich.

Jede Regierung gibt doch die Gesetze mit Rücksicht

auf das, was ihr zuträglich ist: die Demokratie

demokratische, die Tyrannis tyrannische und die andern

ebenso.Wenn sie sie gegeben, so haben sie

damit ausgesprochen, daß dies, das ihnen Zuträgliche,

für die Regierten gerecht sei, und den, der das übertritt,

bestrafen sie als einen Gesetzesübertreter und

Frevler. Das also, mein Bester, ist das, was ich meine:

Platon: Der Staat 29

daß in allen Staaten das nämliche gerecht ist, nämlich

das der bestellenden Regierung Zuträgliche. Diese

aber ist in Überlegenheit, so daß richtiges Nachdenken

ergibt, wie das Gerechte überall dasselbe ist:

nämlich das dem Überlegenen Zuträgliche.

Jetzt, sagte ich, habe ich verstanden, was du

meinst; ob es aber richtig ist oder nicht, darüber will

ich versuchen, mich zu unterrichten. Das Zuträgliche

also, Thrasymachos, hast auch du mir zur Antwort gegeben,

sei das Gerechte; und doch hast du mir verboten,

diese Antwort zu geben; es steht aber dabei noch:

dem Überlegenen.

Vermutlich ein unbedeutender Zusatz? sprach er.

Es ist mir noch nicht klar, auch nicht ob ein bedeutender;

aber das ist klar, daß man untersuchen muß,

ob du recht hast. Denn da auch ich zugebe, daß etwas

Zuträgliches das Gerechte ist, du aber einen Beisatz

machst und behauptest, das dem Überlegenen Zuträgliche

sei es, ich aber das nicht weiß, so muß man also

eine Untersuchung anstellen.

So stelle sie eben an, sagte er.

Das soll geschehen, sagte ich. So sage nur denn:

Nicht wahr, du erklärst für gerecht, daß man den Regierenden

auch jedenfalls gehorche?

Allerdings.

Sind nun die in den einzelnen Staaten Regierenden

fehlerfrei, oder gleichfalls imstande, Fehler zu

Platon: Der Staat 30

machen?

Freilich sind sie imstande, Fehler zu machen.

Indem sie also Gesetze zu geben unternehmen, machen

sie die einen richtig, andere aber nicht richtig?

So glaube ich.

Richtig gemacht sind dann wohl die, welche für sie

zuträglich sind, nicht richtig aber die nicht zuträglichen?

Oder wie meinst du?

Ebenso.

Was sie aber auch verordnen, müssen die Regierten

tun, und das ist das Gerechte?

Wie sollte es nicht?

Also heißt nach deinenWorten gerecht nicht nur

das dem Überlegenen Zuträgliche tun, sondern auch

das Gegenteil, das nicht Zuträgliche.

Was sagst du da? sprach er.

Was du selbst sagst, deucht mir. So wollen wir’s

denn besser untersuchen! Ist nicht zugestanden, daß

die Regierenden, indem sie den Regierten vorschreiben,

dies und das zu tun, manchmal sich gegen ihr eigenes

Beste verfehlen, und daß für die Regierten gerecht

sei, zu tun, was auch immer die Regierenden befehlen?

Ist das nicht zugestanden?

Ich glaube, ja, antwortete er.

Nun, so glaube auch, fuhr ich fort, daß du zugestanden

hast, gerecht sei, auch das den Regierenden

und Überlegenen nicht Zuträgliche zu tun, wofern die

Platon: Der Staat 31

Regierenden gegen ihrenWillen etwas für sie selbst

Nachteiliges befehlen und nach deiner eigenen Behauptung

für die Regierten gerecht ist, das zu tun,

was jene befehlen. Tritt dann, mein weisester Thrasymachos,

nicht die Notwendigkeit ein, daß es auf die

bezeichnete Art geht, daß gerecht ist, das Gegenteil

von dem zu tun, was du sagst? Denn es wird ja den

Schwächeren befohlen, das dem Überlegenen nicht

Zuträgliche zu tun.

Ja, bei Zeus, das ist ganz klar, Sokrates, sprach Polemarchos.

Freilich, wenn du es ihm bezeugst! fiel Kleitophon

ein.

Was bedarf es da eines Zeugen? erwiderte jener;

Thrasymachos gibt ja selbst zu, daß die Regierenden

manchmal ihnen selbst schädliche Befehle geben, und

daß für die Regierten gerecht ist, danach zu handeln.

Ja, Polemarchos; denn Thrasymachos hat als gerecht

bezeichnet, das von den Regierten Befohlene zu

tun.

Andererseits, Kleitophon, hat er als gerecht bezeichnet,

das den Überlegenen Zuträgliche zu tun.

Indem er dieses beides aufstellte, hat er hinwiederum

zugestanden, daß manchmal die Überlegenen die

Schwächeren und Regierten heißen, das ihnen selbst

Unzuträgliche zu tun. Nach diesen Zugeständnissen

wäre das dem Überlegenen Unzuträgliche ebensosehr

Platon: Der Staat 32

gerecht als das ihm Zuträgliche.

Aber, wendete Kleitophon ein, er hat ja gesagt, das

dem Überlegenen Zuträgliche sei, was dieser selbst

dafür halte: dies müsse der Schwächere tun, und das

hat er als das Gerechte bezeichnet.

Nein, so ist nicht gesagt worden, erwiderte Polemarchos.

Tut nichts, Polemarchos, sagte ich; wenn Thrasymachos

jetzt so sagt, so wollen wir es so von ihm annehmen.

– So sage mir denn, Thrasymachos, war es

das, was du von dem Gerechten sagen wolltest, es sei

das, was dem Überlegenen, als dem Überlegenen, zuträglich

erscheine, mag es nun wirklich zuträglich

sein oder nicht? Dürfen wir annehmen, daß das deine

Meinung sei?

Durchaus nicht, erwiderte er: vielmehr glaubst du

denn, ich nenne überlegen den Fehlermachenden in

dem Augenblicke, wo er Fehler macht?

Ich meinte, antwortete ich, du sagest das, als du zugestandest,

daß die Regierenden nicht fehlerfrei seien,

sondern auch Fehler machten.

Du bist halt ein Chikaneur, Sokrates, bei den Gesprächen,

erwiderte er. Heißt du denn z.B. einen Arzt

denjenigen, der in Bezug auf die Kranken Fehler

macht, eben insofern er Fehler macht? Oder einen Rechenmeister,

wer im Rechnen Fehler macht, eben

dann, wenn er Fehler macht, in Rücksicht auf diesen

Platon: Der Staat 33

Fehler? Vielmehr, denke ich, drücken wir uns nur so

aus: der Arzt oder der Rechenmeister oder der Schreiber

hat einen Fehler gemacht; inWahrheit aber macht

keiner von diesen insoweit, als er das ist, was wir ihn

nennen, je einen Fehler, so daß, scharf ausgedrückt –

denn du bist ja auch haarrspalterisch – kein Meister

einen Fehler begeht. Denn wer Fehler begeht, begeht

sie infolge einer Mangelhaftigkeit seinesWissens in

solchem, worin er nicht Meister ist. Folglich macht

kein Meister oder Weiser oder Regierender dann

einen Fehler, wenn er Regierender ist. Dennoch aber

sagt jedermann, der Arzt hat einen Fehler gemacht

und der Regierende hat einen Fehler gemacht. In solcherWeise

mußt du auch meine jetzige Antwort auffassen;

das Genaueste aber ist, daß der Regierende,

sofern er Regierender ist, nicht Fehler macht und, weil

er nicht Fehler macht, das für ihn Beste verordne, und

daß dies der Regierte zu tun habe. Und so bleibe ich

denn bei dem, was ich von Anfang an sagte: Gerecht

ist, das dem Überlegenen Zuträgliche zu tun.

So, so, Thrasymachos, sagte ich, du hältst mich für

einen Chikaneur?

Jawohl, versetzte er.

Du meinst wohl, ich habe in hinterlistiger Absicht,

um dich im Gespräche zu übervorteilen, dich so gefragt,

wie ich gefragt habe?

Ja, das weiß ich gewiß; aber es soll dir nichts

Platon: Der Staat 34

nützen: denn du wirst weder versteckt mich übervorteilen

können noch auch offene Gewalt mir durch die

Rede anzutun vermögen.

Ich würde es auch nicht wagen, mein Bester, erwiderte

ich. Aber, damit es uns nicht wieder so geht, bestimme,

in welchem Sinne du den Regierenden und

den Überlegenen verstehst: ob nach der gewöhnlichen

Sprechweise, oder nach dem genauen Ausdruck, wie

du eben ihn bezeichnetest, denjenigen, dem – als dem

Überlegenen – der Schwächere, wenn er gerecht sein

will, tun muß, was diesem zuträglich ist?

Den, der nach dem genauesten Ausdruck Regierender

ist.

Daran laß deine Bosheit und deine Schikanen aus,

wenn du kannst; ich hindere dich nicht; aber es ist mir

nicht bange, daß du’s kannst.

Hältst du mich, sagte ich, für so wahnsinnig, daß

ich es versuchte, einen Löwen zu scheren und einen

Thrasymachos zu schikanieren?

Eben hast du’s doch versucht, sagte er, obwohl

deine Sache auch dabei nichts ist.

Genug jetzt von diesen Dingen, sprach ich; aber

sage mir: Der Arzt in dem strengen Sinne, von dem

du eben gesprochen, – ist er einer, der Geld erwirbt,

oder einer, der Kranke heilt? Dabei nimm den wirklichen

Arzt!

Der, welcher Kranke heilt, versetzte er.

Platon: Der Staat 35

Und der Steuermann – ist der richtig gefaßte Steuermann

ein Regierer der Mitfahrenden, oder ein Mitfahrender?

Ein Regierer der Mitfahrenden.

Es ist also keine Rücksicht darauf zu nehmen, daß

er in dem Schiffe mitfährt, und er ist nicht Mitfahrender

zu nennen; denn nicht in bezug auf das Mitfähren

heißt er Steuermann, sondern in bezug auf die Kunst

und das Regieren der Mitfahrenden.

Richtig, sagte er.

Jeder von diesen hat nun wohl etwas, das ihm zuträglich

ist?

Freilich.

Ist nicht auch die Kunst, fragte ich, dazu da, das

einem jeden Zuträgliche zu suchen und zu verschaffen?

Allerdings, antwortete er.

Ist nun auch jeder einzelnen Kunst etwas anderes

außer ihr Liegendes zuträglich als dies, daß sie möglichst

vollkommen sei? Und bedarf sie dessen noch,

um möglichst vollendet zu sein, oder ist dazu jede

sich selbst genug?

Wie verstehst du diese Frage?

Wenn du, versetzte ich, z.B. mich fragen würdest,

ob es dem Leibe genug sei, Leib zu sein, oder ob er

noch eines andern bedürfe, würde ich antworten: Allerdings

bedarf er eines andern. Eben darum ist jetzt

Platon: Der Staat 36

auch die Heilkunst erfunden, weil der Leib mangelhaft

ist und es ihm nicht genügt, Leib zu sein. Um

nun ihm das Zuträgliche zu verschaffen, dazu ist die

Kunst da. Hältst du das für richtig oder nicht?

Für richtig, erwiderte er.

Wie steht’s nun? Ist die Heilkunst selbst auch mangelhaft,

oder bedarf irgend eine andere Kunst noch

einer weiteren Tüchtigkeit, wie die Augen des Sehens,

die Ohren des Hörens, und ist daher bei ihnen noch

eine Kunst erforderlich, welche das, was zu eben diesen

Zwecken zuträglich ist, zu untersuchen und herbeizuschaffen

hat? Ist also auch in der Kunst selbst

eine Mangelhaftigkeit, und bedarf jede Kunst einer

andern, die das für sie Zuträgliche zu untersuchen hat,

und die untersuchende hinwiederum einer andern derartigen,

und so ins Unendliche fort? Oder wird sie

selbst das ihr Zuträgliche untersuchen? Oder bedarf

sie weder ihrer selbst noch einer andern zu ihrer Mangelhaftigkeit

hin, um das Zuträgliche zu erkennen?

Denn weder ein Mangel noch ein Fehler haftet irgend

einer Kunst an, noch auch kommt es einer Kunst zu,

für einen andern das Zuträgliche zu suchen, als für

den, dessen Kunst sie ist: und sie selbst ist, sofern sie

die rechte ist, unversehrt und ungetrübt, solange eine

jede genau ganz das ist, was sie ist. Betrachte es in

jenem strengen Sinne und sage, ob es so ist oder anders?

Platon: Der Staat 37

Es ist offenbar so, antwortete er.

Also nicht für sich selbst erforscht die Heilkunst

das Zuträgliche, sondern für den Leib?

Ja, erwiderte er.

Und die Reitkunst nicht für sich, sondern für die

Pferde, und auch keine andere Kunst für sich selbst –

denn sie bedarf nichts weiter -, sondern für das, dessen

Kunst sie ist?

Offenbar ist’s so, versetzte er.

Sind nun, Thrasymachos, die Künste in bezug auf

das, dessen Künste sie sind, regierend und überlegen?

Hier war er nur mit großer Mühe dazu zu bringen,

daß er es zugab.

Demnach erforscht und verordnet keineWissenschaft

das dem Überlegenen Zuträgliche, sondern das

dem Schwächeren und von ihm Regierten Zuträgliche.

Auch das gab er endlich zu, machte aber einen Versuch

es anzufechten.

Nachdem er es aber zugestanden, fuhr ich fort:

Also auch kein Arzt, sofern er Arzt ist, erforscht und

verordnet das dem Arzt Zuträgliche, sondern das dem

Kranken Zuträgliche? Denn es ist zugegeben, daß der

Arzt im strengen Sinne ein Regierer der Leiber ist,

nicht aber einer, der Geld erwirbt; oder ist’s nicht zugegeben?

Er bejahte es.

Also ist auch der Steuermann, genau gefaßt,

Platon: Der Staat 38

Regierer der Mitfahrenden, nicht aber selbst Mitfahrender?

Zugegeben.

Also wird ein solcher Steuermann und Regierer

nicht das dem Steuermanne Zuträgliche untersuchen

und gebieten, sondern das demMitfahrenden und Regierten

Zuträgliche?

Nur ungern stimmte er bei.

Also, sage ich, auch kein anderer, Thrasymachos,

der irgend etwas regiert, erforscht und gebietet, sofern

er Regierer ist, das ihm selbst Zuträgliche, sondern

das dem Regierten und dem, für welchen er arbeitet.

Zuträgliche; und auf ihn hinblickend und auf das, was

ihm zuträglich und geziemend ist, spricht und tut er

alles, was er spricht und tut.

Als wir nun mit dem Gespräche so weit waren und

es allen einleuchtend war, daß die Begriffsbestimmung

des Gerechten ins Gegenteil umgeschlagen sei,

hob Thrasymachos, statt zu antworten, an: Sage mir,

Sokrates, hast du eine Amme?

Wieso? sagte ich; solltest du nicht eher Antwort

geben als eine solche Frage stellen?

Nun – weil sie deine Nase überlaufen sieht und sie

dir nicht putzt, wie sie sollte, da du ihr Schafe und

Hirten nicht auseinanderkennst.

Inwiefern denn das? fragte ich.

Weil du glaubst, die Schaf- oder Rinderhirten

Platon: Der Staat 39

sehen auf das Beste ihrer Schafe oder Rinder und

haben, wenn sie sie mästen und pflegen, etwas anderes

im Auge als das Beste ihrer Herrn und ihr eigenes

Bestes, und ebenso glaubst, die in einem Staate Regierenden

– wenn sie wahrhafte Regierer sind – seien

gegenüber den Regierten anders gesinnt, als man es

Schafen gegenüber ist, und denken Tag und Nacht an

etwas anderes, als wie sie sich selbst nützen können.

Und so sehr bist du auf dem Irrwege in bezug auf das

Gerechte und die Gerechtigkeit und das Ungerechte

und die Ungerechtigkeit, daß du nicht einsiehst, wie

die Gerechtigkeit und das Gerechte inWahrheit das

Beste eines andern ist, nämlich das dem Überlegenen

und Regierenden Zuträgliche, für den Gehorchenden

und Dienenden aber der eigene Schaden, und wie die

Ungerechtigkeit das Gegenteil ist und die inWahrheit

Einfältigen und Gerechten regiert, und wie die Regierten

das ihm Zuträgliche tun, weil er überlegen ist, und

ihn durch ihr Dienen glücklich machen, sich selbst

aber schlechterdings nicht. Und daß der Gerechte dem

Ungerechten gegenüber allenthalben im Nachteil ist,

davon muß man, du einfältiger Sokrates, auf folgende

Weise sich überzeugen: Fürs erste im gegenseitigen

Verkehr wirst du, wenn ein solcher mit einem solchen

Gemeinschaft hat, bei Auflösung der Verbindung niemals

finden, daß der Gerechte gegen den Ungerechten

im Vorteil ist, sondern vielmehr im Nachteil; dann in

Platon: Der Staat 40

den Beziehungen zum Staat zahlt der Gerechte, wenn

es sich um Steuern handelt, vom Gleichen mehr, der

andere weniger; und wenn es sich ums Einnehmen

handelt, so macht der eine keinen, der andere vielen

Gewinn. Und wenn beide ein Amt bekleiden, so trifft

den Gerechten wenn kein anderer so jedenfalls der

Nachteil, daß sein Hauswesen infolge der Vernachlässigung

in schlimmeren Stand kommt und er aus der

Staatskasse keinen Nutzen zieht, weil er gerecht ist,

und daß er außerdem verhaßt wird bei seinen Angehörigen

und Bekannten, wenn er ihnen nicht dem Rechte

zuwider dienen will; bei dem Ungerechten aber ist

alles dieses umgekehrt: ich meine nämlich denjenigen,

von dem ich eben gesprochen, den, welcher imstande

ist, seinen Vorteil in großemMaßstabe zu verfolgen.

Diesen mußt du in Betracht ziehen, wenn du beurteilen

willst, um wie viel mehr es ihm persönlich zuträglich

ist, ungerecht zu sein, als gerecht. Am allerleichtesten

aber wirst du es einsehen, wenn du an die vollendetste

Ungerechtigkeit herangehst, die den, der Unrecht

begeht, ganz glücklich macht, die aber, welche

Unrecht leiden und nicht Unrecht tun mögen, ganz unglücklich.

Das heißt aber Tyrannei, die das fremde

Gut nicht stückweise wegnimmt, sowohl heimlich als

mit offener Gewalt, Heiliges und Erlaubtes, Persönliches

und Öffentliches, sondern alles zusammen.

Wenn jemand von diesen Ungerechtigkeiten eine

Platon: Der Staat 41

einzelne begangen hat und es an den Tag kommt, so

wird er gestraft und hat die größte Schande; denn Kirchenräuber

und Seelenverkäufer und Einbrecher und

Räuber und Diebe heißen diejenigen, welche solche

Freveltaten einzeln verüben.Wenn aber jemand außer

der Habe der Bürger auch noch ihre Personen knechtet,

so bekommen sie statt jener beschimpfenden Benennungen

die Titel »glücklich« und »preiswürdig«,

nicht bloß von den Staatsangehörigen, sondern auch

von allen andern, die vernehmen, daß er die Ungerechtigkeit

im Großen treibt; denn nicht weil sie das

Ungerechte zu tun, sondern weil sie es zu leiden

fürchten, schmähen auf die Ungerechtigkeit die, welche

sie schmähen. So ist denn also, Sokrates, die Ungerechtigkeit,

wenn sie auf tüchtige Weise geschieht,

etwas Stärkeres und Edleres und Gewaltigeres als die

Gerechtigkeit, und wie ich von Anfang an sagte: das

dem Überlegenen Zuträgliche ist das Gerechte, und

das Ungerechte ist das, was einem selbst nützlich

und – zuträglich ist.

Nach diesenWorten wollte Thrasymachos weggehen,

nachdem er uns wie ein Bademeister einen dichten

und reichen Strom vonWorten über die Ohren gegossen

hatte. Aber die Anwesenden gaben es nicht zu,

sondern nötigten ihn, zu bleiben und über das Gesprochene

Rede zu stehen. Und ich selbst auch bat ihn

dringend und sagte: O wunderlicher Thrasymachos,

Platon: Der Staat 42

was hast du da für eine Rede unter uns geschleudert

und willst jetzt fortgehen, ehe du recht gelehrt oder

gelernt hast, ob es sich so verhält oder anders? Oder

glaubst du, daß es etwas Unbedeutendes sei, was du

zu bestimmen suchst, und nicht vielmehr die Lebensweise,

durch deren Befolgung ein jeder von uns das

nutzenbringendste Leben führen würde?

Bin ich denn in dieser Beziehung anderer Ansicht?

erwiderte Thrasymachos.

Es scheint in der Tat, sagte ich, als ob du nicht für

uns sorgtest und dich nicht darum bekümmertest, ob

wir schlechter oder besser leben werden infolge

davon, daß wir nicht wissen, was du zu wissen behauptest.

Aber, mein Guter, entschließe dich, auch

uns es zu zeigen: es wird dir wahrlich nicht übel angelegt

sein, was du uns, die wir so zahlreich sind.

Gutes erweist. Denn ich meinerseits sage dir, daß ich

nicht überzeugt bin und nicht glaube, daß Ungerechtigkeit

gewinnbringender sei als Gerechtigkeit, auch

nicht, wenn man sie gewähren läßt und sie nicht hindert,

zu tun, was sie will. Sondern, mein Guter, es sei

jemand ungerecht und imstande. Unrecht zu tun, entweder

weil er nicht entdeckt wird oder weil er es

durchfechten kann: dennoch überzeugt er mich nicht,

daß sie gewinnbringender sei als die Gerechtigkeit.

Und so geht’s vielleicht noch andern unter uns, nicht

allein mir. Überzeuge uns nun, mein Bester,

Platon: Der Staat 43

genügend, daß wir nicht richtig denken, wenn wir die

Gerechtigkeit über die Ungerechtigkeit stellen!

Wie soll ich dich aber überzeugen? entgegnete er;

wenn dich das nicht überzeugt hat, was ich eben gesagt

habe, was soll ich denn weiter mit dir anfangen?

Soll ich dir etwa die Vernunft eintrichtern?

Nein, bei Zeus, antwortete ich, das laß sein; statt

dessen bleibe vor allem bei dem, was du jedesmal

sagst, oder wenn du’s abändern willst, so ändere es

offen ab und täusche uns nicht! So aber siehst du,

Thrasymachos, – wir wollen nämlich das Frühere noch

in Betracht ziehen -, wie du zuerst den Arzt im strengen

Sinne aufgestellt hast, aber nachher den Hirten

nicht mehr genau im strengen Sinne festhalten zu

müssen glaubtest, sondern du glaubst, er sehe, sofern

er Hirt ist, beimMästen der Schafe nicht auf das

Beste der Schafe, sondern – wie einer, der eine Mahlzeit

halten und schmausen will, – auf die Schmauserei,

oder auch auf das Verkaufen, wie ein Geschäftsmann,

aber nicht wie ein Hirte. Aber die Hirtenkunst sorgt

doch wohl für nichts anderes, als dem, wofür sie aufgestellt

ist, das Beste zu verschaffen; denn für das auf

sie selbst sich Beziehende, daß sie vollkommen gut

sei, dafür ist doch wohl hinreichend gesorgt, solange

ihr nichts dazu fehlt, daß sie Hirtenkunst sei. So,

glaubte ich denn auch, müssen wir jetzt notwendig

zugestehen, daß jede Regierung, sofern sie Regierung

Platon: Der Staat 44

ist, auf keines andern Bestes sehen müsse als auf das

jener, der Regierten und ihrer Sorge Anvertrauten, im

Regieren des Staates wie der Einzelnen. Und glaubst

du denn, daß die, welche in den Staaten regieren, die

Regierenden im strengen Sinn, freiwillig regieren?

Nein, bei Zeus, erwiderte er, sondern ich weiß es

gewiß.

Wie, Thrasymachos? sagte ich; denkst du nicht

daran, daß die anderen Regierungsstellen niemand

freiwillig übernehmen mag, sondern sie fordern Belohnung,

weil ja das Regieren nicht ihnen selbst Vorteil

bringen werde, sondern den Regierten? Dann sage

mir so viel: Behaupten wir denn nicht, daß jede Kunst

dadurch jedesmal eine andere sei, daß sie eine andere

Wirkung hat? Und, mein Bester, gib nicht eine Antwort,

die nicht hierher gehört, damit wir auch etwas

zustande bringen!

Nun ja, erwiderte er, dadurch ist sie eine andere.

Also bietet auch jede uns einen besonderen Nutzen

und keinen gemeinsamen, z.B. die Heilkunst Gesundheit,

die Steuermannskunst Sicherheit im Schiffahren,

und die andern ebenso?

Allerdings.

Also auch die Kunst Lohn zu erwerben – den

Lohn? Denn das ist ja ihre Wirkung. Oder behauptest

du, daß die Heilkunst und die Steuermannskunst dieselbe

sei? Und wofern du, wie du dir vorgenommen,

Platon: Der Staat 45

scharf unterscheiden willst, so wirst du, wenn jemand

vom Steuern gesund wird, weil ihm das Seefahren zuträglich

ist, darum dennoch nicht sie Heilkunst nennen?

O nein, antwortete er.

Auch nicht, denke ich, die Kunst Lohn zu erwerben,

wenn jemand beim Lohndienst gesund ist?

O nein.

Wie nun? Nennst du die Heilkunst eine Lohnerwerbekunst,

wenn jemand durchs Heilen Lohn erwirbt?

Nein, sagte er.

Nun haben wir aber zugegeben, daß der Nutzen

jeder Kunst ein besonderer sei?

Allerdings, sagte er.

Wenn also alle Künstler gemeinsam einen Nutzen

haben, so haben sie ihn offenbar davon, daß sie das

nämliche gemeinsam noch zu ihrer Kunst hin anwenden?

So scheint’s, erwiderte er.

So behaupten wir denn, daß der Nutzen, den die

Künstler haben, indem sie Lohn gewinnen, ihnen

davon werde, daß sie dazu noch die Lohnerwerbekunst

anwenden.

Ungern gab er’s zu.

Also nicht von seiner eigenen Kunst hat jeder diesen

Nutzen, das Gewinnen von Lohn; sondern, genau

genommen, schafft die Heilkunst Gesundheit und die

Platon: Der Staat 46

Lohnerwerbekunst Lohn; die Baukunst ein Haus und

die an sie sich anschließende Lohnerwerbekunst

Lohn; und von den übrigen allen wirkt so jede ihr

Werk und schafft den Nutzen, zu dem sie geordnet ist.

Falls aber zu seiner Kunst kein Lohn hinzukommt,

hat dann der Künstler Nutzen von ihr?

Offenbar nicht, antwortete er.

Nützt er also auch nicht, wenn er umsonst arbeitet?

Ich glaube doch.

So ist also, Thrasymachos, das jetzt klar, daß keine

Kunst noch Regierung das ihr selbst Nützliche

schafft; sondern, wie wir schon längst gesagt haben,

sie schafft und gebietet das dem Regierten Mißliche,

indem sie das ihm als dem Schwächeren Zuträgliche

ins Auge faßt, nicht das dem Stärkeren Zuträgliche.

Und deshalb, mein lieber Thrasymachos, habe ich

auch vorhin gesagt, daß niemand Lust habe, freiwillig

zu regieren und sich mit der Verbesserung der

schlechten Lage anderer zu befassen, sondern Lohn

verlange, weil der, welcher recht nach der Kunst handelt,

nie für sein eigenes Bestes handelt noch es gebietet,

wenn er kunstgerecht gebietet, sondern für den

Regierten; und darum, scheint’s, müsse Belohnung

gereicht werden denen, die zum Regieren Lust bekommen

sollen, entweder Geld oder Ehre, oder aber

Strafe für den Fall, daß er nicht regiert.

Wie meinst du das, Sokrates? fragte Glaukon. Die

Platon: Der Staat 47

beiden Belohnungen verstehe ich; was du aber mit der

Strafe meinst, und wiefern du sie neben den Belohnungen

aufgeführt hast, habe ich noch nicht begriffen.

So verstehst du also die Belohnung der Besten

noch nicht, die, um deren willen dieWackersten regieren,

wenn sie regieren mögen? Oder weißt du

nicht, daß Ehrsucht und Geldgier für eine Schande

gelten und es auch sind?

O ja, erwiderte er.

Darum also, fuhr ich fort, mögen die Guten weder

um des Geldes willen regieren noch der Ehre wegen;

denn weder wollen sie offen für das Regieren Sold

nehmen und sich Söldlinge nennen lassen, noch ihn

infolge ihres Regierens selbst heimlich sich aneignen

und Diebe heißen: andererseits auch nicht um der

Ehre willen, denn sie sind nicht ehrsüchtig. Es muß

denn also bei ihnen eine Nötigung hinzukommen und

eine Strafe, wenn sie sollen regieren wollen; und deswegen

scheint’s, gilt es für schmählich, freiwillig,

ohne eine Nötigung abzuwarten, an das Regieren zu

gehen. Die größte Strafe aber ist, daß man von einem

Schlechteren regiert wird, wofern man nicht selbst regieren

mag; aus Furcht vor diesem scheinen mir die

edlen Männer zu regieren, wenn sie regieren. Und

dann gehen sie an’s Regieren nicht als an etwas

Gutes, noch in der Erwartung, daß sie es dabei gut

haben werden, sondern als an eine Notwendigkeit und

Platon: Der Staat 48

weil sie keine Besseren, als sie selbst sind, und auch

keine ebenso Guten haben, denen sie’s anvertrauen

könnten. Denn es scheint, wenn ein Staat aus lauter

guten Männern bestände, so würde man sich um das

Nichtregieren ebenso streiten wie jetzt um das Regieren,

und da würde es dann an den Tag kommen, daß

inWahrheit ein wahrhafter Regierer nicht die Art hat,

auf das zu sehen, was ihm selbst zuträglich ist, sondern

auf das, was dem Regierten zuträglich ist: so daß

jeder, der Einsicht hätte, es vorzöge, sich von einem

andern nützen zu lassen, statt sich damit zu bemühen,

andern zu nützen. Das also gebe ich dem Thrasymachos

schlechterdings nicht zu, daß das Gerechte das

dem Überlegenen Zuträgliche ist. Doch das wollen

wir ein anderes Mal untersuchen. Viel wichtiger

scheint mir zu sein, was Thrasymachos jetzt sagt,

indem er behauptet, das Leben des Ungerechten sei

besser als das des Gerechten; wie wählst nun du,

Glaukon? fragte ich; und welches von beiden hältst du

für das Richtigere?

Ich, erwiderte Glaukon, glaube, daß das Leben des

Gerechten vorteilhafter ist.

Hast du gehört, sagte ich, wie viele Vorteile Thrasymachos

eben an dem des Ungerechten aufgezählt

hat?

Gehört habe ich’s, versetzte er, aber ich glaube es

nicht.

Platon: Der Staat 49

Willst du nun, daß wir, wofern wir ein Mittel ausfindig

machen können, ihn überzeugen, daß er nicht

recht hat?

Wie sollte ich’s nicht wollen? antwortete er.

Falls wir nun, fuhr ich fort, seiner Rede gegenüber

die unsrige Punkt um Punkt entfalten, wie viele Vorteile

andererseits das Gerechtsein hat, und dann wieder

er, und dann wieder wir, so wird man die Vorteile

zusammenzurechnen und zu messen haben, die wir

beide an beidem angegeben haben, und wir werden

dann irgendwelche Richter zur Entscheidung nötig

haben; wenn wir aber, wie vorhin, bei der Untersuchung

denWeg der gegenseitigen Verständigung einschlagen,

so werden wir selbst zugleich Richter und

Redner sein.

Allerdings, sagte er.

Welche von beidenWeisen gefällt nun dir? fragte

ich.

Die letztere, erwiderte er.

Wohlan denn also, Thrasymachos, sagte ich, antworte

uns von neuem: Behauptest du, daß die vollendete

Ungerechtigkeit vorteilhafter sei als die vollendete

Gerechtigkeit?

Allerdings behaupte ich das, erwiderte er, und aus

welchen Gründen, habe ich angegeben.

Nun denn – wie sprichst du über sie in dieser Beziehung:

Nennst du das eine von beiden Tugend, das

Platon: Der Staat 50

andere Schlechtigkeit?

Wie sollte ich nicht?

Also die Gerechtigkeit Tugend und die Ungerechtigkeit

Schlechtigkeit?

Natürlich, du Schalk! erwiderte er: weil ich ja sage,

daß die Ungerechtigkeit nützlich sei, die Gerechtigkeit

aber nicht ?

Nun, wie denn?

Umgekehrt, antwortete er.

Also die Gerechtigkeit sei Schlechtigkeit?

Das nicht, aber eine sehr gründliche Gutmütigkeit.

Die Ungerechtigkeit also nennst du Bösartigkeit?

Nein, sondern Gescheitheit im Handeln, versetzte

er.

Du hältst also, Thrasymachos, die Ungerechten für

klug und gut?

Diejenigen allerdings, antwortete er, welche imstande

sind, in vollkommenerWeise Unrecht zu tun,

die ganze Staaten und Völker sich zu unterwerfen vermögen,

– während du, scheint es, meinst, ich rede von

Beutelschneidern. Es ist nun zwar auch das nützlich,

wofern es nicht entdeckt wird; indessen ist es nicht

der Rede wert, sondern nur das, was ich eben genannt

habe.

Was du sagen willst, erwiderte ich, verstehe ich

ganz wohl; aber darüber wundere ich mich, daß du

die Ungerechtigkeit zur Tugend undWeisheit

Platon: Der Staat 51

rechnest, die Gerechtigkeit aber zum Gegenteil.

Allerdings tue ich das.

Das ist nun schon unverdaulicher, mein Bester, bemerkte

ich, und es ist nicht mehr leicht, was man dazu

sagen soll. Denn hättest du behauptet, die Ungerechtigkeit

sei nützlich, jedoch wie andere Leute zugegeben,

daß sie eine Schlechtigkeit und Schmach sei, so

wüßten wir etwas zu sagen, indem wir uns an die gewöhnlichen

Begriffe hielten; nun aber willst du offenbar

behaupten, daß sie gar etwas Schönes und Dauerhaftes

sei, und willst ihr alles das beilegen, was wir

dem Gerechten beizulegen pflegen, indem du gewagt

hast, sie sogar zur Tugend undWeisheit zu rechnen.

Ganz richtig geweissagt, versetzte er.

Indessen, sagte ich, darf man kein Bedenken tragen,

der Behauptung untersuchend nachzugehen, solange

ich annehmen darf, daß du deine wirkliche Ansicht

aussprichst. Denn es scheint mir, Thrasymachos,

daß du jetzt wirklich nicht scherzest, sondern deine

Überzeugung in betreff der Gerechtigkeit aussprichst.

Was macht es dir aus, erwiderte er, ob es meine

Überzeugung ist oder nicht, und warum widerlegst du

nicht das Gesagte?

Nichts macht es mir aus, versetzte ich; aber versuche

mir nur noch auf folgendes Antwort zu geben:

Glaubst du, daß ein Gerechter vor dem andern etwas

voraushaben will?

Platon: Der Staat 52

Durchaus nicht, antwortete er; denn dann wäre er ja

nicht so höflich und einfältig, wie er ist.

Wie? Auch nicht im Gerechthandeln?

Auch darin nicht, erwiderte er.

Vor dem Ungerechten aber etwas vorauszuhaben

wird er für angemessen und gerecht halten, oder wird

er es nicht für gerecht halten?

Er wird’s wohl glauben und für angemessen halten,

versetzte er, aber es nicht vermögen.

Aber danach frage ich nicht, sagte ich, sondern ob

der Gerechte zwar vor dem Gerechten nichts vorauszuhaben

begehrt und will, wohl aber vor dem Ungerechten?

Nun, so ist’s, antwortete er.

Und der Ungerechte – begehrt er, vor dem Gerechten

etwas vorauszuhaben auch in dem Gerechthandeln?

Wie sollte er nicht? erwiderte er; denn er begehrt in

allem etwas vorauszuhaben.

Also auch vor dem ungerechten Menschen und

Handeln wird der Ungerechte etwas voraushaben wollen

und mit ihm wetteifern, damit er von allem am

meisten bekommt?

So ist’s.

Wir behaupten also, fuhr ich fort; der Gerechte will

vor dem Gleichen nichts voraushaben, wohl aber vor

dem Ungleichen, der Ungerechte aber sowohl vor dem

Platon: Der Staat 53

Gleichen wie vor dem Ungleichen?

Vortrefflich ausgedrückt, sagte er.

Und der Ungerechte, sprach ich, ist klug und gut,

der Gerechte aber keines von beiden.

Auch das muß ich loben, versetzte er.

Also, sagte ich, gleicht der Ungerechte auch dem

Klugen und Guten, der Gerechte aber nicht?

Es versteht sich von selbst, erwiderte er, daß, wer

ein derartiger ist, auch den derartigen gleicht, und wer

es nicht ist, ihnen auch nicht gleicht.

Schön; also jeder von beiden ist so wie die, denen

er gleicht.

Was denn? versetzte er.

Gut, Thrasymachos; nennst du einen Menschen

tonkundig und den andern tonunkundig?

Ja.

Welchen von beiden nennst du verständig und welchen

unverständig?

Natürlich den Tonkundigen verständig und den

Tonunkundigen unverständig.

Also gut in bezog auf das, worin er klug, und

schlecht in bezug auf das, worin er unverständig ist?

Freilich.

Und mit dem Heilkundigen ist’s ebenso?

Allerdings.

Glaubst du nun, mein Bester, daß ein tonkundiger

Mann, wenn er sich die Leier stimmt, vor einem

Platon: Der Staat 54

tonkundigen Manne etwas vorauszuhaben wünscht

und begehrt in bezug auf das Anspannen und Herablassen

der Saiten?

Ich glaube nicht.

Wie? Aber vor einem Tonunkundigen?

Notwendig, versetzte er.

Und der Heilkundige – will er im Essen und Trinken

etwas voraushaben vor einem heilkundigen

Manne oder dessen Verfahren?

Nein.

Aber vor einem nichtheilkundigen?

Ja.

Nun betrachte einmal alle Kunde und Unkunde, ob

du glaubst, daß irgend ein Kundiger mehr als ein anderer

Kundiger wird haben wollen sowohl im Tun als

im Reden, und ob nicht dasselbe wie der ihm Ähnliche

in bezug auf dieselbe Handlung?

Es wird wohl letzteres der Fall sein müssen, antwortete

er.

Wie nun – will der Unkundige nicht etwas voraushaben

auf gleicheWeise vor dem Kundigen wie vor

dem Unkundigen?

Wahrscheinlich.

Ist der Kundige weise?

Ja.

Und der Weise gut?

Ja.

Platon: Der Staat 55

So wird also der Gute undWeise vor seinesgleichen

nichts voraushaben wollen, wohl aber vor dem

Ungleichen und Entgegengesetzten?

So scheint’s, versetzte er.

Und der Schlechte und Unkundige sowohl vor dem

Gleichen als vor dem Entgegengesetzten?

Offenbar.

Nun will uns aber, Thrasymachos, sagte ich, der

Ungerechte etwas voraushaben vor dem Gleichen sowohl

als vor dem Entgegengesetzten. Oder hast du

nicht so gesagt?

Allerdings, erwiderte er.

Der Gerechte aber wird vor seinesgleichen nichts

voraushaben wollen, wohl aber vor dem Ungleichen?

Ja.

So gleicht also, sagte ich, der Gerechte demWeisen

und Guten, der Ungerechte aber dem Schlechten

und Unkundigen?

So scheint es.

Nun haben wir aber zugegeben, daß jeder von beiden

dasjenige auch sei, dem er gleiche?

Freilich haben wir’s zugegeben.

So haben wir denn also erwiesen, daß der Gerechte

gut und weise ist, der Ungerechte aber unkundig und

schlecht.

Thrasymachos gab das alles zu, aber nicht so

leicht, wie ich es jetzt erzähle, sondern sich sperrend

Platon: Der Staat 56

und mit Mühe, unter unsäglichem Schweiße, weil es

ohnehin ein Sommertag war; damals sah ich auch

zum erstenmal in meinem Leben den Thrasymachos

rot werden. Nachdem wir nun mit einander darüber

völlig einig geworden waren, daß die Gerechtigkeit

Tugend sei undWeisheit, die Ungerechtigkeit aber

Schlechtigkeit und Unverstand, fuhr ich fort: Nun ja,

das hätten wir denn also abgemacht; wir haben aber

auch behauptet, daß die Ungerechtigkeit etwas Dauerhaftes

sei; oder erinnerst du dich nicht, Thrasymachos?

Ich erinnere mich wohl, erwiderte er; aber ich bin

auch mit dem, was du eben sagst, nicht einverstanden

und wüßte darüber zu sprechen. Spräche ich aber, so,

weiß ich wohl, würdest du sagen, ich glaubte mich

auf der Rednerbühne. Entweder also laß mich sprechen,

soviel ich will, oder, wenn du fragen willst, so

frage: ich will dir, wie den altenWeibern, wenn sie

ein Märchen vorerzählen, »Ja, ja« sagen und mit dem

Kopfe nicken und ihn schütteln.

Nur ja nicht wider deine Überzeugung, sagte ich.

Nun ja, dir zu Gefallen, versetzte er, da du mich

nun einmal nicht reden läßt. Aber was willst du weiter?

Nichts, bei Zeus, antwortete ich: sondern wenn du

das tun willst, so tue es: ich will dich fragen.

Nur zu!

Platon: Der Staat 57

So frage ich dich also, wie zuvor, damit wir das

Gesagte auch in geordneter Reihenfolge untersuchen,

von welcher Art die Gerechtigkeit ist im Vergleich

mit der Ungerechtigkeit? Es ist nämlich behauptet

worden, daß die Ungerechtigkeit mächtiger und stärker

sei als die Gerechtigkeit; wenn aber nunmehr die

Gerechtigkeit Weisheit und Tugend ist, so wird sich

leicht zeigen, daß sie auch stärker ist als die Ungerechtigkeit,

da ja die Ungerechtigkeit Unverstand ist:

das wird jetzt jedermann einsehen. Indessen will ich’s

nicht auf so einfacheWeise untersuchen, Thrasymachos,

sondern etwa folgendermaßen: Von einem Staat

behauptest du, daß er ungerecht sei und andere Staaten

ungerechterweise zu knechten suche und geknechtet

habe und infolge davon auch wirklich viele unter

sich habe?

Wie sollte ich nicht? erwiderte er; und zwar wird

der beste Staat dies am ehesten tun und derjenige, der

am vollendetsten ungerecht ist.

Ich verstehe, sagte ich, das war deine Behauptung;

aber erwäge in bezug auf sie folgendes:Wird der

einem andern überlegen gewordene Staat seine Macht

ohne Gerechtigkeit behaupten, oder bedarf es dazu

notwendig der Gerechtigkeit?

Wenn, antwortete er, die Gerechtigkeit, wie du

eben behauptet hast,Weisheit ist, dann mit Gerechtigkeit;

wenn aber so, wie ich sagte, dann mit

Platon: Der Staat 58

Ungerechtigkeit.

Ich bin sehr erfreut, Thrasymachos, sagte ich, daß

du nicht bloß Ja und Nein nickst, sondern sogar ganz

gut antwortest.

Das tu’ ich eben dir zu Gefallen, versetzte er.

Das ist schön von dir; aber tue mir nun auch den

Gefallen und sage: Glaubst du, ein Gemeinwesen oder

ein Heer, oder Räuber oder Diebe, oder sonst eine

Menschenschar, die gemeinsam ungerechterweise auf

etwas ausgeht, könne etwas ausrichten, wenn sie einander

Unrecht tun?

Natürlich nicht, erwiderte er.

Wenn sie aber nicht Unrecht tun, geht es nicht

eher?

Allerdings.

Darum wohl, Thrasymachos, weil die Ungerechtigkeit

Zwiespalt und Haß und gegenseitigen Kampf verursacht,

die Gerechtigkeit aber Eintracht und Freundschaft.

Ist’s nicht so?

Meinethalben, sagte er, damit ich nicht Händel mit

dir bekomme.

Schön von dir, mein Bester. Nun sage mir dies:

Wenn also dies dasWerk der Ungerechtigkeit ist,

Haß zu erregen, wo sie immer ist, wird sie nicht auch,

wenn sie unter Freien und Knechten einkehrt, unter

diesen gegenseitigen Haß und Zwietracht entflammen

und sie unfähig machen, gemeinsam mit einander zu

Platon: Der Staat 59

handeln?

Allerdings.

Und wie? Wenn sie in zweien sich befindet, – werden

sie nicht in Zwist geraten, einander hassen und

Feinde werden sowohl gegen einander als gegen die

Gerechten?

Das werden sie, antwortete er.

Wenn nun aber, mein Vortrefflichster, die Ungerechtigkeit

einem Einzigen einwohnt, – wird sie dann

ihre Wirkung verlieren oder um nichts gemindert sie

behalten?

Sie mag sie ungemindert behalten, versetzte er.

So hat also offenbar die Ungerechtigkeit dieWirkung,

daß sie jeden, dem sie einwohnt, mag es nun

ein Staat sein oder ein Geschlecht oder ein Heer oder

was sonst immer, für’s erste unfähig macht, mit sich

selbst zu handeln infolge von Zwietracht und Uneinigkeit,

und überdies mit sich selbst und jedem Gegner

und dem Gerechten verfeindet? Ist’s nicht so?

Allerdings.

Auch wenn sie einem Einzigen einwohnt, wird sie,

denke ich, das alles schaffen, was sie ihrer Natur nach

bewirkt: für’s erste wird sie ihn unmächtig machen,

weil er mit sich in Zwiespalt und uneinig ist, sodann

sich selbst und den Gerechten verhaßt. Nicht wahr?

Ja.

Gerecht sind aber, mein Lieber, auch die Götter?

Platon: Der Staat 60

Meinetwegen, sagte er.

Also auch den Göttern verhaßt, Thrasymachos,

wird der Ungerechte sein, der Gerechte aber ihnen befreundet.

Fahre getrost fort und laß dir’s schmecken, sagte er:

ich werde nicht gegen dich auftreten, um nicht diese

da zu Feinden zu bekommen.

Nun so komm, sagte ich, trage vollends auch den

Rest der Bewirtung auf, indem du antwortest wie bisher!

Denn daß die Gerechten offenbar weiser und besser

und zum Handeln fähiger sind, die Ungerechten

aber unfähig etwas miteinander auszurichten – und

wenn wir auch je einmal von Ungerechten sagen, sie

haben etwas gemeinschaftlich mit einander kräftig

ausgeführt, so ist das nicht vollständig richtig ausgedrückt;

denn wenn sie ganz und gar ungerecht wären,

so hätten sie einander nicht verschont, sondern offenbar

wohnte ihnen ein Teil Gerechtigkeit ein, der bewirkte,

daß sie nicht gleichzeitig einander und denjenigen,

wider welche sie auszogen. Unrecht zufügten,

durch den sie ausgeführt haben, was sie ausführten,

daß sie durch die Ungerechtigkeit nur halb verdorben

auf das Ungerechte ausgegangen sind, da die ganz

Schlechten auch vollkommen ungerecht sind und zum

Handeln unfähig, – daß das sich so verhält, nicht aber

so, wie du es anfangs aufstelltest, begreife ich. Ob

nun aber auch die Gerechten besser leben als die

Platon: Der Staat 61

Ungerechten und glücklicher sind, was wir später zu

untersuchen uns vorgenommen haben, müssen wir

jetzt untersuchen. Zwar erhellt es, wie mir dünkt, auch

diesmal aus dem Gesagten; dennoch müssen wir es

noch besser untersuchen. Denn nicht von etwas

Gleichgültigem ist die Rede, sondern davon, wie man

leben müsse.

So untersuche es denn, sprach er.

Sogleich, erwiderte ich; so sage mir denn: Glaubst

du, daß es ein Geschäft des Pferdes gibt?

Ja.

Nimmst du das als Geschäft eines Pferdes oder irgend

eines anderen an, was man entweder ausschließlich

oder doch am besten mit jenem verrichtet?

Ich verstehe dich nicht, sagte er.

Oder so: Siehst du mit etwas anderem als mit den

Augen?

Natürlich nein.

Und hörst du mit etwas anderem als mit den

Ohren?

Keineswegs.

So werden wir also mit Recht sagen, daß dies dieser

Geschäft sei?

Allerdings.

Und wie? Könntest du nicht auch mit einem

Schwerte und einem Federmesser und vielem anderen

einen Zweig von einerWeinrebe abschneiden?

Platon: Der Staat 62

Wie sollte ich nicht?

Aber mit nichts, denke ich, so gut wie mit einer

hierzu gearbeiteten Hippe?

Richtig.

Werden wir also nicht dies als ihr Geschäft bezeichnen?

Das werden wir freilich.

Jetzt, denke ich, wirst du besser verstehen, was ich

eben meinte, als ich fragte: ob nicht das eines jeden

Dinges Geschäft sei, was es entweder allein oder besser

als alle andern verrichtet?

O ja, antwortete er, ich verstehe es, und ich glaube,

daß dies jedes Dinges Geschäft ist.

Schön, sagte ich. Glaubst du nun auch, daß jedes

Ding, dem ein Geschäft zugewiesen ist, auch eine Tugend

habe? Halten wir uns wieder an dieselben Beispiele:

Die Augen, sagen wir, haben ein Geschäft?

Ja.

Haben nun die Augen auch eine Tugend?

Auch dies.

Und die Ohren – hatten sie ein Geschäft?

Ja.

Also auch eine Tugend?

Auch dies.

Und ist’s mit allem anderen nicht ebenso?

O ja.

Gib acht: Können die Augen je ihr Geschäft gut

Platon: Der Staat 63

verrichten, wenn sie nicht ihre eigentümliche Tugend

haben, sondern statt der Tugend Schlechtigkeit?

Wie wäre das möglich? erwiderte er: denn du

meinst wohl Blindheit anstatt des Sehens.

Was immer, sagte ich, ihre Tugend ist; denn danach

frage ich noch nicht, sondern danach, ob das

Verrichtende mit seiner eigentümlichen Tugend sein

Geschäft gut verrichten wird, mit Schlechtigkeit aber

schlecht?

Damit hast du recht, versetzte er.

So werden also auch die Ohren, wenn sie ihrer Tugend

beraubt werden, ihr Geschäft schlecht verrichten?

Allerdings.

Nehmen wir dasselbe nun auch von allem andern

an?

Ich denke.

So komm und erwäge nach diesem folgendes: Gibt

es ein Geschäft der Seele, welches du schlechterdings

mit nichts anderem in der Welt verrichten kannst?

Zum Beispiel folgendes: Das Sorgen und Regieren

und Beraten und alles Derartige – können wir es mit

Recht etwas anderem als der Seele zuteilen und behaupten,

daß es jenem eigen sei?

Nein, nichts anderem.

Und wie ist’s mit dem Leben – werden wir es als

Geschäft der Seele bezeichnen?

Platon: Der Staat 64

Ganz wohl, erwiderte er.

Also behaupten wir, daß es auch eine Tugend der

Seele gebe?

Jawohl.

Wird nun, Thrasymachos, die Seele ihre Geschäfte

gut verrichten, wenn sie ihrer eigentümlichen Tugend

beraubt ist, oder ist das unmöglich?

Es ist unmöglich.

Es muß also notwendig eine schlechte Seele

schlecht regieren und sorgen, die gute aber in allen

diesen Beziehungen gut verfahren.

Notwendig.

Nun haben wir aber zugegeben, daß Gerechtigkeit

Tugend der Seele sei und Ungerechtigkeit ihre

Schlechtigkeit?

Allerdings haben wir’s zugegeben.

Die gerechte Seele und der gerechte Mensch wird

also gut leben, und der ungerechte schlecht.

Es folgt dies offenbar aus deinenWorten, versetzte

er.

Nun ist aber doch derjenige, welcher gut lebt, selig

und glücklich, und wer nicht – das Gegenteil?

Wie wäre es anders möglich?

Der Gerechte ist also glücklich, der Ungerechte unglücklich.

Meinethalben, sagte er.

Unglücklichsein ist nun aber doch nicht vorteilhaft,

wohl aber das Glücklichsein.

Platon: Der Staat 65

Wie wäre es anders möglich?

Nimmermehr also, mein bester Thrasymachos, ist

die Ungerechtigkeit nützlicher als die Gerechtigkeit.

Das soll denn also, Sokrates, dein Festschmaus

zum Bendistage sein, sagte er.

Den hab’ ich dir zu danken, Thrasymachos, versetzte

ich, weil du freundlich gegen mich geworden bist

und das Schmollen aufgegeben hast. Doch habe ich

nicht ordentlich geschmaust, durch meine eigene,

nicht durch deine Schuld; sondern wie Naschsüchtige

rasch nach jedem Gerichte, das aufgetragen wird,

greifen und davon kosten, ehe sie noch das vorhergehende

gehörig genossen haben, so komme auch ich

mir vor, indem ich, noch ehe wir das zuerst Betrachtete

gefunden hatten, was nämlich das Gerechte sei, dies

fahren gelassen und mich darauf gestürzt habe, zu untersuchen,

ob dasselbe Schlechtigkeit ist und Unverstand,

oder Weisheit und Tugend, und dann, als später

die Behauptung dazwischenkam, daß die Ungerechtigkeit

vorteilhafter sei als die Gerechtigkeit, mich

nicht enthalten konnte, von jenem weg auf dieses

überzugehen, so daß jetzt für mich das Ergebnis aus

dem Gespräche ist, daß ich gar nichts weiß. Denn da

ich ja nicht weiß, was das Gerechte ist, so kann ich

unmöglich wissen, ob es eine Tugend ist oder nicht,

und ob der, der es hat, unglücklich ist oder glücklich.

Platon: Der Staat 66

Zweites Buch

Wie ich das gesagt, glaubte ich, mit dem Reden

fertig zu sein; es war aber vielmehr, wie es schien,

erst der Anfang. Denn Glaukon, der allezeit bei jedem

Anlasse höchst tapfer ist, nahm auch jetzt Thrasymachos’

Zurücktreten nicht an, sondern sagte: Sokrates,

willst du uns überzeugt zu haben scheinen oder wirklich

überzeugen, daß es unbedingt besser ist, gerecht

zu sein als ungerecht?

Wirklich davon zu überzeugen zöge ich vor, wenn

es in meiner Kraft stände, antwortete ich.

Dann tust du nicht, versetzte er, was du willst.

Denn sage mir: Glaubst du, daß es ein Gutes gibt, das

wir zu haben wünschen nicht aus Verlangen nach dem

daraus sich Ergebenden, sondern weil wir es selbst

um seiner selbst willen lieb haben? Wie z.B. das

Frohsein und die Genüsse, die unschädlich sind, und

aus denen für die Folgezeit nichts erwächst, als daß

man froh ist, wenn man sie hat.

Ich glaube, erwiderte ich, daß es derartiges gibt.

Und wie? Was wir sowohl selbst und um seiner

selbst willen lieben als auch wegen des aus ihm Hervorgehenden?

Dergleichen hinwiederum das Verständigsein

und das Sehen und das Gesundsein ist; denn

das derartige haben wir ja wohl aus beiden Gründen

Platon: Der Staat 67

lieb.

Ja, sagte ich.

Siehst du auch noch eine dritte Art von Gutem,

worunter das Turnen gehört und das Arzneinehmen in

Krankheiten und das Arzneiverordnen und womit man

sonst noch Geld verdient? Denn von diesem werden

wir sagen, daß es zwar lästig ist, aber nützlich für

uns, und es selbst um seiner selbst willen würden wir

wohl nicht zu haben wünschen, wohl aber um des

Lohnes willen und wegen alles anderen, was daraus

entsteht.

Es gibt auch dieses Dritte, sagte ich; aber was nun

weiter? Unter welches von diesen, fragte er, rechnest

du die Gerechtigkeit?

Ich denke, antwortete ich, zum Besten, zu dem, was

sowohl um seiner selbst willen als wegen des daraus

sich Ergebenden liebhaben muß, wer glücklich werden

will.

So scheint es aber nicht der Menge, versetzte er,

sondern daß sie zu der lästigen Art gehöre, die man

wegen des Lohnes und des guten Namens der öffentlichen

Meinung zuliebe treiben, an sich selbst aber als

beschwerlich fliehen müsse.

Ich weiß, antwortete ich, daß man sie so ansieht,

und längst wird sie von Thrasymachos als solche getadelt

[, die Ungerechtigkeit aber gelobt]; aber ich

bin, wie es scheint, hartköpfig.

Platon: Der Staat 68

Nun denn, so höre auch mich, versetzte er, falls du

damit einverstanden bist. Denn Thrasymachos hat

sich meines Bedünkens früher als er sollte von deiner

Zauberkraft wie eine Schlange einschläfern lassen;

mir aber ist der Nachweis in bezug auf beides noch

nicht nach meinem Sinne erfolgt: denn ich wünsche

zu hören, was beides (Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit)

ist und welcheWirkung es an und für sich hat,

wenn es in der Seele ist; die Belohnungen aber und

was aus beiden hervorgeht, die will ich beiseite lassen.

Ich will es nun folgendermaßen machen, falls du

damit einverstanden bist: Ich will den Faden des Gesprächs

von Thrasymachos aufnehmen und zuerst

sagen, was man als dasWesen und den Ursprung der

Gerechtigkeit bezeichnet; zweitens, daß alle, welche

sie treiben, ungern sie treiben, als etwas Notwendiges,

nicht aber als etwas Gutes; drittens, daß sie recht

daran tun, weil ja, wie sie sagen, das Leben des Ungerechten

viel besser ist als das des Gerechten. Mir freilich,

Sokrates, kommt es nicht so vor; indessen weiß

ich mir nicht zu helfen, weil Thrasymachos und tausend

andere mir die Ohren vollgeschwatzt haben; dagegen

die Ausführung für die Gerechtigkeit, wie sie

besser sei als die Ungerechtigkeit, habe ich noch von

niemand vernommen, wie ich möchte; ich möchte es

aber an und für sich selbst gepriesen hören, und von

dir glaube ich am ehesten Auskunft zu erhalten. Ich

Platon: Der Staat 69

will denn also in ausgedehnter Darstellung das ungerechte

Leben loben und dann dir zeigen, auf welche

Weise ich von dir die Ungerechtigkeit getadelt und

die Gerechtigkeit gelobt hören möchte. Aber sieh zu,

ob dir mein Vorschlag recht ist!

Ganz und gar, erwiderte ich; denn über was anderes

könnte ein Verständiger mit größerem Vergnügen

oft sprechen und hören?

Sehr schön, versetzte er; so höre denn, was ich zuerst

darüber ausführen zu wollen erklärte, was und

welcher Art und woraus entstanden die Gerechtigkeit

ist.

SeinemWesen nach, sagt man, sei das Unrechttun

etwas Gutes, das Unrechtleiden ein Übel; dabei aber

sei das Unrechtleiden ein größeres Übel als das Unrechttun

ein Gut: wenn sie daher einander Unrecht tun

und von einander Unrecht leiden und von beidem zu

kosten bekommen, so finden es diejenigen, die nicht

imstande sind, dem einen zu entfliehen und das andere

zu wählen, vorteilhafter, sich mit einander dahin zu

vertragen, daß man weder Unrecht tue noch leide; und

infolgedessen hätten sie begonnen, sich Gesetze zu

machen und Verträge unter einander zu schließen, und

hätten das vom Gesetze Gebotene das Gesetzliche

und Gerechte genannt. Und das sei denn die Entstehung

und dasWesen der Gerechtigkeit, die die Mitte

halte zwischen dem größten Gute, dem straflosen

Platon: Der Staat 70

Unrechttun, und dem größten Übel, der Unfähigkeit,

erlittenes Unrecht zu rächen: das Gerechte aber, als

das zwischen diesen beiden in der Mitte Stehende,

habe man lieb nicht als etwas Gutes, sondern man

ehre es, weil man zum Unrechttun zu schwach sei.

Denn wer Unrecht zu tun vermöge und ein rechter

Mann sei, der werde nie mit jemand sich dahin vertragen,

weder Unrecht zu tun noch sich antun zu lassen:

er müßte sonst ein Narr sein. Dies und von dieser Art

wäre nun also, Sokrates, dasWesen der Gerechtigkeit,

und dies das, woraus sie entsteht, nach der gewöhnlichen

Auffassung.

Daß aber auch die, welche sie üben, nur aus Unfähigkeit,

Unrecht zu tun, gegen ihre Neigung sie üben,

werden wir am ehesten wahrnehmen, wenn wir es mit

unserer Erwägung so machen:Wir wollen beiden,

dem Gerechten und dem Ungerechten, Freiheit geben

zu tun, was sie nur wollen, und dann nachgehen und

zusehen, wohin seine Neigung jeden von beiden treiben

wird. Da werden wir denn den Gerechten ertappen,

wie er mit dem Ungerechten zusammengeht aus

Sucht mehr zu bekommen, was jede Natur an sich als

etwas Gutes verfolgt, und wovon sie erst durch Gesetz

und Nötigung zur Achtung der Gleichheit herübergebracht

wird. Die Freiheit, die ich meine, wäre

ungefähr in der Art, daß ihnen eine Kraft würde, wie

sie einst [Gyges,] der Ahnherr des Lydiers besessen

Platon: Der Staat 71

haben soll. Er sei nämlich ein Hirte im Dienste des

damaligen Herrschers von Lydien gewesen, und infolge

starken Regens und eines Erdbebens sei ein Riß in

der Erde entstanden und eine Öffnung an dem Orte,

wo er weidete.Wie er das sah, habe er sich gewundert

und sei hinabgestiegen und habe da, unter anderem

Wunderbaren, von dem die Sage erzählt, auch ein

hohles ehernes Pferd erblickt, mit Türen, zu denen er

hineingeguckt und innen einen Leichnam, wie es

schien, von mehr als menschlicher Größe gewahrt

habe. Dieser habe sonst nichts gehabt als an der Hand

einen goldenen Ring, den er sich an den Finger gesteckt

habe, und dann sei er herausgestiegen. Bei der

gewöhnlichen Zusammenkunft der Hirten, um dem

Könige den Monatsbericht über die Herden zu erstatten,

habe darauf auch er sich eingefunden, mit dem

Ring am Finger.Wie er so unter den übrigen saß,

habe er zufällig den Ringkasten gegen sich, dem Innern

der Hand zu, gedreht; infolgedessen sei er seinen

Nebensitzern unsichtbar geworden, und sie haben von

ihm als einem Abwesenden gesprochen. Er habe sich

gewundert, wieder den Ring angefaßt und dessen Kasten

nach außen gedreht, und darauf sei er sichtbar geworden.

Als er dies bemerkt, habe er mit dem Ringe

den Versuch gemacht, ob er diese Kraft besitze: und

wirklich sei es ihm immer so gegangen, daß, wenn er

den Kasten nach innen gedreht, er unsichtbar

Platon: Der Staat 72

geworden sei, und sichtbar, wenn er ihn nach außen

gedreht. Nach dieser Entdeckung habe er sogleich es

dahin zu bringen gewußt, daß er einer der an den

König Abgesendeten wurde. Da habe er denn dessen

Weib zum Ehebruch verführt, habe in Gemeinschaft

mit ihr dem Könige nachgestellt, ihn ermordet und

sich der Herrschaft bemächtigt. Wenn es nun zwei

solcher Ringe gäbe und den einen der Gerechte sich

ansteckte, den andern der Ungerechte, so wäre, wie

mir scheint, wohl keiner von so eherner Festigkeit,

daß er bei der Gerechtigkeit bliebe und es über sich

gewänne, fremden Gutes sich zu enthalten und es

nicht zu berühren, trotzdem daß er ohne Scheu sogar

vorn Markte weg nehmen dürfte, was er wollte, und in

die Häuser hineingehen und beiwohnen, wem er wollte,

und morden und aus dem Gefängnis befreien, wen

er wollte, und überhaupt handeln wie ein Gott unter

den Menschen.Wenn er aber so handelte, so würde er

nicht verschieden von dem andern verfahren, sondern

beide gingen denselbenWeg. Und doch wird man

dies als ein sicheres Zeichen betrachten, daß niemand

freiwillig gerecht ist, sondern infolge von Nötigung,

weil es für den Einzelnen nichts Gutes ist; denn

glaubt sich jeder imstande. Unrecht zu tun, so tut er’s.

Jedermann meint nämlich, daß die Ungerechtigkeit für

den Einzelnen weit vorteilhafter sei als die Gerechtigkeit,

und diese Meinung ist richtig, wie derjenige

Platon: Der Staat 73

behauptet, der über einen solchen Gegenstand sich

ausspricht. Denn wenn jemand im Besitze solcher

Freiheit nie Unrecht tun wollte und fremdes Gut nicht

berühren würde, so würde er allen, die es bemerkten,

höchst unglücklich und unverständig erscheinen; einander

gegenüber aber würden sie ihn loben, indem sie

einander täuschten, aus Furcht, Unrecht zu erleiden.

Damit verhält es sich nun also.

Sodann das Urteil selbst über das Leben derjenigen,

von denen wir reden, werden wir nur dann imstande

sein richtig zu fällen, wofern wir den Gerechtesten

und den Ungerechtesten einander gegenüberstellen,

sonst nicht.Wie stellen wir sie nun einander gegenüber?

Folgendermaßen: Nehmen wir weder dem

Ungerechten etwas von seiner Ungerechtigkeit noch

dem Gerechten etwas von seiner Gerechtigkeit, setzen

wir vielmehr beide als vollendet in ihrem Treiben.

Fürs erste nun der Ungerechte handle wie die großen

Meister: wie z.B. ein ausgezeichneter Steuermann

oder Arzt das in seiner Kunst Mögliche und das Unmögliche

zu unterscheiden weiß und jenes unternimmt,

dieses unterläßt und überdies, wenn er je einmal

einen Mißgriff gemacht hat, imstande ist, ihn zu

verbessern,- ebenso muß der Ungerechte, wenn er

ganz ungerecht sein soll, seine ungerechten Handlungen

so geschickt angreifen, daß man sie nicht bemerkt;

einen, der sich ertappen läßt, muß man für

Platon: Der Staat 74

einen schlechten halten; denn die äußerste Ungerechtigkeit

ist: gerecht zu scheinen, während man es nicht

ist. Man muß nun dem vollendeten Ungerechten die

vollendetste Ungerechtigkeit zuteilen und nichts

davon nehmen, sondern zugeben, daß er, während er

die größten Ungerechtigkeiten begeht, sich den größten

Ruf hinsichtlich der Gerechtigkeit erworben hat,

und falls er je einen Mißgriff begeht, ihn zu verbessern

imstande ist, indem er überzeugend zu sprechen

vermag, wenn etwas von seinen Ungerechtigkeiten zur

Anzeige kommt, und Gewalt anzuwenden, wo immer

Gewalt erforderlich ist, durchMut und Stärke und den

Besitz von Freunden undMitteln. Nachdem wir diesen

in solcher Art aufgestellt haben, wollen wir den

Gerechten in der Erörterung neben ihn stellen, einen

geraden und edlen Mann, der, wie Aischylos sagt,

nicht gut scheinen, sondern sein will. Das Scheinen

also muß man wegnehmen. Denn wenn er gerecht

scheint, so werden ihm als einem so Scheinenden

Ehren und Geschenke zufallen, und es ist dann ungewiß,

ob er wegen des Gerechten oder um der Ehren

und Geschenke willen so ist. Man muß ihn also alles

andern außer der Gerechtigkeit entkleiden und seine

Lage als der des Vorigen entgegengesetzt darstellen:

während er nämlich keine Ungerechtigkeit begeht,

soll er den größten Schein der Ungerechtigkeit haben,

damit er hinsichtlich der Gerechtigkeit geprüft sei, ob

Platon: Der Staat 75

er sich nicht erweichen lasse von der Verleumdung

und deren Folgen; und er bleibe unwandelbar bis zu

seinem Tode, sein Leben lang ungerecht erscheinend,

inWirklichkeit aber gerecht, damit beide, wenn sie

die äußerste Grenze erreicht haben, der eine in der

Gerechtigkeit, der andere in der Ungerechtigkeit, beurteilt

werden, wer von beiden der glücklichere sei.

Ei, ei, sagte ich, mein lieber Glaukon, du säuberst

ja die beiden Leute für die Beurteilung so gründlich

wie Bildsäulen!

So sehr ich nur kann, versetzte er. Sind beide so

beschaffen, so ist es, glaube ich, nicht mehr schwer,

darzulegen, was für ein Leben beider wartet. Also

heraus damit; und falls es etwas plump ausfällt, so

glaube, Sokrates, daß nicht ich rede, sondern die, die

die Ungerechtigkeit mehr preisen als die Gerechtigkeit.

Sie werden denn sagen, daß der Gerechte unter

diesen Umständen gegeißelt, gefoltert, gebunden werden

wird, daß ihm die Augen ausgebrannt werden,

und daß er zuletzt nach allen Mißhandlungen gekreuzigt

werden und einsehen wird, daß nun gerecht nicht

sein, sondern scheinen muß. DasWort des Aischylos

würde also viel richtiger auf den Ungerechten angewendet.

Denn inWahrheit werden sie sagen, daß der

Ungerechte, sofern er etwas treibt, das mit der Wahrheit

zusammenhängt, und nicht nach dem Scheine

lebt, nicht ungerecht erscheinen wolle, sondern sein,

Platon: Der Staat 76

Und eine tiefe Furche zieht er durch den Geist,

Aus der hervorsproßt wohlbedachter Rat,

zuerst zu regieren im Staat, weil er als gerecht erscheint,

dann zu heiraten, aus welchem Hause er will,

und zu verheiraten, an wen er will, sich anzuschließen

und zu verbinden, mit wem er Lust hat, und über das

alles Vorteil und Gewinn zu haben, weil er sich das

Unrechttun nicht verdrießen läßt. Infolgedessen wird

er in Kämpfen, persönlichen und öffentlichen, über

die Feinde siegen und die Oberhand gewinnen, infolge

davon reich werden, seinen Freunden wohltun und

seinen Feinden schaden können und den Göttern

Opfer undWeihgeschenke in großer Zahl und aufglänzendeWeise

darbringen und viel besser als der

Gerechte den Göttern und denjenigen Menschen,

denen er will, dienen, so daß er natürlich auch auf die

Liebe der Götter einen größeren Anspruch hat als der

Gerechte. So sagen sie, Sokrates, daß von Göttern

und Menschen dem Ungerechten das Leben angenehmer

gemacht werde als dem Gerechten.

Nachdem Glaukon dies gesprochen, hatte ich im

Sinne etwas darauf zu erwidern; sein Bruder Adeimantos

aber sagte: Du glaubst doch wohl nicht, Sokrates,

daß über den Gegenstand schon hinreichend

gesprochen sei?

Nun, warum denn nicht? fragte ich.

Platon: Der Staat 77

Gerade das, versetzte er, ist nicht gesagt, was am

ehesten hätte gesagt werden sollen.

Nun, wie es im Sprichwort heißt: Jedem stehe ein

Bruder zur Seite, so hilf auch du aus, wenn hier noch

etwas mangelt! Wiewohl schon das von diesem Gesagte

ausreicht, mich niederzuringen und außerstand

zu setzen, der Gerechtigkeit zu Hilfe zu kommen.

Nichts da, erwiderte er; du muß auch folgendes

noch hören; wir müssen nämlich auch die Darstellungen

durchgehen, welche den von diesem gegebenen

entgegengesetzt sind, die die Gerechtigkeit loben und

die Ungerechtigkeit tadeln, damit deutlicher werde,

was Glaukon zu wollen scheint. Es sprechen nämlich

die Väter zu ihren Kindern, und wer sonst für jemand

besorgt ist, und ermahnen sie, man müsse gerecht

sein, indem sie nicht die Gerechtigkeit an sich selbst

preisen, sondern den guten Namen, den sie schafft,

damit einem, wenn man für gerecht gelte, infolge dieses

Rufes Ehrenstellen zuteil werden und Frauen und

alles das, was Glaukon eben aufgezählt hat als Folgen

des guten Namens bei dem Ungerechten. Noch weiter

aber gehen jene in dem, was sie über den Rufsagen;

denn sie kommen mit dem Beifall der Götter daher

und wissen da unendlich viel Gutes zu nennen, das

nach ihrer Angabe die Götter den Frommen verleihen,

wie der gute Hesiod und Homer sagen: jener, die Götter

machen, daß die Eichen für die Gerechten

Platon: Der Staat 78

Eicheln zu eierst tragen und mitten Schwärme von

Bienen,

Und mit zottigem Vlies (sagt er) sind schwer

umhangen die Schafe,

und vieles andere Gute, das damit zusammenhängt.

Ähnlich auch der andere; denn er sagt:

…Wie ein untadliger König, welcher in Furcht vor

den Göttern

Recht und Gerechtigkeit schützt; ihm trägt denn die

dunkele Erde

Weizen und Gerste, mit Früchten beschwert

dastehen die Bäume,

Stets fort mehrt sich die Herde, das Meer reicht

Fische die Menge.

Noch lustiger spendet Musaios und sein Sohn den

Gerechten das Gute von den Göttern: sie führen sie

nämlich in ihrer Schilderung in die Unterwelt, lassen

sie da sich lagern, veranstalten ein Gastmahl der

Frommen und lassen sie da die ganze Zeit bekränzt

mit Zechen verbringen, indem sie als den schönsten

Lohn der Tugend ewige Trunkenheit betrachten. Andere

dehnen die Belohnung durch die Götter noch

weiter aus als jene: denn Kindeskinder, sagen sie, und

ein Geschlecht bleibe hinfort von dem Frommen und

Platon: Der Staat 79

seinen Eiden Getreuen. Mit diesem und ähnlichem

also lobpreisen sie die Gerechtigkeit. Die Gottlosen

aber und Ungerechten vergraben sie in einen

Schlamm in der Unterwelt und zwingen sie, in Sieben

Wasser zu tragen; und noch im Leben bringen sie sie

in schlechten Ruf, und was Glaukon von den Gerechten,

aber ungerecht Scheinenden, als ihre Strafen aufgezählt

hat, das sagen sie von den Ungerechten aus;

anderes wissen sie nicht. Das wäre denn also das Lob

und der Tadel beider Teile. Außerdem betrachte, Sokrates,

auch noch eine andere Art von Aussagen über

die Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, die man von

Laien wie von Dichtern hören kann!Wie aus einem

Munde singen alle, daß die Mäßigung und Gerechtigkeit

zwar etwas Schönes sei, aber auch etwas Schweres

und Mühseliges; die Zügellosigkeit aber und Ungerechtigkeit

sei angenehm und leicht zu erlangen und

nur der Meinung und dem Gesetze nach etwas

Schimpfliches. Auch vorteilhafter, sagen sie meist, sei

das Ungerechte denn das Gerechte, und sie sind gleich

bei der Hand, die Schlechten, welche reich sind und

sonstige Macht besitzen, glücklich zu preisen und zu

ehren, öffentlich und persönlich, die andern aber,

wenn sie schwach und arm sind, zu beschimpfen und

zu mißachten, obwohl sie zugeben, daß diese besser

sind als jene. Unter diesem allen aber ist das Abenteuerlichste,

was man über die Götter und die Tugend

Platon: Der Staat 80

sagen hört, daß nämlich auch die Götter schon vielen

Guten Unglück und ein schlechtes Leben zugeteilt

haben, und den Entgegengesetzten ein entgegengesetztes

Los. Und Bettelpriester undWahrsager ziehen

vor den Häusern Reicher herum und machen sie glauben,

daß sie im Besitze einer Kraft seien, die von den

Göttern durch Opfer und Zaubersprüche erlangt

werde, wenn etwa er oder seine Vorfahren ein Unrecht

begangen haben, dies gutzumachen unter Lustbarkeiten

und Festen; und falls er einem Feinde etwas antun

wolle, könne er mit wenig Kosten gleich gut einem

Gerechten wie einem Ungerechten schaden, indem sie

mit gewissen Zaubermitteln und Bannsprüchen die

Götter, wie sie sagen, bewegen, ihnen dienstbar zu

sein. Für alle diese Reden führen sie als Zeugen Dichter

an, indem die einen in betreff der Bequemlichkeit

des Schlechtseins anführen:

Hin zum Laster vermag man sogar scharweise zu

kommen,

Leichtlich, der Weg ist glatt und wohnt gar sehr in

der Nähe;

Doch vor die Tugend hin ist Schweiß um den

Göttern gestellet,

und ein weiter und steiler Weg. Die andern berufen

sich dafür, daß die Götter sich von den Menschen

Platon: Der Staat 81

bestimmen lassen, auf Homer, weil auch dieser gesagt

hat:

Selbst Götter sind zu erflehen;

Diese vermag durch Opfer und demutsvolle Gebete,

Durch Fettdampf und Spenden der Sterbliche

günstig zu stimmen,

Welcher sie bittet, nachdem er gesündiget oder

gefrevelt.

Und einen ganzen Haufen Bücher bringen sie daher

von Musaios und Orpheus, den Nachkommen der Selene

und der Musen, wie es heißt, nach denen sie Opferhandlungen

verrichten, indem sie nicht nur Einzelne,

sondern auch ganze Staaten glauben machen,

daß es Befreiungen und Reinigungen von Ungerechtigkeiten

gebe mittelst Opfer und der Spielerei von

Lustbarkeiten sowohl für noch Lebende als auch für

Gestorbene, die sie dennWeihen nennen, die uns von

den Übeln des Jenseits befreien; wer aber nicht opfert,

dessen wartet Schreckliches.

Dies alles, mein lieber Sokrates, was in solcher

Weise und so vielfach gesagt wird in betreff der Tugend

und des Lasters, wie die Menschen und Götter

sich dazu verhalten hinsichtlich der Achtung, – wie

glauben wir, daß es die Seele von Jünglingen stimme,

die es hören und von Natur gut beanlagt sind und

Platon: Der Staat 82

fähig, auf alles Gesprochene gleichsam loszufliegen

und sich daraus herauszulesen, wie man beschaffen

sein und welchenWeg man gehen müsse, um am besten

durchs Leben zu kommen? Wahrscheinlich wird

ein solcher zu sich mit Pindars bekanntenWorten

sagen: »Soll ich

Auf den Pfad des Rechts, grad die Burg hinan,

Oder mit schleichendem Trug mich hinaufziehn

und so mich umschanzend durchs Leben gehen?

Denn wie ich gehört habe, heißt es, wenn ich gerecht

sei, habe ich davon keinen Nutzen, falls ich es nicht

auch scheine, wohl aber Beschwerden und offenbare

Nachteile; dem Ungerechten aber, der sich den Schein

der Gerechtigkeit zu verschaffen weiß, wird ein gottvolles

Leben zugeschrieben.Wenn also der Schein,

wie mich dieWeisen lehren, dieWahrheit auch zu

Boden ringt und über das Glück verfügt, so muß man

denn ganz ihm sich zuwenden: ich muß als Eingang

und Verzierung ein Scheinbild von Tugend rings um

mich herum malen und des hochweisen Archilochos

schlauen und vielgewandten Fuchs hinter mir herziehen.

« – »Aber, aber«, wird jemand sagen, »es ist nicht

leicht, immer mit seiner Schlechtigkeit unentdeckt zu

bleiben.« Es ist eben überhaupt nichts Großes leicht,

werden wir erwidern; trotzdem müssen wir, wenn wir

Platon: Der Staat 83

glücklich sein wollen, diesenWeg gehen, wie die

Spur der Rede uns leitet. Denn zum Zwecke des Unentdecktbleibens

werden wir Verschwörungen und

Verbrüderungen schließen; auch gibt es Lehrer der

Überredekunst, welche einem die Fertigkeit beibringen,

zum Volke und vor Gericht zu sprechen; und infolgedessen

werden wir das eine durch Überredung,

das andere durch Gewalt zustande bringen, so daß wir

in Vorteil kommen und nicht bestraft werden. »Aber

freilich, den Göttern ist weder möglich verborgen zu

bleiben noch Gewalt anzutun.« Nun, – wenn es keine

gibt oder sie sich nicht um die menschlichen Dinge

kümmern, so brauchen auch wir uns nicht zu kümmern

um das Verborgenbleiben. Gibt es aber Götter

und nehmen sie sich der Menschen an, so kennen wir

sie und haben von ihnen gehört einzig durch die

Reden und die Dichter, die ihre Abstammung beschrieben

haben. Diese aber sagen selbst, daß man

durch Opfer und durch demütiges Flehen undWeihgeschenke

sie umstimmen und herumbringen könne.

Entweder nun muß man diesen beides glauben – oder

keines von beidem; hat man ihnen zu glauben, so muß

man Unrecht tun und nach den ungerechten Handlungen

Opfer darbringen. Denn sind wir gerecht, so werden

wir von den Göttern nur nicht gestraft werden,

aber auch die aus der Ungerechtigkeit erwachsenden

Vorteile von uns stoßen; sind wir aber ungerecht, so

Platon: Der Staat 84

werden wir Vorteil haben und, wenn wir Übertretungen

und Fehler begehen, durch Flehen sie bewegen

und ungestraft davonkommen. »Aber freilich in der

Unterwelt werden wir bestraft werden für die hier begangenen

Ungerechtigkeiten, entweder wir selbst oder

unsere Kindeskinder.« Indessen, mein Lieber, wird er

sich besinnend sagen, da vermögen hinwiederum die

Weihen viel und die lösenden Götter, wie die größten

Staaten sagen und die als Göttersöhne geborenen

Dichter und Verkündiger der Götter, die angeben, daß

dies sich so verhalte.

Welche Gründe also hätten wir noch, um die Gerechtigkeit

der größten Ungerechtigkeit vorzuziehen, –

da wir diese nur mit scheinbarem Anstande verbinden

dürfen, um bei Göttern und Menschen im Leben und

nach dem Tode wohl zu fahren, wie die von den Meisten

und Höchsten gesprochene Rede lautet? Nach

allem Gesagten, wie ist es möglich, Sokrates, daß jemand

Lust hätte, die Gerechtigkeit zu ehren, der irgend

eine Stärke hat der Seele oder des Vermögens,

des Leibes oder des Geschlechtes, und nicht vielmehr

lachte, wenn er sie loben hört? Denn gewiß, wenn

auch jemand imstande ist, das Gesagte als unrichtig

zu erweisen, und vollständig sich überzeugt hat, daß

die Gerechtigkeit das Beste sei, so wird er wohl große

Nachsicht haben und den Ungerechten nicht zürnen;

sondern er weiß, daß – mit Ausnahme derer, die

Platon: Der Staat 85

vermöge einer ihrer göttlichen Natur eingepflanzten

Abneigung gegen das Unrechttun oder infolge gewonnener

Wissenschaft sich dessen enthalten – von den

andern kein Einziger aus freien Stücken gerecht ist,

sondern nur infolge von Unmännlichkeit oder des Alters

oder sonstiger Schwäche das Unrechttun tadelt,

weil er selbst dazu die Kraft nicht hat. Es erhellt dies

daraus: sobald einer von diesen zu Kraft gelangt, tut

er gleich Unrecht, so sehr er vermag. Und an allem

dem ist nichts anderes schuld als das, wovon diese

ganze Rede an dich, Sokrates, bei diesem und bei mir

ausgegangen ist, zu sagen: »Mein Bester, von euch

allen, die ihr Lobredner der Gerechtigkeit zu sein behauptet,

von den Heroen der Urzeit an, soweit von

diesen Kunde erhalten, bis auf die jetzt lebenden

Menschen, hat kein Einziger jemals die Ungerechtigkeit

getadelt oder die Gerechtigkeit gepriesen von

einer andern Seite, als sofern Ruf und Ehren und Geschenke

von ihnen abhängen; beides an sich aber,

nach seiner eigentümlichen Kraft, wie es in der Seele

dessen ist, der es hat und dem Blicke der Götter und

Menschen sich entzieht, hat noch nie jemand weder in

einer Dichtung noch in ungebundener Form befriedigend

beschrieben, wie nämlich das eine das größte

aller Übel sei, die die Seele an sich hat, die Gerechtigkeit

aber das größte Gut. Denn hättet ihr alle von Anfang

an so gesprochen und uns von Kindheit auf

Platon: Der Staat 86

davon überzeugt, so würden wir nicht einander bewachen,

daß wir nicht Unrecht tun, sondern jeder wäre

selbst bei sich der besteWächter, aus Furcht, er

möchte, wenn er Unrecht tue, das größte Übel in sich

aufnehmen.«

Dies, Sokrates, und vielleicht noch weiter als dies

könnte Thrasymachos oder sonst jemand über Gerechtigkeit

und Ungerechtigkeit sprechen, auf eine gehässigeWeise,

wie mir scheint, dieWirkung beider verkehrend.

Ich aber habe – ich brauche dir nichts zu verbergen

– aus Begierde, das Gegenteil aus deinem

Munde zu hören, mit möglichster Ausführlichkeit gesprochen.

Zeige uns nun durch deine Rede nicht nur,

daß die Gerechtigkeit besser ist als die Ungerechtigkeit,

sondern auch, wie jede von beiden den, der sie

hat, zurichtet, daß an und für sich selbst die eine

etwas Schlechtes, die andere etwas Gutes ist! Den

Schein aber nimm hinweg, wie Glaukon gewünscht

hat! Denn wofern du nicht auf beiden Seiten den wahren

Schein wegnimmst und den unwahren hinzusetzest,

so werden wir sagen, daß du nicht das Gerechte

lobst, sondern das Scheinen, auch nicht das Ungerechtsein

tadelst, sondern das Scheinen, und daß du

aufforderst, heimlich ungerecht zu sein, und dem

Thrasymachos darin recht gibst, daß das Gerechte das

für einen anderen Gute sei, »das dem Überlegenen

Zuträgliche«, und das Ungerechte das ihm selbst

Platon: Der Staat 87

Zuträgliche und Nützliche, für den Schwächeren aber

Unzuträgliche. Da du nun zugegeben hast, daß die

Gerechtigkeit zu den größten Gütern gehört, die teils

wegen des aus ihnen Fließenden wert sind besessen

zu werden, viel mehr aber um ihrer selbst willen, wie

bekanntlich das Sehen, Hören, Verständigsein und die

Gesundheit und was es sonst für Güter gibt, die vermöge

ihrer eigenen Natur und nicht dem Scheine nach

segensreich sind, – so lobe denn eben das an der Gerechtigkeit,

was sie an sich selbst dem nützt, der sie

hat, und die Ungerechtigkeit schadet; den Lohn und

Schein aber laß andere loben! Denn von andern ließe

ich mir’s gefallen, wenn sie auf dieseWeise die Gerechtigkeit

lobten und die Ungerechtigkeit tadelten,

indem sie nämlich an ihnen den Schein und den Lohn

preisen und schmähen würden, – von dir aber nicht,

wofern du es nicht ausdrücklich haben wolltest, weil

du dein ganzes Leben lang auf nichts anderes gesehen

hast als auf dies. Zeige uns also durch deine Rede

nicht bloß, daß die Gerechtigkeit besser ist als die

Ungerechtigkeit, sondern auch, wie jede von beiden

den, der sie hat, zurichtet, daß an und für sich selbst,

mögen sie vor Göttern und Menschen verborgen bleiben

oder nicht, die eine etwas Gutes, die andere etwas

Schlechtes ist!

Von jeher hatte ich meine Freude gehabt an dem

Wiesen des Glaukon und Adeimantos, und so freute

Platon: Der Staat 88

ich mich denn besonders jetzt, wo ich solches hörte,

herzlich und sagte: Nicht übel hat von euch, ihr

Söhne jenes echten Mannes, der Liebhaber des Glaukon

in dem Anfange seines elegischen Gedichts gesagt,

als ihr euch in der Schlacht bei Megara ausgezeichnet

hattet, indem es dort heißt:

Söhne Aristons, göttliche Sprossen gefeierten

Mannes!

Dies scheint mir, meine Freunde, treffend zu sein;

denn ihr habt wirklich göttlichesWesen bewiesen,

wenn ihr euch nicht überzeugen ließet, daß die Ungerechtigkeit

besser ist als die Gerechtigkeit, während

ihr doch imstande seid, so darüber zu sprechen. Es

scheint mir aber, als hättet ihr inWahrheit euch nicht

überzeugen lassen; ich schließe das aus eurer sonstigen

Alt; denn nach euren Worten für sich würde ich

euch nicht getraut haben. Je mehr ich euch aber traue,

um so größer ist meine Verlegenheit, was ich anfangen

soll: denn einmal weiß ich nicht, wie ich helfen

sollte, da ich mir dazu unfähig scheine, was ich daraus

schließe, daß ihr das, was ich dem Thrasymachos

gegenüber erwiesen zu haben glaubte, daß nämlich

die Gerechtigkeit besser sei als die Ungerechtigkeit,

mir nicht habt gelten lassen. Andererseits weiß ich

auch nicht, wie ich das Helfen sollte unterlassen

Platon: Der Staat 89

können: denn ich fürchte, es wäre sogar eine Sünde,

sich zu entziehen, wenn man Zeuge ist, wie die Gerechtigkeit

verlästert wird, und ihr nicht zu Hilfe zu

kommen, solange man noch atmen und einen Laut

von sich geben kann. So ist es denn das Beste, ihr

beizustehen, so gut ich eben vermag.

Glaukon und die andern baten, auf alleWeise zu

Hilfe zu kommen und das Gespräch nicht fallen zu

lassen, sondern zu erforschen, was beides (Gerechtigkeit

und Ungerechtigkeit) sei, und wie es sich mit dem

Nutzen beider inWahrheit verhalte.

Ich sprach nun meine Ansicht dahin aus: Die Untersuchung,

zu der wir uns anschicken, ist keine geringe,

sondern erfordert ein scharfes Auge, wie mir

scheint. Da wir nun aber, sagte ich, darin nicht stark

sind, so halte ich für passend, eine solche Untersuchung

desselben vorzunehmen, wie es etwa wäre,

wenn jemand einen nicht sehrWeitsichtigen eine kleine

Schrift aus der Ferne lesen heißen würde, und dann

jemand auf den Gedanken käme, daß man dieselbe

Schrift vielleicht anderswo größer und auf Größerem

haben könne: da wäre es wohl, denke ich, offenbar ein

glücklicher Fund, zuerst diese zu lesen und dann erst

bei der kleineren nachzusehen, ob sie etwa dasselbe

ist.

Allerdings, sagte Adeimantos; aber wo siehst du,

Sokrates, etwas Derartiges in der Untersuchung über

Platon: Der Staat 90

das Gerechte?

Ich will es dir sagen, antwortete ich. Gerechtigkeit,

sagen wir, ist vorhanden in dem einzelnen Manne, sie

ist es aber auch in einem ganzen Staat?

Allerdings, versetzte er.

Nun ist aber doch ein Staat größer als ein einzelner

Mann?

Freilich, erwiderte er.

Vielleicht demnach ist mehr Gerechtigkeit in dem

Größeren und hier leichter zu erkennen. Seid ihr also

einverstanden, so wollen wir zuerst an den Staaten

untersuchen, von welcher Art sie ist, und alsdann

auch in dem Einzelnen sie erforschen, indem wir die

Ähnlichkeit mit dem Größeren in der Gestalt des

Kleineren betrachten.

Ja, dein Vorschlag scheint mir ganz schön, sagte

er.

Wenn wir also, fuhr ich fort, einen Staat in seinem

Entstehen betrachten würden, so würden wir wohl

auch seine Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit entstehen

sehen?

Ich denke wohl, versetzte er.

Bei seinem Entstehen dürfen wir wohl hoffen, das,

was wir suchen, leichter zu entdecken?

Um vieles, antwortete er.

Meint ihr also, wir sollen den Versuch machen, es

durchzuführen? Denn ich glaube, daß es keine kleine

Platon: Der Staat 91

Arbeit ist. Besinnt euch denn!

Wir haben uns schon besonnen, erwiderte Adeimantos;

tu uns nur den Gefallen!

Es entsteht denn also, begann ich, ein Staat, wie

mir scheint, wenn jeder von uns nicht sich selbst

genug ist, sondern viele Bedürfnisse hat. Oder was

anderes hältst du für den Anfang, einen Staat zu gründen?

Nichts, erwiderte er.

So nimmt also jeder den einen für dieses, einen anderen

für ein anderes Bedürfnis zu Hilfe: und da der

Bedürfnisse viele sind, so bekommen wir viele Genossen

und Helfer auf einenWohnplatz zusammen,

und dieses Zusammenwohnen nennen wir Staat: nicht

wahr?

Allerdings.

Aber auch gegenseitige Mitteilung, wenn dazu

Stoff vorhanden, und Teilnahme findet statt, indem

der Einzelne dies für sich besser findet.

Allerdings.

Nun denn, sagte ich, wir wollen einen Staat von

vornherein aufbauen. Bauen wird ihn, wie es scheint,

unser Bedürfnis.

Jawohl.

Nun ist aber das erste und größte Bedürfnis die

Herbeischaffung von Nahrung um des Seins und Lebens

willen.

Platon: Der Staat 92

Gewiß.

Das zweite das derWohnung, das dritte das der

Kleidung und dergleichen.

So ist’s.

Wohlan denn, sagte ich, wie wird der Staat so vieles

herbeizuschaffen vermögen? Nicht wahr, der eine

ist ein Landmann, der andere ein Häuserbauer, ein

dritter Weber? Oder wollen wir auch noch einen

Schuhmacher hinzufügen oder irgend einen andern,

der für den Leib sorgt?

Recht so.

So bestände also der notdürftigste Staat aus vier

bis fünf Menschen.

Offenbar.

Wie ist’s nun? Soll jeder von diesen seine Arbeit

für alle gemeinschaftlich machen, z.B. der Landmann

allein für vier Getreide herbeischaffen und die vierfache

Zeit und Mühe aufwenden zu Herbeischaffung

von Getreide, oder soll er, um sie unbekümmert, für

sich allein den vierten Teil dieses Getreides schaffen

in dem vierten Teil der Zeit und die drei andern Vierteile

das eine zu Anschaffung des Hauses verwenden,

das andere zu der eines Kleides, das dritte zu der von

Schuhen, und nicht mit der Mitteilung an andere sich

bemühen, sondern allein für sich seine Sachen besorgen?

Adeimantos erwiderte: Vielleicht, Sokrates, ist es

Platon: Der Staat 93

auf die erste Alt leichter als auf die letztere.

Das ist in der Tat, bei Zeus, nicht auffallend, versetzte

ich; denn ich bin während deinerWorte auf den

Gedanken gekommen, daß erstens jeder von uns dem

andern von Natur durchaus nicht gleich ist, sondern

verschieden in bezug auf die Anlage, je zu Verrichtung

eines anderen Geschäftes. Oder meinst du nicht?

O ja.

Und dann: wird es einer schöner machen, wenn er,

der Einzelne, viele Fertigkeiten übt, oder wenn ein

Einzelner nur eine einzige?

Wenn einer nur eine einzige übt, antwortete er.

Nun ist aber auch dies klar, daß, wenn jemand die

rechte Zeit für ein Geschäft vorüber läßt, es verdorben

ist?

Freilich.

Denn das Geschäft hat, scheint mir’s, keine Lust zu

warten, bis der Handelnde Zeit hat, sondern der Handelnde

muß dem Geschäfte durchaus nachgehen und

darf es nicht als Nebensache behandeln.

Notwendig.

Hiernach wird also alles mehr und schöner und

leichter, wenn es ein Einzelner nach seiner Anlage

und zur rechten Zeit verrichtet, alles übrige aber beiseite

läßt.

Allerdings.

So brauchen wir denn, Adeimantos, zu den

Platon: Der Staat 94

erwähnten Verrichtungen mehr als vier Gemeindeglieder;

denn der Landmann wird sich, wie es scheint, seinen

Pflug nicht selbst machen, wenn er gut ausfallen

soll, noch einen Spaten oder die übrigenWerkzeuge

alle, die zum Landbau gehören. Ebenso auch nicht der

Häuserbauer: auch dieser braucht vieles, und der

Weber und Schuhmacher gleichfalls: oder nicht?

O ja.

Es werden also Zimmerleute und Schmiede und

viele andere Handwerker dieser Art Genossen unseres

kleinen Gemeinwesens werden und es bevölkert machen?

Allerdings.

Nun wäre es aber noch kein besonders großes,

wenn wir ihnen Rinderhirten und Schäfer und sonstige

Hüter hinzufügten, damit die Landleute zum Pflügen

Rinder hätten und die Bauleute zu den Fuhren in

Gemeinschaft mit den Landleuten Zugvieh gebrauchen

könnten, und dieWeber und Schuhmacher Häute

undWolle.

Das wäre aber, bemerkte er, keine kleine Gemeinde,

die das alles hätte.

Indessen, fuhr ich fort, das Gemeinwesen an einem

Orte zu gründen, wo es der Einfuhr nicht bedarf, ist

nahezu unmöglich.

Freilich ist’s so.

Es würden daher weiter andere nötig sein, die ihm

Platon: Der Staat 95

aus andern Staaten herbeischaffen, was es bedarf.

Allerdings.

Falls nun aber der Ausgesandte mit leeren Händen

kommt, ohne etwas zu bringen von dem, was diejenigen

brauchen, von denen sie das holen lassen, was sie

selbst bedürfen, so wird er auch mit leeren Händen

abziehen: nicht wahr?

So scheint mir.

Man muß demnach zu Hause nicht nur das für sich

selbst Zureichende schaffen, sondern auch derartiges

und so viel, wie jene bedürfen?

Allerdings.

Eine größere Zahl Landleute und der sonstigen Arbeiter

bedarf demnach unser Staat.

Allerdings.

Auch wohl von den Gehilfen, welche die Aus- und

Einfuhr zu besorgen haben; das sind aber die Kaufleute,

nicht wahr?

Ja.

Auch Kaufleute also werden wir bedürfen.

Gewiß.

Und falls der Handel zur See stattfindet, so werden

noch viele andere nötig sein, die sich auf Arbeiten

verstehen, die sich auf das Meer beziehen.

Allerdings viele.

Weiter: im Städtewesen selbst – auf welcheWeise

werden sie da einander mitteilen von dem, was jeder

Platon: Der Staat 96

arbeitet? Um dessen willen haben wir ja eine Gemeinschaft

gestiftet und ein Gemeinwesen gegründet.

Offenbar, antwortete er, durch Verkaufen und Kaufen.

So werden wir also infolgedessen einen Markt

und als verabredetes Zeichen für den Tausch eine

Münze bekommen?

Allerdings.

Falls man der Landmann oder sonst einer der Arbeiter,

der etwas von ihm Gefertigtes auf den Markt

bringt, nicht zu derselben Zeit kommt wie die, welche

das Seinige einzutauschen wünschen, – wird er seine

Arbeit versäumen und auf demMarkt müßig sitzen?

Keineswegs, erwiderte er, sondern es gibt Leute,

welche, wenn sie das sehen, sich zur Aushilfe hierfür

anschicken, und zwar in den gut eingerichteten Gemeinwesen

so ziemlich die körperlich Schwächsten

und solche, die unfähig sind, andere Geschäfte zu verrichten.

Denn sie müssen dableiben in der Gegend des

Marktes und das eine für Geld eintauschen bei denen,

welche etwas verkaufen wollen, und hinwiederum an

andere, die einzukaufen wünschen, für Geld vertauschen.

Dieses Bedürfnis also, sprach ich, wird in unserem

Staat Händlern die Entstehung geben. Oder heißen

wir nicht Händler diejenigen, welche, auf demMarkte

sitzend, in bezug auf Kaufen und Verkaufen aushelfen;

dagegen die, welche in den Städten herumziehen,

Platon: Der Staat 97

Kaufleute?

Allerdings.

Nun gibt es aber, glaube ich, auch noch andere Gehilfen,

die zwar hinsichtlich des Geistes der Aufnahme

in die Gemeinschaft nicht besonders würdig

wären, aber vermöge ihrer Körperstärke zu schweren

Arbeiten tüchtig sind; diese verkaufen die Verwendung

ihrer Kraft, nennen diesen Preis Lohn und heißen

deswegen, denke ich, Lohndiener; nicht wahr?

Freilich.

Auch Lohndiener also, scheint es, gehören zur Vervollständigung

des Staates.

Ich glaube.

Ist nun, Adeimantos, unser Staat so erwachsen, daß

er vollständig ist?

Vielleicht.

Wo wäre nun wohl in ihm die Gerechtigkeit und

Ungerechtigkeit? Und in welchem von dem Betrachteten

ist sie mit hineingekommen?

Ich weiß es nicht, Sokrates, versetzte er, wenn nicht

etwa in einem Bedürfnis derselben in ihrem Verhältnis

zu einander.

Vielleicht, sagte ich, hast du recht; gehen wir denn

ohne Zögern an die Untersuchung! – Fürs erste nun

wollen wir sehen, aufweicheWeise die so Eingerichteten

leben werden. Nicht wahr, sie werden beim Bereiten

von Getreide undWein und Kleidern und

Platon: Der Staat 98

Schuhen und beim Bauen von Häusern in der guten

Jahreszeit meist leicht gekleidet und unbeschuht arbeiten,

in der schlechten aber gehörig eingehüllt und

beschuht? Und sich nähren werden sie dadurch, daß

sie aus Gerste grobes und ausWeizen feines Mehl

verfertigen und das eine auswirken, das andere kneten?

Dann werden sie tüchtige Laibe undWeißbrote

auf Stroh oder reinlichem Laube vor sich hinstellen,

gelagert auf Streuen von Efeu und Myrten, und werden

schmausen samt ihren Kindern undWein dazu

trinken, bekränzt und die Götter preisend, und fröhlich

mit einander verkehren und nicht mehr Kinder

zeugen, als sie ernähren können, aus Furcht vor

Armut und Kämpfen.

Da fiel Glaukon ein: Es scheint, du läßt die Leute

ohne Zukost schmausen.

Du hast recht, versetzte ich. Ich habe vergessen,

daß sie auch Zukost haben werden; natürlich werden

sie Salz und Oliven und Käse und Zwiebeln und Gemüse,

was man eben auf dem Lande zu benützen

pflegt, zubereiten. Auch einen Nachtisch wollen wir

ihnen meinethalben vorsetzen von Feigen und Kichererbsen

und Bohnen, und Myrtenbeeren und Eicheln

werden sie am Feuer rösten und mäßig dazu trinken,

und so werden sie friedlich und gesund, wie natürlich,

ihr Leben verbringen und in hohem Alter sterbend

ihren Nachkommen ein anderes ähnliches Leben

Platon: Der Staat 99

hinterlassen.

Da meinte jener: Würdest du, Sokrates, ein Gemeinwesen

von Schweinen aufbauen, mit was anderem

als hiermit würdest du sie füttern?

Aber wie anders machen, Glaukon? fragte ich.

Dem Brauche gemäß, antwortete er: aufpolstern

müssen sie gelagert sein, denke ich, wenn sie nicht ein

elendes Leben führen sollen, und an Tischen speisen

sowohl Zukost, wie man sie jetzt hat, als auch Nachtisch.

Gut, versetzte ich, ich verstehe: Wir betrachten,

scheint’s, nicht bloß, wie ein Staat entsteht, sondern

gleich auch einen üppigen Staat. Nun, vielleicht schadet’s

gar nichts; denn wenn wir auch einen solchen betrachten,

so gewahren wir vielleicht die Gerechtigkeit

und Ungerechtigkeit, wie sie in den Staaten sich erzeugen.

Das wahre Gemeinwesen nun zwar scheint

uns das beschriebene zu sein, gleichsam eines im Zustande

der Gesundheit; wenn ihr aber wollt, daß wir

auch das aufgedunsene Gemeinwesen besehen, so

steht dem nichts imWege. Es werden nämlich,

scheint es, diese Dinge manchen nicht genügen, auch

nicht diese Lebensweise; sondern es werden noch Polster

dabei sein und Tische und sonstiges Gerät, ferner

Zukost und Salben und Räucherwerk und Freudenmädchen

und Backwerk, und zwar alles dies in großer

Auswahl. Und auch in bezug auf das, was wir zuerst

Platon: Der Staat 100

nannten, werden wir nicht mehr bloß das Unentbehrliche

annehmen, nämlich bei den Häusern und Kleidern

und Schuhen, sondern die Malerei muß man in Bewegung

setzen und Gold und Elfenbein und alles dergleichen

anschaffen; nicht wahr?

Ja, antwortete er.

So müssen wir also wiederum das Gemeinwesen

größer machen; denn jenes gesunde reicht nicht mehr

aus, sondern man muß es jetzt mitWulst ausfüllen

und mit einer Masse von Dingen, die nicht mehr der

Notdurft halber in den Staaten sind, dergleichen alle

Jäger sind und die Nachahmer, deren es viele gibt sowohl

in bezug auf Formen und Farben als auf die

Tonkunst, und Dichter samt deren Gehilfen, die

Rhapsoden, Schauspieler, Reigentänzer, Theaterunternehmer

und die Verfertiger von mancherlei Gerät,

unter anderem von dem, was zum weiblichen Putz gehört.

Wir werden dann auch mehr Diener bedürfen.

Oder glaubst du nicht, daß wir Knabenerzieher brauchen,

Ammen,Wärterinnen, Kammerjungfern, Barbiere

und andererseits Köche und Bäcker? Weiter

werden wir Schweinehirten haben müssen; denn im

früheren Gemeinwesen hatten wir keine, weil wir

nicht sie brauchten; in dem nunmehrigen aber werden

wir auch diese noch dazu haben müssen: auch noch

sehr vieles sonstige Mastvieh werden wir brauchen,

wenn man es essen will: nicht wahr?

Platon: Der Staat 101

Natürlich.

Dann werden wir auch Ärzte nötig haben, bei dieser

Lebensweise viel eher als bei der früheren?

Jawohl.

Und das Gebiet, das damals zureichend war, die

damaligen Bewohner zu nähten, wird jetzt statt zureichend

zu klein sein. Oder meinst du nicht?

O ja.

Wir müßten also von dem Lande der Nachbarn

etwas abschneiden, wenn es hinreichen soll zumWeiden

und Ackern, und jene hinwiederum von dem unsrigen,

wenn auch sie sich auf endlosen Erwerb von

Gütern einlassen, die Grenze des Notwendigen überschreitend?

Das ist ganz notwendig, Sokrates, erwiderte er.

So werden wir also Krieg haben infolgedessen,

Glaukon,- oder was sonst?

Eben dies, versetzte er.

Und wir wollen noch nichts sagen, fuhr ich fort,

weder von dem Schlimmen noch von dem Guten, was

etwa der Krieg wirkt, sondern nur so viel, daß wir

nunmehr die Entstehung des Kriegs gefunden haben,

und daraus entsteht vorzugsweise Unheil für die Staaten,

für die Einzelnen wie für das Ganze, wofern

Krieg entsteht.

Allerdings.

Weiter nun, mein Lieber, muß man den Staat

Platon: Der Staat 102

größer haben für ein nicht kleines Häuflein, sondern

ein ganzes Heer, welches auszieht und die gesamte

Habe und die, die wir eben genannt haben, gegen Angriffe

verteidigt.

Wieso? fragte er; sind sie selbst denn nicht genügend?

Nein, entgegnete ich, wenn anders die Zugeständnisse

richtig waren, welche du und wir alle machten,

als wir den Staat bildeten; denn wir haben doch, wenn

du dich erinnerst, zugestanden, daß unmöglich ein

Einzelner viele Künste gut ausüben könne.

Das ist wahr, sagte er.

Wie nun, fuhr ich fort, hältst du das Kämpfen im

Kriege nicht für etwas Kunstartiges?

Freilich, sehr, erwiderte er.

Darf man etwa für die Kriegskunst weniger besorgt

sein als für die Schusterkunst?

Nimmermehr.

Nun haben wir aber dem Schuster nicht gestattet,

daß er zugleich Landwirt sein wolle oderWeber oder

Häuserbauer, damit uns das Schustergeschäft gut besorgt

werde; und ebenso haben wir jedem von den andern

ein einziges Geschäft zugewiesen, zu dem er natürliche

Anlagen hat und auf weiches beschränkt und

des Übrigen enthoben und sein Leben lang mit jenem

sich beschäftigend, die rechten Zeiten nicht versäumend,

er etwas Schönes leisten sollte; und was auf

Platon: Der Staat 103

den Krieg sich bezieht, ist das nicht von der größten

Wichtigkeit, wenn es gut geleistet wird? Oder ist es

so leicht, daß auch ein Landwirt zugleich Kriegskundiger

sein kann, und ein Schuster oder wer irgend

sonst eine Kunst treibt, – während kein Mensch im

Brettspiel oder Würfeln tüchtig sein wird, wenn er

nicht eben dieses von Jugend an treibt, sondern es

bloß als Nebensache behandelt? Und wer einen Schild

in die Hand nimmt oder ein anderes Stück der kriegerischenWaffen

undWerkzeuge, wird der noch am

gleichen Tage ein tüchtiger Kämpfer als Schwerbewaffneter

oder in einer anderen Kampfart, die im

Kriege vorkommt, während von den übrigenWerkzeugen

keines gleich, wenn man es in die Hand

nimmt, jemanden zum Kenner oder Meister macht

noch auch von Nutzen ist, wenn man nicht von jedem

sich Kenntnis erworben und hinreichende Übung

darin verschafft hat?

Da wären dieWerkzeuge viel wert, antwortete er.

Je mehr denn also, fuhr ich fort, das Geschäft der

Wächter anWichtigkeit hervorragt, desto mehr wird

es Enthebung von den übrigen Arbeiten und besondere

Kunst und Sorgfalt bedürfen.

Ich denke, erwiderte er.

Auch wohl einer zu diesem Geschäfte selbst geschickten

Natur?

Natürlich.

Platon: Der Staat 104

Unsere Aufgabe wäre denn, scheint es, wofern wir

es vermögen, auszuwählen, welche und was für Naturen

geschickt seien zum Bewachen des Gemeinwesens.

Allerdings.

Da haben wir, bei Zeus, kein geringes Geschäft

übernommen, sagte ich; indessen wollen wir uns ihm

nicht feig entziehen, soweit unsere Kraft es gestattet.

Nein, gewiß nicht, versetzte er.

Glaubst du nun, daß in bezug auf das Bewachen

ein Unterschied ist zwischen einem jungen Hund von

guter Rasse und einem Jüngling von edlem Geschlechte?

Wie meinst du das?

Zum Beispiel müssen beide scharfe Sinne haben,

um wahrzunehmen, und Gelenkigkeit, um demWahrgenommenen

nachzusetzen, und andererseits Stärke,

wenn es gilt, mit dem Ergriffenen zu kämpfen.

Allerdings Bedarfes alles dessen.

Und wohl auch Tapferkeit braucht er, wofern er gut

kämpfen soll?

Selbstverständlich.

Wird nun aber tapfer sein, was leidenschaftslos ist,

sei es ein Pferd oder ein Hund oder ein sonstiges lebendesWesen

? Oder hast du nicht bemerkt, wie die

Leidenschaft etwas nicht zu Bekämpfendes und nicht

zu Besiegendes ist, dessen Vorhandensein jede Seele

Platon: Der Staat 105

gegen alles furchtlos und unbezwinglich macht?

Ja, ich habe es bemerkt.

Hinsichtlich des Leibes ist nun also klar, wie der

Wächter beschaffen sein muß?

Ja.

Und auch in betreff der Seele, daß er leidenschaftlich

sein muß?

Auch dies.

Wie können sie nun aber, mein Glaukon, fragte ich,

wenn sie so beschaffen sind, verträglich sein gegen

einander und gegen die übrigen Gemeindeglieder?

Nicht leicht, bei Zeus, antwortete er.

Nun sollten sie aber doch gegen die Ihrigen mild

sein und den Feinden gefährlich; wo nicht, so werden

sie nicht warten, bis andere sie verderben, sondern

werden das vorher selbst tun.

Du hast recht, sagte er.

Was wollen wir nun anfangen? sagte ich; wo werden

wir einen zugleich sanften und leidenschaftlichen

Charakter finden? Denn die sanfte Natur ist doch

wohl der leidenschaftlichen entgegengesetzt.

Offenbar.

Indessen, wenn man eins von diesen beiden ihm

wegnimmt, wird er kein guterWächter werden. Das

scheint aber unmöglich, und so wäre es denn unmöglich,

daß es einen gutenWächter gebe.

So scheint’s, sagte er.

Platon: Der Staat 106

In dieser Verlegenheit blickte ich auf das Frühere

zurück und sagte: Es geschieht uns recht, mein

Freund, daß wir in Verlegenheit gekommen sind;

denn wir sind dem vorher gewählten Bilde untreu geworden.

Wieso?

Wir haben nicht beachtet, daß es wirklich Naturen

von der Art gibt, wie wir sie für unmöglich hielten,

die nämlich diese beiden Gegensätze in sich vereinigen.

Wo denn?

Man kann sie auch bei andernWesen antreffen,

nicht zum mindesten aber bei demjenigen, mit dem

wir denWächter verglichen haben. Denn du weißt

doch von den edeln Hunden, daß das von Natur ihre

Art ist, gegen Vertraute und Bekannte so sanft als

möglich zu sein, gegen Unbekannte aber das Gegenteil.

Das weiß ich allerdings.

Es ist denn also, versetzte ich, dieses möglich, und

es ist nicht widernatürlich, daß wir denWächter in

dieser Art haben wollen.

Es scheint nicht.

So glaubst du denn also, daß, wer ein guterWächter

werden soll, auch das noch bedarf, daß er außer

dem Leidenschaftlichen überdies seiner Natur nach

ein Denker (Philosoph) sei?

Platon: Der Staat 107

Wieso? fragte er; ich verstehe das nicht.

Auch das kannst du an den Hunden bemerken, und

es ist wirklich bewundernswürdig an dem Tiere.

Was denn ?

Daß, wenn es einen Unbekannten sieht, es böse

wird, wenn ihm auch zuvor kein Leid geschehen ist,

und wenn es einen Bekannten sieht, es freundlich ist,

auch wenn ihm nie von diesem etwas Gutes zuteil geworden

ist. Oder hast du das noch nie bewundert?

Bis dahin habe ich noch nie so genau darauf geachtet,

erwiderte er; daß sie es aber so machen, ist gewiß.

Das scheint eine hübsche Eigenheit seiner Natur zu

sein, und etwas wahrhaft Denkerisches.

Wieso denn?

Sofern er eine befreundete und eine feindliche Erscheinung

nach nichts anderem unterscheidet als danach,

daß er die eine kennengelernt hat, die andere

nicht. Und wie sollte nun das nicht wißbegierig sein,

was nachWissen und Nichtwissen das Eigene und

das Fremde unterscheidet?

Schlechterdings muß es das sein.

Nun ist aber, fuhr ich fort, dasWißbegierige und

dasWeisheitsbegierige dasselbe?

Freilich, versetzte er.

So dürfen wir denn also getrost auch beimMenschen

annehmen, daß, wenn er gegen die Angehörigen

und Bekannten sanft sein soll, er von Natur

Platon: Der Staat 108

weisheitsbegierig und wißbegierig sein muß?

Wir dürfen es, erwiderte er.

Weisheitsbegierig und leidenschaftlich und rasch

und stark wird also von Natur unserWächter des

Staates sein, wenn er ein guter sein soll.

Allerdings, antwortete er.

Dieser wäre denn also in dieser Art vorhanden; auf

welcheWeise werden sie uns nun aber erzogen und

gebildet werden? Und wird uns dies, wenn wir es betrachten,

förderlich sein, um das zu erkennen, um dessen

willen wir alles betrachten, die Gerechtigkeit und

Ungerechtigkeit, wie sie in einem Staate entsteht?

Doch wir wollen nicht eine erforderliche Untersuchung

vorschnell unterlassen, aber auch nicht zu umständlich

dabei werden.

Da erwiderte Glaukons Bruder: Immerhin hege ich

die Erwartung, daß diese Untersuchung hierfür förderlich

ist.

Nun, mein lieber Adeimantos, sagte ich, dann wollen

wir, bei Zeus, davon nicht lassen, auch nicht,

wenn sie etwas ausführlich sein sollte.

Nein, ja nicht.

Nun denn, so wollen wir wie auf dem Gebiet der

Dichtung dichten und in aller Muße die Männer in

Gedanken bilden.

Ja, so ist’s recht.

Worin besteht nun die Bildung? Oder ist es nicht

Platon: Der Staat 109

schwer, eine bessere zu ersinnen, als die durch lange

Erfahrung geschaffene ist? Und die ist für den Leib

die Turnkunst und für die Seele die Musenkunst.

Jawohl.

Werden wir nun nicht bei der Bildung mit der Musenkunst

früher beginnen als mit der Turnkunst?

Natürlich.

Wenn du aber von Musenkunst sprichst, rechnest

du Reden dazu, oder nicht?

Ja.

Von Reden gibt es nun eine doppelte Art: teils

wahre, teils unwahre?

Ja.

Muß man nicht in beiden bilden, zuerst aber in den

unwahren?

Ich weiß nicht, wie du das meinst, sagte er.

Weißt du denn nicht, entgegnete ich, daß wir den

Kindern zuerst Märchen erzählen? Diese sind im ganzen

genommen unwahr, doch ist auchWahres daran.

Die Märchen aber bringen wir bei den Kindern früher

in Anwendung als die Turnübungen.

So ist’s.

Das meinte ich nun damit, daß man die Musenkunst

früher in Angriff nehmen müsse als die Turnkunst.

Richtig, versetzte er.

Nun weißt du aber, daß bei jedem Geschäfte der

Platon: Der Staat 110

Anfang dasWichtigste ist, zumal bei jedem jungen

und zarten Geschöpf? Denn in dieser Zeit wird am

meisten das Gepräge gebildet und angenommen, das

man jedem aufdrücken will.

Allerdings gar sehr.

Werden wir es nun so leicht hingehen lassen, daß

die Kinder die nächsten besten von dem Nächsten Besten

gedichteten Märchen hören und in ihre Seele

Vorstellungen aufnehmen, die meist denjenigen entgegengesetzt

sind, die wir bei ihnen, wenn sie erwachsen

sind, erwarten müssen?

Nein, das dürfen wir durchaus nicht hingehen lassen.

Fürs erste also müssen wir die Märchendichter beaufsichtigen

und wenn das Märchen, das sie gemacht

haben, gut ist, dieses wählen; wo nicht, es verwerfen.

Dann werden wir die Ammen und Mütter veranlassen,

den Kindern die ausgewählten zu erzählen und ihre

Seelen weit mehr durch die Märchen zu bilden als

ihre Leiber durch die Hände. Von denen aber, die sie

in jetziger Zeit erzählen, müssen wir die meisten verbannen.

Welche denn? fragte er.

In den größerenMärchen, sagte ich, werden wir

auch die kleineren erkennen; denn es muß ja dasselbe

Gepräge und dieselbeWirkung sein bei den größeren

wie bei den kleineren; oder meinst du nicht ?

Platon: Der Staat 111

Wohl, erwiderte er; aber ich weiß nicht einmal,

welche du unter den größeren verstehst.

Diejenigen, versetzte ich, welche Hesiod und

Homer uns erzählt haben und die andern Dichter;

denn diese haben ja unwahre Märchen den Menschen

verfaßt und erzählt und tun es noch.

Welche meinst du denn, fragte er, und was hast du

an ihnen zu tadeln?

Das, antwortete ich, was man zuerst und am stärksten

tadeln muß, zumal wenn einer nicht schön lügt.

Und was ist dies?

Wenn einer durch seine Darstellung die Götter und

Helden, wie sie sind, schlecht schildert, wie wenn ein

Maler ein Gemälde macht, das demjenigen nicht ähnlich

ist, was er darstellen will.

Etwas der Art wird man allerdings mit Recht tadeln,

versetzte er; aber inwiefern und was meinen wir

denn?

Fürs erste, erwiderte ich, ist die größte und auf das

Größte sich beziehende Unwahrheit, die ihr Erfinder

nicht schön ersonnen hat, daß Uranos das getan habe,

was Hesiod von ihm aussagt, und wie dann Kronos

ihn bestraft habe. Dann, was Kronos getan und von

seinem Sohne erlitten, das dürfte man nach meiner

Ansicht, auch wenn es wahr wäre, Unverständigen

und Jungen nicht leicht so erzählen, sondern man

müßte am liebsten davon schweigen: und falls man

Platon: Der Staat 112

genötigt wäre, es zu erzählen, so müßten es möglichst

wenige unter dem Siegel des Geheimnisses hören,

nachdem sie geopfert hätten, und zwar nicht bloß ein

Schwein, sondern ein großes und schwer zu erschwingendes

Opfer, damit es möglichst wenige zu hören

bekämen.

Allerdings, erwiderte er, sind diese Erzählungen

bedenklich. Und sie dürfen auch nicht, Adeimantos,

in unserem Staate erzählt werden. Auch darf man

nicht vor den Ohren eines Kindes sagen, daß, wer die

äußerste Ungerechtigkeit begehe, nichts Auffallendes

tue, noch auch, wer seinen ungerechthandelnden Vater

auf beliebige Weise züchtige, sondern daß er dann gerade

ebenso handle wie die ersten und größten unter

den Göttern.

Nein, bei Zeus, versetzte er, ich halte selbst auch

das nicht für passend zu erzählen.

Auch nicht, fuhr ich fort, überhaupt, daß die Götter

gegen einander Krieg führen und einander nachstellen

und bekämpfen – denn es ist auch nicht wahr -, wofern

die, welche uns das Gemeinwesen zu bewachen

haben, das für die größte Schande halten sollen, leicht

mit einander in Feindschaft zu geraten; es fehlt viel,

daß man ihnen die Märchen von den Gigantenkämpfen

erzählen und vormalen dürfte und viele und mancherlei

andere Feindschaften der Götter und Helden

gegen ihre Verwandten und Angehörigen; sondern

Platon: Der Staat 113

wenn wir sie irgend überzeugen wollen, daß nie ein

Bürger gegen den andern Feindschaft gehegt habe und

daß dies eine Sünde sei, so müssen vielmehr derartiges

alte Männer undWeiber und sie selbst, wenn sie

älter geworden sind, schon den Kindern sagen, und

die Dichter muß man nötigen, mit ihren Hervorbringungen

diese Richtschnur einzuhalten. Ferner die Fesselung

der Hera durch ihren Sohn und des Hephaistos

Hinabwerfen durch seinen Vater, wie er seiner geschlagenen

Mutter beistehen will, und alle die Götterkämpfe,

welche Homer gedichtet hat, dürfen nicht in

den Staat aufgenommen werden, mögen sie nun einen

andern geheimen Sinn haben oder nicht; denn das

Kind vermag nicht zu beurteilen, was einen solchen

Sinn hat und was nicht; sondern die Vorstellungen,

die man in diesem Alter aufnimmt, werden gern fast

unaustilgbar und unverrückbar. Darum muß man

wohl den größtenWert darauf legen, daß die Erzählungen,

die sie zuerst hören, möglichst schön auf die

Tugend hinweisen.

Das hat freilich Sinn und Verstand, versetzte er;

aber wenn uns nun jemand auch das fragen würde,

was dies nun sei und welches die Märchen seien, was

würden wir antworten? Ich entgegnete:Wir sind jetzt

nicht Dichter, ich und du, Adeimantos, sondern Gründer

eines Staates. Solche Gründer müssen das Gepräge

kennen, das die Dichter ihren Märchen

Platon: Der Staat 114

aufzudrücken haben, und von dem ihnen keine Abweichung

zu gestatten ist; aber sie müssen nicht

selbst Märchen machen.

Das ist wahr, erwiderte er; aber eben dieses, das

Gepräge, – welches wäre es etwa in betreff der Götterlehre?

Ungefähr folgender Art, antwortete ich. Das, wie

die Gottheit ist, muß man doch wohl immer von ihr

aussagen, ob sie nun einer in epischen Gedichten darstellt

[oder in lyrischen] oder in einer Tragödie?

Freilich.

Nun ist aber wohl die Gottheit gut und muß so bezeichnet

werden?

Allerdings.

Ferner ist doch nichts Gutes schädlich: nicht wahr?

Ich glaube, nein.

Und was nicht schädlich ist, schadet auch nicht?

Keineswegs.

Was aber nicht schadet, fügt das Schlechtes zu?

Auch das nicht.

Und was nichts Schlechtes zufügt, wäre denn auch

nicht Ursache von etwas Schlechtem?

Wie sollte es nicht?

Weiter: Ist das Gute nützlich?

Ja.

Es ist also Ursache von Glück?

Ja.

Platon: Der Staat 115

Also nicht von allem ist das Gute Ursache, sondern

nur von dem Glücklichen, nicht aber von dem

Schlechten?

Allerdings, erwiderte er.

So wäre denn auch, bemerkte ich, die Gottheit, als

gut, nicht von allem bei den Menschen Ursache, wie

die Menge behauptet, sondern nur von wenigem, an

dem meisten aber unschuldig; denn des Guten wird

uns viel weniger als des Schlechten. Und das Gute

darf man auf niemand anderen zurückführen; von dem

Schlechten aber muß man irgendwelche andere Ursachen

aufsuchen, nicht aber die Gottheit.

Du scheinst mir vollkommen recht zu haben.

Man darf also, fuhr ich fort, weder den Homer gelten

lassen, noch einen andern Dichter, der unbedachterweise

in bezug auf die Götter diesen Fehler begeht

und sagt, daß zwei Gefäße

stehn an der Schwelle Kronions,

Voll Schicksalen, das eine mit guten, das andre mit

schlimmen;

und wem Zeus aus beiden gemischt reicht,

Den trifft bald ein erfreuliches Los, bald wieder ein

schlimmes;

Platon: Der Staat 116

wem aber nicht, sondern das eine ungemischt, der

wird

Über die heilige Erde verfolgt durch zehrende

Armut,

auch nicht, daß Zeus für uns sei

Spender des Guten und Schlimmen.

Und wenn von dem Bruch des Vertrags und der

Eidschwüre, den Pandaros beging, jemand behauptet,

daß er durch Athene und Zeus veranlaßt worden sei,

so werden wir es nicht billigen, auch nicht den Streit

der Götter und die Entscheidung durch Themis und

Zeus; ebensowenig werden wir die Jünglinge hören

lassen, was Aischylos sagt, daß

die Gottheit Sterbliche in Schuld verstrickt,

Sooft ein Haus sie ganz und gar vernichten will;

sondern wofern jemand etwas dichtet, worin diese

Iamben vorkommen, die Leiden der Niobe oder die

der Pelopiden oder die troischen oder sonst etwas dieser

Art, so muß man entweder nicht dulden, daß es als

Tun eines Gottes bezeichnet werde; oder, wenn ja, so

müssen sie eine Erklärung erfinden, ungefähr wie wir

Platon: Der Staat 117

sie jetzt verlangen, und müssen sagen, daß die Gottheit

gerecht und gut gehandelt hat und jene von der

Strafe Nutzen haben; daß aber die Gestraften unglücklich

seien und die Gottheit es gewesen, die das

herbeigeführt habe, – das muß man den Dichter nicht

sagen lassen.Wohl aber muß man es ihnen zulassen,

wenn sie etwa sagen, daß diese Bestrafung brauchten,

weil die Schlechten unglücklich sind, und daß die

Gottheit, indem sie sie bestrafte, ihnen nützte; daß

aber die Gottheit, die doch gut ist, für jemand Ursache

von Schlechtem werde, dagegen muß man auf alle

Weise ankämpfen, daß es niemand sage in seinem

Staate, wenn er wohl eingerichtet sein soll, noch auch

höre, weder ein Jüngerer noch ein Älterer, weder in

gebundener Rede erzählend noch in ungebundener, da

es eine Sünde wäre, wenn es gesagt würde, und weder

für uns zuträglich noch mit sich selbst in Übereinstimmung.

Ich unterstütze diesen Gesetzesvorschlag, versetzte

er, und bin damit einverstanden.

Das wäre denn also, sagte ich, eines von den Gesetzen

und Mustern in bezug auf die Götter, nach welchem

die Sprechenden zu sprechen und die Dichtenden

zu dichten haben werden: daß die Gottheit nicht

von allem Ursache ist, sondern nur von dem Guten.

Und wirklich ist es hinreichend, bemerkte er.

Wie steht’s nun aber mit folgendem zweiten?

Platon: Der Staat 118

Glaubst du, daß der Gott ein Gaukler sei und wie um

heimlich Schaden anzustiften abwechselnd in verschiedenen

Gestalten erscheine, indem er bald selbst

es wirklich wird und seine Gestalt in viele Bildungen

verwandelt, bald uns täuscht und macht, daß wir es

von ihm glauben? Oder daß er einfach ist und ganz

und gar nicht aus seiner Gestalt heraustritt?

Ich weiß es, versetzte er, nicht gleich ohne weiteres

zu beantworten.

Wie ist’s damit: Muß nicht einWesen, das aus seiner

Gestalt herausgesetzt würde, entweder von sich

selbst oder von einem anderen versetzt werden?

Notwendig.

Wird nun nicht von einem andern das am wenigsten

verändert und bewegt, was am besten beschaffen

ist? Z.B. ein Leib, – wird er nicht von Speisen und

Getränken und Anstrengungen, und jedes Gewächs

von Hitze undWinden und dergleichen Einflüssen um

so weniger verändert, je gesunder und kräftiger es ist?

Freilich.

Und von den Seelen, – wird da nicht gerade die tapferste

und besonnenste am wenigsten durch Einflüsse

von außen gestört und verändert?

Ja.

Und auch die verfertigten Gerätschaften alle und

die Gebäude [und Kleider] ganz ebenso: die gut gearbeiteten

und gut beschaffenen werden von der Zeit

Platon: Der Staat 119

und den sonstigen Einwirkungen am wenigsten verändert?

Allerdings.

Alles demnach, was gut beschaffen ist – entweder

von Natur oder durch Kunst oder durch beide -, das

ist am wenigsten der Umwandlung durch ein anderes

ausgesetzt?

So scheint’s.

Nun ist aber doch die Gottheit und das Göttliche in

jeder Beziehung aufs beste beschaffen?

Natürlich.

Auf diesemWege also bekäme der Gott am wenigsten

viele Gestalten.

Allerdings.

Aber sollte er wohl selbst sich umwandeln und verändern?

Offenbar, erwiderte er, wofern er überhaupt sich

verändert.

Wandelt er sich nun ins Bessere und Schönere um,

oder in etwas Schlechteres und Häßlicheres, als er

selbst ist?

Notwendig, antwortete er, in etwas Schlechteres,

wofern er sich überhaupt verändert; denn wir werden

doch nicht sagen, daß Gottes Schönheit und Tugend

etwas mangle? Ganz richtig gesprochen, sagte ich.

Und wenn dies sich so verhält, glaubst du, Adeimantos,

daß ein Gott oder Mensch irgend sich selbst

Platon: Der Staat 120

schlechter mache?

Unmöglich, antwortete er.

So ist es also, fuhr ich fort, auch für einen Gott unmöglich,

sich zu ändern: vielmehr, scheint mir, da

jeder von ihnen möglichst schön und gut ist, so bleibt

er immer einfach in seiner Gestalt.

Das scheint mir ganz notwendig, bemerkte er.

Es möge also, sprach ich, mein Bester, keiner der

Dichter uns sagen, daß

die Götter, im Äußern wie Wandrer aus anderen

Orten,

Unter Gestalten von allerlei Art in den Städten

umhergehn;

noch auch belüge uns einer mit Proteus und Thetis,

noch führe er in Tragödien oder sonstigen Gedichten

die Hera vor, verwandelt in eine Priesterin, welche

einsammelt

Für des Argos durchströmenden Inachos

segensreich Kinder;

und auch vieles andere Derartige sollen sie uns

nicht vorlügen. Auch sollen sich die Mütter von diesen

nicht überreden lassen und ihren Kindern Angst

machen, indem sie die Märchen auf unpassende

Platon: Der Staat 121

Weise erzählen, daß irgend welche Götter bei Nacht

herumgehen in der Gestalt von vielen und vielerlei

Fremden, damit sie nicht gleichzeitig die Götter lästern

und die Kinder furchtsamer machen.

Ja nicht, versetzte er.

Aber, fuhr ich fort, sind etwa die Götter selbst von

der Art, sich nicht zu verwandeln, machen aber, daß

wir glauben, sie erscheinen in vielerlei Gestalt, indem

sie uns betrügen und vorgaukeln?

Vielleicht, meinte er.

Wie? sagte ich: sollte ein Gott lügen mögen in

Worten oder inWerken, indem er uns ein Trugbild

vorhält?

Ich weiß es nicht, entgegnete er.

Weißt du denn nicht, sagte ich, daß die wahrhafte

Lüge – wenn man so sagen kann – alle Götter und

Menschen hassen?

Wie meinst du das? fragte er.

So, erwiderte ich, daß mit seinemWesentlichsten

und in bezug auf dasWesentlichste niemand wissentlich

lügen mag, sondern am allermeisten sich fürchtet,

dort es zu haben.

Noch immer verstehe ich dich nicht, erklärte er.

Weil du glaubst, ich meine etwas Besonderes; ich

meine aber, daß mit der Seele und in bezug auf das

Wirkliche zu lügen und gelogen zu haben und unwissend

zu sein und hier die Lüge zu haben und zu

Platon: Der Staat 122

besitzen jedermann wohl am wenigsten gern hätte,

und daß man in dieser Beziehung sie am meisten

haßt.

Bei weitem, versetzte er.

Aber am richtigsten wird wohl dasjenige, wovon

ich eben sprach, als die wahrhafte Lüge bezeichnet:

die der Seele einwohnende Unwissenheit desjenigen,

der gelogen hat; denn die Lüge in denWorten ist eine

Nachahmung des Vorganges in der Seele und ein später

entstandenes Abbild, durchaus nicht reine Lüge;

oder ist’s nicht so?

Allerdings.

Die wahre Lüge wird also nicht nur von den Göttern,

sondern auch von Menschen gehaßt.

So scheint mir’s.

Wie aber, die Lüge inWorten – wann und wem ist

sie nützlich und verdient daher keinen Haß? Ist sie

nicht gegenüber von Feinden, und unter denen, welche

Freunde heißen, in dem Falle, wenn sie infolge

vonWahnsinn oder sonstiger Verblendung etwas

Schlimmes zu tun unternehmen, dann gleichsam ein

heilsames Mittel zur Abwehr? Und in den eben erwähnten

Märchendichtungen, – handeln wir da nicht

heilsam, indem wir, weil wir nicht wissen, wie sich

die alten Dinge inWahrheit verhalten, die Lüge der

Wahrheit möglichst ähnlich machen?

Allerdings verhält es sich so, erwiderte er.

Platon: Der Staat 123

In welcher von diesen Beziehungen nun ist die

Lüge dem Gotte nützlich? Sollte er etwa lügen, indem

er das Alte nachbildet, weil er es nicht kennt?

Das wäre lächerlich, antwortete er.

Ein lügenhafter Dichter ist also in dem Gotte nicht.

Nein, ich glaube nicht.

Aber sollte er aus Furcht vor seinen Feinden lügen?

Unmöglich.

Aber wegen Verblendung oder Wahnsinn seiner

Angehörigen?

Aber kein Verblendeter undWahnsinniger ist ja

von Gott geliebt, versetzte er.

So gibt es also keinen Grund, warum Gott lügen

sollte.

Nein.

Unbedingt ohne Lüge also ist das Götterhafte und

das Göttliche.

Allerdings, sagte er.

In hohem Grade einfach und wahr ist also der Gott

im Handeln und im Reden, und er verwandelt sich

weder selbst noch täuscht er andere, weder [in Erscheinungen

noch] inWorten noch in Sendung von

Zeichen, weder imWachen noch im Traume.

So kommt es mir selbst auch vor, bemerkte er, infolge

deiner Ausführungen.

Du erkennst also an, sagte ich, daß dies das zweite

Muster ist, wonach man Götter im Sprechen und

Platon: Der Staat 124

Dichten darstellen muß: als solche, die weder selbst

Gaukler sind, indem sie sich verwandeln, noch uns

durch Lügen irreführen im Reden oder im Tun?

Ja.

Soviel wir also auch an Homer loben, – das werden

wir nicht loben, Zeus’ Sendung des Traumes an Agamemnon,

auch nicht den Aischylos, wenn Thetis sagt,

Apollon habe bei ihrer Hochzeitfeier singend

aufgezählt ihr reiches Kinderglück,

Der Kinder krankheitsfreien langen Lebensgang.

Nach allem diesem pries mein gottgeliebtes Los

Er laut in einem Jubellied zu meiner Lust.

Und ich, ich hoffte, daß des Phoibos Göttermund,

Voll reicher Seherkunst, von Lüge ferne sei.

Doch eben Er, der sang. Er, der beim Mahle war,

Er, welcher das gesagt, der eben ist es, der

Mir meinen Sehn erschlug.

Wenn jemand derartiges über Götter sagt, werden

wir böse werden und keinen Chor hergeben, noch die

Lehrer davon bei Bildung der Jugend Gebrauch machen

lassen, wofern uns dieWächter gottesfürchtig

werden sollen und göttlich, soweit es nur immer

einemMenschen möglich ist.

Allerdings, erwiderte er, anerkenne ich diese Muster

und möchte sie als Gesetze aufstellen.

Platon: Der Staat 125

Drittes Buch

Hinsichtlich der Götter, fuhr ich fort, müßte, wie es

scheint, etwa derartiges schon von Kindheit an hören

und nicht hören, wer die Götter ehren soll und die Eltern,

und die Freundschaft unter einander nicht für gering

achten.

Und ich glaube, versetzte er, daß wir das Richtige

getroffen haben.

Und wie dann? Wenn sie tapfer sein sollen, muß

man nicht dasjenige sprechen und derartiges, was sie

am wenigsten den Tod fürchten macht? Oder glaubst

du, daß je einer tapfer sein werde, der diese Furcht in

sich hat?

Nein, bei Gott, gewiß nicht, erwiderte er.

Wie nun? Meinst du, daß einer, der an die Dinge

im Hades glaubt und sie für schrecklich hält, ohne

Todesfurcht sein und in den Schlachten den Tod der

Niederlage und Knechtschaft vorziehen werde?

Keineswegs.

Wir müssen demnach, wie es scheint, auch diejenigen

überwachen, welche über diese Märchen sprechen

wollen, und sie bitten, nicht so ohne weiteres den Zustand

im Hades zu schmähen, sondern vielmehr zu

loben, da das, was sie reden, weder wahr sei noch zuträglich

für solche, die streitbar werden sollen.

Platon: Der Staat 126

Das müssen wir allerdings, versetzte er.

Wir werden demnach, sagte ich, von folgendem

epischen Verse an alles Derartige ausstreichen:

Lieber ja wär’ ich ein Bauer, um Taglohn dienend

bei einem

Anderen dürftigen Mann, [der selbst nur wenig

besäße,]

Als der Beherrscher von allen dahingeschwundenen

Toten;

ferner:

Und sein Haus vor den Menschen und Ewigen offen

erschiene,

Finster und voll Entsetzen, wovor selbst grauet den

Göttern;

und:

Wirklich, so ist denn also sogar in des Hades

Behausung

Seel’ und Schattengebild, doch fehlt die belebende

Kraft ganz;

weiter:

Platon: Der Staat 127

Einzig Verstand zu besitzen, die anderen schwirren

als Schatten;

ebenso:

Seinem Gebein entschwebte die Seele und ging zu

dem Hades,

Um ihr Los wehklagend, die Jugend und Stärke

verlassend;

auch:

und dem Rauch gleich eilte die Seele

Unter die Erde Mit Schwirren;

endlich:

Wie wenn Fledermäuse im Innern der mächtigen

Höhle

Fliegen umher mit Geschwirre, sobald aus dem

Klumpen am Felsen

Eine heruntergefallen, und fest an einander sich

klammem:

Also gingen sie schwirrend zusammen.

In bezug auf dieses und alles Derartige weiden wir

Homer und die anderen Dichter bitten, nicht böse zu

Platon: Der Staat 128

sein, wenn wir es durchstreichen, nicht, weil es nicht

dichterisch und für die Menge angenehm zu hören

wäre, sondern weil, je dichterischer es ist, um so weniger

es Kinder und Männer hören dürfen, die frei

sein müssen und die Knechtschaft mehr fürchten als

den Tod.

Allerdings.

So muß man denn auch alle die schrecklichen und

fürchterlichen Namen für diese Dinge verwerfen, den

Wehestrom (Kokytos) und den Schauerfluß (Styx) und

die Unterirdischen und Blutlosen und die andern Benennungen

dieses Schlags alle, welche ja beim Anhören

jedermann so manches Jahr schaudern machen.

Und vielleicht ist es in anderer Beziehung gut: wir

aber fürchten für dieWächter, sie möchten uns infolge

dieses Schauders zu hitzig und zu weichlich werden.

Und mit Recht fürchten wir das, bemerkte er.

Muß man es also beseitigen?

Ja.

Das diesem entgegengesetzte Gepräge aber muß

man sprechen und dichten?

Offenbar.

Auch dasWehklagen also und das Jammern um angesehene

Männer werden wir abschaffen?

Notwendig, erwiderte er, so gut wie das Frühere.

Sieh einmal zu, fuhr ich fort, ob wir es mit Recht

Platon: Der Staat 129

abschaffen werden oder nicht!Wir behaupten doch

wohl, daß der brave Mann bei einem andern braven

Manne, dessen Freund er ist, das Gestorbensein für

nichts Schlimmes halten wird?

Allerdings.

Er wird also nicht über ihn jammern, als wäre ihm

etwas Schlimmes begegnet?

Natürlich nicht.

Nun behaupten wir auch dies, daß ein solcher in

besonderem Grade sich selbst genug ist hinsichtlich

des gut Lebens und weniger als sonst jemand eines

anderen bedarf?

Das ist wahr, antwortete er.

Für ihn ist es also am wenigsten hart, eines Sohnes

beraubt zu werden oder eines Bruders oder des Vermögens

oder sonst einer Sache dieser Art?

Allerdings.

Es wird also auch am wenigsten jammern und wird

es höchst gelassen ertragen, wenn ihn ein Unglück

dieser Art trifft?

Bei weitem.

Mit Recht also werden wir die Klagelieder um berühmte

Männer abschaffen und werden sieWeibern

zuteilen, und zwar nicht einmal den achtbaren, und

den erbärmlichen Männern, damit die, von denen wir

sagen, daß wir sie zum Hüten des Landes erziehen,

die Lust verlieren, es diesen gleich zu machen. Mit

Platon: Der Staat 130

Recht, erwiderte er.

Wiederum denn werden wir den Homer bitten und

die anderen Dichter, nicht den Göttersohn Achilleus

darzustellen.

Bald auf die Seite sich legend, ein anderes Mal auf

den Rücken,

Auf das Gesiebt alsdann,

bald aber vom Lager sich aufrichtend und

Schweifend verworrenen Geistes am öden Gestade

des Meeres,

noch

Rußige Asche mit beiden Händen fassend und über

das Haupt sie

Streuend,

noch sonst so viel und in solcherWeise weinend

und jammernd, wie jener ihn dargestellt hat; noch

auch den Priamos, der den Göttern nahe steht, flehentlich

bittend und

umher sich wälzend im Staube,

Jeglichen Mann beim Namen mit jammernder

Platon: Der Staat 131

Stimme benennend.

Noch viel weniger werden wir gar Götter jammernd

darstellen und sprechend

Weh mir, o weh mir Armer, mir Unglücksmutter des

Helden!

Und wenn überhaupt Götter, so werden wir jedenfalls

den größten der Götter nicht wagen so unähnlich

abzuschildern, daß er »Wehe« ausruft,

Wehe, gejagt um die Stadt seh’ dort ich mit eigenen

Augen

Den Mann, welchen ich liebe: es schmerzt mich

bitter im Herzen;

und

Ach, ach, wenn das Geschick mir den liebsten der

Männer, Sarpedon,

Von des Menoitios Sohne, Patrokles, lässet

erschlagen!

Denn wenn uns, mein lieber Adeimantos, die Jünglinge

dergleichen ernsthaft anhören und es nicht belachen

als eine unwürdige Darstellung, so wird wohl

Platon: Der Staat 132

schwerlich jemand es unter seiner Würde als Mensch

finden und sich schelten, wenn es auch ihm beikommt,

etwas Derartiges zu sagen oder zu tun; vielmehr

wird er, ohne irgend sich zu schämen und standhaft

auszuharren, bei kleinen Leiden große Jammerlieder

undWehklagen anstimmen.

Du hast ganz recht, sagte er.

Das darf aber nicht sein, wie uns eben die Erörterung

gezeigt hat; dieser müssen wir glauben, bis uns

jemand mit einer anderen, besseren überzeugt.

Allerdings darf es nicht sein.

Aber auch nicht lachsüchtig soll man sein; denn

wenn man sich heftigem Lachen überläßt, so zieht es

gewöhnlich auch eine heftige Umwandlung nach sich.

Ich denke, erwiderte er.

Weder also, wenn jemand bedeutende Menschen

vom Lachen überwältigt darstellt, darf man es gelten

lassen, noch viel weniger aber, wenn er Götter so darstellt.

Allerdings, versetzte er.

So darf man also dem Homer auchWorte wie folgende

nicht gelten lassen in bezug auf Götter:

Unauslöschliches Lachen befiel die unsterblichen

Götter,

Als den Hephaistos sie sahen geschäftig das Haus

durchschnaufen, –

Platon: Der Staat 133

nicht gelten lassen dürfen wir sie nach deiner Auseinandersetzung.

Allerdings nicht, wenn du sie als die meinige bezeichnen

willst.Wir dürfen das nicht durchgehen lassen.

Ferner muß man auch dieWahrheit hochachten. Ist

nämlich die Behauptung richtig, die wir soeben aufgestellt

haben, und ist wirklich die Lüge für die Götter

unnütz, für die Menschen aber als Heilmittel nützlich,

so ist es klar, daß man dergleichen den Ärzten anheimgeben

muß, Laien aber es nicht berühren lassen

darf.

Das ist klar.

Wenn also irgend jemandem, so kommt es der Regierung

des Gemeinwesens zu, der Feinde oder der

Bürger wegen zu lügen zum Vorteil des Gemeinwesens,

die andern alle aber dürfen sich damit nicht befassen;

sondern solchen Regierenden gegenüber zu

lügen werden wir bei einem Bürger als eine ebenso

große oder noch größere Verfehlung bezeichnen als

bei einem Kranken, wenn er dem Arzte, oder bei

einem Turner, wenn er dem Turnmeister in bezug auf

seine Körperzustände nicht dieWahrheit sagt, oder

wenn jemand dem Steuermann in betreff des Schiffes

und der Mitfahrenden nicht den wirklichen Sachverhalt

sagt, wie es bei ihm selbst oder einem der Mitfahrenden

stehe.

Platon: Der Staat 134

Sehr wahr, bemerkte er.

Falls er also einen andern in dem Gemeinwesen

über einer Lüge ertappt, einen von denen,

so Meister genannt sind,

Seher und Ärzte von Leiden und Zimm’rer von

Balken und Holzwerk, –

so wird er ihn bestrafen, weil er ein Tun einführe,

das einem Staate wie einem Schiffe Umsturz und Verderben

bringt.

Wofern wenigstens, erwiderte er, geschieht, was

vernünftigerweise geschehen sollte.

Und wie? Werden unsere Jünglinge nicht auch der

Mäßigung bedürfen?

Freilich.

Ist in bezug auf die Mäßigung nicht – wenigstens

für die Menge – dasWichtigste, daß man der Obrigkeit

untertan sei und selbst in bezug auf die Genüsse

des Trinkens, der Liebe und des Essens sich zu beherrschen

wisse?

Ich glaube, ja.

So werden wir also, denke ich, sagen, daß derartiges

gut gesprochen sei, wie bei Homer Diomedes

spricht:

Setze dich still, mein Lieber, und folge du meiner

Platon: Der Staat 135

Ermahnung!

und was darauf folgt:

Es zog mutatmend das Heer der Achaier

Schweigend aus Furcht vor den Führern,

und was sonst sich derartiges findet.

Richtig.

Wie aber? Das folgende:

Trunkener du, mit den Augen des Hunds und dem

Mute des Hirsches!

und was daran sich anschließt, und überhaupt alles,

was jemand in Erzählungen oder Gedichten je Bürger

gegen Regierungen hat Übermütiges sagen lassen, –

werden wir es schön finden?

Nein.

Denn es ist, glaube ich, hinsichtlich der Erziehung

zur Mäßigung für junge Leute nicht passend zu hören.

Daß es aller sonst Vergnügen macht, ist keinWunder.

Oder wie kommt es dir vor?

Ebenso, erwiderte er.

Und wie? Den weisesten Mann sagen zu lassen,

daß ihm das Allerschönste scheine, wenn die Tische

alle beladen

Platon: Der Staat 136

Sind mit Brot und mit Fleisch, und der Mundschenk

schöpft aus dem Mischkrug

Lauteren Wein und trägt ihn umher und füllet die

Becher, –

scheint dir das für einen Jüngling in bezug auf

Selbstbeherrschung geeignet zum Hören? Oder:

Hungers zu sterben jedoch ist wahrlich das

kläglichste Schicksal, –

oder daß Zeus dasjenige, was er, während die andern

Götter und die Menschen schlummern, als der allein

Wachende beschlossen hat, das alles ohne

Schwierigkeit vergißt aus Begierde nach Liebesgenuß,

und daß er beim Anblick der Hera so außer sich

gerät, daß er nicht einmal ins Gemach gehen mag,

sondern gleich da auf dem Boden ihr beiwohnen will

und sagt, daß er so voll Verlangens sei, wie er es

sogar damals nicht gewesen, als sie das erstemal zusammenkamen

hinter dem Rücken der Eltern;

auch nicht die Fesselung des Ares und der Aphrodite

durch Hephaistos wegen eines anderen ähnlichen

Falles.

Platon: Der Staat 137

Nein, bei Zeus, erwiderte er: das scheint mir nicht

passend. Aber wenn irgendwo, fuhr ich fort, angesehene

Männer Ausdauer in aller Fährlichkeit durch

Wort und Tat beweisen, da muß man zuschauen und

zuhören, wie z.B.:

Aber er schlug an die Brust und redete scheltend

sich selbst zu:

Dulde du nur, mein Herz; schon Schnöderes hast du

erduldet!

Allerdings, bemerkte er.

Ferner darf man doch nicht zugeben, daß die Männer

bestechlich seien und geldgierig.

Durchaus nicht.

So darf man ihnen auch nicht vorsingen:

Schenken gewinnet die Götter, gewinnt die

erhabenen Herrscher;

noch auch darf man des Achilleus Erzieher Phoinix

loben, daß er recht gesprochen habe, indem er jenem

den Rat gab, wenn er Geschenke bekomme, den

Achaiern Hilfe zu leisten, ohne Geschenke aber sein

Zürnen nicht aufzugeben. Auch von Achilleus selbst

werden wir nicht für passend halten und nicht zugeben,

daß er so geldgierig sei, daß er Geschenke von

Platon: Der Staat 138

Agamemnon nehme und nur gegen Bezahlung einen

Leichnam ausliefern wolle, sonst aber nicht.

Es ist allerdings nicht recht, versetzte er, dergleichen

zu loben. Doch um Homers willen, bemerkte

ich, nehme ich Anstand zu sagen, daß es sogar eine

Sünde ist, solches gegen Achilleus auszusagen und

anderen, die es behaupten, es zu glauben; ebenso, daß

er zu Apollon gesagt habe:

Hast mir Schaden getan, Fernwirkender,

Schlimmster der Götter!

Hätt’ ich dazu die Gewalt, dann würd’ ich’s dir

sicher vergelten!

und daß er gegen den Fluß, einen Gott, ungehorsam

und mit ihm zu kämpfen bereit war; ferner, daß er in

bezug auf das dem anderen Flußgott, dem Spercheios,

geheiligte Haar gesagt:

Sei denn die Locke verlieh’n als Gabe dem Helden

Patrokles,

der doch tot war, und daß er das ausgeführt habe,

ist nicht zu glauben. Und dann das Schleppen des

Hektor um das Grabmal des Patrokles und das

Schlachten der Gefangenen an dem Scheiterhaufen,

alles dies zusammen werden wir für nicht wahr

Platon: Der Staat 139

gesprochen erklären, auch nicht zugeben, daß man die

Unsern glauben mache, Achilleus, der Sohn der Göttin

und des Peleus, des besonnensten Mannes, und

eines Enkels von Zeus, der Zögling des weisen Cheiron,

sei so zerrütteten Geistes gewesen, daß er in sich

zwei einander entgegengesetzte Krankheiten hatte,

niedrige Denkart nebst Geldgier, und andererseits

Übermut gegenüber Göttern und Menschen.

Du hast recht, erwiderte er.

Also ja nicht, fuhr ich fort, wollen wir auch folgendes

glauben und auch nicht zu sagen gestatten, daß

Theseus, Poseidons Sohn, und Peirithoos, Zeus’ Sohn,

auf so wilden Raub ausgegangen seien, noch daß irgend

ein anderer Göttersohn und Heros gewagt hätte,

Schreckliches und Gottloses zu tun, dergleichen man

ihnen jetzt verleumderisch beilegt; sondern wir wollen

die Dichter nötigen, entweder es nicht alsWerke von

ihnen zu bezeichnen oder sie nicht als Göttersöhne;

beides zusammen aber dürfen sie nicht behaupten,

noch uns einen Versuch machen, die jungen Leute zu

bereden, daß die Götter Schlechtes erzeugten und Heroen

um nichts besser seien als Menschen. Denn, wie

wir früher ausgeführt haben, ist dies eine Sünde und

eine Unwahrheit; denn wir haben ja gezeigt, daß von

Göttern unmöglich Schlechtes kommen kann.

Natürlich.

Überdies ist es nachteilig für die, die es hören;

Platon: Der Staat 140

denn jedermann wird sich’s verzeihen, daß er schlecht

ist, wenn er die Überzeugung hat, daß ja Ähnliches

getan haben und noch tun

der Götter jüngste Saat,

Des Zeus Verwandte, denen auf des Ida Höh’n

Des väterlichen Zeus Altar im Äther steht,

Und noch verrann in ihnen nicht das Götterblut.

Darum muß man solchen Märchen ein Ende machen,

damit sie uns nicht bei der Jugend die Schlechtigkeit

zu etwas ganz Geläufigem machen.

Sehr wohl, bemerkte er.

Was wäre uns nun, begann ich wieder, noch für

eine Art übrig bei der Bestimmung, welche Arten von

Reden zulässig sind und welche nicht? Denn wie man

von den Göttern zu sprechen habe, ist gesagt, ebenso

wie von den Dämonen und den Heroen und der Unterwelt.

Allerdings.

Wäre nun nicht übrig, auch in bezug auf die Menschen

es auszuführen?

Offenbar.

Aber, mein Lieber, das können wir ja unmöglich

jetzt schon beurteilen.

Wieso?

Weil ich glaube, daß wir sagen werden, daß die

Platon: Der Staat 141

Dichter und Erzähler in bezug auf die Menschen die

wichtigsten Behauptungen fälschlich aufstellen, daß

nämlich viele zwar ungerecht, aber glücklich seien,

und Gerechte unglücklich, und daß das Unrechttun

nütze, wenn es unentdeckt bleibe, und daß die Gerechtigkeit

das Beste anderer und der eigene Nachteil

sei; und ich glaube, wir werden verbieten, derartiges

zu sagen, und werden vorschreiben, das Gegenteil

davon zu singen und zu erzählen. Oder meinst du

nicht?

Ei, das weiß ich gewiß, antwortete er.

Falls du also zugibst, daß ich darin Recht habe, so

werde ich sagen, du habest das zugegeben, wonach

wir schon lange forschen?

Richtig vermutet, bemerkte er.

Also daß man in bezug auf die Menschen derartige

Reden führen muß, darüber werden wir erst dann

vollständig mit einander ins reine kommen, wenn wir

gefunden haben, von welcher Art die Gerechtigkeit

ist, und wie sie ihremWesen nach dem nützt, der sie

hat, mag er nun gerecht zu sein scheinen oder nicht?

Sehr wahr, erwiderte er.

Damit sei denn die Erörterung über die Reden zu

Ende; jetzt ist, denke ich, hiernach noch der Vortrag

in Erwägung zu ziehen, und dann werden wir vollständig

untersucht haben, was und wie man reden

muß.

Platon: Der Staat 142

Adeimantos versetzte: Das verstehe ich nicht, wie

du es meinst.

Aber du solltest es doch, erwiderte ich. Vielleicht

indessen wirst du auf folgendeWeise es eher verstehen:

Ist nicht alles, was von Märchenerzählern oder

Dichtern gesprochen wird, Darstellung von Vergangenem

oder Gegenwärtigem oder Zukünftigem?

Was sonst? versetzte er.

Bringen sie nun dabei nicht entweder einfache Erzählung

zur Anwendung, oder durch Nachahmung erfolgende,

oder beides zugleich?

Auch dies, antwortete er, wünschte ich noch deutlicher

gesagt.

Ich scheine, bemerkte ich, ein lächerlicher und unverständlicher

Lehrer zu sein. So will ich denn, wie

solche, die nicht zu sprechen vermögen, nicht im ganzen

reden, sondern einen Teil herausgreifen und versuchen,

dir daran zu zeigen, was ich meine. Sage mir,

kennst du den Anfang der Ilias, wo der Dichter sagt,

Chryses habe den Agamemnon gebeten, seine Tochter

freizugeben, dieser aber sei in Zorn geraten, und jener

habe, als seine Bitte nicht erfüllt wurde, den Gott um

Unheil für die Achaier angefleht?

Jawohl.

Du weißt also, daß bis zu denWorten:

und er flehte zu allen Achaiern,

Platon: Der Staat 143

Aber zumeist den Atreiden, den zwei Heerführern

der Völker,

der Dichter selbst spricht und keinen Versuch

macht, unsere Gedanken anderswohin zu wenden, als

spräche ein anderer denn er selbst; das Folgende aber

spricht er, als wäre er selbst Chryses, und sucht uns

möglichst glauben zu machen, daß nicht Homer der

Sprechende sei, sondern der alte Priester. Und so ungefähr

hat er die ganze übrige Erzählung eingerichtet

von den Vorgängen in Ilion und den Erlebnissen auf

Ithaka und in der ganzen Odyssee.

Freilich, erwiderte er.

Nun ist aber Erzählung sowohl, wenn er jedesmal

das Gesprochene, als wenn er das zwischen dem Gesprochenen

Liegende darstellt?

Natürlich.

Aber wenn er etwas Gesprochenes darstellt, als

wäre er ein anderer, – werden wir dann nicht sagen,

daß er alsdann seine Rede jedem, den er als sprechend

ankündigt, möglichst ähnlich mache?

Natürlich werden wir das sagen.

Sich einem andern ähnlich machen in Stimme oder

Gestalt heißt nun aber doch, den nachahmen, dem

man sich ähnlich macht?

Sehr wohl.

In solchem Falle also, scheint es, erfolgt bei ihm

Platon: Der Staat 144

und den andern Dichtern die Erzählung durch Nachahmung?

Allerdings.

Wenn aber der Dichter sich nirgends verbärge, so

würde seine ganze Dichtung und Darstellung ohne

Nachahmung erfolgen. Damit du aber nicht sagst, du

verstehest es wieder nicht, wie dies stattfinde, will ich

es sagen.Wenn nämlich Homer, nachdem er gesagt

hat, daß Chryses kam mit Lösegeld für seine Tochter

und um die Achaier anzuflehen, zumeist aber die Fürsten,

alsdann nicht als Chryses spräche, sondern noch

als Homer, so weißt du, daß es keine Nachahmung

wäre, sondern einfache Erzählung und ungefähr so

lauten würde ich will es in ungebundener Rede anführen,

denn ich habe keine Dichtergabe -: Angekommen

wünschte der Priester ihnen, daß die Götter ihnen verleihen,

Troia zu erobern und selbst ungefährdet davonzukommen,

und daß sie seine Tochter freigeben

gegen ein Lösegeld und aus Scheu vor dem Gotte. Als

er so gesprochen, fühlten die anderen fromme Scheu

und zeigten sich einverstanden, Agamemnon aber

wurde wild und befahl ihm zu gehen und nicht wieder

zu kommen, sonst würden ihm Szepter und die Binden

des Gottes nichts helfen; ehe seine Tochter freigegeben

werde, solle sie in Argos an seiner Seite alt

werden. Dann hieß er ihn gehen und ihn nicht reizen,

damit er ohne Schaden nach Hause komme.Wie das

Platon: Der Staat 145

der Alte hörte, fürchtete er sich und entfernte sich

schweigend; wie er aber aus dem Lager weg war, flehte

er inständig zu Apollon, indem er den Gott bei seinen

Beinamen anrief und ihn erinnerte und mahnte,

wofern er je ihm durch Erbauung von Tempeln oder

Schlachten von Opfern etwas Angenehmes geschenkt

habe; um dessen willen, flehte er, möchten die Achaier

für seine Tränen büßen durch des Gottes Pfeile.

So, mein Freund, bemerkte ich, ist es einfache Erzählung

ohne Nachahmung.

Ich verstehe, erwiderte er.

Nun, so verstehe auch, sagte ich, daß andrerseits

das Gegenteil hiervon ist, wenn man dieWorte des

Dichters zwischen dem Gesprochenen wegnähme und

nur dieWechselreden übrig ließe.

Auch das, antwortete er, verstehe ich: die Trauerspiele

sind von dieser Art.

Getroffen, versetzte ich; und jetzt, glaube ich, ist

dir klar, was ich vorher nicht klar machen konnte, daß

von der Dichtung und Märchenerzählung eine Art

ganz durch Nachahmung bewerkstelligt wird, das

Trauerspiel und das Lustspiel, wie du sagst, eine andere

durch Auftreten des Dichters selbst – du findest

diese vorzugsweise in Dithyramben -, eine dritte Art

durch beides, in dem erzählenden Gedicht und auch

sonst oft, wofern du mich verstehst.

O, ich verstehe wohl, erwiderte er, was du vorhin

Platon: Der Staat 146

sagen wolltest. Nun erinnere dich auch an das, was

wir vorher gesagt haben: daß jetzt besprochen sei,

was man reden müsse, und nun noch zu untersuchen

sei, wie man es tun müsse.

Ich erinnere mich wohl.

Nun, das eben war es, wovon ich meinte, daß wir

uns darüber verständigen müssen, ob wir den Dichtern

gestatten werden, ihre Darstellungen durch Nachahmung

zu bewerkstelligen, oder das eine durch

Nachahmung, anderes aber nicht, und welches allemal,

oder ob sie gar nicht nachahmen dürfen.

Ich ahne, fiel er ein, du erwägst, ob wir das Trauerspiel

und Lustspiel in unseren Staat aufnehmen sollen

oder nicht.

Vielleicht, erwiderte ich, noch mehr als dies; denn

ich weiß es noch nicht; sondern in welcher Richtung

uns gleichsam der Wind der Rede treibt, in der müssen

wir gehen.

Und du hast auch recht, versetzte er.

So sieh denn zu, Adeimantos, ob unsere Wächter

im Nachahmen geschickt sein dürfen oder nicht; oder

folgt auch dies aus dem früher Aufgestellten, daß

jeder Einzelne nur eine einzige Beschäftigung gut betreiben

könne, viele aber nicht, sondern daß ihm,

wenn er dies versucht und mit vielem sich befaßt,

alles mißlingt und er in nichts ausgezeichnet ist?

Wie sollte es nicht?

Platon: Der Staat 147

Also gilt auch von der Nachahmung derselbe Satz,

daß der nämliche nicht imstande ist, vieles gut nachzuahmen

wie ein Einziges?

Allerdings.

Schwerlich also wird er gleichzeitig eine der achtungswerten

Beschäftigungen treiben und vieles nachahmen

und ein geschickter Nachahmer sein, da ja

nicht einmal die scheinbar nahe an einander grenzenden

zwei Arten der Nachahmung dieselben Menschen

gleichzeitig gut besorgen können, indem sie z.B.

Lustspiele und Trauerspiele dichten. Oder hast du

nicht vorhin diese beiden als Arten der Nachahmung

bezeichnet?

O ja, und du hast recht, daß nicht dieselben es vermögen.

Und ebensowenig ist man gleichzeitig Sänger

und Schauspieler.

Allerdings.

Ja, nicht einmal zugleich Schauspieler für die Komödie

und für die Tragödie; denn alles das sind Arten

der Nachahmung; oder nicht?

Freilich.

Und noch in kleinere Teile als diese scheint mir,

Adeimantos, die menschliche Natur zerlegt zu sein, so

daß sie unfähig ist, vieles gut nachzuahmen oder eben

das zu tun, dessen Abbild die Nachahmung ist.

Ganz richtig, erwiderte er.

Wenn wir also unsern ersten Satz festhalten, daß

Platon: Der Staat 148

uns dieWächter, von aller sonstigen Dienstleistung

befreit, ganz vollkommene Diener der Unabhängigkeit

des Staates sein müssen und nichts anderes treiben,

was nicht darauf führt, so dürften sie nichts sonstiges

tun noch nachahmen; falls sie aber nachahmen,

so müssen sie schon von Kindheit an das darauf Bezügliche

nachahmen: tapfere, besonnene, fromme,

freie Männer und alles Derartige; das Unfreie aber

dürfen sie weder tun noch nachzuahmen geschickt

sein, ebensowenig sonst etwas Schimpfliches, damit

sie nicht infolge des Nachahmens etwas davon wirklich

werden. Oder hast du nicht bemerkt, daß die

Nachahmungen, wenn man sie von Jugend an lange

forttreibt, zu Gewohnheiten und zur Natur werden,

sowohl in bezug auf den Leib und die Sprache als in

bezug auf die Gesinnung?

O freilich, antwortete er.

Wir werden also, fuhr ich fort, denen, von welchen

wir sagen, daß sie uns am Herzen liegen, und daß sie

gute Männer werden müssen, nicht gestatten, als

Männer eine Frau nachzuahmen, eine junge oder eine

ältere, die auf ihren Mann schmäht oder Göttern gegenüber

streitet und sich brüstet, weil sie sich für

glücklich hält, oder die von Unglück und Trauer und

Leid gedrückt ist; vollends aber eine kranke oder verliebte

oder kreißende gar nicht.

Natürlich, erwiderte er.

Platon: Der Staat 149

Auch nicht Sklavinnen und Sklaven, wie sie alles

tun, was Sklavensache ist.

Auch das nicht.

Auch nicht, wie es scheint, schlechteMänner, feige

und solche, die das Gegenteil tun von dem, was wir

eben gesagt, die einander verleumden und verhöhnen

und schmutzige Reden führen, trunken oder auch

nüchtern, und womit sonst noch solche inWorten und

Handlungen sich gegen sich und andere verfehlen. Ich

denke, auchWahnsinnigen in Reden oder auch in

Handlungen sich ähnlich zu machen sollen sie sich

nicht gewöhnen; kennenlernen müssen sie zwar

Wahnsinnige und schlechte Männer und Frauen,

selbst tun oder nachahmen aber nichts von diesen.

Sehr wahr, versetzte er.

Und weiter, sagte ich, sollen sie Schmiede oder

sonstige Handwerker oder Trierënruderer oder deren

Aufseher oder überhaupt etwas dieser Art nachahmen?

Wie sollten sie, erwiderte er, da ihnen ja nicht einmal

gestattet sein wird, auf irgend etwas Derartiges zu

achten?

Und dann dasWiehern von Pferden, das Brüllen

von Stieren, das Rauschen von Flüssen und das Tosen

des Meeres und den Donner und all das derartige, –

werden sie es nachahmen?

Es ist ihnen ja verboten, erwiderte er, toll zu sein

Platon: Der Staat 150

oder Tollen sich ähnlich zu machen.

Wenn ich also, fuhr ich fort, verstehe, was du

meinst, so gibt es eine Art des Vertrags und der Darstellung,

in der der wahrhaft Edle und Gute darstellen

wird, wenn er etwas zu sprechen hat, und andererseits

eine dieser unähnliche Art, an die der durch Natur und

Erziehung jenem Entgegengesetzte sich immer halten

und in der er darstellen wird.

Und worin bestehen diese? fragte er.

Ich denke, versetzte ich, der rechtschaffene Mann

wird, wenn er in der Darstellung an eine Rede oder

Tat eines guten Mannes kommt, gern es so vortragen,

als wäre er selbst jener, und wird sich nicht solcher

Nachahmung schämen und wird dabei am liebsten

den Guten nachahmen, wie er sicher und verständig

handelt, weniger und in geringeremMaße aber, wie er

infolge von Krankheiten oder Verliebtheit strauchelt

oder auch aus Trunkenheit oder wegen eines anderen

Unfalls. Gelangt er aber an einen seiner Unwürdigen,

so wird er nicht Lust haben, im Ernste sich dem

Schlechteren ähnlich zu machen, außer etwa auf kurze

Zeit, wenn dieser etwas Rechtschaffenes tut; sondern

er wird sich schämen, teils, weil er ungeübt ist, derartige

Leute nachzuahmen, teils auch, weil es ihm zu

wider ist, sich in das Gepräge der Schlechteren zu formen

und hineinzuversetzen, indem er es innerlich verachtet,

außer etwa Scherzes halber.

Platon: Der Staat 151

Natürlich, sagte er.

So wird er also eine Darstellung anwenden, wie wir

sie kurz zuvor beschrieben haben in bezug auf die homerischen

Gedichte, und sein Vortrag wird von beidem

etwas an sich haben, von der Nachahmung wie

von der andern Darstellung, der einfachen Erzählung,

aber von der Nachahmung nur einen kleinen Teil in

einer langen Dichtung; oder habe ich nicht recht?

O ja, erwiderte er; wie wenigstens notwendig das

Gepräge eines solchen Redners beschaffen sein muß.

So wird denn also, fuhr ich fort, wer nicht von dieser

Art ist, je schlechter er ist, um so eher alles darstellen

und nichts für seiner unwürdig halten; daher

wird er alles nachzuahmen versuchen, und zwar im

Ernste und vor vielen, auch was wir soeben aufgezählt

haben: den Donner und das Geräusch vonWinden

und von Schloßen undWagenachsen und Flaschenzügen

und die Töne von Trompeten und Flöten

und Pfeifen und allen Instrumenten, und auch die

Laute von Hunden und Schafen und Vögeln; und so

wird sein Vortrag ganz in Nachahmung bestehen

durch Stimme und Gebärden oder nur ein wenig von

Erzählung an sich haben.

Auch das ist notwendig, versetzte er.

Das also, sagte ich, sind die beiden Arten des Vertrags,

die ich meinte.

So ist’s auch, antwortete er.

Platon: Der Staat 152

Von diesen beiden nun hat die eine wenig Abwechslung,

und wenn man dem Vortrage die angemessene

Harmonie und seinen Rhythmus gibt, so findet

bei dem, der richtig spricht, das Sprechen immer

fast nach derselben Art und in der nämlichen Harmonie

statt – denn die Abwechslungen sind klein – und

ebenso in einem ähnlichen Rhythmus.

Sehr wohl verhält es sich so, erwiderte er.

Dann aber die andere Art – bedarf sie nicht das Entgegengesetzte,

wenn sie nach ihrer Eigentümlichkeit

gesprochen werden soll, aller Harmonien und aller

Rhythmen, weil sie mannigfaltige Formen der Abwechslung

hat?

Freilich ist es so.

Bedienen sich nun nicht alle Dichter und jeder, der

etwas spricht, entweder der einen von diesen Arten

des Vertrags, oder der andern, oder einer aus beiden

gemischten?

Notwendig, versetzte er.

Was werden wir nun tun? fragte ich; werden wir in

unsern Staat alle diese aufnehmen, oder nur die eine

der ungemischten, oder die gemischte?

Wenn es auf mich ankommt, die ungemischte, welche

das Schickliche nachahmt.

Aber, mein Adeimantos, auch die gemischte ist angenehm:

bei weitem die angenehmste aber für Kinder

und deren Begleiter und für den größten Haufen ist

Platon: Der Staat 153

die der von dir gewählten entgegengesetzte.

So ist’s freilich.

Aber vielleicht, fuhr ich fort, behauptest du, daß sie

nicht zu unserer Verfassung stimme, weil bei uns es

keinen doppelten oder vielfältigen Mann gibt, da jeder

nur eines treibt?

Allerdings stimmt sie nicht.

Daher werden wir nur in einem so eingerichteten

Staate den Schuster als Schuster finden und nicht als

Steuermann neben dem Schusterhandwerk, und den

Landmann als Landmann und nicht als Richter neben

dem Ackerbau, und den Krieger als Krieger und nicht

als Geldspekulanten neben der Kriegskunst, und bei

allen ebenso?

Du hast recht, erwiderte er.

Einen Mann also, scheint es, der infolge seiner

Weisheit alles mögliche werden und alle Dinge nachahmen

könnte, werden wir, wenn er in unseren Staat

kommt samt seinen Kunstwerken in der Absicht sich

zu zeigen, verehren als heilig und bewundernswert

und angenehm, werden aber sagen, daß es einen solchen

Mann in unserem Staat nicht gebe und nicht

geben dürfe, und wir werden ihn in einen anderen

Staat schicken, nachdem wir Salbe über sein Haupt

gegossen und es mitWolle bekränzt haben, und wir

werden selbst uns des Vorteils wegen an den herberen

und unangenehmeren Dichter und Märchenerzähler

Platon: Der Staat 154

halten, der uns die Redeweise des Schicklichen nachahmt

und das, was er spricht, in jenen Mustern

spricht, die wir gleich anfangs als Gesetz aufgestellt

haben, als wir die Krieger zu bilden unternahmen.

Allerdings werden wir es so machen, wenn es auf

uns ankommt, erwiderte er.

Nunmehr, sagte ich, mein Freund, scheint es, daß

wir den auf Reden und Märchen bezüglichen Teil der

Musenkunst vollständig erschöpft haben; denn was

und wie man zu sprechen habe, ist erörtert.

Ich glaube selbst auch, bemerkte er.

Es ist nun also nach diesem, sagte ich, das die Gesangesweise

und die Lieder Betreffende noch übrig?

Offenbar.

Werden nun nicht nachgerade alle finden können,

was wir über jene zu sagen haben hinsichtlich der Beschaffenheit,

die sie an sich tragen müssen, wofern

wir mit dem vorher Gesagten in Übereinstimmung

bleiben wollen?

Da sagte Glaukon unter Lachen: Nun, so scheine

ich, o Sokrates, zu den »allen« nicht zu gehören; wenigstens

bin ich im Augenblicke nicht imstande, mir

zusammenzureimen, welche Beschaffenheit wir angeben

müssen, ahne es jedoch.

Auf jeden Fall bist du aber doch wohl, versetzte

ich, imstande, fürs erste das zu sagen, daß das Lied

aus dreierlei zusammengesetzt ist: aus Rede (Text),

Platon: Der Staat 155

Tonart (Harmonie) und Zeitmaß (Rhythmus).

Das allerdings, antwortete er.

Soviel nun daran Rede ist, unterscheidet sich doch

wohl in nichts von der nicht gesungenen Rede, in der

Beziehung daß es in dem gleichen Gepräge und der

gleichenWeise gehalten sein muß, wie wir eben

zuvor aufgestellt haben?

Das ist wahr, versetzte er.

Und die Tonart und das Zeitmaß muß sich doch an

die Rede anschließen?

Natürlich.

Nun haben wir aber doch gesagt, daß wir Klagen

und Jammer in den Reden nicht brauchen?

Allerdings nicht.

Welches sind nun klagende Tonarten? Sage es mir:

denn du bist ein Musikverständiger.

Die gemischtlydische, erwiderte er, und die hochlydische

und einige andere dieser Art.

Diese also, sprach ich, müssen beseitigt werden;

denn sie sind unbrauchbar schon für Frauen, die

wacker sein sollen, geschweige denn für Männer.

Allerdings.

Ferner aber ist doch Trunkenheit fürWächter

gewiß höchst unziemlich, sowieWeichlichkeit und

Müßiggang?

Begreiflich.

Welche unter den Tonarten sind nun weichlich und

Platon: Der Staat 156

für Trinkgelage geeignet?

Die ionische, war seine Antwort, und die lydische,

welche schlaff genannt werden.

Wirst du nun diese, mein Lieber, bei kriegerischen

Männern brauchen können?

Keineswegs, antwortete er, sondern es scheint, du

behältst die dorische und die phrygische übrig.

Ich verstehe mich nicht auf die Tonarten, sagte ich;

aber ich behalte diejenige Tonart übrig, die in angemessenerWeise

die Lautfärbung und Betonung eines

Mannes nachahmen würde, der in kriegerischem Handeln

und überhaupt gewaltsamer Tätigkeit begriffen

ist und- vom Glücke im Stiche gelassen, inWunden

oder in den Tod gehend oder in irgend ein anderes

Mißgeschick geraten, – in allen diesen Lagen wohlgerüstet

und standhaft gegen das Schicksal sich zur

Wehr setzt; und daneben eine andere für einen Mann,

der in friedlicher und nicht gewaltsamer, sondern

zwangloser Tätigkeit begriffen ist und entweder jemand

zu etwas beredet und bittet, – entweder durch

Flehen einen Gott oder durch Belehrung und Ermahnung

einen Menschen, – oder umgekehrt einem andern,

der bittet oder belehrt oder umzustimmen sucht,

sein Ohr leiht und infolgedessen seineWünsche erfüllt

sieht und nicht übermütig sich benimmt, sondern

besonnen und gemäßigt in allen diesen Lagen verfährt

und mit dem, was kommt, zufrieden ist. Diese zwei

Platon: Der Staat 157

Tonarten, die gewaltsame und die zwanglose, die der

vom Glück Verfolgten und Begünstigten, der Besonnenen

und Mannhaften Lautfärbung am schönsten

nachahmen werden, – diese laß übrig!

Aber, versetzte er, damit wünschest du keine anderen

übrig gelassen als die, die ich soeben genannt

habe.

Nicht also, fuhr ich fort, werden wir Vielheit der

Saiten oder auchWerkzeuge mit allen Tonarten brauchen

bei den Gesängen und Liedern?

Es scheint mir nicht, erwiderte er.

Meister des Trigonons also und der Pektis und aller

derWerkzeuge, die viele Saiten und viele Tonarten

haben, werden wir nicht ernähren?

Offenbar nicht.

Wie aber: Flötenmacher oder Flötenbläser – wirst

du sie in das Gemeinwesen aufnehmen? Oder ist dieses

Instrument nicht das umfangreichste, und sind

eben die allstimmigen nicht gerade Nachahmungen

der Flöte?

Das ist ja klar, erwiderte er.

Die Lyra bleibt dir also übrig, sagte ich, und die

Kithara, und zwar als brauchbar in der Stadt; und

dann auf dem Lande für die Hirten wäre eine Art

Rohrpfeife brauchbar.

Darauf führt uns wenigstens, versetzte er, das Gesagte.

Platon: Der Staat 158

Da tun wir, fuhr ich fort, nichts Neues, mein Lieber,

indem wir dem Apollon und den Instrumenten

des Apollon den Vorzug zuerkennen vor Marsyas und

dessen Instrumenten.

Beim Zeus, erwiderte er, wir tun es offenbar nicht.

Und beim Hunde, sprach ich, unvermerkt sind wir

wieder daran, den Staat zu säubern, den wir eben erst

in Üppigkeit fanden.

Das ist verständig von uns, bemerkte er.

Auf denn, sagte ich, so wollen wir auch das Übrige

säubern! Denn das Nächste nach den Tonarten wird

uns ja wohl sein das die Zeitmaße Betreffende, daß

wir bei diesen nicht dem Bunten nachgehen oder auch

allerlei Gangarten, sondern darauf sehen, welches das

Maß eines geordneten und mannhaften Lebens ist; im

Hinblick auf dieses muß man den Takt und die Melodie

nötigen, sich nach der Rede eines solchen zu richten,

nicht aber die Rede nach dem Takt und der Melodie.

Welches nun diese Zeitmaße wären, das anzugeben

ist deine Sache, wie bei den Tonarten.

Aber beim Zeus, entgegnete er, ich weiß es nicht zu

sagen. Denn daß es ungefähr drei Arten sind, aus

deren Verflechtung die Gangarten gebildet werden,

wie bei den Tönen viererlei, woraus sämtliche Tonarten

hervorgehen, das kann ich aus meiner Anschauung

berichten; welches aber die Nachahmungen eines Lebens

seien – und welchen Lebens -, das weiß ich nicht

Platon: Der Staat 159

anzugeben.

Nun, dies, sagte ich, wollen wir noch mit Dämon

beraten, welches die für Gemeinheit und Ausgelassenheit

oder für Tollheit und sonstige Schlechtigkeit angemessenen

Gangarten sind, und welche Zeitmaße für

das Entgegengesetzte übriggelassen werden müssen.

Ich erinnere mich dunkel, gehört zu haben, wie er ein

zusammengesetztes waffentanzartig nannte und ein

daktylisches und besonders heroisches und es, ich

weiß nicht wie, ordnete und oben und unten gleichstellte,

indem es kurz und lang wurde, und auch einen

Iambos, wie ich glaube, nannte und Trochaios einen

anderen, und er fügte Längen und Kürzen an. Und an

einigen von diesen, glaube ich, tadelte und lobte er

die Haltung (das Tempo) des Versfußes nicht minder

als die Maße selbst, oder auch etwas dies beides Umfassendes;

denn ich weiß es nicht anzugeben. Aber

dies soll, wie gesagt, für Dämon aufgespart sein; denn

es ins reine zu bringen erfordert nicht wenigWorte;

oder meinst du nicht auch?

Freilich, beim Zeus.

Aber das kannst du doch ins reine bringen, daß die

Eigenschaft der Wohlanständigkeit abhängt von dem

Wohlgemessenen und dem Schlechtgemessenen?

Natürlich.

Aber dasWohlgemessene und das Schlechtgemessene

richtet sich doch wohl – jenes nach der schönen

Platon: Der Staat 160

Rede, der es gleichgemacht ist, dieses nach der entgegengesetzten,

und dasWohlgestimmte und Schlechtgestimmte

der Tonart ebenso, wofern das Zeitmaß

und die Tonart nach der Rede sich richtet, wie vorhin

gesagt wurde, nicht aber die Rede sich nach diesen.

Freilich, sagte er, müssen diese von der Rede abhängen.

Wie ist es aber mit der Art undWeise des Redens,

fragte ich, und dem Inhalte? Richten sie sich nicht

nach dem sittlichen Charakter der Seele?

Natürlich.

Und das übrige richtet sich nach dem Reden?

Ja.

Wohlredenheit also undWohlgestimmtheit und

Wohlanständigkeit undWohlgemessenheit hängt ab

von der Wohlgesittetheit, nicht derjenigen, die in

Wahrheit Unverstand ist und nur aus freundlicher

Nachsicht von uns alsWohlgesittetheit bezeichnet

wird, sondern der wahrhaft nach Sitte wohl und schön

bestellten Gesinnung?

Allerdings, versetzte er.

Müssen nun die Jünglinge nicht allenthalben diesem

nachgehen, wenn sie ihre Pflicht tun wollen?

Freilich müssen sie.

Es ist nun aber doch wohl die Malerei dessen voll

und alle derartige Kunsttätigkeit, voll auch dieWeberei

und die Stickerei und die Baukunst und dann die

Platon: Der Staat 161

gesamte Verfertigung der übrigen Geräte, und überdies

die Natur der Leiber und der übrigen Naturerzeugnisse;

denn bei diesen allen findet sichWohlanständigkeit

oder Unanständigkeit. Die Unanständigkeit

nun und die Ungemessenheit und die Ungestimmtheit

sind verschwistert mit der Übelredenheit

und der Übelgesittetheit, das Gegenteilige aber mit

dem Gegenteiligen, der züchtigen und guten Sitte,

verschwistert und dessen Nachahmung.

Vollkommen freilich, sagte er.

Müssen wir also allein die Dichter überwachen und

nötigen, das Bild der guten Sitte in ihren Dichtungen

darzustellen oder überhaupt nicht bei uns zu dichten,

oder müssen wir auch die übrigen Künstler überwachen

und hindern, dieses Schlimmgesittete und Zuchtlose

und Gemeine und Unanständige weder in Bildern

lebenderWesen noch in Gebäuden noch in irgend

einem sonstigenWerke der Kunst darzustellen, oder

dürfen wir dem, der es nicht vermag, nicht gestatten,

bei uns zu arbeiten, damit uns nicht dieWächter,

unter Bildern der Schlechtigkeit aufgezogen, wie

unter schlechtem Kraute, jeden Tag allmählich von

vielen vieles pflückend und zu sich nehmend, unvermerkt

ein großes Übel in ihrer Seele zu einem Ganzen

vereinigen? Vielmehr müssen wir solche Künstler suchen,

die mit schöner Begabung die Natur des Schönen

und Anständigen aufzuspüren imstande sind,

Platon: Der Staat 162

damit die Jünglinge, wie an gesundem Orte wohnend,

Nutzen aus allem ziehen, von welcher Seite immer

etwas von den schönen Werken her in ihr Auge oder

Ohr fällt, einem Luftzug ähnlich, der aus heilsamen

Gegenden Gesundheit bringt und schon von Kindheit

auf unvermerkt sie zur Ähnlichkeit, Freundschaft und

Übereinstimmung mit dem Schönen treibt?

So, erwiderte er, würden sie auf die bei weitem

schönste Art erzogen.

So ist also, mein Glaukon, fuhr ich fort, die Erziehung

durch Musik darum die vorzüglichste, weil der

Rhythmus und die Harmonie am meisten in das Innerste

der Seele dringt und am stärksten sie erfaßt und

Anstand bringt und anständig macht, wenn jemand

darin richtig erzogen wird, – wo nicht, – das Gegenteil?

Und weil hinwiederum der, welcher hierin erzogen

ist, wie es sein soll, das Übersehene und von der

Kunst oder der Natur nicht schön Ausgeführte am

schärfsten wahrnimmt und mit gerechtemWiderwillen

vor diesem das Schöne lobt und mit Freuden es in

seine Seele aufnimmt und daran sich nährt und schön

und gut wird, dagegen das Häßliche mit Rechttadelt

und haßt schon, wenn er jung ist, ehe er noch Vernunft

zu fassen imstande ist, wenn aber diese kommt,

sie willkommen heißt, indem er sie wegen seiner Verwandtschaft

mit ihr am ehesten erkennt, wenn er so

erzogen ist?

Platon: Der Staat 163

Mir wenigstens scheint es, erwiderte er, daß um

deswillen die Erziehung in der Musik stattfindet.

Gerade also, bemerkte ich, wie wir mit der Schrift

damals genügend bekannt waren, als wir die wenigen

Buchstaben in allem, worin sie vorkommen, zu erkennen

wußten und weder in Kleinem noch in Großem

sie mißachteten, als brauchte man sie nicht zu bemerken,

sondern überall uns bemühten, sie zu unterscheiden,

weil wir nicht eher Schriftkundige wären, bis wir

uns auf dieser Stufe befänden.

Richtig.

Also auch die Bilder von Schriftzeichen, wenn sie

uns etwa imWasser oder in einem Spiegel sichtbar

würden, werden wir nicht eher kennen, bis wir sie

selbst kennen, sondern es gehört dies zu derselben

Fertigkeit und Übung?

Allerdings.

So werden wir also, was ich meine, auf diese

Weise, bei den Göttern, auch nicht eher musisch gebildet

sein, weder wir selbst noch auch die, von welchen

wir sagen, daß wir sie bilden müssen, dieWächter,

– bis wir die Gestalten der Mäßigung und der

Tapferkeit und des Freisinns und der Hochherzigkeit

und alles, was diesen verschwistert ist, und andererseits

das Gegenteil von diesen, überall, wo es vorkommt,

erkennen und, wenn sie in etwas anderem

sind, sie wahrnehmen, sowohl sie selbst als ihre

Platon: Der Staat 164

Abbilder, und weder in Kleinem noch in Großem sie

mißachten, sondern glauben, daß dies zu derselben

Fertigkeit und Übung gehöre?

Das ist ganz notwendig, bemerkte er.

Bei wem also, fuhr ich fort, sich trifft, daß in seiner

Seele schöne Sitten sind und in seiner Gestalt diesen

Entsprechendes und damit Übereinstimmendes, zu

demselben Gepräge Gehöriges, – der wäre der schönste

Anblick für den, der sehen kann?

Bei weitem.

Nun ist aber das Schönste doch wohl das Liebenswürdigste?

Natürlich.

Die Menschen also, die möglichst so beschaffen

sind, wird der musisch Gebildete lieben; wenn aber

jene Übereinstimmung nicht vorhanden ist, dann wird

er nicht lieben?

Wenn, erwiderte er, an der Seele ein Mangel ist;

wenn aber am Leibe, so wird er es ertragen, so daß er

ihm dennoch freundlich sein mag.

Ich verstehe, sagte ich: du hast oder hattest einmal

einen solchen Geliebten, und ich gebe es zu. Aber

sage mir dies: Hat Besonnenheit Gemeinschaft mit

übermäßiger Lust?

Wie sollte sie, antwortete er, da sie von Sinnen

bringt nicht minder als die Trauer?

Aber mit sonstiger Tugend?

Platon: Der Staat 165

Keineswegs.

Wie aber mit Übermut und Zuchtlosigkeit?

Gar sehr.

Kannst du mir aber eine größere und heftigere Lust

nennen als die der Liebe?

Nein, versetzte er, und auch keine wahnsinnigere.

Die rechte Liebe aber ist ihremWesen nach: einen

Gesitteten und Schönen besonnen und musisch zu lieben?

Jawohl, sagte er.

Man darf also nichts Tolles und mit Zuchtlosigkeit

Verwandtes zu der rechten Liebe hinzubringen?

Nein.

So darf man also diese Lust nicht hinzubringen,

und es dürfen an dieser keinen Teil haben Liebhaber

und Geliebte, die recht lieben und geliebt werden?

Nein, bei Zeus, Sokrates, man darf sie nicht hinzubringen,

antwortete er.

Das also, scheint es, wirst du als Gesetz aufstellen

in dem Staate, der gegründet wird, daß der Liebhaber

den Geliebten küssen dürfe und mit ihm Zusammensein

und ihn berühren wie einen Sohn, um der Schönheit

willen, wenn er ihn dazu bewegen kann; daß man

im übrigen aber mit dem, den man verehre, so umzugehen

habe, daß das Verhältnis nicht weiter als bis zu

dieser Grenze zu gehen scheine; wo nicht, – so treffe

ihn der Vorwurf der musischen Unfeinheit und der

Platon: Der Staat 166

Unempfindlichkeit für das Schöne.

Sei’s denn, erwiderte er.

Glaubst du nun nicht auch, bemerkte ich, daß unsere

Erörterung über die Musenkunst zu Ende sei? Wenigstens

das Ende, zu dem sie kommen muß, hat sie

erreicht: es muß nämlich die Musenkunst enden in der

Liebe des Schönen.

Einverstanden, erklärte er.

Nach der Musenkunst also muß man die Jugend erziehen

durch Turnkunst.

Ganz gewiß.

Nun muß zwar auch diese von Kindheit an das

ganze Leben lang sorgfältig getrieben werden; es verhält

sich aber damit, wie ich glaube, folgendermaßen:

Besinne auch du dich, denn mir scheint es nicht, als

ob ein tüchtiger Leib durch seine eigene Tüchtigkeit

die Seele gut machte, sondern daß umgekehrt eine

gute Seele durch ihre Tüchtigkeit den Leib so gut wie

möglich hinstellt; wie kommt es aber dir vor?

Ebenso, antwortete er.

Wenn wir also, nachdem wir die Gesinnung gehörig

gepflegt, ihr überlassen, in betreff des Leibes die

genaueren Bestimmungen zu treffen, und selbst nur

die Umrisse angäben, um nicht weitläufig zu werden,

so würden wir wohl richtig verfahren?

Allerdings.

Von der Trunkenheit nun also, haben wir gesagt,

Platon: Der Staat 167

müssen dieWächter sich fernhalten; denn jedem eher

als einemWächter kann man gestatten, daß er vor

Trunkenheit nicht weiß, wo zu Lande er ist.

Freilich, bemerkte er, ist es lächerlich, wenn der

Wächter selbst einenWächter braucht.

Und dann – wie steht es in betreff der Nahrung?

Denn die Männer sind ja Ringer in dem größtenWettkampfe;

oder nicht?

O ja.

Wäre nun wohl die Lebensweise dieser bei ihren

Übungen angemessen für jene?

Vielleicht.

Aber, wendete ich ein, diese macht ja schlafsüchtig

und ist für die Gesundheit gefährlich; oder siehst du

nicht, daß diese Ringer ihr Leben lang schlafen und,

wenn sie nur ein wenig die vorgeschriebene Lebensart

überschreiten, schwer und heftig erkranken?

Allerdings.

So bedarf es also, fuhr ich fort, einer feineren Vorbereitung

für die kriegerischenWettkämpfer, die ja

wie Hunde wachsam sein müssen und ein möglichst

scharfes Gesicht und Gehör haben und bei dem vielen

Wechsel desWassers und der übrigen Nahrungsmittel

und der Hitze und Kälte, der sie in den Feldzügen

ausgesetzt sind, keine leichtgefährdete Gesundheit

haben dürfen.

Das ist mir klar.

Platon: Der Staat 168

So wäre denn also wohl die beste Turnkunst verschwistert

mit der Musenkunst, die wir kurz zuvor beschrieben

haben?

Wie meinst du das?

Halt eine einfache und geeignete Turnkunst, und

besonders in dem, was sich auf den Krieg bezieht.

Wieso?

Schon von Homer, antwortete ich, kann man in dieser

Beziehung lernen. Denn du weißt, daß er im Kriege

die Helden bei ihren Schmausereien weder mit Fischen

bewirtet, obgleich sie sich amMeere im Hellespontos

befinden, noch mit gesottenem Fleisch, sondern

ausschließlich mit gebratenem, was natürlich für

Krieger am leichtesten zu bekommen sein wird; denn

so ziemlich überall geht es leichter, das Feuer allein

anzuwenden, als Gefäße mit herumzutragen.

Freilich.

Auch Gewürze, glaube ich, hat Homer nie erwähnt;

oder wissen das nicht auch die andern Sportsleute,

daß ein Leib, der sich wohlbefinden will, alles Derartigen

sich enthalten muß?

Und sie tun recht daran, versetzte er, daß sie es

wissen und sich enthalten.

Einen syrakusischen Tisch dagegen, mein Freund,

und eine sizilische Mannigfaltigkeit von Gerichten

lobst du, scheint s, nicht, wenn du glaubst, daß jene

daran recht tun.

Platon: Der Staat 169

Ich glaube nicht.

Du tadelst es also auch, wenn Männer, die eine

gute Leibesbeschaffenheit haben sollen, ein korinthisches

Mädchen liebhaben?

Allerdings.

Also auch die wohlbekannten Leckereien des attischen

Backwerkes lehnst du ab?

Notwendig.

Denn ich glaube, wenn wir diese ganze Kost und

Lebensart mit der Tonsetzung und dem Gesänge vergleichen,

der alle Harmonien und alle Rhythmen aufbietet,

so werden wir sie richtig vergleichen.

Sicherlich.

Dort nun hat die Mannigfaltigkeit Zügellosigkeit

erzeugt und hier Krankheit, die Einfachheit aber in

bezug auf die Musik in der Seele Mäßigung, und in

bezug auf die Turnkunst in dem Leibe Gesundheit.

Ganz richtig, versetzte er.

Wenn nun aber in einem Staate Zügellosigkeit und

Krankheiten überhandnehmen, tun sich da nicht viele

Gerichtsstätten und Arzneiläden auf, und bekommt

die Rechtskenntnis und Heilkunde Bedeutung, wenn

sich auch viele Freie, und sehr angelegentlich, damit

beschäftigen?

Wie sollten sie nicht?

Kann es aber einen schlagenderen Beweis von der

schlechten und schimpflichen Erziehung in einem

Platon: Der Staat 170

Gemeinwesen geben, als daß vorzügliche Ärzte und

Richter nötig sind nicht allein für die unteren Stände

und die Handwerker, sondern auch für solche, die

dafür gelten wollen, daß sie auf eine eines Freien würdigeWeise

erzogen seien? Oder scheint es nicht

schimpflich und ein schlagender Beweis von mangelnder

Bildung, wenn man sich genötigt sieht, von

andern, als seinen Gebietern und Richtern, Recht zu

holen und daran sich zu halten, und das aus Mangel

an eigenem?

Allerdings, erwiderte er, ist das die allergrößte

Schande.

Scheint dir dies, fragte ich, noch schimpflicher als

das, wenn einer nicht allein den größten Teil seines

Lebens in Gerichtssälen als Angeklagter und Ankläger

sich herumtreibt, sondern vor Ungeschliffenheit

sogar noch sich einbildet, damit großtun zu können,

daß er stark sei im Unrechttun und geschickt, alle

Schliche und Kniffe in Anwendung zu bringen und

sich schlau hinauszuwinden, ohne bestraft zu werden,

und das um kleiner und nichtswürdiger Dinge willen,

ohne zu ahnen, wie viel schöner und besser es sei,

sein Leben so einzurichten, daß man eines halbwachen

Richters nicht bedarf?

Nein, antwortete er, sondern das letztere ist noch

schimpflicher als jenes.

Und dann, fuhr ich fort, der Heilkunde zu bedürfen,

Platon: Der Staat 171

wenn nicht etwa wegenWunden oder Krankheiten,

wie sie jedes Jahr vorkommen, sondern infolge von

Faulheit und einer Lebensweise, wie wir sie beschrieben

haben, mit Flüssen undWinden wie ein See sich

zu füllen, daß die feinen Jünger des Asklepios genötigt

sind, die Namen Blähungen und Katarrhe für die

Krankheiten zu geben, – scheint dir das nicht schimpflich?

Allerdings, versetzte er, sind das in der Tat neue

und wunderliche Krankheitsbezeichnungen.

Dergleichen es, sagte ich, zu Asklepios’ Zeiten

wohl nicht gab. Ich schließe das daraus, daß seine

Söhne in Troia die Frau, welche dem verwundeten

Eurypylos pramnischenWein zu trinken gab, mit

einem starken Zusatz von Gerstenmehl und eingeschabtem

Käse vermischt, was doch für erhitzend gilt,

nicht tadelten, noch den Patrokles, der ihn behandelte,

darob schalten.

Freilich, entgegnete er, ist das ein wunderlicher

Trank bei solchem Befinden.

Doch nicht, antwortete ich, wenn du bedenkst, daß

diese Erziehungskunst der Krankheiten, die heutige

Heilkunst, die Jünger des Asklepios vordem nicht anwandten,

wie es heißt, bis zu der Zeit des Herodikos.

Herodikos nämlich, der ein Turnlehrer war und kränklich

wurde, mischte die Turnkunst und Heilkunst

durcheinander und quälte damit zuerst und

Platon: Der Staat 172

hauptsächlich sich selbst und später dann noch viele

andere.

Wieso? fragte er.

Indem er, antwortete ich, sich das Sterben lang

machte. Indem er nämlich dem Verlaufe der Krankheit

nachging, die eine tödliche war, konnte er, glaube ich,

weder sich selbst heilen, noch hatte er für etwas mehr

Zeit, sondern dokterte an sich herum sein Leben lang

und quälte sich ab, ob er nicht die gewohnte Lebensweise

überschreite, und erreichte so, infolge seiner

Weisheit langsam sterbend, ein hohes Alter.

Da hat er denn einen schönen Lohn seiner Kunst

davongetragen, bemerkte er.

Wie ihn der verdiente, versetzte ich, der nicht erkannte,

daß Asklepios nicht aus Unwissenheit oder

Unkenntnis dieser Art von Heilkunst sie seinen Nachkommen

nicht gezeigt hat, sondern weil er wußte, daß

bei allen, die unter guten Gesetzen leben, für jeden ein

Geschäft im Staate angewiesen ist, das er notwendig

treiben muß, und er keine Zeit hat, sein Leben lang

krank zu sein und an sich herumdoktern zu lassen.

Lächerlicherweise sehen wir das bei den Handwerkern

ein, bei den Reichen aber und denen, die für glücklich

gelten, bemerken wir es nicht.

Inwiefern? fragte er.

Ein Zimmermann, antwortete ich, wird, wenn er

krank ist, von dem Arzte einen Trank begehren, um

Platon: Der Staat 173

die Krankheit herauszubrechen, oder sie durch ein

Abführungsmittel oder durch Brennen oder Schneiden

los werden wollen; wenn ihm aber jemand eine kleinliche

Lebensordnung vorschreibt und ihm Käppchen

auf den Kopf setzt und was sonst noch dazu gehört,

so wird er rasch antworten, daß er keine Zeit habe,

krank zu sein, noch daß er Nutzen habe von einem

solchen Leben, indem er immer an die Krankheit

denke und sein Geschäft versäume. Und darauf wird

er zu einem solchen Arzte »Gehorsamer Diener«

sagen, zu seiner gewöhnlichen Lebensweise zurückkehren,

genesen und am Leben bleiben und seine Geschäfte

betreiben: ist aber sein Leib nicht imstande, es

auszuhalten, so stirbt er und ist aller Mühe enthoben.

Freilich für einen solchen, versetzte er, scheint es

angemessen, der Heilkunst sich in dieserWeise zu bedienen.

Nicht wahr, sagte ich, weil er ein Geschäft hatte,

bei dessen Versäumung es für ihn nicht vorteilhaft

war, am Leben zu bleiben?

Offenbar, erwiderte er.

Der Reiche dagegen hat, wie wir sagen, kein derartiges

Geschäft vor sich, daß er, wenn er genötigt ist,

es aufzugeben, nicht mehr leben möchte.

Wenigstens nennt man keines der Art.

Da hörst du aber nicht, wie Phokylides spricht, entgegnete

ich, daß, wer schon zu leben habe, Tugend

Platon: Der Staat 174

üben müsse.

O ich denke, auch schon vorher, bemerkte er.

Wir wollen, sagte ich, hierüber mit ihm nicht streiten,

sondern uns darüber belehren, ob dies der Reiche

zu treiben habe und, wenn er es nicht tut, aufs Leben

verzichten soll, oder ob das Pflegen der Krankheit

zwar bei der Kunst des Zimmermanns und den übrigen

Künsten ein Hindernis der Achtsamkeit ist, dagegen

dem Gebote des Phokylides nicht imWege steht?

O ja, beim Zeus, antwortete er, sie fast am allermeisten,

diese übertriebene, über die Turnkunst hinausgehende

Sorge für den Leib; denn auch für die Besorgung

des Hauswesens und für Feldzüge und für

Ämter daheim in der Stadt ist sie hinderlich.

Die Hauptsache aber ist, daß sie auch für jede Art

von Lernen und Nachdenken und geistige Übungen

beschwerlich ist, indem sie immer Anstrengung der

Kopfnerven und Schwindel befürchtet und behauptet,

daß das die Folge des Philosophierens sei, so daß, wo

jene waltet, es schlechterdings der Tugend unmöglich

ist, sich zu üben und zu bewähren; denn sie macht,

daß man immer krank zu sein glaubt und niemals aufhört,

mit dem Leibe Nöte zu haben.

Natürlich.

Wollen wir nun nicht annehmen, daß auch Asklepios

dies erkannt und daher diejenigen, die in bezug auf

Natur und Lebensweise gesunden Leibes sind, nur

Platon: Der Staat 175

aber eine Krankheit abgesondert in sich haben, – für

diese und für eine solche Beschaffenheit die Heilkunst

gelehrt, durch Arzneimittel und Schneiden die Krankheiten

auszutreiben und ihnen ihre gewöhnliche Lebensweise

zu verordnen, um ihnen nicht in bürgerlicher

Hinsicht Nachteil zu bringen; daß er dagegen

nicht versucht, Leiber, die innerlich durch und durch

krank sind, durch diätetische Behandlung allmählich

abzuschöpfen und wieder aufzugießen und so dem

Menschen ein langes und schlechtes Leben zu bereiten

und Kindern von ihnen zurWelt zu helfen, die natürlich

von derselben Beschaffenheit sind; sondern

solche, die nicht imstande wären, in derWelt, wie sie

ist, zu leben, nicht heilen zu dürfen glaubt, da es

weder ihnen noch einem Staate fromme?

Als einen rechten Staatsmann beschreibst du da

den Asklepios, bemerkte er.

Offenbar, versetzte ich: und seine Söhne dürften

beweisen, daß er ein solcher war. Oder siehst du

nicht, wie sie sich auch in Troia als tapfere Krieger

bewährten und die Heilkunst so, wie ich sage, anwandten?

Oder erinnerst du dich nicht, daß sie auch

demMenelaos infolge der Wunde, die ihm Pandaros

beigebracht,

Erst aussogen das Blut und mit linderndem Kraut

sie bestrichen;

Platon: Der Staat 176

was er aber nachher essen oder trinken solle, haben

sie ihm ebensowenig als dem Eurypylos vorgeschrieben,

in der Überzeugung, daß die Arzneimittel hinreichend

seien, umMänner zu heilen, die vor der Verwundung

gesund und in ihrer Lebensweise geordnet

gewesen, auch wenn sie etwa im Augenblick einen

Mischtrank getrunken hätten? Daß aber ein von Natur

Kränklicher und Zügelloser am Leben bleibe, das,

glaubten sie, fromme weder diesen selbst noch den

übrigen, und für diese dürfe ihre Kunst nicht sein und

sie nicht heilen, auch wenn sie reicher wären als

Midas.

Als sehr feine Köpfe beschreibst du da die Söhne

des Asklepios, bemerkte er.

Wie es recht ist, versetzte ich. Indessen behaupten

imWiderspruch mit uns die Tragödiendichter und

Pindaros, Asklepios sei zwar Sohn des Apollon, habe

sich jedoch durch Gold bestimmen lassen, einen

schon dem Tode verfallenen reichen Mann zu heilen,

und sei infolgedessen auch mit dem Blitze erschlagen

worden.Wir aber werden ihnen nach dem bisher Gesagten

nicht beides zugleich glauben, sondern wir

werden sagen:War er ein Göttersohn, so war er nicht

schmutzig geldgierig; im andern Falle war er eben

kein Göttersohn.

So ist es auch ganz richtig, sagte er. Aber was

hältst du, Sokrates von folgendem: Muß man nicht im

Platon: Der Staat 177

Staate gute Ärzte haben, und sind solche nicht alle

diejenigen, die die meisten Gesunden und die meisten

Kränklichen unter den Händen gehabt haben? Und

andererseits als Richter ebenso diejenigen, die mit

mancherlei Naturen umgegangen sind?

Allerdings, antwortete ich, meine ich gute; aber

weißt du, welche ich für solche halte?

Wenn du es sagst, versetzte er.

So will ich’s denn versuchen, sagte ich; du hast indessen

zwei verschiedene Dinge in eine Frage zusammengeworfen.

Wieso? fragte er.

Ärzte, erwiderte ich, dürften am vollkommensten

werden, wenn sie von Kindheit an neben dem Erlernen

ihrer Kunst mit möglichst vielen und schlechten

Leibern bekannt werden und selbst auch alle möglichen

Krankheiten bekommen und nicht besonders gesund

von Natur sind: denn nicht mit dem Leibe, denke

ich, heilen sie den Leib – sonst hätte ihr Leib ja niemals

schlecht sein und werden dürfen -, sondern den

Leib mit der Seele, der es nicht möglich ist, wenn sie

schlecht wurde und es ist, etwas gut zu heilen.

Das ist wahr, bemerkte er.

Dagegen ein Richter, mein Lieber, regiert mit der

Seele die Seele, und diese darf nicht von klein an

unter schlechten Seelen erzogen und mit ihnen umgegangen

sein und alle Ungerechtigkeiten selbst verübt

Platon: Der Staat 178

und durchgemacht haben, damit sie von sich selbst

her scharf die Ungerechtigkeiten anderer erkenne, wie

bei dem Leibe die Krankheiten, sondern sie muß in

ihrer Jugend in schlechten Sitten unerfahren und dadurch

ungetrübt geblieben sein, wenn sie später als

eine schöne und gute das Gerechte gesund beurteilen

soll. Daher erscheinen auch die Anständigen in ihrer

Jugend einfältig und von den Ungerechten leicht zu

betrügen, weil sie nämlich den Bösen ähnliche Vorbilder

in sich selbst haben.

So geht es ihnen allerdings in hohem Grade, versetzte

er.

So darf denn auch, fuhr ich fort, der gute Richter

nicht ein Junger, sondern ein Alter sein, der erst spät

kennengelernt hat, was die Ungerechtigkeit für ein

Ding ist: nicht indem er sie als seine eigene in seiner

Seele inwohnend erkannt hat, sondern weil er sie als

fremde an fremden Seelen lange Zeit hindurch studiert

und sich überzeugt hat, was für ein Übel sie ist, durch

Anwendung vonWissenschaft, nicht von eigener Erfahrung.

Wenigstens, sagte er, scheint ein solcher Richter

der edelste zu sein.

Und auch ein guter, setzte ich hinzu, und danach

hast du ja gefragt: denn wer eine gute Seele hat, ist

gut. Jener Geschickte aber und Argwöhnische, der

selbst viele Ungerechtigkeiten begangen hat und sich

Platon: Der Staat 179

für abgefeimt und weise hält, scheint, wenn er mit

Ähnlichen zusammentrifft, geschickt, denn er ist vorsichtig,

indem er auf die Vorbilder in sich selbst hinblickt;

wenn er jedoch dann mit Guten und Älteren

zusammenkommt, so erscheint er andererseits als unverständig,

indem er unzeitiges Mißtrauen hegt und

eine gesunde Denkart nicht versteht, weil er von solcher

kein Vorbild in sich hat. Da er indessen häufiger

mit Schlechten als mit Rechtschaffenen zu tun hat, so

erscheint er mehr weise als töricht sich selbst und andern.

Das ist allerdings wahr, bemerkte er.

Nicht einen solchen also, sagte ich, müssen wir als

guten und weisen Richter suchen, sondern den früheren;

denn die Schlechtigkeit wird nimmermehr weder

die Tugend noch sich selbst kennenlernen; wohl aber

wird die Tugend, wenn ihre Natur lange Zeit gebildet

wird, zugleich von sich selbst und von der Schlechtigkeit

Kenntnis erlangen.Weise also wird, wie mir

scheint, dieser, nicht aber der Schlechte.

Auch ich bin damit einverstanden, erklärte er.

Also auch die Heilkunst, wie wir sie beschrieben

haben, wirst du mit einer derartigen Richterkunst im

Staate einführen, die dir die wohlgearteten Bürger an

Leib und Seele heilen werden, die entgegengesetzten

aber, wenn sie in bezug auf den Leib so sind, sterben

lassen, und die in bezug auf die Seele

Platon: Der Staat 180

schlechtgearteten und unheilbaren selbst töten werden?

Wenigstens wäre das, meinte er, offenbar das

Beste, sowohl für die selbst, die es erleiden, als für

den Staat.

Die Jünglinge aber, fuhr ich fort, werden sich offenbar

sorgsam davor hüten, die Richterkunst zu benötigen,

indem sie sich an jene einfache Musik halten,

von der wir ja gesagt haben, daß sie Besonnenheit erzeuge.

Sicherlich, erwiderte er.

Wird nun nicht der Musikkundige, auf diesen nämlichen

Spuren der Turnkunst nachgehend, falls er will,

es dahin bringen, daß er in nichts der Heilkunst bedarf,

außer wo es notwendig ist!

Mir scheint es so.

Die Übungen selbst aber und die Anstrengungen

wird er mehr im Hinblick auf das Muthafte seines

Wesens und dieses weckend betreiben als im Hinblick

auf Körperkraft; nicht aber wird er, wie sonst die

Wettkämpfer, Nahrung zu sich und Anstrengungen

auf sich nehmen, um stark zu werden.

Vollkommen richtig, sagte er.

Haben nun also, sprach ich, o Glaukon, auch die,

welche die Bildung durch Musenkunst und Turnkunst

einführten, dies nicht aus dem Grunde eingeführt, den

einige für den richtigen halten, damit die zu

Platon: Der Staat 181

Erziehenden durch die eine am Leibe, durch die andere

an der Seele gepflegt würden?

Aber warum denn? fragte er.

Sie scheinen, bemerkte ich, beides in der Hauptsache

um der Seele willen eingeführt zu haben.

Wieso?

Bemerkst du nicht, sprach ich, wie eben an Gesinnung

diejenigen werden, die ihr Leben lang mit der

Turnkunst sich befaßt, Musik aber nicht berührt

haben? Oder welche in der entgegengesetzten Lage

waren?

In welcher Beziehung meinst du? fragte er.

In Bezug auf Heftigkeit und Härte einerseits, und

andererseits aufWeichheit und Milde, versetzte ich.

Freilich, erwiderte er; die, welche sich an die Turnkunst

ungemischt halten, fallen davon heftiger aus, als

recht ist; andererseits die, welche sich nur an die

Musik halten, werden weichlicher, als wie es für sie

schön ist.

Und wirklich, versetzte ich, wird das Heftige von

demMuthaften der Naturanlage ausgehen und, recht

gezogen, Mannhaftigkeit sein, über die Gebühr aber

angespannt begreiflicherweise Härte und Herbigkeit

werden.

Einverstanden, erwiderte er.

Und wie? Das Milde, – wird es nicht der weisheitsliebenden

Naturanlage anhaften? Und wenn es zu sehr

Platon: Der Staat 182

abgespannt wird, so wird es über Gebühr weichlich

sein, gehörig gezogen aber mild und anständig?

So ist’s.

Von denWächtern nun sagen wir, daß sie diese

beiden Naturanlagen haben müssen?

Freilich müssen sie.

Also müssen sie zu einander in das rechte Verhältnis

gesetzt werden?

Natürlich.

Und bei wem sie im rechten Verhältnisse sind, dessen

Seele ist besonnen und mannhaft?

Allerdings.

Bei wem sie aber nicht im rechten Verhältnisse

sind, bei dem ist sie feig und ungeschliffen?

Sicherlich.

Wenn nun also jemand der Musik gestattet, seine

Seele durch die Ohren wie durch einen Trichter zu

übergießen und zu überflöten mit den soeben von uns

genannten süßen und weichlichen und klagenden Tonarten,

und wenn er sein ganzes Leben wimmernd und

durch den Gesang in Entzücken versetzt hinbringt, so

wird ein solcher zuerst das Muthafte, was er etwa hat,

wie Eisen erweichen und aus einem Unbrauchbaren

und Harten zu einem Brauchbaren machen; wenn er

aber nicht abläßt, darauf zu hören, sondern im Zauber

bleibt, da beginnt schon ein Schmelzen und Zerlassen,

bis er den Mut herausgeschmolzen und aus seiner

Platon: Der Staat 183

Seele gleichsam die Sehnen herausgeschnitten und

einen weichlichen Kriegsmann hervorgebracht hat.

Allerdings, versetzte er.

Und falls er nun, fuhr ich fort, von Anfang an eine

von Natur mutlose Seele bekommen hat, so wird er

dies schnell zustande bringen; falls aber eine muthafte,

so macht er den Mut schwächlich und bringt ihn

aus dem Gleichgewicht, so daß er (der Mut) aus

Anlaß von Kleinigkeiten rasch gereizt und rasch gelöscht

wird; leidenschaftlich und jähzornig sind sie

dann aus einemMuthaften geworden, voll mürrischen

Wesens.

Allerdings vollkommen.

Und wie? Wenn er andererseits mit der Turnkunst

sich viel anstrengt und das Essen sich tüchtig

schmecken läßt, mit Musenkunst aber undWeisheitsliebe

sich nicht befaßt, – wird er nicht zuerst bei körperlichemWohlbefinden

voll Entschlossenheit und

Mutes werden und an Mannhaftigkeit sich selbst

überbieten?

Allerdings.

Wie aber? Wenn er nichts anderes tut und mit der

Muse sich in keinerlei Gemeinschaft setzt, – wird

nicht das Lernbegierige in seiner Seele, wenn dergleichen

überhaupt darin vorhanden war, infolge davon

daß es weder einenWissensgegenstand irgend zu kosten

bekommt noch eine Untersuchung, und weder

Platon: Der Staat 184

einer Rede teilhaftig wird noch sonst einer Musenkunst,

schwach und taub und blind werden, weil es

nicht geweckt und genährt und auch ihren Empfindungen

keine Läuterung zuteil wird?

So ist es, versetzte er.

Ein Feind der Rede wird denn also, glaube ich, ein

solcher werden, und den Musen abgekehrt, und von

der Überredung durch Worte macht er in nichts mehr

Anwendung; sondern mit Gewalt und Heftigkeit,

gleich einem wilden Tiere, geht er bei allem zuWerke

und lebt in Unwissenheit und Plumpheit, ohne Ebenmaß

und Anmut.

Vollkommen, bemerkte er, verhält es sich so.

Für dieses beides also, wie es scheint, möchte ich

behaupten, daß ein Gott den Menschen die beiden

Künste gegeben habe, die Musenkunst und die Turnkunst,

für das Muthafte undWeisheitsliebende, nicht

für Seele und Leib, außer etwa nebenbei, sondern für

jene beiden, damit sie zu einander in das rechte Verhältnis

gesetzt werden, durch Anspannen und Nachlassen

bis zu dem gehörigen Maße.

So scheint es allerdings, sagte er.

Von demjenigen also, der am schönsten die Turnkunst

mit der Musenkunst mischt und sie in dem besten

Maße der Seele zuführt, von dem werden wir mit

vollstem Rechte sagen, er sei vollkommen im höchsten

Grade musikkundig und wohlgestimmt, viel mehr

Platon: Der Staat 185

als derjenige, der die Saiten unter einander zusammenordnet?

Natürlich, o Sokrates, erwiderte er.

So werden wir also, mein Glaukon, auch in dem

Staate immer eines solchen Vorstehers bedürfen,

wenn die Verfassung bestehen bleiben soll?

Freilich werden wir seiner bedürfen, so sehr als nur

möglich.

Dies wären denn also die Richtlinien für die Bildung

und Erziehung. Denn die Reigentänze von solchen

Leuten, – wozu sollte man sie durchgehen, und

ihre Jagden und Tierhetzen und ihre Wettkämpfe zu

Fuß und zu Roß? Denn es ist doch wohl so ziemlich

klar, daß sie jenem entsprechend sein müssen, und es

ist nicht mehr schwierig, sie zu finden.

Vermutlich, bemerkte er, sind sie nicht schwierig.

Gut denn, sagte ich: was werden wir nun wohl nach

diesem zu bestimmen haben? Nicht das, wer unter

eben diesen regieren und sich regieren lassen wird?

Sicherlich.

Daß nun Altere die Regierenden sein müssen, Jüngere

aber die Regierten, ist klar?

Allerdings.

Und daß es die Vorzüglichsten unter ihnen sein

müssen?

Auch dies.

Unter den Landleuten sind da die vorzüglichsten

Platon: Der Staat 186

nicht die im Ackerbau geschicktesten?

Ja.

Jetzt aber, da es ja unter denWächtern die Vorzüglichsten

sein müssen, nicht die im Bewachen des

Staates Geschicktesten?

Ja.

Müssen sie nicht also für diesen Zweck Einsicht

haben und Fähigkeit und überdies Sorgsamkeit für

den Staat?

Es ist so.

Sorgsamkeit aber wird einer am meisten für dasjenige

haben, was er liebt?

Notwendig.

Und lieben wird einer am meisten dasjenige, von

dem er glaubt, daß diesem das nämliche zuträglich sei

wie ihm selbst, und wenn bei dessenWohlbefinden er

selbst auch am meisten Wohlbefinden zu erlangen

glaubt, – wo nicht, so das Gegenteil?

So ist es, sprach er.

Auslesen muß man also aus den übrigenWächtern

solche Männer, von denen wir bei näherer Betrachtung

gewahren, daß sie am ehesten ihr ganzes Leben

lang dasjenige, was sie dem Staate für zuträglich halten,

mit allem Eifer tun, was aber nicht zuträglich ist,

das in keinerWeise ausführen möchten.

Freilich sind solche geeignet, bemerkte er.

Es scheint mir nun, man müsse sie beobachten auf

Platon: Der Staat 187

allen Altersstufen, ob sie geschickt sind, diesen

Grundsatz zu bewachen und weder durch Bezauberung

noch durch Gewalttat den Glauben, daß sie tun

müssen, was für den Staat das Beste ist, vergessen

und aus der Seele verstoßen.

Was meinst du mit diesem »Verstoßen«? fragte er.

Ich will es dir sagen. Es scheint mir, daß eine Ansicht

aus dem Sinne gehe entweder freiwillig oder unfreiwillig:

freiwillig die falsche, wenn man eines Besseren

belehrt wird, unfreiwillig aber jede wahre.

Das von der freiwilligen, sagte er, verstehe ich; dagegen

das von der unfreiwilligen wünsche ich verstehen

zu lernen.

Wie ist’s denn? sprach ich; bist nicht auch du der

Meinung, daß des Guten die Menschen unfreiwillig

beraubt werden, des Schlechten aber freiwillig? Oder

ist es nicht etwas Schlechtes, um dieWahrheit getäuscht

zu sein, dieWahrheit zu besitzen aber ist

etwas Gutes? Oder meinst du nicht, das, was wirklich

ist, zu glauben, heiße dieWahrheit besitzen?

Du hast freilich recht, erwiderte er, und ich glaube,

daß sie nur unfreiwillig der wahren Ansicht beraubt

werden.

Sind sie nun nicht in dieser Lage, wenn sie bestohlen

oder bezaubert werden oder Gewalt erleiden?

Noch immer, sagte er, verstehe ich nicht.

Es scheint, versetzte ich, ich rede im

Platon: Der Staat 188

Tragödienstile. Mit dem Bestohlenwerden meine ich,

daß man auf eine andere Ansicht gebracht wird oder

vergißt, weil in dem einen Falle die Zeit, im andern

die Rede unvermerkt etwas wegnimmt. Jetzt verstehst

du doch wohl?

Ja.

Nun denn, mit dem Gewalterleiden meine ich, daß

ein Leiden oder Schmerz sie auf eine andere Ansicht

bringt.

Auch das, erklärte er, habe ich verstanden und gebe

dir recht.

Als bezaubert aber wirst wohl auch du, denke ich,

diejenigen erkennen, die ihre Ansicht ändern entweder

infolge einer Lust, die sie berückt, oder infolge von

Angst, indem sie etwas fürchten.

Es scheint allerdings, versetzte er, daß alles, was

irgend betrügt, bezaubert.

Was ich nun also vorhin sagte, – man muß suchen,

welches die vorzüglichstenWächter sind für den bei

ihnen waltenden Grundsatz, daß dasjenige zu tun sei,

was sie immer für den Staat als das Beste für sie zu

tun erkennen. Beobachten muß man sie denn gleich

von Kindheit auf, indem man ihnen Handlungen aufgibt,

bei denen man am ehesten wohl etwas Derartiges

vergessen und darum betrogen werden könnte,

und denjenigen, der es behält und sich schwer betrügen

läßt, muß man auswählen, wer aber nicht, den

Platon: Der Staat 189

muß man verwerfen: nicht wahr?

Ja.

Und andererseits, Beschwerden und Schmerzen und

Kämpfe muß man ihnen festsetzen, bei denen dieses

nämliche beobachtet werden muß.

Richtig, sagte er.

So muß man also, fuhr ich fort, auch in der dritten

Gattung, der Bezauberung, ihnen einenWettkampf

veranstalten und dabei zuschauen, wie man junge

Rosse zu Geräusch und Lärm führt und zusieht, ob sie

schreckhaft sind, so auch jene in ihrer Jugend in irgend

welche Schrecknisse bringen und andererseits in

Genüsse versetzen, indem man sie prüft – weit strenger

als das Gold im Feuer -, ob einer schwer zu bezaubern

ist und von guter Haltung sich bei allem erweist,

als ein guterWächter von sich selbst und von

der Musik, die er gelernt hat, indem er sich in allen

diesen Lagen wohlgemessen und wohlgestimmt zeigt,

so wie er ja sich selbst sowohl wie dem Staate den

größten Vorteil bringen würde. Und den, der immer,

unter den Knaben und den Jünglingen und den Männern,

die Probe besteht und sich als echt ergibt, den

muß man zum Lenker des Staates bestellen und zum

Wächter, und ihn mit Ehren begaben im Leben und

nach seinem Tode, indem man ihm mit Grabstätten

und sonstigen Denkmälern die höchsten Auszeichnungen

zuerteilt; wer aber nicht von dieser Art ist, den

Platon: Der Staat 190

muß man verwerfen. Von dieser Art ungefähr, sagte

ich, scheint mir, o Glaukon, die Auswahl und Bestellung

der Regierenden undWächter zu sein, um es in

den allgemeinen Umrissen, nicht im genauen Einzelnen,

darzustellen.

Auch mir, versetzte er, kommt es so etwa vor.

Ist es nun nicht inWahrheit ganz richtig, diese als

vollkommeneWächter zu bezeichnen, sowohl der

Feinde von außen als der Befreundeten innen, damit

diese nicht Lust, jene nicht Macht bekommen.

Schlechtes zu tun, die Jünglinge aber, die wir soeben

Wächter nannten, als Beistände und Helfer für die Beschlüsse

der Regierenden?

Mir scheint es so, versetzte er.

Was hätten wir nun, sagte ich, für eine Möglichkeit,

um einer recht tüchtigen Lüge aus der Gattung

der erlaubten, von denen wir früher sprachen, Glauben

zu verschaffen am liebsten bei den Regierenden

selbst, – wo nicht, so beim übrigen Staate?

Was für einer? fragte er.

Ja nichts Neues, antwortete ich, sondern etwas

Phoinikisches, das schon früher oftmals vorgekommen

ist, wie die Dichter sagen und dabei Glauben gefunden

haben, was aber zu unserer Zeit nicht vorgekommen

ist, und ich weiß auch nicht, ob es vorkommen

könnte; und davon zu überzeugen erfordert große

Überredungskunst.

Platon: Der Staat 191

Sieht es doch aus, bemerkte er, als ob du dich

scheuest zu sprechen!

Du wirst aber, versetzte ich, sagen, daß ich ganz

mit Recht mich scheue, sobald ich es ausspreche.

Sprich nur, sagte er, und fürchte dich nicht!

So will ich’s denn sagen, wiewohl ich nicht weiß,

wo ich die Kühnheit oder dieWorte dazu hernehmen

soll, und ich will versuchen, zuerst die Regierenden

selbst zu überreden und die Krieger, dann auch den

übrigen Staat, daß alles, was wir zu ihrer Erziehung

und Bildung taten, wie im Traume ihnen zu widerfahren

und an ihnen vorzugehen schien, während sie in

Wirklichkeit unter der Erde innen geformt und aufgezogen

wurden, sie selbst und ihre Waffen und das übrige

Gerät von desWerkmeisters Hand, und daß, als

sie ganz fertig waren, die Erde, ihre Mutter, sie heraufsandte,

und daß sie nun dem Lande, in dem sie

sind, als ihrer Mutter und Erzieherin, mit Rat und Tat

beistehen müssen, wenn jemand es angreift: und

gegen die übrigen Bürger müßten sie wie gegen ihre

Brüder und ebenfalls Erdentsprossene gesinnt sein.

Nicht ohne Grund, versetzte er, hast du dich so

lange geschämt, die Lüge vorzutragen.

Freilich mit Recht, erwiderte ich; dennoch höre

auch noch den Rest des Märchens! Ihr seid nun zwar

alle, die ihr in dem Gemeinwesen seid, Brüder, – so

werden wir in demMärchen fortfahrend zu ihnen

Platon: Der Staat 192

sprechen -, aber der Gott, der euch formte, hat denen,

welche zu regieren geschickt sind, bei ihremWerden

Gold beigemischt, und deswegen haben sie vorzüglichenWert,

allen Helfen aber Silber, und Eisen und

Erz den Landleuten und übrigen Handwerkern. Als

Stammesgenossen werdet ihr meist euch selbst ähnliche

Kinder zeugen; manchmal kann aber auch aus

Gold ein silberner Nachkomme und aus Silber ein

eherner gezeugt werden, und so auch die andern alle

von einander. Den Regierenden nun gebietet der Gott

zuerst und zumeist, daß sie über nichts so guteWächter

seien und auf nichts so sorgfältig achten wie auf

ihre Nachkommen, was von diesen Stoffen ihren Seelen

beigemischt ist, und falls ein Nachkomme von

ihnen erzhaltig oder eisenhaltig geworden, so werden

sie schlechterdings kein Mitleid mit ihm haben, sondern

ihm die seiner Natur zukommende Stellung zuteilen

und ihn unter die Handwerker oder Landleute

stoßen; und wenn andererseits aus deren Mitte ein

gold- oder silberhaltiger geboren wird, so werden sie

ihn ehren und teils unter dieWächter, teils unter die

Heller befördern, weil ein Götterspruch besage, daß

dann das Gemeinwesen verloren sei, wenn Eisen oder

Erz es bewache. Daß nun dieses Märchen bei ihnen

Glauben fände, siehst du dazu eine Möglichkeit?

Bei diesen selbst, erwiderte er, schlechterdings

nicht; jedoch bei ihren Söhnen und deren

Platon: Der Staat 193

Nachkommen und den anderen Menschen der Zukunft.

Aber auch dies, versetzte ich, wäre gut, in der Hinsicht,

daß sie mehr für das Gemeinwesen und für einander

Sorge trügen; denn ich verstehe ungefähr, was

du meinst. – Nun, dies wird gehen, wie die Sache es

leiten wird.Wir aber wollen diese Erdentsprossenen

bewaffnen und vorführen, die Regierenden an ihrer

Spitze. Angekommen sollen sie zusehen, welcher Ort

in der Stadt zum Lagern am geeignetsten ist, von wo

aus sie die drinnen am ehesten im Zaume halten können,

wenn einer den Gesetzen nicht gehorchen will,

und den von außen Kommenden abwehren, wenn ein

Feind wie einWolf die Herde angreifen sollte. Haben

sie ein Lager aufgeschlagen und geopfert, wem sich’s

gebührt, so sollen sie sich Liegestätten errichten; oder

was sonst?

Dieses, erwiderte er.

Also solche, die zureichend sind, imWinter und

Sommer Schutz zu gewähren?

Natürlich, versetzte er; denn Behausungen scheinst

du mir zu meinen.

Ja, antwortete ich, aber für Krieger, nicht für Geldmänner.

Wie meinst du hinwiederum, daß diese sich von

jenen unterscheiden? fragte er.

Ich will versuchen, es dir zu sagen, war meine

Platon: Der Staat 194

Antwort. Das Allerärgste und die größte Schande für

Hirten ist wohl, wenn sie als Helfer der Herde solche

Hunde und in solcherWeise halten, daß diese aus Zügellosigkeit

oder Hunger oder einer sonstigen übeln

Angewöhnung selbst den Schafen Böses anzutun suchen

undWölfen gleichen, statt Hunden?

Freilich ist das arg, versetzte er.

So muß man denn auf alle Weise darauf achten,

daß uns die Helfer es nicht den Bürgern so machen,

weil sie diesen überlegen sind, und statt wohlwollender

Bundesgenossen wilden Herrschern ähnlich werden?

Das muß man, antwortete er.

Nun wären sie aber doch wohl mit der größten

möglichen Vorsicht ausgestattet, wenn sie inWahrheit

gut gebildet sind?

Aber sie sind es ja doch, bemerkte er.

Da sagte ich: Das dürfen wir nicht so fest behaupten,

mein lieber Glaukon; was wir jedoch eben aufstellten,

das dürfen wir, daß sie die rechte Bildung erhalten

müssen, mag diese sein, welche sie will, wenn

sie die Hauptsache besitzen sollen in bezug auf das

Mildsein unter sich und gegen die von ihnen Bewachten.

Das ist richtig, versetzte er.

Außer dieser Bildung nun wird ein Verständiger

behaupten, daß auch ihre Behausungen und das, was

Platon: Der Staat 195

sie sonst haben, so eingerichtet sein müssen, daß es

weder dieWächter selbst hindert, möglichst gut zu

sein, noch sie verführt, den übrigen Bürgern Schlechtes

zu tun.

Und das wird er mit Recht behaupten.

So sieh denn zu, fuhr ich fort, ob sie in folgender

Weise etwa wohnen und leben möchten, wenn sie so

beschaffen sein sollen: Fürs erste soll keiner irgend

etwas als sein Eigentum besitzen, wofern es nicht

ganz notwendig ist; sodann soll keiner eine solche

Wohnung und Vorratskammer haben, in die nicht

jeder, der will, einträte; alles zum Leben Erforderliche

aber, was besonnene und tapfere für den Krieg bestimmte

Kämpfer bedürfen, sollen sie ratenweise von

den übrigen Bürgern empfangen als Lohn des Bewachens,

in solchemMaße, daß sie weder für das Jahr

etwas übrig haben noch Mangel leiden; und sie sollen

gemeinsame Mahlzeiten besuchen und, wie auf einem

Feldzuge befindlich, gemeinschaftlich leben. Gold

und Silber aber, soll man ihnen sagen, haben sie göttliches

von Göttern immer in ihrer Seele und bedürfen

des menschlichen nicht; auch sei es eine Sünde, den

Besitz von jenem mit dem des sterblichen Goldes zu

vermischen und zu besudeln, weil viel Sündhaftes mit

dem gewöhnlichen Gelde geschehen sei, das in ihnen

aber unbefleckt sei; vielmehr soll ihnen allein im

Staate nicht erlaubt sein, Gold und Silber in die Hand

Platon: Der Staat 196

zu nehmen und zu berühren noch unter einem Dache

damit zu sein oder es sich umzuhängen, noch aus Silber

oder Gold zu trinken. Und auf dieseWeise könnten

sie erhalten werden und den Staat erhalten: wenn

sie aber selbst eigenes Land und Häuser und Geld besitzen,

so werden sie Hauswirte und Ackerbauer sein,

statt Wächter, und werden den übrigen Bürgern feindselige

Herrscher werden, statt Bundesgenossen, und

werden denn hassend und gehaßt, Nachstellungen bereitend

und Nachstellungen erleidend ihr ganzes

Leben verbringen, viel häufiger und mehr die innern

als die äußern Feinde fürchtend, und dann schon ganz

nahe am Verderben hinrennen, sie selbst und der übrige

Staat.Wollen wir nun, sprach ich, aus allen diesen

Gründen behaupten, daß dieWächter so eingerichtet

sein müssen in bezug aufWohnung und das übrige,

und wollen wir das als Gesetz aufstellen oder nicht?

Allerdings, antwortete Glaukon.

Platon: Der Staat 197

Viertes Buch

Da nahm Adeimantos dasWort und sagte:Womit

wirst du dich nun verteidigen, Sokrates, wenn jemand

sagt, daß du diese Männer nicht gerade sehr glücklich

machst, und das durch ihre eigene Schuld, da ihnen

das Gemeinwesen inWahrheit gehört, sie aber genießen

von ihm nichts Gutes, wie andere, indem sie

Äcker besitzen und schöne große Häuser sich bauen

und eine diesen entsprechende Einrichtung haben und

den Göttern eigene Opfer darbringen und Gäste beherbergen

und dann auch – wovon du eben gesprochen

– Gold und Silber besitzen und alles, was sonst

gebräuchlich ist bei solchen, die glücklich sein sollen?

Vielmehr, wird er sagen, scheinen sie recht eigentlich

wie gedungene Helfer im Staate zu sitzen und

nichts zu tun als bewachen.

Ja, versetzte ich, und das um die Kost, und sie

empfangen nicht einmal Lohn zu der Kost, wie die

andern, so daß sie nicht einmal, wenn sie für sich eine

Reise machen wollen, es können, noch einemMädchen

etwas schenken können, noch sonst für etwas

Ausgaben machen, falls sie etwa Lust hätten, wie diejenigen

machen, die für glücklich gelten. Diese und

noch viele andere derartige Klagpunkte läßt du weg.

Nun, erwiderte er, so seien denn auch diese

Platon: Der Staat 198

vorgebracht.

Womit wir uns verteidigen werden, fragst du?

Ja.

Wenn wir auf demselben Pfade fortwandeln, versetzte

ich, werden wir, denke ich, finden, was zu

sagen ist. Wir werden nämlich sagen, daß es kein

Wunder wäre, wenn auch diese dabei sich am glücklichsten

fühlten, daß wir aber bei unserer Staatgründung

nicht das im Auge haben, daß ein Stand in besonderem

Maße glücklich wäre, sondern so viel als

möglich der ganze Staat. Denn in einem so beschaffenen

glaubten wir am ehesten die Gerechtigkeit zu finden,

und andererseits in dem am schlechtesten eingerichteten

die Ungerechtigkeit, und wenn wir diese zu

Gesicht bekommen, würden wir lernen, das zu entscheiden,

wonach wir schon lange forschen. Für jetzt,

meine ich, bilden wir ihn als glücklich nicht in einem

Teile, indem wir einige wenige in ihm als solche setzen,

sondern als Ganzes, sogleich nachher aber werden

wir den entgegengesetzten betrachten. Gerade wie

wir, wenn jemand zu uns träte, während wir Menschenbilder

malten, und es tadelte, daß wir nicht für

das Schönste an den lebendenWesen die schönsten

Farben anwenden – denn die Augen, das Schönste,

seien nicht mit Purpur gemalt, sondern mit Schwarz-,

alsdann uns ordentlich gegen ihn verteidigen werden

und sagen: »Wunderlicher, glaube doch nicht, daß wir

Platon: Der Staat 199

die Augen so schön malen müssen, daß sie gar nicht

als Augen erscheinen, noch auch die übrigen Teile,

sondern sieh zu, ob wir jedem Teile gegeben haben,

was ihm gehört, und ob wir dadurch das Ganze schön

gemacht haben!« Und so nötige auch du uns jetzt

nicht, denWächtern ein solches Glück beizulegen,

das sie zu allem eher machen wird als zuWächtern.

Denn wir könnten selbst auch die Landleute in

Prachtgewänder kleiden und ihnen Gold anlegen und

sie nach Lust den Boden bearbeiten heißen, und den

Töpfern sagen, sie sollen sich lagern und rechts

herum am Feuer zechen und schmausen, ihre Scheibe

beiseite stellen und nur so viel Töpfe machen, als sie

Lust haben, und auch die andern alle könnten wir auf

solcheWeise glücklich machen, damit ja der ganze

Staat glücklich wäre; aber uns mußt du nicht so belehren!

Denn würden wir dir folgen, so wird der

Ackersmann nicht Ackersmann sein, und der Töpfer

nicht Töpfer, noch sonst wird ein anderer irgend

etwas vorstellen, woraus ein Gemeinwesen wird. Indessen

von den andern ist weniger die Rede; denn

wenn Schuhflicker schlecht sind und liederlich und

sich für Schuhflicker ausgeben, ohne es zu sein, ist es

für den Staat nichts Gefährliches; wenn aber die

Wächter der Gesetze und des Staates dies nicht wirklich

sind, sondern nur scheinbar, so siehst du, daß sie

den ganzen Staat von Grund aus verderben und

Platon: Der Staat 200

andrerseits allein Gelegenheit haben, sich gut zu betten

und glücklich zu sein.Wenn wir also wirkliche

Wächter machen, so am wenigsten solche, die dem

Staate Schaden bringen; wer aber jenes sagt und sie

zu einer Art von Ackersleuten macht und zu vergnüglichen

Schmausern, als wären sie bei einem Volksfeste

und nicht in einem Staate, der wird etwas anderes

meinen als einen Staat.Wir müssen nun untersuchen,

ob wir dieWächter aufzustellen haben mit Rücksicht

darauf, daß ihnen möglichst viel Glück zuteil werde,

oder ob wir diese Rücksicht auf den ganzen Staat nehmen

und zusehen müssen, ob es diesem zuteil wird,

dagegen diese Helfer und dieWächter nötigen und

überreden, danach zu trachten, daß sie möglichst vorzügliche

Meister in ihrem Geschäfte seien, und die

andern alle ebenso, und wenn der Staat im ganzen

groß wird und schön eingerichtet ist, der Natur es

überlassen, wie sie jedem Stande seinen Anteil an der

Glückseligkeit zumißt.

Du scheinst mir vollkommen recht zu haben, entgegnete

er.

Wirst du nun aber auch glauben, daß ich in dem

hiermit Verwandten nicht unrecht habe?

Worin denn?

Erwäge nun auch, ob die übrigen Arbeiter dies verdirbt,

so daß sie wirklich schlecht werden?

Was meinst du darunter?

Platon: Der Staat 201

Reichtum, antwortete ich, und Armut.

Wieso?

Folgendermaßen: Glaubst du, daß ein Töpfer, wenn

er reich geworden ist, sich noch seiner Kunst wird annehmen

wollen?

Keineswegs, erwiderte er.

So wird er faul und nachlässig werden mehr als er

war?

Bei weitem.

So wird er also ein schlechterer Töpfer werden?

Auch das gewiß, versetzte er.

Und dann auch, wenn er vor Armut sich keine Geräte

anschaffen kann oder sonst etwas, das zu seiner

Kunst gehört, so wird er seine Arbeiten schlechter

machen und auch seine Söhne, oder andere, die er in

der Lehre hat, zu minder guten Meistern heranziehen?

Natürlich.

Von beidem also, von der Armut und von dem

Reichtum, werden dieWerke der Künste und die

Werkleute selbst schlechter?

Offenbar.

So haben wir denn, wie es scheint, etwasWeiteres

für dieWächter gefunden, worauf sie auf alleWeise

acht haben müssen, daß es nicht einmal von ihnen unbemerkt

sich in den Staat einschleicht.

Was ist dies?

Reichtum, antwortete ich, und Armut, weil das eine

Platon: Der Staat 202

Üppigkeit und Trägheit und Unzufriedenheit erzeugt,

das andere außer der Unzufriedenheit noch niedrige

Denkart und schlechtes Arbeiten.

Allerdings, erwiderte er; aber bedenke dies, Sokrates:

Wie wird nur der Staat imstande sein Krieg zu

führen, wenn er nicht Geld besitzt, zumal wenn er genötigt

ist, mit einem großen und reichen Staate Krieg

zu führen?

Offenbar, entgegnete ich, ist dies gegen einen

schwieriger, gegen zwei derartige aber leichter.

Wie sagtest du? sprach er.

Nun, fürs erste, antwortete ich, wenn sie zu kämpfen

haben, – werden sie nicht mit reichen Männern

kämpfen, während sie selbst Meister des Kriegshandwerks

sind?

Das freilich, sagte er.

Was glaubst du nun, Adeimantos, sprach ich: wird

ein einziger Faustkämpfer, der hierin möglichst gut

eingeübt ist, mit zwei Nichtfaustkämpfern, die reich

und fett sind, nicht leicht fertig werden?

Mit beiden zugleich vielleicht nicht, meinte er.

Auch nicht, versetzte ich, wenn es ihm möglich

wäre, scheinbar die Flucht zu ergreifen und dann umzukehren

und allemal dem Vordersten, der ihm zu

nahe kommt, eines zu versetzen, und wenn er das oftmals

täte im Sonnenschein und bei großer Schwüle?

Wird ein solcher nicht noch mehrere derartige

Platon: Der Staat 203

bezwingen?

Allerdings, antwortete er, wäre es keinWunder.

Aber glaubst du nicht, daß von der Kunst des

Faustkämpfens die Reichen durchWissenschaft und

Erfahrung immer noch mehr verstehen als von der des

Krieges?

Allerdings, erwiderte er.

So werden uns also die Kriegsmänner leichtlich mit

doppelt und dreifach so vielen, als sie selbst sind, fertig

werden.

Ich will es dir zugeben, sagte er; denn du scheinst

mir recht zu haben.

Und wie? Wenn sie in den anderen Staat eine Gesandtschaft

schickten und der Wahrheit gemäß sprächen:

»Wir machen keinen Gebrauch von Gold und

Silber, auch ist es uns nicht erlaubt, wohl aber euch:

so helft denn uns im Kriege mit und nehmt für euch

das Eigentum der andern« – glaubst du, wer das hört,

werde lieber gegen zähe und magere Hunde Krieg

führen wollen als in Gemeinschaft mit den Hunden

gegen fette und zarte Schafe?

Ich glaube nicht, entgegnete er; aber wenn in einem

einzigen Staate die Schätze der andern zusammengehäuft

sind, so sieh zu, ob das nicht Gefahr bringt dem

nicht reichen.

Du bist zu beneiden, war meine Antwort, daß du

glaubst, man dürfe irgend einem andern Staate diesen

Platon: Der Staat 204

Namen geben als einem solchen, dergleichen wir

einen bauen.

Wieso? fragte er.

Einen großem Namen, antwortete ich, muß man

den andern geben; denn jeder von ihnen bildet sehr

viele Staaten, nicht aber einen Staat, um mich spielend

auszudrücken. Denn zwei sind es auf jeden Fall,

die einander feindlich gegenüber stehen: einer der

Armen und einer der Reichen; in jedem von diesen

aber sind sehr viele; wenn du nun gegen diese als

gegen einen einzigen auftrittst, so scheiterst du völlig,

wofern aber als gegen viele, so daß du das Eigentum

der einen den andern gibst, Schätze und Vermögen

oder auch sie selbst, so wirst du immer viele Bundesgenossen

haben und wenige Feinde. Und solange

unser Staat nur besonnen eingerichtet ist, so wie es

eben aufgestellt wurde, wird er groß sein, nicht durch

glänzenden Anschein, meine ich, sondern wahrhaft

groß, auch wenn er nur aus tausend Verteidigern bestünde;

denn einen einzigen so großen wirst du nicht

leicht finden weder unter den Hellenen noch unter den

Ausländern, wohl aber viele, die es scheinbar sind

und vielmal größer als ein solcher. Oder bist du anderer

Ansicht?

Nein, bei Gott, versetzte er.

Das wäre denn also, fuhr ich fort, auch die schönste

Bestimmung für unsere Regierenden, wie groß sie

Platon: Der Staat 205

hinsichtlich des Umfangs den Staat machen müssen

und wie groß er sein muß, damit ein bestimmtes

Stück Land abgegrenzt und das übrige fahren gelassen

werden darf.

Welches ist diese Bestimmung? fragte er.

Ich denke, antwortete ich, folgende: solange er im

Wachsen eine Einheit sein will, so lange ihn wachsen

zu lassen, darüber hinaus aber nicht.

So ist’s schon, versetzte er.

So werden wir also diesen weiteren Auftrag den

Wächtern geben, auf alle Weise zu wachen, daß der

Staat weder zu klein noch zu groß scheine, sondern

zureichend und einheitlich.

Da werden wir ihnen wohl etwas Geringes auftragen,

bemerkte er.

Noch geringer als dies, versetzte ich, ist das Folgende,

dessen wir schon im Früheren gedacht haben,

indem wir sagten, daß, wenn ein Sohn der Wächter

schlecht gerate, man ihn unter die andern versetzen

müsse, und ebenso wenn einer der übrigen tüchtig,

diesen unter dieWächter. Dies wollte andeuten, daß

man auch die übrigen Bürger jeden zu dem Geschäfte,

zu dem er geschaffen ist, verwenden müsse, damit

jeder, wenn er das eine treibt, was sein ist, nicht zu

vielen, sondern einer werde und so das gesamte Gemeinwesen

eines sei, aber nicht viele.

Das ist freilich, sagte er, noch kleiner als jenes.

Platon: Der Staat 206

Fürwahr, mein lieber Adeimantos, versetzte ich,

nicht viele und große Dinge sind es, die wir ihnen hier

auftragen, wie jemand glauben könnte, sondern lauter

geringe, wofern sie das genannte eine Große oder

vielmehr nicht Große, sondern Genügende bewahren.

Und was ist dies? fragte er.

Die Bildung, antwortete ich, und die Erziehung.

Werden sie nämlich infolge guter Erziehung ordentliche

Männer, so werden sie alles das leicht erkennen

und noch vieles andere, das wir jetzt übergehen, den

Besitz der Frauen und der Ehen und der Kindererzeugung,

nämlich daß man in bezug auf dies alles nach

dem Sprichwort möglichst Freundesgut gemeinsam

Gut machen müsse.

So wird es allerdings am richtigsten sein, sprach er.

Und in der Tat, sagte ich, wenn einmal die Staatsverfassung

einen guten Anlauf hat, so wächst sie wie

ein Kreis im Fortschreiten. Denn tüchtige Erziehung

und Bildung, wenn sie bewahrt wird, schafft gute Naturen;

und andererseits tüchtige Naturen, wenn sie an

einer solchen Bildung festhalten, werden noch besser

als die früheren wie zu den andern Dingen so auch

zum Zeugen, gerade wie auch bei den andern Geschöpfen.

Natürlich, versetzte er.

Um mich also kurz zu fassen: darauf müssen die

Berater des Gemeinwesens halten, daß es nicht ohne

Platon: Der Staat 207

ihr Vorwissen verdorben werde, sondern vor allem

darüber wachen, daß keine ordnungswidrigen Neuerungen

vorkommen in bezug auf Turnkunst und Musenkunst,

sondern daß es möglichst beim Alten bleibe,

aus Besorgnis, wenn jemand spräche, daß demjenigen

Gesänge besonders die Menschen das Herz zuwenden,

Der als der neueste je in dem Kreise der Sänger

erschallet,

so könnte manchmal einer meinen, der Dichter

spreche nicht von neuen Gesängen, sondern von einer

neuen Sangesweise, und könnte dies loben. Man darf

aber derartiges weder loben noch als den Sinn des

Dichters annehmen; denn eine neue Art von Musik

einzuführen muß man sich hüten, weil es das Ganze

gefährden heißt; denn nirgend wird an denWeisen der

Musik gerüttelt, ohne daß die wichtigsten Gesetze des

Staates mit erschüttert würden, wie Dämon sagt und

ich überzeugt bin.

So zähle denn auch mich zu den Überzeugten,

sagte Adeimantos.

DasWachthaus also, sagte ich, hätten, wie es

scheint, dieWächter ungefähr hier zu bauen, in der

Musik.

Wenigstens, versetzte er, schleicht eine

Platon: Der Staat 208

Gesetzwidrigkeit auf diesem Gebiete sich leicht unbemerkt

ein.

Ja, sagte ich, weil in Gestalt eines Spieles und

unter dem Scheine, daß sie nichts Böses anrichte.

Sie richtet auch nichts an, bemerkte er, als daß sie

allmählich sich festsetzt und in aller Stille unter der

Hand sich an die Sitten und Beschäftigungen heranmacht,

von diesen aus in größeremMaße im gegenseitigen

Verkehr zutage tritt und dann vom Verkehr

aus an die Gesetze und Staatseinrichtungen geht mit

großer Frechheit, Sokrates, – bis sie zuletzt alles in

den persönlichen und öffentlichen Verhältnissen umstürzt.

Wirklich, sagte ich, verhält sich’s so damit?

Ich glaube, erwiderte er.

So müssen denn also, wie wir von Anfang an gesagt

haben, unsere Knaben gleich an einem gesetzmäßigeren

Spiele sich beteiligen, weil, wenn dies gesetzwidrig

wird und dadurch die Knaben gleichfalls,

es unmöglich ist, daß gesetzmäßige und ernsthafte

Männer aus ihnen heranwachsen?

Allerdings, versetzte er.

Wenn nun also die Knaben in rechterWeise zu

spielen angefangen und Gesetzmäßigkeit mittels der

Musik in sich aufgenommen haben, so begleitet sie

wiederum, ganz im Gegenteil wie bei jenen, überallhin

und verschafft Gedeihen, indem sie wieder

Platon: Der Staat 209

aufrichtet, was etwa früher im Gemeinwesen darniederlag.

Das ist sicher wahr, bemerkte er.

Auch die scheinbar kleinen Gesetzlichkeiten also,

fuhr ich fort, welche die Früheren samt und sonders

verloren hatten, finden diese wieder auf.

Welche?

Die folgenden: das Schweigen der Jüngeren im

Beisein von Älteren nach Gebühr, und das Niedersetzen

und Aufstehen und die Verehrung der Erzeuger,

und das Haarschneiden und die Gewandung und Beschuhung,

und das ganze Äußere des Körpers, und

was noch sonst alles von dieser Art ist. Oder meinst

du nicht?

O ja.

Aber hierüber Gesetze zu geben halte ich für einfältig;

denn sie würden weder befolgt noch irgend Bestand

haben, wenn sie mündlich oder schriftlich als

Gesetze aufgestellt werden.

Wie sollten sie auch?

Wenigstens scheint es, versetzte ich, o Adeimantos,

daß der Richtung, die einer von Kindheit auf erhalten

hat, auch dasWeitere entspricht; oder ruft nicht

immer das Ähnliche Ähnliches hervor?

Was sonst?

Und am Ende dann, meine ich, werden wir sagen,

gehe ein vollendetes und kräftiges Ganzes daraus

Platon: Der Staat 210

hervor, entweder im Guten oder auch im Gegenteil.

Wie sollte es nicht? sprach er.

Aus diesem Grunde nun also, fuhr ich fort, möchte

ich nicht weiter versuchen, über dergleichen Gesetze

zu geben.

Und mit Recht, bemerkte er.

Nun aber, bei den Göttern, sagte ich, die Marktangelegenheiten

in betreff des Verkehrs auf demMarkte,

den die Einzelnen mit einander haben, und, wenn du

willst, auch in betreff des Handwerksverkehrs und der

Ehrenkränkungen und Mißhandlungen und die Einleitungen

von Klagen und Bestellungen von Geschworenen,

und wenn etwa das Erheben oder Auflegen von

Abgaben notwendig ist entweder auf den Märkten

oder in den Häfen, oder auch überhaupt, was zur

Markt- oder Stadtpolizei oder Hafenordnung gehört,

oder was sonst noch von dieser Art ist, – werden wir

wagen, über etwas von diesem Gesetze zu geben?

Nein, antwortete er; es ist nicht angemessen, rechten

Männern darüber Befehle zu erteilen; denn das

meiste daran, was irgend der Gesetzgebung bedürfte,

werden sie wohl leicht selbst finden.

Ja, mein Lieber, sprach ich, falls ihnen die Gottheit

Bestand der Gesetze schenkt, die wir vorhin durchgegangen

haben.

Wo nicht, sagte er, so werden sie ihr Leben damit

zubringen, fortwährend vieles Derartige aufzustellen

Platon: Der Staat 211

und nachzubessern, in der Meinung, des Besten habhaft

zu werden.

Du sagst, bemerkte ich, solche werden ein Leben

führen wie Leute, die krank sind und aus Mangel an

Selbstbeherrschung von ihrer schlechten Lebensweise

sich nicht trennen mögen.

Allerdings.

In der Tat, diesen geht es fortwährend recht

hübsch: mit ihremMedizinieren richten sie nichts aus,

als daß sie die Krankheiten mannigfaltiger und größer

machen, und das tun sie immer in der Hoffnung, wenn

jemand ihnen ein Mittel anrät, davon gesund zu werden.

Allerdings, versetzte er, geht es Kranken dieser Art

in solcherWeise.

Und weiter, fuhr ich fort, ist das nicht hübsch an

ihnen, daß sie für den allerärgsten Feind denjenigen

halten, der dieWahrheit sagt, daß, ehe sie aufhören,

sich zu betrinken und vollzuessen undWeibern nachzulaufen

und müßig zu gehen, weder Arzneien noch

Brennen noch Schneiden und auch nicht Zaubersprüche

oder Amulette oder sonst etwas Derartiges ihnen

etwas nützen?

Hübsch ist das gar nicht, erwiderte er; denn auf jemand

böse zu sein, der es wohlmeint und Recht hat,

ist keine Manier.

Ein Lobredner von solchen Leuten bist du, sagte

Platon: Der Staat 212

ich, wie es scheint, nicht.

Nein, wahrlich, beim Zeus.

Auch wenn der ganze Staat also, wie wir vorhin

sagten, in solcher Art erwächst, wirst du es nicht

loben. Oder findest du nicht, daß ebenso wie jene alle

diejenigen Staaten verfahren, welche in schlechter

Verfassung sind und nun ihren Angehörigen gebieten,

die Einrichtung des Staates im ganzen nicht anzurühren,

indem sterben müsse, wer das tue; wer aber ihnen

bei dieser ihrer Verfassung am angenehmsten den Hof

macht und durch Gefälligkeit sich einschmeichelt und

ihnen ihre Wünsche an den Augen absieht und sie zu

erfüllen imstande ist, der soll dann ein braver Mann

sein und zu wichtigen Dingen geschickt und von

ihnen geehrt werden?

Dasselbe freilich, antwortete er, scheinen sie mir zu

tun, und ich lobe es schlechterdings nicht.

Wie aber auf der anderen Seite, – diejenigen, welche

Lust und Entschlossenheit haben, solchen Staaten

zu dienen, bewunderst du sie nicht um ihren Mut und

ihre Gewandtheit?

O ja, versetzte er, nur aber nicht alle diejenigen, die

von ihnen sich betrügen lassen und inWahrheit

Staatsmänner zu sein glauben, weil sie von der Menge

gelobt werden.

Wie sagst du? erwiderte ich: hast du nicht Nachsicht

mit den Männern? Oder glaubst du, es sei für

Platon: Der Staat 213

einen Mann, der sich nicht aufs Messen versteht,

möglich, wenn viele andere der gleichen Art sagen, er

sei vier Ellen groß, dies nicht selbst von sich zu glauben?

Das nun freilich nicht, war seine Antwort.

So sei denn also nicht böse; denn die Leute dieser

Art benehmen sich wohl am allerhübschesten, indem

sie durch das Geben von Gesetzen in der eben von

uns beschriebenen Weise und durch ewiges Nachbessern

es zu einem Ende zu bringen glauben in bezug

auf die Schlechtigkeiten im Verkehr und in bezug auf

das eben erst von mir Genannte, ohne zu wissen, daß

sie inWahrheit gleichsam der Hydra den Kopf abschlagen.

Und in der Tat, sagte er, etwas anderes tun sie

nicht.

Ich wäre nun also, fuhr ich fort, der Meinung, daß

mit dieser Gattung von Gesetzen und Verfassung

weder in einem schlecht noch in einem gut eingerichteten

Staat der wahre Gesetzgeber sich befassen dürfe,

in dem einen, weil das alles nutzlos ist und nichts

dabei herauskommt, im andern, weil den einen Teil

auch der nächste Beste zu finden vermag und der

zweite von selbst sich einstellen wird infolge der vorausgegangenenWeise

der Tätigkeit.

Was wäre nun also, fragte er, uns noch übrig von

der Gesetzgebung?

Platon: Der Staat 214

Und ich antwortete: Für uns nichts mehr; wohl aber

für den delphischen Apollon die größten und schönsten

und ersten Gegenstände der Gesetzgebung.

Welche denn? sagte er.

Das Gründen von Heiligtümern und der sonstige

Kult von Göttern und Dämonen und Heroen, andererseits

die Bestattung der Gestorbenen, und was man

alles denen im Jenseits erweisen muß, um sie gnädig

zu haben. Denn die Sachen dieser Art verstehen wir

weder selbst, noch werden wir beim Gründen des

Staates, falls wir verständig sind, irgend einem anderen

Glauben schenken oder als Führer und Deuter folgen,

als nur dem Anererbten; denn dieser Gott ist es

doch wohl, der über solche Dinge allen Menschen als

anererbter Führer, in der Mitte der Erde auf dem

Nabel sitzend, Auskunft gibt.

Und du hast recht, versetzte er, und so muß man es

machen.

Gegründet wäre dir denn also, begann ich wieder,

nunmehr der Staat, Sohn des Ariston; jetzt verschaffe

dir irgendwo ein tüchtiges Licht und suche in ihm selber

und fordere auch deinen Bruder dazu auf und den

Polemarchos und die übrigen, ob wir irgend entdecken,

wo wohl die Gerechtigkeit ist und wo die Ungerechtigkeit,

und wie sie sich von einander unterscheiden,

und welches von beiden besitzen muß, wer

glücklich sein will, mag er nun vor allen Göttern und

Platon: Der Staat 215

Menschen verborgen sein oder nicht.

Es hilft dir nichts, entgegnete Glaukon; denn du

hast dich anheischig gemacht zu suchen, weil es eine

Sünde für dich wäre, der Gerechtigkeit nicht nach

Kräften auf alleWeise beizustehen.

Es ist so, wie du erinnerst, sagte ich, und ich muß

es denn so machen; aber auch ihr müßt mithelfen.

Das wollen wir tun, erwiderte er.

Ich hoffe nun, sprach ich, auf folgendeWeise es zu

finden: Ich glaube, daß uns der Staat, wofern er richtig

gegründet ist, vollkommen gut ist.

Notwendig, sagte er.

So ist also offenbar, daß er weise ist und tapfer und

besonnen und gerecht?

Offenbar.

Also, was immer davon wir in ihm finden werden,

das, was übrig bleibt, wird das Nichtgefundene sein?

Was sonst?

Gerade nun wie bei vier andern Dingen – wenn wir

eines derselben in irgend etwas suchen würden, und

wir dieses zuerst erkennten, so wären wir zufrieden;

hätten wir aber die drei vorher erkannt, so wäre eben

damit das Gesuchte erkannt; denn offenbar wäre es

nichts anderes mehr als das übriggebliebene.

Du hast recht, bemerkte er.

So muß man denn auch in bezug auf diese, da sie

gerade zu vier sind, ebenso suchen?

Platon: Der Staat 216

Natürlich.

Und das erste nun, was davon sichtbar ist, scheint

mir dieWeisheit zu sein; und in bezug auf sie kommt

etwas Seltsames zutage.

Was? fragte er.

Weise scheint mir der beschriebene Staat inWirklichkeit

zu sein; denn er ist wohlberaten, nicht wahr?

Ja.

Und dies selbst, dieWohlberatenheit, ist doch offenbar

eineWissenschaft? Denn nicht durch Unkenntnis,

sollte ich meinen, sondern durch Wissenschaft

berät man sich wohl.

Offenbar.

Nun sind aber viele und vielerleiWissenschaften in

dem Staate.

Wie sollten sie nicht?

Ist nun etwa wegen derWissenschaft der Zimmerleute

der Staat als weise und wohlberaten zu bezeichnen?

Keineswegs, antwortete er, wegen dieser, sondern

als bauverständig.

Nicht also wegen derWissenschaft von den Holzarbeiten,

weil er sich in dieser Beziehung bestmöglich

berät, ist der Staat als weise zu bezeichnen.

Nein, wahrlich nicht.

Wie aber, vielleicht wegen der von den Metallarbeiten

oder einer anderen dieser Art?

Platon: Der Staat 217

Keineswegs wegen irgend einer.

Auch nicht wegen der von der Erzeugung des Getreides

aus der Erde, sondern dann wäre er landbaukundig?

Es scheint mir.

Wie aber? fragte ich: gibt es in dem eben von uns

gegründeten Staat bei irgend einer Klasse seiner Angehörigen

eineWissenschaft, die nicht über irgend

welches Einzelne in dem Staate berät, sondern über

ihn selbst im Ganzen, in welcherWeise er am besten

mit sich selbst und mit den andern Staaten verkehren

würde?

Allerdings gibt es eine.

Welche ist sie, fragte ich, und wer hat sie?

Die hier, antwortete er, die der Bewachung, und bei

diesen Regierenden da, die wir soeben vollkommene

Wächter genannt haben.

Wie benennst du nun den Staat wegen dieser Wissenschaft?

Wohlberaten, versetzte er, und wahrhaft weise.

Glaubst du nun, fuhr ich fort, daß wir im Staate

Metallarbeiter in größerer Zahl haben werden oder

diese wahrenWächter?

Bei weitem, versetzte er, Metallarbeiter.

So werden auch, sagte ich, unter den übrigen, so

viel ihrer Wissenschaft haben und einen Namen tragen,

unter diesen allen jene die am wenigsten

Platon: Der Staat 218

Zahlreichen sein?

Bei weitem.

Durch den kleinsten Stand und Teil von ihm also

und die diesem einwohnendeWeisheit, durch den vorstehenden

und regierenden, wird der ganze Staat,

wenn er naturgemäß gegründet ist, weise; und wie es

scheint, ist von Natur diese Gattung am wenigsten

zahlreich, der es zukommt, an derjenigenWissenschaft

teilzuhaben, die allein unter den übrigenWissenschaftenWeisheit

genannt werden darf.

Du hast ganz recht, versetzte er.

Da haben wir denn nun eines von den vieren – ich

weiß nicht, wie – gefunden, es selbst sowohl als den

Ort, wo es im Staate seinen Sitz hat.

Mir meinesteils, erwiderte er, kommt es vor, als

würde das Gefundene genügen.

Nun weiter die Tapferkeit, was sie selbst ist und in

welchem Teile des Staates sie sich befindet, um dessen

willen der Staat so zu benennen ist, ist durchaus

nicht schwierig zu erkennen.

Wieso?

Wer wird, versetzte ich, wenn er einen Staat als

feige oder mutig bezeichnen soll, auf etwas anderes

sehen als auf denjenigen Teil, der für ihn Krieg führt

und zu Felde zieht?

Kein Mensch, sagte er, wird auf etwas anderes

sehen.

Platon: Der Staat 219

Denn ich meine, bemerkte ich, nicht von den andern,

welche in ihm entweder feige oder tapfer sind,

hängt es ab, ob er so ist oder so.

Allerdings nicht.

Auch tapfer also ist ein Staat durch einen Teil seiner

selbst, weil er in jenem eine Kraft besitzt, die

unter allen Umständen die Ansicht über das Schreckliche

bewahren wird, daß es dasjenige und von der

Art sei, als was und von welcher Art der Gesetzgeber

bei der Erziehung es vorgeschrieben hat. Oder nennst

du das nicht Tapferkeit?

Ich habe nicht recht verstanden, entgegnete er, was

du sagtest: sage es noch einmal!

Eine Bewahrung, versetzte ich, ist, wie ich behaupte,

die Tapferkeit.

Was für eine Bewahrung denn?

Die der vom Gesetze mittels der Erziehung eingepflanzten

Ansicht über das Schreckliche, was es sei

und von welcher Art. Die Bewahrung unter allen Umständen

aber, von der ich sprach, ist, daß jene bewahrt

wird, wenn man in Bekümmernissen ist und in sinnlichen

Genüssen und in Begierden und in Ängsten und

sie nicht verliert. Womit es aber eine Ähnlichkeit zu

haben scheint, damit will ich es vergleichen, wenn

dir’s recht ist.

Ja, mir ist’s recht.

Nun, weißt du, sagte ich, daß Färber, wenn sie ein

Platon: Der Staat 220

StückWolle purpurrot zu färben beabsichtigen, zuerst

aus den vielen Farben die eine Gattung der weißen

auslosen, sodann es mit nicht wenigen Vorkehrungen

zuvor zurichten und behandeln, daß es den Farbenglanz

so sehr wie möglich annehme, und dann erst es

färben? Und was in solcherWeise gefärbt worden ist,

dessen Färbung wird zu einer echten und dauerhaften,

und dasWaschen sowohl ohne Lauge als mit Lauge

kann ihm den Farbenglanz nicht nehmen; was aber

nicht auf dieseWeise gefärbt ist, von dem weißt du

ja, wie es wird, falls es einer mit anderen Farben

färbt, oder auch mit dieser, ohne vorausgehende Behandlung.

Ich weiß es, versetzte er: verwaschen und lächerlich.

Etwas Derartiges nun, fuhr ich fort, nimm an, daß

auch wir nach Kräften taten, als wir die Krieger uns

auslasen und sie erzogen durch Musenkunst und

Turnkunst; du darfst glauben, daß wir nichts anderes

zu bewerkstelligen suchten, als daß sie uns aus freier

Überzeugung so schön als möglich die Gesetze annähmen

wie eine Farbe, damit echt und dauerhaft

werde ihre Ansicht sowohl über das Gefährliche als

über das andere, weil sie die geeignete Naturanlage

und Erziehung erhalten haben und ihre Farbe nicht

ausgewaschen wird durch jene Laugen, die sonst zum

Abspülen kräftig sind, den Sinnengenuß, der mehr

Platon: Der Staat 221

Kraft hat, dies zu tun als alle Soda und Aschenlauge,

und die Bekümmernis und Furcht und Begierde, mehr

als alle anderen Laugen. Diese Kraft denn also und

die durchgängige Bewahrung der richtigen und gesetzmäßigen

Ansicht über das, was schrecklich ist

und was nicht, bezeichne und betrachte ich als Tapferkeit,

wofern nicht du etwas anderes meinst.

Nein, ich meine nichts anderes, versetzte er; denn

mir scheint, als würdest du die richtige Ansicht über

die gleichen Dinge, wenn sie ohne Bildung entstanden

ist, so wie die tierische und knechtische, einmal

nicht für völlig gesetzmäßig halten und dann sie

etwas anderes nennen als Tapferkeit.

Du hast vollkommen recht, erwiderte ich.

So nehme ich denn an, daß dies Tapferkeit sei.

Nimm es nur an, sagte ich, wenigstens bürgerliche,

und du wirst es richtig annehmen. Ein andermal aber

wollen wir darüber, wenn es dir recht ist, eine noch

bessere Erörterung anstellen: denn jetzt haben wir

nicht danach gesucht, sondern nach der Gerechtigkeit;

für die Untersuchung von jenem nun genügt dies, wie

ich glaube.

Du hast recht, sagte er.

Zweierlei also, fuhr ich fort, ist noch übrig, was

man im Staate betrachten muß: die Besonnenheit und

das, um dessen willen wir ja die ganze Untersuchung

anstellen, die Gerechtigkeit.

Platon: Der Staat 222

Allerdings.

Wie könnten wir nun die Gerechtigkeit finden,

damit wir uns nicht weiter zu bemühen brauchen um

die Besonnenheit?

Ich meinesteils nun also, entgegnete er, weiß es

weder noch möchte ich auch, daß es vorher zutage

käme, wofern wir alsdann die Besonnenheit nicht

mehr in Betracht ziehen; vielmehr, wenn du mir einen

Gefallen tun willst, so betrachte diese vor jener!

Nun ja, versetzte ich, Lust habe ich: es wäre ja

sonst unrecht von mir.

So betrachte es denn, sagte er.

Es soll geschehen, erwiderte ich, und soviel wenigstens

von hier aus zu sehen ist, gleicht sie mehr als

das Frühere einer Übereinstimmung und einem Einklange.

Inwiefern?

Eine gewisse Ordnung, antwortete ich, ist die Besonnenheit,

und eine Beherrschung gewisser Lüste

und Begierden, wie man sagt. So spricht man ja von

einem »Herrsein seiner selbst« ich weiß nicht in welcherWeise,

und von anderem Derartigen, was gleichsam

Fußstapfen von ihr seien: nicht wahr?

Ganz wohl, antwortete er.

Ist nun aber das »Herrsein seiner selbst« nicht lächerlich?

Denn der Herr seiner selbst wäre auch

Knecht seiner selbst, und der Knecht Herr; denn von

Platon: Der Staat 223

der gleichen Person ist in allen diesen Beziehungen

die Rede.

Natürlich.

Aber, fuhr ich fort, mir scheint dieser Ausdruck besagen

zu wollen, daß es in demMenschen selbst an

der Seele ein Besseres gibt und ein Schlechteres, und

wenn das von Natur Bessere über das Schlechtere

herrscht, dies als »Herr seiner selbst« bezeichnet

wird – denn ein Lob ist es ja -; wenn aber infolge

schlechter Erziehung oder irgend welchen Umganges

das kleinere Bessere von der Menge des Schlechteren

beherrscht wird, so scheint man dies wie zur Schmach

zu tadeln und den in solchem Zustande Befindlichen

»Knecht seiner selbst« und zügellos zu nennen.

So scheint es freilich, sagte er.

Blicke nun, sprach ich, auf unseren neuen Staat

hin, und du wirst finden, daß in ihm das eine von diesen

vorhanden ist; denn du wirst sagen, daß er mit

Recht als Herr seiner selbst bezeichnet weide, wofern

dasjenige, dessen Besseres über das Schlechtere

herrscht, besonnen und Herr seiner selbst genannt

werden muß.

Nun, ich blicke hin, erwiderte er, und du hast recht.

Und sicher wird man auch die vielen und vielerlei

Begierden und Lüste und Kümmernisse vorzugsweise

bei Kindern finden undWeibern und Dienstboten,

und unter den sogenannten Freien bei der großen

Platon: Der Staat 224

Menge und den unteren Ständen.

Allerdings.

Dagegen die einfachen und gemäßigten, die ja mit

Verstand und richtiger Ansicht durch Überlegung geleitet

werden, wirst du bei wenigen antreffen, und

zwar bei denjenigen, denen die besten Naturanlagen

und die beste Erziehung zuteil geworden sind.

Freilich, sagte er.

Siehst du nun nicht, wie auch das in deinem Staate

vorhanden ist, und wie hier die Begierden in der

Menge und in den unteren Ständen beherrscht werden

von den Begierden und der Einsicht in denWenigeren

und Verständigeren?

O ja, erwiderte er.

Wenn man also einen Staat als Herren der Lüste

und Begierden und seiner selbst bezeichnen darf, so

darf man auch diesen unsern Staat so benennen?

Jedenfalls, versetzte er.

Nicht also auch besonnen in Rücksicht auf dieses

alles?

Allerdings, sagte er.

Und sicher, wenn andererseits in einem anderen

Staate dieselbe Ansicht vorhanden ist bei den Regierenden

und Regierten in bezug auf die Frage, wer zu

regieren habe, so wäre auch in unserem dies vorhanden:

oder meinst du nicht?

O ja, erwiderte er, vollkommen.

Platon: Der Staat 225

Von welchen der Staatsglieder nun wirst du, falls

sie so beschaffen sind, sagen, daß in ihnen das Besonnensein

vorhanden sei? Von den Regierenden oder

von den Regierten?

Von beiden, denke ich, antwortete er.

Siehst du nun, sagte ich, daß wir richtig vorhin

prophezeit haben, die Besonnenheit sei einer Art Einklang

ähnlich?

Wieso?

Weil sie nicht wie die Tapferkeit und dieWeisheit

ist, deren jede sich in einem Teile befand und dadurch

den Staat die eine weise, die andere tapfer machte, –

sie, die Besonnenheit ist vielmehr recht eigentlich

über das Ganze verbreitet, indem sie durch alle Töne

hin gleich übereinstimmend macht die Schwächsten

und die Stärksten und die Mittleren, wenn du willst an

Einsicht oder auch an Stärke oder auch an Menge

oder an Besitz oder an irgend etwas anderem von dieser

Art; so daß wir mit vollstem Rechte diese Gleichgesinntheit

Besonnenheit nennen können, die Übereinstimmung

des von Natur Schwächeren und des

Besseren darüber, welcher von beiden zu regieren

habe sowohl in einem Staate als in jedem Einzelnen.

Vollkommen bin ich einverstanden, sagte er.

Gut, versetzte ich, die drei Arten hätten wir nun im

Staate entdeckt, soweit es wenigstens den Anschein

hat. Die noch übrige aber, durch die der Staat noch

Platon: Der Staat 226

teil hätte an der Tugend, was wäre wohl diese? Denn

offenbar ist dies die Gerechtigkeit.

Offenbar.

Jetzt also, Glaukon, müssen wir wie Jäger den

Busch rings umstellen und aufmerken, damit uns die

Gerechtigkeit nicht etwa entwischt, sich unsichtbar

macht und unserem Auge entschwindet: denn es ist

offenbar, daß sie hier irgendwo ist. So gib denn acht

und strenge dich an, sie zu entdecken, ob du sie noch

vor mir siehst und mir’s sagen kannst!

Da wäre ich froh, versetzte er; vielmehr behandle

mich als einen, der nachzufolgen und das, was man

ihm zeigt, zu sehen imstande ist: dann wirst du mich

ganz angemessen behandeln. So folge denn, sprach

ich, nachdem du mit mir gebetet hast!

Ich will das tun, antwortete er; aber nur voran!

Fürwahr, sagte ich, der Ort scheint schwer zugänglich

zu sein und in Schatten gehüllt; wenigstens ist er

dunkel und schwer zu durchforschen; indessen, man

muß dennoch drauflosgehen!

Das muß man, erwiderte er.

Ich sah hin und rief aus: Juchhe, juchhe, Glaukon,

ich glaube eine Spur zu haben, und ich denke, sie

kann uns schlechterdings nicht entwischen.

Eine frohe Botschaft, bemerkte er.

In der Tat, sagte ich, uns ist etwas Einfältiges begegnet.

Platon: Der Staat 227

Was denn?

Schon längst, mein Bester, scheint sie von Anfang

an zu unsern Füßen zu rollen, und wir haben sie nur

nicht gesehen, sondern waren höchst närrisch.Wie

manchmal Leute, die etwas in Händen haben, das,

was sie haben, suchen, so haben auch wir nicht auf es

selbst gesehen, sondern weit weg wo andershin, und

darum ist es uns wohl auch verborgen geblieben.

Wie meinst du das? fragte er.

So, antwortete ich, daß es mir vorkommt, als ob

wir schon lange es nennten und hörten, ohne uns

selbst zu verstehen, daß wir es gewissermaßen genannt

haben.

Eine lange Vorrede, bemerkte er, für einen Hörbegierigen.

So höre denn zu, sagte ich, ob ich recht habe.Was

wir nämlich von Anfang an, als wir den Staat gründeten,

als überall erforderlich aufstellten, das, oder eine

Art davon, ist, wie mir scheint, die Gerechtigkeit. Wir

haben ja aufgestellt und, wenn du dich recht erinnerst,

oft gesagt, daß jeder Einzelne von dem, was zum

Staat gehört, ein einziges Geschäft treiben müsse, zu

dem seine Natur am geschicktesten angelegt sei.

Das haben wir allerdings gesagt.

Und auch, daß das Seinige tun und nicht vielerlei

zu treiben, Gerechtigkeit ist, auch das haben wir von

vielen andern gehört und selbst oft gesagt.

Platon: Der Staat 228

Freilich haben wir’s gesagt.

Dies nun, mein Freund, sprach ich, daß man das

Seinige tut, scheint mir, wenn es auf eine gewisse

Weise geschieht, die Gerechtigkeit zu sein.Weißt du,

woraus ich’s schließe?

Nein, sondern sage es, erwiderte er.

Es scheint mir, versetzte ich, das, was im Staate

noch zurückbleibt nach dem, was wir betrachtet

haben, der Besonnenheit, Tapferkeit und Einsicht, das

zu sein, was allen jenen die Möglichkeit verlieh, darin

zu entstehen, und den entstandenen Heil zu gewähren,

solange es darin ist. Nun aber haben wir gesagt, daß

die Gerechtigkeit sein werde, was nach jenen übrig

bleibt, wenn wir die drei gefunden hätten.

Das ist auch notwendig, sagte er.

Indessen, fuhr ich fort, wenn wir zu entscheiden

hätten, was von diesen den Staat, wenn es in ihm ist,

am meisten gut machen wird, so wird es uns schwer

fallen zu entscheiden, ob das Gleichgesinntsein der

Regierenden und der Regierten, oder daß die Krieger

die gesetzliche Ansicht über das, was schrecklich sei

und nicht, in sich bewahren, oder die den Regierenden

einwohnende Einsicht undWachsamkeit, oder ob das

besonders sie gut macht, wenn es in dem Kinde und

demWeibe und dem Knecht und dem Freien und dem

Handwerker und dem Regierenden und Regierten vorhanden

ist, daß jeder Einzelne sein einzelnes Geschäft

Platon: Der Staat 229

verrichtete und nicht vielerlei trieb.

Immerhin ist es schwer zu entscheiden, sagte er.

So kann denn also, wie es scheint, hinsichtlich der

Tüchtigkeit eines Staates mit seinerWeisheit und Besonnenheit

und Tapferkeit wetteifern die Fähigkeit,

daß jeder in ihm das Seinige tut.

Allerdings, versetzte er.

So setzest du also wohl die Gerechtigkeit als mit

diesen wetteifernd hinsichtlich der Tüchtigkeit eines

Staates?

Jawohl.

Betrachte es nun auch auf folgendeWeise, ob es

dir so scheinen wird: Du wirst wohl dem Regierenden

in dem Staate die Rechtspflege übertragen?

Wem sonst?

Werden sie nun als Richter etwas anderes mehr erstreben

als dies, daß keiner weder Fremdes inne habe

noch seines Eigenen beraubt werde?

Nein, sondern dies.

Weil es gerecht ist?

Ja.

Auch auf dieseWeise also wäre zugestanden, daß

das Haben und Tun des Eigenen und Seinigen Gerechtigkeit

ist.

So ist’s.

Sieh nun, ob du mit mir einverstanden bist: Ein

Zimmermann, der eines Schusters, oder ein Schuster,

Platon: Der Staat 230

der eines Zimmermanns Arbeiten machen wollte, entweder

indem sie die Werkzeuge oder Ehren von einander

umtauschten, oder auch indem der nämliche

beides zugleich verrichten wollte, und wenn auch

alles übrige vertauscht würde, glaubst du, daß es der

Gemeinde großen Schaden brächte?

Nicht besonders, erwiderte er.

Wenn aber, denke ich, einer, der von Natur Handwerker

ist oder sonst ein Geschäftsmann, übermütig

gemacht durch Reichtum oder Anhang oder Stärke

oder etwas anderes Derartiges, in den Kriegerstand

eintreten will, oder einer der Krieger in den der Berater

undWächter, ohne dessen würdig zu sein, und

diese dieWerkzeuge und Ehren von einander umtauschen,

oder wenn derselbe alles dieses gleichzeitig betreiben

will, dann, denke ich, glaubst auch du, daß

solcher Tausch von diesen und solche Vielgeschäftigkeit

ein Verderben für die Gemeinde ist?

Allerdings.

Die Vielgeschäftigkeit der drei verschiedenen Stände

also und ihr Umtauschen unter einander wäre der

größte Schaden für den Staat und würde ganz mit

Recht am ehesten als Verbrechen gegen ihn bezeichnet?

Freilich, vollkommen.

Das größte Verbrechen gegen seinen Staat wirst du

aber die Ungerechtigkeit nennen?

Platon: Der Staat 231

Allerdings.

Das wäre also die Ungerechtigkeit. – Umgekehrt

aber müssen wir sagen:Wenn der gelderwerbende,

hilfeleistende, wachende Stand jeder seine Pflicht im

Staate erfüllt, so wird diese Pflichterfüllung, als Gegenteil

von jenem, Gerechtigkeit sein und den Staat

gerecht machen.

Nicht anders scheint es mir sich zu verhalten als so,

erklärte er.

Wir wollen es noch nicht ganz fest nennen, sagte

ich, sondern erst wenn uns, auch auf jeden einzelnen

Menschen angewendet, dieser Begriff auch dort als

Gerechtigkeit anerkannt wird, dann wollen wir es einräumen

– denn was können wir sonst sagen?-; wo

nicht, so wollen wir etwas anderes in Betracht ziehen.

Jetzt aber wollen wir die Untersuchung zu Ende führen,

von der wir glaubten, daß wir, wenn wir die Gerechtigkeit

zuerst in einem Größeren, das sie besitzt,

zu beschauen versuchen, dann leichter an dem einzelnen

Menschen gewahren, welcher Art sie ist. Und ein

solches schien uns nun ein Staat zu sein, und so

haben wir denn einen möglichst guten gegründet, da

wir wohl wußten, daß in dem guten sie sei.Was nun

dort sich uns gezeigt hat, wollen wir auf den Einzelnen

übertragen: Stimmt es überein, so ist es gut: falls

aber an dem Einzelnen sich etwas anderes ergibt, so

wollen wir wieder auf den Staat zurückkommen und

Platon: Der Staat 232

eine Prüfung anstellen. Und vielleicht, wenn wir sie

aneinander betrachten und reiben, können wir, wie

aus zwei Hölzern die Flamme, die Gerechtigkeit aufleuchten

machen, und wenn sie sichtbar geworden ist,

wollen wir sie bei uns befestigen.

Wirklich, versetzte er, dein Verfahren ist ein geordnetes,

und man muß es so machen.

Ist nun wohl, fuhr ich fort, dasjenige, was man

»gleich« benennt, – Größeres wie Kleineres, – unähnlich

in der Beziehung, in welcher es als »gleich« bezeichnet

wird, oder ähnlich?

Ähnlich, antwortete er.

So wird denn also auch ein gerechter Mann sich

von einem gerechten Staate eben in bezug auf die Erscheinung

der Gerechtigkeit in nichts unterscheiden,

sondern ihm ähnlich sein?

Allerdings, antwortete er.

Aber ein Staat schien nun doch gerecht zu sein,

wenn in ihm dreierlei Klassen von Naturen sind und

jede das Ihrige tut; besonnen aber andererseits und

tapfer und weise wegen gewisseranderer Zustände und

Beschaffenheiten dieser nämlichen Klassen?

Das ist wahr, sagte er.

Auch von dem Einzelnen also, mein Lieber, werden

wir in dieserWeise für angemessen halten, daß er

diese nämlichen Arten in seiner Seele hat und wegen

der nämlichen Zustände wie jene billigerweise die

Platon: Der Staat 233

nämlichen Namen zu bekommen habe wie der Staat?

Ganz notwendig, erwiderte er.

Auf eine unbedeutende Untersuchung, mein Bester,

fuhr ich fort, in betreff der Seele sind wir wieder geraten,

ob sie diese drei Arten in sich hat oder nicht ?

Es kommt mir gar nicht vor, als wäre sie unbedeutend,

entgegnete er; denn vielleicht, o Sokrates, ist

wahr, was man zu sagen pflegt, daß das Schöne

schwer ist.

Es sieht so aus, versetzte ich. Und wisse nur, Glaukon,

wie mir es vorkommt, werden wir auf solchen

Wegen, wie wir sie gegenwärtig in den Untersuchungen

wandeln, genau dies nimmermehr erfassen; denn

ein anderer, größerer und längererWeg ist es, der

hierzu führt; vielleicht indessen steht es im richtigen

Verhältnisse zu dem vorher Gesagten und Untersuchten.

Könnte man sich das nicht ganz wohl gefallen lassen?

erwiderte er; denn wir meinesteils würde es vorläufig

recht sein.

Nun ja, sagte ich, für mich wird es sogar vollkommen

genügen.

So laß dich also nicht durch Müdigkeit davon abhalten,

versetzte er, sondern betrachte!

Müssen wir nun nicht, begann ich, ganz notwendig

zugeben, daß die nämlichen Arten und Sitten in jedem

von uns sind wie im Staate? Denn anderswoher sind

Platon: Der Staat 234

sie doch nicht dahin gekommen. Denn es wäre lächerlich,

wenn jemand glauben würde, das Zornmütige

rühre in den Staaten nicht von den Einzelnen her,

denen man das ja nachsagt, wie z.B. denen in Thrakien

und Skythien und so ziemlich denen in den nördlichen

Gegenden; oder dasWißbegierige, was man ja

am ehesten unseren Gegenden nachsagen könnte; oder

das Geldbegierige, was man nicht zum mindesten an

den Phöniziern und den Ägyptern entdecken könnte.

Allerdings, erwiderte er.

Dies verhält sich nun also, sagte ich, in solcher

Weise und ist nicht schwierig zu erkennen.

Gewiß nicht.

Folgendes aber ist nunmehr schwierig, ob es dieses

nämliche ist, womit wir das Einzelne verrichten, oder

ob drei und mit jedem etwas anderes? Ob wir mit dem

einen von dem, was in uns ist, lernen, mit dem andern

zornig sind und dann mit einem dritten Begierde

haben nach den auf Nahrung und Zeugung bezüglichen

Genüssen und was sonst noch damit verwandt

ist, oder ob wir mit der ganzen Seele jedes Einzelne

davon verrichten, wenn wir dazu den Anlauf genommen

haben? Dies ist es, was schwierig ist in angemessenerWeise

zu bestimmen.

Auch mir kommt es so vor, bemerkte er.

In folgenderWeise nun wollen wir versuchen es zu

bestimmen, ob es unter sich das nämliche ist oder

Platon: Der Staat 235

Verschiedenes.

Wie denn?

Offenbar ist, daß Einunddasselbe keine Lust haben

wird, das Entgegengesetzte gleichzeitig in einer und

derselben Beziehung und einer und derselben Richtung

zu tun oder zu leiden; daher wir, wenn wir einmal

an ihnen dies erfolgt finden, wissen werden, daß

es nicht Einunddasselbe war, sondern Mehreres.

Gut.

Betrachte denn, was ich sage!

Sag’s nur, sprach er.

Ist es also möglich, fuhr ich fort, daß Einunddasselbe

in einer und derselben Beziehung gleichzeitig

stillstehe und sich bewege?

Keineswegs.

Noch genauer wollen wir uns denn verständigen,

damit wir nicht etwa im weiteren Verlaufe zweifelhaft

werden.Wenn nämlich jemand von einemMenschen,

der stille steht, aber seine Hände und den Kopf bewegt,

sagen würde, daß Einunddasselbe gleichzeitig

stillstehe und sich bewege, so würden wir, glaube ich,

der Ansicht sein, daß man nicht so sagen dürfe, sondern

daß das eine an ihm stillstehe, das andere aber

sich bewege: Ist’s nicht so?

Ja, es ist so.

Also auch wenn derjenige, der dieses sagte, noch

mehr scherzen und witzig bemerken würde, daß die

Platon: Der Staat 236

Kreisel ja mit allen ihren Teilen gleichzeitig stillstehen

und sich bewegen, wenn sie, ihre Spitze auf demselben

Punkte festaufsetzend, sich umdrehen, oder

daß auch etwas anderes, das auf derselben Stelle im

Kreise herumgeht, dies tue, so würden wir es nicht

gelten lassen, weil in diesem Falle dergleichen Dinge

nicht in bezug auf die nämlichen Teile an sich ruhig

bleiben und in Bewegung sind; sondern wir würden

sagen, sie haben Gerades und Rundes an sich, und mit

dem Geraden stehen sie still – da sie sich ja nach keiner

Seite hin neigen -, mit dem Runden aber drehen

sie sich im Kreise; wenn es aber gleichzeitig mit der

Umdrehung die gerade Haltung nach rechts oder nach

links oder nach vorne oder nach hinten neigt, dann

findet schlechterdings kein Stillstehen statt.

Und mit gutem Grunde, versetzte er.

Keine Bemerkung dieser Art wird uns also, wenn

man sie uns macht, in Verwirrung bringen, noch auch

uns mehr glauben machen, daß jemals etwas, das

wirklich einunddasselbe ist, gleichzeitig in ein und

derselben Beziehung und Richtung das Entgegengesetzte

leide [oder auch sei] oder auch tue.

Mich jedenfalls nicht, erwiderte er.

Gleichwohl indessen, fuhr ich fort, damit wir nicht

genötigt werden, mit dem Durchgehen aller solcher

Zweifel und der Feststellung, daß sie nicht gegründet

seien, uns aufzuhalten, wollen wir annehmen, daß

Platon: Der Staat 237

sich dies so verhalte, und wir wollen weiter gehen,

indem wir uns dahin verständigen: falls dies einmal

anders erscheinen sollte als auf die angegebene

Weise, so wollen wir alle daraus gezogenen Folgerungen

als aufgehoben betrachten.

Nun ja, versetzte er, so muß man es machen.

Würdest du nun wohl, sagte ich, das Genehmigen

dem Ablehnen, und das Streben etwas zu erlangen

dem Abweisen, und das Ansichziehen dem Vonsichstoßen,

– würdest du alles Derartige zu dem einander

Entgegengesetzten rechnen, sei es ein Tun oder ein

Leiden? Denn das wird keinen Unterschied machen.

Freilich, erwiderte er, zu dem Entgegengesetzten.

Wie nun? fuhr ich fort: das Dürsten und Hungern

und überhaupt die Begierden, und andererseits das

Mögen und dasWollen, – wirst du nicht alles dieses

irgendwie unter jene eben genannten Arten rechnen?

Wirst du z.B. nicht von der Seele des Begehrenden

immer sagen, daß sie entweder strebe nach dem, was

sie begehrt, oder an sich ziehe dasjenige, was sie will,

daß es ihr werde, oder andererseits, soweit sie möchte,

daß ihr etwas gewährt werde, sie genehmige dies

für sich, wie auf eine geschehene Anfrage, indem sie

darauf aus ist, daß es werde!

Allerdings.

Wie aber? Das Nichtwollen und Nichtmögen und

Nichtbegehren, – werden wir es nicht zu dem

Platon: Der Staat 238

Wegstoßen undWegtreiben von ihr und zu allem

demjenigen rechnen, was dem Genannten entgegengesetzt

ist?

Warum denn nicht?

Wenn sich also dies so verhält, werden wir sagen,

daß die Begierden eine Gattung bilden und daß die

bestimmtesten unter diesen selbst die seien, die wir

Durst und die wir Hunger nennen?

Wir werden das tun, erwiderte er.

Doch wohl die eine eine Begierde nach Trunk, die

andere eine Begierde nach Essen?

Ja.

Wäre nun wohl beim Durst als solchem Begierde

nach etwasWeiterem als dem Genannten in der

Seele? Z.B. der Durst: ist er Durst etwa nach warmem

Getränk oder nach kaltem, oder nach vielem oder

nach wenigem, oder auch mit einemWorte nach

einem irgendwie beschaffenen Getränk? Oder wird

erst, wenn eineWärme zum Durste hinzutritt, dieselbe

die Begierde nach demWarmen hinzufügen, und

wenn eine Kälte, die nach dem Kalten? Und wenn

wegen des Vorhandenseins von Vielheit der Durst

viel ist, wird sie die Begierde nach dem Vielen machen,

und, wenn wenig, die nach demWenigen? Das

Dürsten selbst aber wird nimmermehr eine Begierde

nach etwas anderem sein, als worauf es seinemWesen

nach gerichtet ist, nach dem Trunke selbst, und

Platon: Der Staat 239

andererseits das Hungern eine Begierde nach dem

Essen?

So ist es, versetzte er: jede Begierde für sich selbst

bezieht sich einzig auf jeden Gegenstand an sich,

worauf sie ihremWesen nach gerichtet ist, auf dessen

nähere Beschaffenheit aber das Hinzukommende.

Daß uns also, fuhr ich fort, nur nicht jemand unversehens

in die Quere kommt mit der Bemerkung, daß

niemand Getränk überhaupt begehre, sondern gutes

Getränk, und nicht Speise überhaupt, sondern gute

Speise: denn alle begehren ja das Gute.Wenn nun der

Durst eine Begierde ist, so wäre er es nach einem

guten Getränk oder sonst etwas, worauf die Begierde

gerichtet ist, und die anderen ebenso.

Drum wäre möglich, bemerkte er, daß, wer dies behauptete,

nicht ganz unrecht hätte.

Nun ist aber doch wohl, sagte ich, alles, was die

Eigentümlichkeit hat, etwas von etwas zu sein, teils,

wie mir scheint, ein irgendwie Beschaffenes von

einem irgendwie Beschaffenen, teils jedes für sich allein

von einem jeden für sich.

Das habe ich nicht verstanden, versetzte er.

Du hast nicht verstanden, erwiderte ich, daß das,

was größer ist, die Eigentümlichkeit hat, das Größere

von etwas zu sein?

Allerdings.

Doch wohl von dem Kleineren?

Platon: Der Staat 240

Ja.

Und das viel Größere von dem viel Kleineren:

nicht wahr?

Ja.

Also auch wohl das einstmals Größere von dem

einstmals Kleineren, und das künftig Größere von

dem künftig Kleineren?

Versteht sich, erwiderte er.

Und das Mehrere dann zu demWenigem und das

Doppelte zum Halben und alles Derartige, und andererseits

das Schwerere zum Leichteren und das

Schnellere zum Langsameren, und weiter dasWarme

zum Kalten und alles diesem Ähnliche, – verhält es

sich nicht ebenso?

Freilich vollkommen.

Wie ist es aber bei denWissenschaften? Hat es

nicht dieselbe Bewandtnis? Wissenschaft an sich ist

Wissenschaft von Lernbarem an sich oder wovon

sonst man sie alsWissenschaft setzen muß, eine bestimmteWissenschaft

aber ist Wissenschaft von einer

bestimmten Beschaffenheit. Ich meine es aber folgendermaßen:

Seitdem eineWissenschaft der Verfertigung

eines Hauses entstanden ist, hat sie sich von den

andern Wissenschaften unterschieden, so daß sie Bauwissenschaft

genannt worden ist?

Freilich.

Nicht aus dem Grunde, weil sie von bestimmter

Platon: Der Staat 241

Beschaffenheit ist, wie keine andere der übrigen?

Ja.

Seitdem sie alsoWissenschaft von etwas mit bestimmter

Beschaffenheit geworden ist, ist sie selbst

auch etwas mit bestimmter Beschaffenheit geworden?

Und die übrigen Künste undWissenschaften ebenso?

So ist’s wirklich.

Dies denn also, fuhr ich fort, nimm an als dasjenige,

was ich vorhin sagen wollte, wofern du wirklich

jetzt es verstanden hast, als ich sagte, daß alles, was

die Eigentümlichkeit hat, etwas von etwas zu sein, einerseits

für sich allein etwas von einem für sich allein

ist, andererseits aber etwas irgendwie Beschaffenes

von etwas irgendwie Beschaffenem ist. Und ich meine

nicht etwa, daß es selbst von der gleichen Beschaffenheit

ist wie dasjenige, von welchem es etwas ist, daß

also dieWissenschaft vom Gesunden und Krankhaften

gesund und krankhaft sei, und die vom Schlechten

und Guten schlecht und gut; vielmehr, da sie ja nicht

Wissenschaft von eben dem geworden ist, wovon sie

Wissenschaft ist, sondern die von etwas irgendwie

Beschaffenem, und da dies das Gesunde und Krankhafte

war, so hat es sich denn getroffen, daß sie selbst

auch eine bestimmte Beschaffenheit erhalten hat; und

dies hat gemacht, daß sie nicht mehr einfachWissenschaft

genannt wird, sondern – infolge des Hinzutritts

des bestimmt Beschaffenen – Heilwissenschaft.

Platon: Der Staat 242

Ich hab’s verstanden, sagte er, und es scheint mir

sich so zu verhalten.

Den Durst denn also, sprach ich, wirst du ihn nicht

unter dasjenige rechnen, was das, was es ist, von

etwas ist? Und Durst ist doch wohl –

Freilich, fiel er ein, von Getränk.

So ist also von einem irgendwie beschaffenen Getränk

das irgendwie Beschaffene auch der Durst, der

Durst an sich aber jedenfalls ein Durst weder von vielem

noch von wenigem, weder vom Guten noch vom

Schlechten, noch mit einemWorte von einem irgendwie

Beschaffenen, sondern Durst an sich ist er nur

von dem Getränk an sich?

Jawohl, vollkommen.

Des Dürstenden Seele also will, soweit sie dürstet,

nichts anderes als trinken, und danach trachtet sie und

danach strebt sie.

Offenbar.

Wenn also einmal etwas sie, wenn sie dürstet, nach

einer anderen Seite zieht, so wäre wohl in ihr etwas

anderes, das verschieden ist von dem Dürstenden

selbst und von dem, was sie wie ein Tier zum Trinken

treibt? Denn nicht tut ja, sagen wir, Einunddasselbe

mit Einunddemselben von sich in einer und derselben

Beziehung gleichzeitig das Entgegengesetzte.

Freilich nicht.

Wie es ja, denke ich, in bezug auf den

Platon: Der Staat 243

Bogenschützen nicht richtig ist zu sagen, daß seine

Hände gleichzeitig den Bogen von sich stoßen und an

sich ziehen, sondern daß eine andere die wegstoßende

Hand ist und eine verschiedene die an sich ziehende.

Jawohl, vollkommen, erwiderte er.

Wollen wir nun sagen, daß manche bisweilen,

wenn sie dürsten, nicht trinken mögen?

Jawohl, antwortete er, viele und vielmals.

Was wird man nun, fragte ich, in bezug auf diese

sagen? Nicht: daß in ihrer Seele zwar vorhanden sei

das zu trinken Gebietende, aber vorhanden auch das

zu trinken Verbietende, als ein vom Gebietenden Verschiedenes

und es Bezwingendes?

Mir kommt es so vor, versetzte er.

Wird nun nicht das dergleichen Verbietende, wenn

es darin sich zeigt, durch Überlegung erzeugt, dagegen

das Treibende und Ziehende durch Zustände des

Leidens und Krankseins hervorgebracht?

Es scheint so.

Nicht ohne Grund also, fuhr ich fort, werden wir

die Ansicht hegen, daß es ein Doppeltes und von einander

Verschiedenes sei, indem wir das, womit sie

überlegt, das Überlegende (Vernünftige) der Seele

nennen, das aber, womit sie verliebt ist und hungert

und dürstet oder sonst etwas leidenschaftlich begehrt,

das Unvernünftige und Begehrende, das gewisse Erfüllungen

und Genüsse liebt?

Platon: Der Staat 244

Nein, vielmehr mit Recht, versetzte er, werden wir

dies annehmen.

Damit seien uns denn, sagte ich, zwei in der Seele

befindliche Arten bestimmt. Der Zorn nun aber und

das, womit wir zornig sind, – ist es ein Drittes? Oder

mit welchem von jenen beiden wäre es gleichartig?

Vielleicht, antwortete er, mit dem Zweiten, dem

Begehrenden.

Aber, entgegnete ich, ich habe einmal etwas gehört

und glaube daran, daß nämlich Leontios, Aglaions

Sohn, wie er vom Peiraieus her die nördliche Mauer

entlang außen heraufging und bemerkte, daß bei dem

Scharfrichter Leichname liegen, einerseits sie zu

sehen begehrte und andererseits doch Abscheu empfand

und sich abwandte und eineWeile kämpfte und

sich verhüllte, zuletzt dann aber, von der Begierde

überwältigt, mit weitaufgerissenen Augen zu den

Leichnamen hinlief und ausrief: »Da habt ihr’s denn,

ihr Unseligen! Seht euch satt an dem edlen Anblick!«

Ich habe es gleichfalls gehört, versetzte er.

Diese Erzählung, bemerkte ich, zeigt denn doch,

daß der Zorn manchmal mit den Begierden im Kampfe

liege, als ein anderes mit einem anderen.

Allerdings zeigt sie’s, sagte er.

Machen wir nun, fuhr ich fort, nicht auch sonst oftmals,

wenn einen die Begierden seiner Überlegung

zuwider nötigen, dieWahrnehmung, daß er sich

Platon: Der Staat 245

selber schilt und auf das in ihm, was ihn nötigt, zornig

ist und daß – wie bei einem Kampf zwischen

zweien – der Zorn eines solchen sich mit der Vernunft

verbündet? Daß er aber mit der Begierde gemeinsame

Sache machte und, wenn die Vernunft sagt, er dürfe

nicht, ihr zuwiderhandelte, – etwas Derartiges wirst

du, glaube ich, nicht behaupten, je an dir selbst wahrgenommen

zu haben, und ich glaube auch nicht, an

einem anderen.

Nein, beim Zeus, antwortete er.

Wie nun? sagte ich: wenn einer Unrecht zu tun

glaubt, – ist er nicht, je edler er ist, um so weniger imstande

zornig zu werden, wenn er hungert und friert

und irgend sonst etwas Derartiges erleidet durch denjenigen,

von dem er glaubt, daß er mit Recht ihm das

antue, und mag sich das an ihm, wovon ich rede, der

Zorn, gegen diesen nicht erheben?

Das ist wahr, versetzte er.

Wie aber? Wenn einer glaubt, Unrecht zu leiden, –

braust er nicht darüber auf und grollt und steht dem

vermeinten Rechte bei wegen des Hungerns und Frierens

und Erleidens von allem Derartigen und hält

siegreich stand und läßt vom Edlen nicht ab, bis er es

entweder durchsetzt oder sein Ende findet oder – wie

ein Hund vom Hirten – von der Vernunft, die in ihm

ist, zu sich gerufen und besänftigt wird?

Freilich ganz, erwiderte er, gleicht er dem von dir

Platon: Der Staat 246

Beschriebenen; und wir haben ja in unserem Staate

die Helfe gleichsam als Hunde aufgestellt, gehorsam

den Regierenden, gleichsam den Hirten des Staates.

Schön, sagte ich, verstehst du, was ich sagen will;

aber sieh zu, ob du außerdem auch das Folgende einsiehst?

Was denn?

Daß wir jetzt das Gegenteil von vorhin in betreff

des Zornartigen meinen: Denn damals glaubten wir,

es sei etwas Begehrendes, jetzt aber sagen wir, es sei

davon weit entfernt und schlage sich beim innern

Streite der Seele vielmehr auf die Seite des Vernünftigen.

Allerdings, versetzte er.

Ist es nun etwas Verschiedenes auch von diesem?

Oder ist es eine Art des Vernünftigen, so daß nicht

drei, sondern zwei Arten in der Seele wären, ein Vernünftiges

und ein Begehrendes? Oder wie es ja im

Staate der diesen zusammenhaltenden Klassen drei

waren, die erwerbende, helfende und beratende, – ist

so auch in der Seele dies, das Zornartige, als drittes,

ein Gehilfe des Vernünftigen von Natur, wofern es

nicht durch schlechte Erziehung verdorben worden

ist?

Notwendig das dritte, war seine Antwort.

Ja, sagte ich, wofern es sich als verschieden von

dem Vernünftigen erweist, wie es sich als verschieden

Platon: Der Staat 247

von dem Begehrenden erwiesen hat.

Das wird sich ohne Schwierigkeit erweisen, versetzte

er; denn auch an den Kindern kann man dies

sehen, daß von Zorn sie gleich nach ihrer Geburt voll

sind; der Vernunft dagegen werden einige, wie mir’s

scheint, niemals teilhaftig, die meisten aber erst spät.

Ja, beim Zeus, bemerkte ich, da hast du schön gesprochen.

Auch an den Tieren kann man das sehen,

was du sagst, daß es wirklich so sich verhält; überdies

wird auch das oben einmal angeführteWort des

Homer es bezeugen:

Aber er schlug an die Brust und redete scheltend

sich selbst zu;

denn hier läßt ja Homer deutlich das über das Bessere

und Schlechtere Nachdenkende auf das unvernünftig

Zürnende als ein von sich Verschiedenes

schelten.

Du hast vollkommen recht, erwiderte er.

Über diesen Strom wären wir also, begann ich wieder,

glücklich hinübergeschwommen, und wir haben

uns gehörig verständigt, daß die nämlichen Gattungen

und gleich viele sowohl im Staate als andererseits in

der Seele jedes Einzelnen vorhanden sind.

So ist es.

Nunmehr ist doch wohl eine notwendige Folge,

Platon: Der Staat 248

daß, wie und wodurch der Staat weise war, so und dadurch

auch der Einzelne weise ist?

Freilich.

Und wodurch und wie ein Einzelner tapfer ist, dadurch

und so auch ein Staat tapfer ist, und in bezug

auf das übrige alles, was zur Tugend gehört, beide

sich gleicherweise verhalten?

Notwendig.

Auch gerecht also, mein Glaukon, werden wir,

denke ich, sagen, daß ein Mann sei durch dieselbe Beschaffenheit,

durch die auch ein Staat gerecht war?

Auch dies ist ganz notwendig.

Aber sicher haben wir noch nicht vergessen, daß

jener gerecht war dadurch, daß von den drei Ständen

in ihm jeder das Seinige tat?

Ich glaube nicht, daß wir’s vergessen haben, war

seine Antwort.

Wir müssen also im Gedächtnis behalten, daß auch

von uns ein jeder, bei dem jedes von dem, was er in

sich hat, das Seinige tut, gerecht sein wird und das

Seinige tut.

Allerdings, versetzte er, muß man es im Gedächtnis

behalten.

Gebührt es nun aber nicht dem vernünftigen Teile

zu regieren, da er weise ist und die Vorsorge für die

ganze Seele hat, dem zornartigen Teile aber, jenem

gehorsam und verbündet zu sein?

Platon: Der Staat 249

Freilich.

Wird nun nicht, wie wir gesagt haben, die Vermischung

von Musenkunst und Turnkunst sie einstimmig

machen, indem sie das eine anspannt und großzieht

durch schöne Reden und Lehrgegenstände, das

andere dagegen herabstimmt durch beschwichtigende

Zureden und mildert durch Harmonie und Rhythmus?

Vollkommen, antwortete er.

Und wenn diese beiden denn in dieser Weise erzogen

sind und inWahrheit das Ihrige gelernt haben

und dafür gebildet sind, so werden sie die Aufsicht

führen über das Begehrende, das ja den größten Teil

der Seele in jedem ausmacht und von Natur ganz unersättlich

ist an Besitztümern. Dies werden sie hüten,

daß es nicht, wenn es infolge der Erfüllung mit den

sogenannten sinnlichen Genüssen stark und mächtig

geworden ist, seinerseits nicht das Seinige tue, sondern

zu knechten und zu beherrschen versuche ein Geschlecht,

bei dem ihm das nicht zukommt, und das gesamte

Leben aller zerrütte.

Freilich, versetzte er.

Werden nun wohl, fuhr ich fort, nicht auch vor den

auswärtigen Feinden diese beiden am besten behüten

zum Schutze der gesamten Seele und des Leibes,

indem das eine beratend wirkt, das andere vorkämpfend,

dabei aber dem Regierenden folgend und mit

seiner Tapferkeit vollziehend, was beschlossen ist?

Platon: Der Staat 250

So ist es.

Und tapfer also, denke ich, nennen wir nach diesem

Teile jeden Einzelnen, wenn das Zornartige an

ihm durch Schmerzen und Genüsse das von der Vernunft

als schrecklich und nicht schrecklich Vorgezeichnete

festhält?

Richtig, sagte er.

Weise jedoch nach jenem kleinen Teile, dem, der in

ihm regierte und jenes vorschrieb, der seinerseits

gleichfallsWissenschaft in sich hat, nämlich von

dem, was jedem Einzelnen und der ganzen Gesamtheit

von ihnen drei zuträglich sei?

Freilich.

Wie aber? Besonnen nicht wegen der Freundschaft

und Zusammenstimmung von eben diesen, wenn das

Regierende und die beiden Regierten der gleichen

Meinung sind, daß das Vernünftige regieren müsse,

und wenn sie nicht mit ihm im Streite liegen?

Besonnenheit ist allerdings, antwortete er, nichts

anderes als dies, bei einem Staate wie bei einem Einzelnen.

Aber nun gerecht wird er doch sein durch das, was

wir schon oft gesagt haben, und auf die angegebene

Weise?

Ganz notwendig.

Wie nun? fuhr ich fort: es trübt sich uns doch nicht

das Bild der Gerechtigkeit, so daß sie etwas anderes

Platon: Der Staat 251

zu sein scheint, als was sie sich im Staate erwiesen

hat?

Mir scheint es nicht, antwortete er.

Folgendermaßen werden wir es ja, sagte ich, vollkommen

feststellen, wenn in unserer Seele noch ein

Zweifel vorhanden ist, indem wir das ganz Gemeine

zu ihm hinzubringen.

Was denn?

Zum Beispiel wenn wir uns zu verständigen hätten

hinsichtlich des beschriebenen Staates und des ihm

gleichgearteten und gleicherzogenen Mannes, ob wir

glauben, daß ein solcher bei ihm hinterlegtes Gold

oder Silber unterschlagen würde, – wer, meinst du,

könnte meinen, daß er dies eher tun würde als alle,

die nicht so beschaffen sind?

Wohl kein Mensch, erwiderte er.

Also auch Tempelraub und Diebstahl und Verrat –

im engeren Kreis an Freunden, oder in weiterem am

Staate – wird diesem fremd sein?

Jawohl.

Und sicherlich wird er auch in keinerWeise treulos

sein, weder in bezug auf Eide noch auf sonstige Vereinbarungen.

Wie sollte er auch?

Und Ehebruch und Vernachlässigung der Eltern

und Versäumnis des Götterdienstes kommen sicher

jedem anderen eher zu als ihm?

Platon: Der Staat 252

Gewiß jedem anderen eher, versetzte er.

Ist nun nicht die Ursache von dem allem dies, daß

bei ihm jedes Einzelne in ihm das Seinige tut in bezug

auf Regieren und Regiertwerden?

Das ist’s freilich, und sonst nichts.

Willst du nun haben, daß die Gerechtigkeit noch

etwas anderes sei als dieses Vermögen, das die Männer

und Staaten von dieser Beschaffenheit liefert?

Beim Zeus, ich nicht, war seine Antwort.

In vollständige Erfüllung also ist uns der Traum

gegangen, wovon wir, wie wir sagten, eine Ahnung

hatten, daß wir gleich, als wir anfingen, den Staat zu

gründen, von einem Gotte auf den Anfang und gleichsam

Umriß der Gerechtigkeit geführt worden zu sein

scheinen.

Freilich vollkommen.

Es war dies also, mein Glaukom – und dies ist auch

der Grunde warum es Nutzen bringt, – ein Schattenbild

der Gerechtigkeit, daß es das Richtige ist, wenn

der von Natur zum Schustern Geschickte schustert

und nichts anderes tut, und der zum Zimmern Geschickte

zimmert, und so weiter.

So erweist es sich.

InWahrheit aber war die Gerechtigkeit zwar, wie

es scheint, etwas von der Art, jedoch nicht in bezug

auf das äußere Tun seiner Bestandteile, sondern in

bezug auf das wahrhaft innerliche, an sich selbst und

Platon: Der Staat 253

dem Seinigen, indem einer keinem Teile seines Inneren

gestattet, das Fremde zu tun, noch den Seelenteilen

erlaubt, unter einander zwecklose Geschäftigkeit

zu treiben, vielmehr in der Tat sein Haus wohl bestellt

und die Herrschaft über sich selbst gewonnen

und sich in Ordnung gebracht hat und sein eigener

Freund geworden ist und jene drei in vollständigen

Einklang gebracht hat, gleichsam die drei Hauptsaiten

eines Instrumentes, die unterste und höchste und mittlere

Saite, und die andern, die etwa noch dazwischen

liegen, diese alle unter einander verknüpft hat und

vollständig Einer geworden ist aus Vielen, besonnen

und rein gestimmt, – und alsdann nunmehr in solcher

Weise handelt, falls er handelt entweder in bezug auf

Erwerb von Besitztümern oder die Pflege des Leibes

oder auch in einer Angelegenheit des Staates oder des

persönlichen Verkehrs, indem er in allen diesen Verhältnissen

als gerechte und schöne Handlung diejenige

betrachtet und bezeichnet, welche diesen Zustand

bewahrt und mitbewirkt, und alsWeisheit dieWissenschaft,

die dieses Handeln leitet, und als ungerecht

ein Handeln, das im einzelnen Falle jenen stört, und

als Torheit die Meinung, die ihrerseits dieses Handeln

leitet.

Vollkommen hast du recht, o Sokrates, sagte er.

Nun gut, versetzte ich; den gerechten Mann sowohl

als Staat, und was die Gerechtigkeit in ihnen ist;

Platon: Der Staat 254

könnten wir nun wohl behaupten gefunden zu haben,

ohne daß wir, denke ich, irgend als Lügner erscheinen

würden.

Das ist bei uns wahrlich nicht zu furchten, sagte er.

Wollen wir’s also behaupten?

Ja, wir wollen’s.

Sei es denn, sprach ich; denn danach haben wir,

denke ich, die Ungerechtigkeit in Betracht zu ziehen.

Offenbar ist’s so.

Muß sie nun nicht ihrerseits ein Streit dieser drei

Seelenteile sein und eine zwecklose Vielgeschäftigkeit

und eine Geschäftigkeit in Fremdartigem und ein Aufstand

eines Teils gegen das Ganze der Seele, mit der

Absicht, in ihr zu regieren, während er dazu nicht befugt,

sondern von Natur derart ist, daß es ihm geziemt,

demjenigen zu dienen, der vom regierungsfähigen

Geschlechte ist? Als etwas Derartiges, denke ich,

und als die Unordnung und Verirrung dieser Teile

werden wir die Ungerechtigkeit bezeichnen und die

Zuchtlosigkeit und Feigheit und Torheit und alle

Schlechtigkeit zusammengenommen.

Das ist freilich so, sagte er.

Ist nun nicht, fuhr ich fort, auch das Ungerechthandeln

und das Unrechttun, und andererseits das Gerechthandeln,

– ist nun nicht dies alles nunmehr klar,

wofern die Ungerechtigkeit und die Gerechtigkeit es

ist?

Platon: Der Staat 255

Wie denn?

Daß es, antwortete ich, nicht verschieden ist von

dem Gesunden und dem Krankhaften, wie jenes im

Leibe, so dieses in der Seele.

Inwiefern? fragte er.

Das Gesunde bewirkt doch wohl Gesundheit, und

das Krankhafte Krankheit?

Ja.

Bewirkt also nicht das Gerechthandeln Gerechtigkeit

und das Ungerechthandeln Ungerechtigkeit?

Notwendig.

Gesundheit bewirken heißt aber, die inneren Bestandteile

des Leibes naturgemäß einrichten, daß sie

beherrschen und von einander beherrscht werden;

Krankheit wirken aber, daß sie naturwidrig regieren

und von einander regiert werden?

So ist es freilich.

Heißt also nicht andererseits, fuhr ich fort, Gerechtigkeit

bewirken, die inneren Bestandteile der Seele

naturgemäß einrichten, daß sie beherrschen und von

einander beherrscht werden; Ungerechtigkeit aber,

daß sie naturwidrig regieren und von einander regiert

werden?

Vollkommen, versetzte er.

Tugend also wäre, wie es scheint, eine Gesundheit

und Schönheit und gute Beschaffenheit der Seele,

Schlechtigkeit aber deren Krankheit und Häßlichkeit

Platon: Der Staat 256

und Schwäche.

So ist es.

Führen nun nicht auch die schönen Beschäftigungen

zum Besitz der Tugend, die häßlichen aber zu

dem der Schlechtigkeit?

Notwendig.

Das nunmehr noch übrige ist, wie es scheint, von

uns zu untersuchen, ob es nun auch nützlich ist, gerecht

zu handeln und schöne Beschäftigungen zu treiben

und gerecht zu sein, mag es nun verborgen bleiben

oder nicht, daß man von solcher Art ist, – oder

das Unrechttun und Ungerechtsein, vorausgesetzt daß

man nicht dafür bestraft wird noch auch durch Züchtigung

besser wird.

Aber, o Sokrates, entgegnet er, mir scheint das Untersuchen

nunmehr wirklich lächerlich, wenn man bei

verdorbener Beschaffenheit des Leibes nicht mehr

leben zu können glaubt, auch nicht mit allen Nahrungsmitteln

und Getränken und allem Reichtum und

aller Herrschaft, dagegen bei zerrütteter und verdorbener

Beschaffenheit eben dessen, durch das wir leben,

man also sollte leben können, vorausgesetzt daß einer

alles andere tut, was er will, ausgenommen das, wodurch

er Schlechtigkeit und Ungerechtigkeit loswerden,

Gerechtigkeit aber und Tugend erwerben kann,

da sich ja doch beides so erwiesen hat, wie wir es

durchgenommen haben.

Platon: Der Staat 257

Lächerlich ist’s freilich, versetzte ich: indessen, da

wir einmal dahin gekommen sind, so deutlich als nur

immer möglich zu erkennen, daß es sich so verhält, so

dürfen wir nicht ermatten.

Am allerwenigsten, beim Zeus, erwiderte er, darf

man ermatten.

So komme denn hierher, sagte ich, damit du auch

siehst, wie viele Arten meines Erachtens die Schlechtigkeit

hat, soweit sie ja auch der Betrachtung wert

sind.

Ich folge, versetzte er: sprich nur!

Und wirklich, begann ich, nachdem wir auf diese

Höhe der Betrachtung hinaufgelangt sind und ich

gleichsam auf einer Warte stehe, so kommt es mir

vor, daß es von der Tugend nur eine Art gibt, unzählige

aber von der Schlechtigkeit, und unter ihnen etwa

vier, die überhaupt erwähnt zu werden verdienen.

Wie meinst du das? fragte er.

Soviel es, antwortete ich,Weisen von Staatsverfassungen

gibt, welche eigene Arten bilden, so viele

scheint es auch von der SeeleWeisen zu geben.

Wie viele denn?

Fünf, antwortete ich, bei Staatsverfassungen, und

fünf bei der Seele.

Sage, versetzte er, welche!

Ich sage, antwortete ich, daß die von uns durchgesprocheneWeise

der Staatsverfassung eine zwar ist,

Platon: Der Staat 258

sich aber auch doppelt benennen läßt:Wenn nämlich

unter den Regierenden ein Mann ist, der sich hervortut,

mag sie Königtum heißen; wenn aber mehrere,

Herrschaft der Besten (Aristokratie).

Das ist wahr, versetzte er.

Dies, sagte ich, erkläre ich denn also für eine einzige

Art; denn ob es mehrere sind oder einer, – keinesfalls

ändert er etwas an den wichtigeren Gesetzen des

Staates, wenn er die von uns durchgegangene Erziehung

und Bildung erhalten hat.

Es ist nicht anzunehmen, sagte er.

Platon: Der Staat 259

Fünftes Buch

Gut und recht eingerichtet also nenne ich einen solchen

Staat und eine solche Verfassung und einen solchen

Mann, schlecht aber und fehlerhaft die anderen,

wofern dieser der rechte ist, sowohl in bezug auf Einrichtungen

von Staaten als auf Gestaltung der Beschaffenheit

der Seele von Einzelnen, und diese zerfallen

in vier Arten der Schlechtigkeit.

Welches sind denn diese? fragte er.

Schon schickte ich mich an, sie alle der Reihe nach

aufzuzählen, wie sie mir sich aus einander zu entwickeln

schienen, als Polemarchos, der von Adeimantos

etwas weiter entfernt saß, seine Hand ausstreckte,

dessen Kleid oben an der Schulter faßte, ihn an sich

zog, sich selbst vorbeugte und ihm etwas ins Ohr

sagte, wovon wir nichts verstanden als die Worte:

Wollen wir nun loslassen, oder was wollen wir tun?

Schlechterdings nicht, erwiderte Adeimantos, jetzt

laut sprechend.

Da fragte ich:Was denn laßt ihr nicht los?

Dich, antwortete er.

Was denn? fragte ich noch einmal.

Du scheinst uns fahrlässig zu werden, sagte er, und

einen ganzen Abschnitt der Untersuchung, und nicht

den geringsten, heimlich zu beseitigen, damit du ihn

Platon: Der Staat 260

nicht durchgehen dürfest, und zu glauben, du werdest

durchschlüpfen mit der oberflächlichen Äußerung,

daß in betreff der Weiber und Kinder jedermann einleuchte,

daß Freundesgut gemeinsam Gut sein werde.

Ist das denn nicht richtig, Adeimantos? fragte ich.

O ja, versetzte er, aber dieses »Richtig« bedarf, wie

das übrige, der Erörterung, welches die Art und

Weise der Gemeinschaft sei; denn es sind viele möglich.

Laß daher nicht unbesprochen, welche du

meinst; denn wir warten schon lange, in der Meinung,

du werdest einmal der Kinderzeugung gedenken, wie

sie es damit halten, und wie sie die Neugeborenen erziehen

werden, und diese ganze Gemeinschaft der

Weiber und Kinder, von der du sprichst; denn wir

glauben, daß es viel, ja alles ausmacht für die Verfassung,

ob es richtig geschieht oder nicht. Jetzt aber, da

du zu einer andern Verfassung übergehen willst, ehe

dieses genügend erörtert ist, haben wir den Beschluß

gefaßt, den du gehört hast, dich nicht loszulassen, bis

du dies alles wie das übrige durchgegangen hast.

So rechnet denn auch meine Stimme für diesen Antrag,

sagte Glaukon.

Jawohl, erwiderte Thrasymachos, das darfst du als

unser aller Beschluß betrachten, Sokrates.

Ach, rief ich aus, was habt ihr da gemacht, daß ihr

mich anfaßt!Welchen Stoff zum Reden rührt ihr da

wie von vorne wieder auf in betreff der Verfassung!

Platon: Der Staat 261

Schon freute ich mich, daran vorüber zu sein, zufrieden,

wenn man es so gelten lasse, wie es damals gesagt

wurde. Das fordert ihr jetzt heraus und wißt gar

nicht, was für einen Schwarm von Reden ihr dadurch

aufstört, den ich damals wohl sah und beiseite ließ,

damit er uns nicht viel Ungelegenheit mache.

Wie, fuhr Thrasymachos auf, glaubst du denn,

diese da seien, um Gold zu machen, jetzt hierher gekommen,

und nicht um Reden zu hören?

Ja, antwortete ich, aber mit Maß.

Das Maß, Sokrates, versetzte Glaukon, solche

Reden zu hören, ist für Verständige das ganze Leben.

Aber was uns betrifft, laß dich nicht anfechten, und

werde nur du ja nicht müde, über das, was wir dich

fragen, uns deine Ansicht auseinanderzusetzen, welches

unter unsernWächtern die Gemeinschaft sein

werde in bezug auf Kinder undWeiber und auf die

Erziehung jener, solange sie noch klein sind, in der

Zwischenzeit zwischen der Geburt und der Schule, die

ja als die mühevollste betrachtet wird. Versuche nun

zu sagen, in welcherWeise sie stattfinden muß!

Nicht leicht ist es, mein Bester, erwiderte ich, das

auseinanderzusetzen; denn es ist vielen Zweifeln unterworfen,

noch mehr als das, was wir vorher durchgegangen

haben; denn sowohl ob das, was man sagt,

ausführbar sei, dürfte bezweifelt werden, als andererseits,

auch wenn es ganz ausführbar wäre, ob dies und

Platon: Der Staat 262

in dieserWeise wirklich das Beste sei, wird man bezweifeln.

Daher trage ich denn auch einige Bedenken,

es zu berühren, ob die Erörterung nicht als bloßer

frommerWunsch erscheine, mein lieber Freund.

Trage keine Bedenken, erwiderte er; weder Unverständige

noch Zweifelsüchtige noch Übelwollende

sind ja deine Zuhörer.

Darauf versetzte ich: Mein Bester, das sagst du

wohl, um nur Mut einzusprechen?

Allerdings, antwortete er.

Nun, dann bewirkst du gerade das Gegenteil,

sprach ich.Würde ich nämlich mir zutrauen, zu wissen,

was ich sage, so wäre ein solcher Zuspruch: am

Platze; denn unter Verständigen und lieben Menschen

über dasWichtigste und. Liebste dieWahrheit, wenn

man sie weiß, zu sagen ist gefahrlos und unbedenklich;

aber dasWort zu führen, während man noch

zweifelt und forscht, wie ich jetzt tue, ist ängstlich

und gefahrvoll: nicht daß man etwa ausgelacht

würde – denn das ist kindisch -; aber, wenn ich in

bezug auf dieWahrheit strauchle, falle ich nicht bloß

allein, sondern ziehe auch die Freunde mit nach, und

zwar in Angelegenheiten, bei denen man am wenigsten

straucheln darf. Doch ich verbeuge mich vor der

Adrasteia, Glaukon, wegen dessen, was ich sagen

will. Denn ich glaube einen kleineren Fehler zu begehen,

wenn ich unvorsätzlich an jemand zumMörder

Platon: Der Staat 263

werde, als zum Betrüger in bezug auf schöne und gute

und gesetzliche Einrichtungen. Diese Gefahr zu

wagen ist besser unter Feinden als unter Freunden, so

daß mir deineWorte ein schöner Trost sind.

Da sagte Glaukon lachend: Nun, Sokrates, wenn

wir von der Erörterung Nachteil erleiden, so sprechen

wir dich frei, daß du von Mord rein und nicht zum

Betrüger an uns geworden seist; so sprich nur getrost!

Allerdings, bemerkte ich, rein ist der Freigesprochene

auch in jenem Falle, wie das Gesetz sagt; und

wenn in jenem, so natürlich auch in diesem..

So sprich denn, versetzte er, um deswillen!

Dann muß ich eben, sagte ich, jetzt in verkehrter

Ordnung sprechen, was sonst vielleicht in der gehörigen

Folge hätte gesagt werden sollen. Vielleicht ist es

aber so recht, jetzt, nachdem das Männerschauspiel

vollständig zu Ende geführt ist, auch das der Weiber

abzumachen, zumal da du so es haben willst.

Für Menschen nämlich, die geschaffen und gebildet

sind, wie wir durchgegangen haben, gibt es nach meiner

Ansicht keine andere richtige Weise, Kinder und

Weiber zu bekommen und zu behandeln, als wenn sie

dem Anlaufe nachgehen, den wir von vornherein genommen

haben.Wir haben aber versucht, die Männer

durch unsere Rede gleichsam alsWächter einer Herde

darzustellen.

Ja.

Platon: Der Staat 264

So wollen wir denn auf diesemWege fortgehen,

das Erzeugen und Aufziehen ähnlich gestalten und zusehen,

ob es für uns paßt oder nicht.

Wie denn? fragte er.

Folgendermaßen: Glauben wir, daß dieWeibchen

der hütenden Hunde mithüten müssen, was die Männchen

hüten, und mitjagen und das übrige gemeinschaftlich

verrichten, oder daß die einen drinnen zu

Hause sitzen, als untüchtig wegen des Gebarens und

Aufziehens der Jungen, und sollen die andern sich abmühen

und alle Sorge für die Herde haben?

Alles gemeinschaftlich, antwortete er; nur daß wir

die einen als schwächer behandeln, die andern als

stärker.

Ist es nun aber möglich, versetzte ich, einWesen

zu dem Gleichen zu verwenden, wenn man ihm nicht

die gleiche Erziehung und Bildung erteilt?

Nein, es ist nicht möglich.

Wenn wir also dieWeiber zu dem nämlichen verwenden

werden wie die Männer, so muß man sie auch

in dem nämlichen unterrichten?

Ja.

Jenen wurde die Musenkunst und die Turnkunst zugewiesen?

Ja.

Auch denWeibern also muß man diese beiden

Künste und die Geschäfte des Kriegs zuweisen und

Platon: Der Staat 265

sie auf dieselbeWeise verwenden.

Es ist natürlich nach dem, was du sagst, erwiderte

er.

Da könnte vielleicht, bemerkte ich, in bezug auf

das, was jetzt gesagt wird, imWiderspruch mit der

Gewohnheit vieles Lächerliche zutage kommen, wenn

es so ausgeführt wird, wie angegeben wird.

Allerdings, antwortete er.

Was findest du nun am lächerlichsten darunter?

fragte ich; wohl das, daß dieWeiber nackt auf den

Ringplätzen zugleich mit den Männern Übungen vornehmen,

nicht allein die jugendlichen, sondern auch

die schon älteren, wie die bejahrten Männer auf den

Turnplätzen, wenn sie mit ihren Runzeln und ihrem

unangenehmen Aussehen dennoch aus Liebhaberei

turnen?

Ja, bei Zeus, versetzte er; das würde freilich unter

den obwaltenden Umständen lächerlich erscheinen.

Nun, sagte ich, da wir einmal im Zuge sind, davon

zu sprechen, dürfen wir uns vor dem Spott der Witzigen

nicht fürchten, wie viele und wie beißende Bemerkungen

sie machen werden über eine solche Veränderung

in bezug auf die Turnplätze und die Musik

und nicht zum mindesten dasWaffenführen und das

Reiten.

Du hast recht, sagte er.

Vielmehr, da wir nun einmal zu sprechen

Platon: Der Staat 266

angefangen haben, muß man den steilen Pfad des Gesetzes

hinauf und diese bitten, nicht nach ihrer Gewohnheit

zu verfahren, sondern ernsthaft zu sein, und

sie erinnern, wie es nicht lange her ist, daß den Hellenen

schimpflich und lächerlich erschien, was jetzt den

meisten Ausländern so erscheint: daß Männer sich

nackt sehen lassen. Und als zuerst die Kreter, dann

die Lakedaimonier mit den Turnplätzen begannen, da

durften die Spötter jener Zeit sich über alles dieses lustig

machen; oder glaubst du nicht?

O ja.

Aber als ihnen, denke ich, durch die Erfahrung

deutlich wurde, daß es besser ist, sich zu entkleiden,

als alles dieses zu verhüllen, da ward auch das Lächerliche

für die Augen verwischt durch das für den

Verstand klargewordene Vortreffliche, und dies lieferte

den Beweis, daß ein Tor ist, wer etwas anderes lächerlich

findet als das Schlechte oder lächerlich zu

machen sucht, indem er irgend einen anderen Anblick

als lächerlich betrachtet als den Unverständigen uns

Schlechten, und wer andererseits für das Schöne Ernst

aufbietet, indem er auf einen andern Standpunkt sich

stellt als auf den des Guten.

Allerdings, versetzt er.

Müssen wir uns nun nicht zuerst darüber verständigen,

ob es möglich ist oder nicht, und dem Zweifel

Raum geben, wenn jemand im Scherze oder Ernste

Platon: Der Staat 267

bezweifeln will ob die menschliche Natur desWeibes

imstande ist, mit dem männlichen Geschlechte alles

gemeinsam zu verrichten, oder gar nichts, oder ob sie

zu dem einen befähigt ist, zu dem andern aber nicht,

und zu welchem von diesen beiden das Geschäft des

Krieges gehört? Wird man nicht auf dieseWeise am

besten beginnen und daher auch natürlich am besten

endigen?

Bei weitem, sagte er.

Willst du nun, daß wir gegen uns selbst im Namen

der andern Einwendungen erheben, damit nicht die

gegenüberstehende Sache unverteidigt angegriffen

werde?

Es steht dem nichts imWege, sagte er.

So wollen wir denn in ihren Namen sprechen: »Es

ist gar nicht nötig, Sokrates und Glaukon, daß andere

euch Einwendungen machen; denn ihr habt ja selbst

beim Anfange der Gründung, die ihr dem Staate zuteil

werden ließet, zugegeben, daß jeder Einzelne seiner

Natur gemäß das eine tun müsse, was sein ist.« – Ich

denke, wir haben es zugegeben; warum auch nicht? –

»Unterscheidet sich nun dasWeib vomManne seiner

Natur nach nicht sehr bedeutend?« -Wie sollte es

nicht? – »Geziemt es sich also nicht, jedem von beiden

auch ein anderes Geschäft aufzuerlegen, das seiner

Natur gemäß ist?« -Was sonst? – »Begeht ihr

also nicht jetzt Fehler und kommt mit euch selbst in

Platon: Der Staat 268

Widerspruch, indem ihr nunmehr behauptet, die Männer

undWeiber müssen dieselben Geschäfte verrichten,

während sie doch eine sehr verschiedene Natur

haben?«Wirst du, mein Bester, auf dieses etwas zu

erwidern wissen?

So im Augenblicke, versetzte er, ist das nicht gar

leicht; aber ich will dich bitten und tue es hiermit,

auch den für uns sprechenden Gründen, welcher Art

sie immer sind,Worte zu leihen.

Das, mein Glaukon, sagte ich, und vieles andere

dieser Art ist es, was ich längst voraussah, und deshalb

fürchtete ich mich und zauderte, das Gesetz über

das Erlangen und die Erziehung der Weiber und Kinder

zu berühren.

Nein, beim Zeus, versetzte er, es sieht allerdings

nicht harmlos aus.

Freilich nicht, sagte ich. Aber es verhält sich doch

so: Ob jemand in einen kleinen Teich hineinfällt oder

mitten in das größte Meer, dennoch schwimmt er

beide Male in gleicherWeise?

Allerdings.

So müssen denn auch wir schwimmen und uns aus

den Gegengründen hinauszuretten suchen, in der

Hoffnung, es werde uns entweder ein Delphin auf den

Rücken nehmen oder uns sonst eine wunderbare Rettung

zuteil werden.

So scheint es, sagte er.

Platon: Der Staat 269

Sehen wir denn, fuhr ich fort, ob wir irgendwo den

Ausgang finden! Wir haben doch wohl zugestanden,

daß verschiedene Naturen verschiedene Geschäfte

treiben müssen, und daß die Naturen desWeibes und

des Mannes verschieden seien, und wir sagen nun

dennoch, daß die verschiedenen Naturen dasselbe treiben

müssen: so lautet eure Anklage gegen uns?

Freilich.

Fürwahr, mein Glaukon, sprach ich, merkwürdig

ist die Kraft der Kunst desWidersprechens.

Wieso?

Weil, antwortete ich, mir viele sogar wider ihren

Willen darein zu verfallen scheinen, so daß sie nicht

zu streiten meinen, sondern sich zu unterreden, weil

sie nicht imstande sind, bei Betrachtung des Gegenstandes

die Arten auseinander zu halten, sondern nach

dem bloßenWorte denWiderspruch gegen das Behauptete

durchführen, indem sie einen Streit und nicht

eine Unterredung mit einander haben.

Freilich geht es vielen so, bemerkte er; aber es bezieht

sich das doch nicht auf uns in dem jetzigen

Falle?

Allerdings, antwortete ich; wenigstens scheinen wir

wider Willen insWidersprechen hineingeraten zu

sein.

Wieso?

Daß die nicht gleiche Natur nicht die gleichen

Platon: Der Staat 270

Beschäftigungen treiben darf, verfolgen wir sehr tapfer

und streitlustig amWorte festhaltend, haben aber

durchaus nicht betrachtet, welche Art der verschiedenen

und der gleichen Natur wir bestimmt haben, und

was dabei unsere Absicht war, als wir die verschiedenen

Beschäftigungen verschiedenen Naturen und die

gleichen den gleichen zuwiesen.

Allerdings haben wir’s nicht betrachtet.

Infolgedessen können wir denn, wie es scheint, uns

selbst fragen, ob die Natur der Kahlköpfigen und der

Behaarten dieselbe sei und nicht vielmehr die entgegengesetzte,

und, wenn wir sie als entgegengesetzte

anerkennen, dann den Behaarten nicht gestatten, zu

schustern, wenn es die Kahlköpfigen tun; und wenn

andererseits die Behaarten es tun, so nicht den andern

es gestatten.

Das wäre doch lächerlich.

Ist es wohl aus einem andern Grunde lächerlich, als

weil wir damals die gleiche und die verschiedene

Natur nicht im allgemeinen nahmen, sondern einzig

diejenige Art der Verschiedenheit und Ähnlichkeit ins

Auge faßten, die sich auf die Beschäftigungen unmittelbar

bezieht? Z.B. haben wir gesagt, daß ein Arzt

und einer, der seiner Seele nach zum Arzte geeignet

ist, dieselbe Natur habe. Oder meinst du nicht?

O ja.

Dagegen ein zum Arzte und ein zum Zimmermann

Platon: Der Staat 271

Tauglicher eine verschiedene?

Jedenfalls wohl.

Wenn also, fuhr ich fort, auch das Geschlecht der

Männer und derWeiber hinsichtlich einer Kunst oder

einer sonstigen Beschäftigung sich verschieden zeigt,

so werden wir sagen, daß man diese eben jedem von

beiden zuteilen müsse; zeigen sie sich aber nur eben

darin verschieden, daß dasWeib gebiert und der

Mann zeugt, so werden wir es noch nicht als besser

erwiesen betrachten, daß dasWeib in bezug auf das,

wovon wir reden, vomManne verschieden sei, sondern

werden noch immer glauben, daß uns dieWächter

und ihreWeiber dieselben Geschäfte treiben müssen.

Und das mit Recht, versetzte er.

So fordern wir denn infolgedessen den Verfechter

der entgegengesetzten Ansicht auf, uns eben dies zu

zeigen, in bezug auf welche Kunst oder welche Beschäftigung,

die zur Einrichtung des Staates gehört,

die Natur desWeibes und des Mannes nicht dieselbe,

sondern verschieden ist.

Dazu haben wir jedenfalls das Recht.

Vielleicht aber wird nun, wie du kurz vorher gesagt

hast, so auch ein anderer sprechen, daß im Augenblicke

es gehörig zu sagen nicht leicht ist, nach einigem

Nachdenken es aber keine Schwierigkeit habe.

Er wird wirklich so sprechen.

Platon: Der Staat 272

Wollen wir also den, der eine solche Einwendung

macht, bitten, uns zu folgen, ob etwa wir ihm zeigen

können, daß es hinsichtlich der Verwaltung des Staates

keine demWeibe eigentümliche Beschäftigung

gibt?

Allerdings.

So komm denn, wollen wir zu ihm sagen, gib uns

Antwort! Meintest du, daß der eine zu etwas von

Natur begabt sei, der andere nicht, in dem Sinne, daß

der eine etwas leicht lernt, der andere schwer, und daß

der eine nach kurzem Lernen in dem, was er gelernt,

vielfach schöpferisch ist, der andere aber nach langem

Lernen und Üben nicht einmal das Gelernte behält,

und daß bei dem einen der Leib den Geist zureichend

unterstützt, bei dem andern ihm hinderlich ist? Oder

ist das, wonach du den zu etwas Begabten und den

Nichtbegabten unterscheidest, etwas anderes als dieses?

Niemand, fiel er ein, wird etwas anderes meinen.

Kennst du nun etwas von den Menschen Betriebenes,

worin nicht in allen diesen Beziehungen das

männliche Geschlecht vor dem weiblichen sich auszeichnet?

Oder sollen wir ausführlich werden und von

der Webekunst sprechen und von der Behandlung des

Backwerks und der Speisen, in denen bekanntlich das

weibliche Geschlecht für stark gilt und worin es sich

nicht übertreffen lassen darf, ohne überaus lächerlich

Platon: Der Staat 273

zu werden?

Du hast recht, versetzte er, daß so ziemlich in allem

jenes Geschlecht diesem weit überlegen ist. Zwar sind

viele Frauen in vielen Beziehungen besser als viele

Männer, im ganzen aber verhält es sich so, wie du

sagst.

Keines der Geschäfte also, mein Freund, aus denen

die Verwaltung des Staates besteht, kommt einem

Weibe zu, weil sie Weib, oder einemMann, weil er

Mann ist, sondern die Begabungen sind unter beide

Geschlechter gleicherweise verteilt, und an allen Geschäften

hat dasWeib, an allen der Mann naturgemäß

Anteil, bei allem aber ist dasWeib schwächer als der

Mann.

Allerdings.

Werden wir also den Männern alles und dem

Weibe nichts auftragen?

Unmöglich.

Vielmehr ist ja, werden wir, denke ich, sagen, auch

einWeib zur Heilkunst geschickt, das andere nicht,

und das eine musikalisch und das andere unmusikalisch

von Natur.

Allerdings.

Also nicht auch das eine geschickt zur Turnkunst

und Kriegskunst, das andere aber unkriegerisch und

von Natur keine Freundin des Turnens?

So glaube ich wenigstens.

Platon: Der Staat 274

Ferner weisheitliebend und weisheithassend? Und

die eine willenskräftig, die andere mutlos?

Auch das ist der Fall.

So ist also auch einWeib zum Bewachen geschickt,

das andere nicht? Oder haben wir nicht in

derselben Weise auch die Natur der zum Bewachen

geschickten Männer ausgelesen?

Freilich in derselbenWeise.

BeimWeibe also wie beimManne ist dieselbe Naturanlage

hinsichtlich des Bewachens eines Staates,

außer soweit sie schwächer oder stärker ist.

So scheint es.

Also muß man auch so beschaffeneWeiber für die

so beschaffenen Männer auswählen, um mit ihnen zusammen

zu wohnen und zusammen zu bewachen, da

sie ja dazu tüchtig und von Natur ihnen gleichartig

sind?

Allerdings.

Muß man aber nicht den gleichen Naturen die gleichen

Beschäftigungen zuteilen?

Freilich.

Wir sind also auf einem Umwege wieder zu unserem

früheren Satze gekommen und geben zu, daß es

nicht naturwidrig ist, denWeibern derWächter die

Beschäftigung mit Musenkunst und Turnkunst zuzuweisen.

Allerdings.

Platon: Der Staat 275

Wir haben also jedenfalls nichts Unmögliches und

einem frommenWunsche Ähnliches als Gesetz aufgestellt,

da wir ja das Gesetz der Natur gemäß gegeben

haben; sondern das jetzige, diesem widerstreitende

Verfahren ist vielmehr, wie es scheint, der Natur zuwider.

So scheint es.

Nun wollten wir aber doch untersuchen, ob das,

was wir sprechen, möglich und das Beste sei?

Jawohl.

Daß es nun möglich ist, darüber sind wir einverstanden?

Ja.

Daß es dann aber auch das Beste ist, darüber müssen

wir uns nach diesem verständigen?

Offenbar.

Nun, was das Geschicktwerden desWeibes zum

Wächtersein betrifft, so wird uns doch nicht eine andere

Bildung die Männer dazu machen und eine andere

dieWeiber, zumal da die nämliche Natur sie bekommt?

Keine andere.

Was hast du nun für eine Ansicht über das Folgende?

Worüber denn?

Ob du den einen Mann für besser hältst, den andern

für schlechter; oder betrachtest du alle als gleich?

Platon: Der Staat 276

Keineswegs.

Im Staate nun, den wir gegründet haben, wer

glaubst du, daß da bessere Männer geworden sind: die

Wächter, welche die Bildung erhielten, die wir durchgegangen

haben, oder die Schuster, die in der Schusterkunst

gebildet wurden?

Du stellst eine lächerliche Frage, erwiderte er.

Ich verstehe, sagte ich; und dann: sind unter den

übrigen Staatsbürgern nicht diese die besten?

Bei weitem.

Und dann unter denWeibern werden nicht diese

Weiber die besten sein?

Auch das bei weitem, antwortete er.

Gibt es aber für einen Staat etwas Besseres, als daß

Weiber und Männer darin möglichst gut sind?

Unmöglich.

Dies wird aber die Musenkunst und die Turnkunst,

wenn sie vorhanden sind, wie wir sie beschrieben

haben, bewirken?

Gewiß.

Also nicht bloß etwas Mögliches, sondern auch das

Beste haben wir für den Staat als Verordnung aufgestellt?

So ist’s.

So müssen sich denn dieWeiber derWächter entkleiden,

da sie statt der Gewänder mit Tugend sich

bekleiden werden, und müssen am Kriege und an der

Platon: Der Staat 277

übrigen Bewachung für den Staat Anteil nehmen und

nichts anderes tun; dabei aber muß man denWeibern

Leichteres geben als den Männern, wegen der Schwäche

des Geschlechtes. Der Mann aber, der überWeiber,

die um des Besten willen nackt turnen, lacht,

bricht ungereift der Weisheit Frucht hinsichtlich des

Lächerlichen und weiß, wie es scheint, nicht, worüber

er lacht und was er tut; denn das ist und bleibt doch

wohl der schönste Spruch, daß das Nützliche schön

und das Schädliche häßlich ist.

Allerdings.

Dürfen wir nun sagen, daß das gleichsam eine

Welle ist, der wir entronnen sind in unserer Erörterung

über die Gesetzgebung betreffs desWeibes,

ohne ganz untergesunken zu sein mit unserer Aufstellung,

daß unsere Wächter undWächterinnen alles gemeinschaftlich

treiben müssen, indem vielmehr die

Erörterung mit sich selbst im Einklange ist, daß sie

Mögliches und Nützliches behaupte?

Allerdings, erwiderte er, bist du keiner kleinen

Welle entronnen.

Doch wirst du sagen, versetzte ich, sie sei nicht

groß, wenn du die nachfolgende betrachtest.

Sprich einmal, ich will sehen, sagte er.

An dieses, fuhr ich fort, und an die anderen früheren

schließt sich, wie ich glaube, folgendes Gesetz

an…

Platon: Der Staat 278

Welches?

Daß dieseWeiber alle diesen Männern allen gemeinschaftlich

seien und keine mit keinem besonders

zusammenwohne, und daß ebenso die Kinder gemeinschaftlich

seien und kein Vater sein Kind kenne noch

ein Kind seinen Vater.

Freilich, bemerkte er, ist diese weit größer als jene

hinsichtlich der Zweifelhaftigkeit in bezug auf die

Möglichkeit und Nützlichkeit.

Ich glaube nicht, versetzte ich, daß in betreff der

Nützlichkeit Streit entstehen wird, als wäre es nicht

das größte Gut, daß dieWeiber und die Kinder gemeinsam

seien, wofern es möglich ist. Aber ich glaube,

darüber, ob es möglich sei oder nicht, werde es

den meisten Streit geben.

Über beides, sagte er, wird sich sehr wohl streiten

lassen.

Du laßt also, sagte ich, die beiden Punkte nicht

auseinander, ich aber glaubte wenigstens dem einen

von beiden entrinnen zu können, wenn du die Nützlichkeit

zugäbest, und es bleibe dann für mich nur

noch übrig, die Möglichkeit oder Unmöglichkeit abzuhandeln.

Aber es ist dir nicht gelungen, unbemerkt zu entkommen,

sprach er; sondern du mußt über beides

Rede stehen.

Der Strafe muß ich mich unterziehen, sagte ich;

Platon: Der Staat 279

doch so viel bewillige mir: gestatte mir gütlich zu tun,

wie die geistig Trägen sich’s selbst bequem zu machen

pflegen, wenn sie allein unterwegs sind! Denn

auch solche pflegen ja wohl, ehe sie gefunden haben,

aufweicheWeise etwas von dem, was sie begehren,

verwirklicht werden wird, davon abzusehen, um sich

nicht mit der Beratung über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit

zu ermüden, das, was sie wünschen, als

wirklich seiend zu setzen und dann gleich das übrige

zu ordnen und sich damit zu vergnügen, daß sie sich

ausmalen, was sie alles tun werden, wenn es sei,

indem sie ihre schon vorher träge Seele noch träger

machen. Nunmehr spiele ich selbst denWeichlichen

und wünsche jene Frage, inwiefern es möglich sei,

aufzuschieben und erst nachher zu betrachten; für

jetzt aber setze ich es als möglich und will, mit deiner

Erlaubnis, betrachten, wie die Regierenden es ordnen

werden, wenn es ist, und daß es das Allerzuträglichste

wäre für den Staat und dieWächter, wenn es ausgeführt

würde. Dieses will ich zuerst mit dir betrachten,

wofern du es gestattest, und dann nachher jenes.

Nun, ich gestatte es, versetzte er, und beginne denn

die Betrachtung!

Ich glaube nun, begann ich, wofern die Regierenden

wirklich dieses Namens würdig sein werden und

ihre Gehilfen gleichfalls, so werden die einen das Befohlene

tun wollen und die andern befehlen, indem sie

Platon: Der Staat 280

teils selbst den Gesetzen gehorchen, teils nachahmen,

nämlich alles, was wir ihnen überlassen haben.

Natürlich, sagte er.

Du also, fuhr ich fort, als Gesetzgeber wirst ihnen,

wie du die Männer ausgewählt hast, so auch dieWeiber

auswählen und sie so gleichgeschaffen wie möglich

übergeben; da sie aber nunWohnungen und

Mahlzeiten gemeinsam haben und keiner irgend etwas

Derartiges abgesondert besitzt, so werden sie natürlich

beisammensein; und da sie auch auf Turnplätzen

und bei dem sonstigen Unterrichte durch einander gemischt

beisammen sind, so werden sie, denke ich, von

der angeborenen Notwendigkeit zur Vermischung mit

einander getrieben werden; oder scheint dir das, was

ich sage, nicht notwendig?

Zwar nicht nach mathematischer, aber nach erotischer

Notwendigkeit, antwortete er, und letztere

scheint für die große Menge eine durchdringendere

Kraft des Überredens und Bestimmens zu haben als

jene.

Allerdings, versetzte ich; aber nun weiter, lieber

Glaukon: Ordnungslos sich zu vermischen oder irgend

etwas anderes zu tun wäre eine Sünde in einem

Staate von Glücklichen, und die Regierenden werden

es nicht zugeben.

Es wäre auch nicht gerecht, bemerkte er.

So ist also klar, daß wir weiterhin nach Kräften

Platon: Der Staat 281

möglichst heilige Hochzeiten einführen werden; heilig

aber wären die nützlichsten.

Allerdings.

Wie werden sie nun aber am nützlichsten sein? Das

sage du mir, Glaukon; denn ich sehe in deinem Hause

Jagdhunde und edles Geflügel in großer Zahl; hast du

nun, ich bitte dich, bei deren Vermählungen und Kinderzeugung

nicht etwas beachtet?

Was denn? fragte er.

Fürs erste pflegen nicht unter eben diesen, wenn sie

auch edel sind, einige besonders vorzüglich zu sein

und zu werden?

Freilich.

Nimmst du nun alle gleicherweise zur Zucht, oder

wählst du dazu womöglich die Vorzüglichsten?

Letzteres.

Und dann, die jüngsten oder die ältesten oder möglichst

die im besten Alter?

Die letzteren.

Und wenn die Zucht nicht so vor sich geht, glaubst

du, daß dir die Gattung von Geflügel und von Hunden

viel schlechter ausfällt?

Freilich, sagte er.

Was meinst du aber von den Pferden und den übrigen

Tieren? Daß es sich irgendwie anders verhalte?

Das wäre denn doch ungereimt, meinte er.

Potztausend, mein lieber Freund, rief ich aus, wie

Platon: Der Staat 282

sehr müssen da unsere Regierenden ausgezeichnet

sein, wofern es sich auch bei demMenschengeschlechte

ebenso verhält!

Aber es verhält sich so, versetzte er; doch was

willst du damit sagen?

Daß sie viele Heilmittel in Anwendung bringen

müssen, antwortete ich. Für einen Leib nun, der keiner

Heilmittel bedarf, sondern nur die Befolgung einer

gewissen Lebensweise angeraten haben will, genügt,

glauben wir, auch ein minder guter Arzt; wofern es

aber schon der Heilmittel bedarf, so wissen wir, daß

ein herzhafterer Arzt nötig ist.

Es ist wahr; aber wozu sagst du das?

Zu folgendem, erwiderte ich: Es scheint uns, daß

die Regierenden viel Lug und Betrug werden anwenden

müssen zum Besten der Regierten; denn wir

haben ja gesagt, daß als Heilmittel alles Derartige

nützlich sei.

Und das mit Recht, bemerkte er.

Bei den Vermählungen nun und dem Kinderzeugen

scheint dieses »Recht« nicht zum mindesten zur Anwendung

zu kommen.

Wieso?

Es müssen ja nach dem Zugegebenen die besten

Männer den bestenWeibern möglichst oft beiwohnen,

und die schlechtestenMänner den schlechtesten Weibern

möglichst selten, und die Kinder der einen muß

Platon: Der Staat 283

man aufziehen, die der andern aber nicht, wenn die

Herde möglichst vorzüglich sein soll; und alles dies

muß geschehen, ohne daß es jemand außer den Regierenden

selbst bemerkt, wenn andererseits die Herde

derWächter möglichst frei von innerem Zwist sein

soll.

Ganz richtig, sagte er.

Es werden denn gewisse Feste vorzuschreiben sein,

bei denen wir die Bräute und die Bräutigame zusammenbringen

werden, und Opfer, und unsere Dichter

werden für die Vermählungen passende Gesänge zu

machen haben. Die Zahl der Vermählungen aber werden

wir die Regierenden bestimmen lassen, damit sie

möglichst die gleiche Zahl von Männern erhalten,

indem sie auf Kriege und Krankheiten und alles Derartige

Rücksicht nehmen, so daß uns der Staat womöglich

weder zu groß noch zu klein werde.

Richtig, sagte er.

Da werden dann, glaube ich, kluge Lose zu machen

sein, damit jener Schlechte bei jeder Verbindung der

Paare auf den Zufall, aber nicht auf die Regierenden

die Schuld schiebe.

Allerdings, versetzte er.

Und denjenigen unter den jungen Männern, die im

Kriege oder sonstwo sich tüchtig erweisen, muß man

unter andern Auszeichnungen und Preisen wohl auch

die häufigere Erlaubnis, beiWeibern zu schlafen,

Platon: Der Staat 284

erteilen, damit zugleich auch unter diesem Vorwand

möglichst viele Kinder von solchen gezeugt werden.

Richtig.

Und wie die Kinder geboren sind, übernehmen sie

allemal die hierüber gesetzten Behörden aus Männern

oder Weibern oder aus beiden; denn gemeinsam für

Weiber und Männer sind ja auch die Ämter?

Ja.

Die von den Tüchtigen dann werden sie, denke ich,

nehmen und sie in eine bestimmte Anstalt bringen zu

Wärterinnen, die in einem gewissen Teile der Stadt

abgesondert wohnen; die von den Schlechteren aber,

und wenn etwa von den andern eines gebrechlich zur

Welt kommt, werden sie an einem geheimen und unbekannten

Orte verbergen, wie sich’s geziemt.

Freilich, versetzte er, wofern das Geschlecht der

Wächter rein bleiben soll.

Auch für die Nahrung dann werden diese Sorge tragen,

indem sie die Mütter in jeneWohnung bringen,

wenn sie volle Brüste haben, aber jede Vorkehrung

treffen, daß keine ihr Kind zu sehen bekommt: und

wenn diese nicht zureichen, so werden sie andere

Weiber, die Milch haben, herbeischaffen; und bei diesen

selbst werden sie dafür sorgen, daß sie eine gehörige

Zeit säugen, das Nachtwachen aber und die andern

Mühseligkeiten werden sie den Ammen und

Wärterinnen zuweisen? Da machst du den Frauen der

Platon: Der Staat 285

Wächter das Kinderbekommen gar leicht, bemerkte

er.

So gebührt sich’s auch, versetzte ich. Aber verfolgen

wir dasWeitere, was wir im Sinne haben! Wir

haben doch wohl gesagt, daß die Kinder von solchen

Menschen kommen müssen, die im besten Alter stehen?

Allerdings.

Bist du nun mit mir einverstanden, daß die rechte

Zeit des besten Alters bei demWeibe zwanzig und

bei demManne dreißig Jahre sind?

In welcher Beziehung das? fragte er.

BeimWeibe vom zwanzigsten bis zum vierzigsten,

um für den Staat zu gebären, beimManne aber von da

an, wo er des Laufes schärfste Höhe hinter sich hat,

bis zu seinem fünfundfünfzigsten Jahre, zu zeugen für

den Staat.

Wenigstens, versetzte er, ist das bei beiden der Höhepunkt

der körperlichen und geistigen Entwicklung.

Wenn daher einer, der über oder unter diesem Alter

ist, an den Zeugungen für den Staat teilnimmt, so

werden wir das Vergehen als sündhaft und ungerecht

bezeichnen, weil er in dem Staate ein Kind pflanzt,

das, wenn er unentdeckt bleibt, zurWelt kommen

wird, ohne unter Opfern und Gebeten erzeugt zu sein,

die bei jeder Vermählung Priesterinnen und Priester

und der gesamte Staat darbringen werden, auf daß

Platon: Der Staat 286

von Guten bessere und von Nützlichen noch nützlichere

Nachkommen jedesmal entstehen mögen, sondern

eine Frucht der Finsternis und schwerer Unenthaltsamkeit.

Richtig, sagte er.

Dasselbe Gesetz, fuhr ich fort, gilt, wenn einer der

noch zeugenden Männer, ohne daß die Obrigkeit die

Verbindung eingeleitet hätte, eines derWeiber im gesetzlichen

Alter berührt; denn wir werden von ihm

sagen, daß er ohne Ehe und Verlöbnis undWeihe ein

Kind in den Staat bringe.

Ganz richtig, bemerkte er.

Wenn dann aber, denke ich, dieWeiber und Männer

über das Alter des Zeugens hinaus sind, so werden

wir ihnen Freiheit lassen beizuwohnen, wem sie

wollen, außer einer Tochter und Mutter und ihren Enkelinnen

und den Töchtern ihrer Großmutter, und andererseits

denWeibern jedem, außer einem Sohne und

Vater und aufwärts und abwärts von diesen; und zwar

dies alles erst, nachdem wir sie aufgefordert haben,

am liebsten dafür zu sorgen, daß die Frucht, wenn sie

erzeugt ist, gar nicht das Licht erblicke, wofern es

aber nicht verhindert werden kann, es so zu halten, als

gäbe es keine Nahrung für einen solchen.

Was du da sagst, ist in der Ordnung, erklärte er;

aber wie werden sie ihre Väter und Töchter, und was

du sonst noch eben genannt hast, zu unterscheiden

Platon: Der Staat 287

wissen?

Durchaus nicht, erwiderte ich; sondern alle Kinder,

die im zehnten oder auch siebenten Monate, von dem

Tage an gerechnet, wo er Bräutigam geworden ist, zur

Welt kommen, diese alle wird er, die Knaben Söhne

und die Mädchen Töchter nennen und jene ihn Vater,

und sodann deren Nachkommen Enkel, und diese andererseits

sie Großväter und Großmütter, und was in

der Zeit geboren wurde, wo ihre Mutter und Vater

zeugten, Schwestern und Brüder, so daß sie, wie wir

eben sagten, einander nicht berühren. Brüder und

Schwestern aber wird das Gesetz einander beiwohnen

lassen, wofern das Los so fällt und die Pythia ihre Bestätigung

erteilt.

Ganz richtig, erklärte er.

Dies und von dieser Art wäre denn also, mein

Glaukon, die Gemeinschaft der Weiber und Kinder

bei denWächtern deines Staates; daß sie aber an die

übrige Staatsverfassung sich anschließe und bei weitem

die beste sei, müssen wir jetzt nach diesem von

der Erörterung bestätigen lassen: oder wie wollen wir

es machen?

So, beim Zeus, antwortete er.

Ist nun nicht dies der Anfang der Verständigung,

daß wir uns selbst sagen, was wir wohl als das größte

Gut hinsichtlich der Gründung eines Staates zu bezeichnen

wissen, mit Rücksicht auf dessen Erzielung

Platon: Der Staat 288

der Gesetzgeber die Gesetze geben muß, und was als

das größte Übel, und daß wir dann zusehen, ob uns

das, was wir durchgegangen haben, in die Spur des

Guten hineinpaßt, nicht aber in die des Schlechten?

Bei weitem am ehesten, erwiderte er.

Wissen wir nun ein größeres Übel für den Staat als

das, was ihn zerreißt und aus einem viele macht?

Oder ein größeres Gut als das, was verbindet und eins

macht?

Wir wissen keines.

Verbindet nun aber nicht die Gemeinsamkeit von

Freude und Leid, wenn möglichst alle Staatsangehörigen

beimWerden und Vergehen des nämlichen gleicherweise

Freude und Leid empfinden?

Allerdings.

Dagegen trennt die Verschiedenheit in derartigem,

wenn über die nämlichen Erlebnisse des Staates und

seiner Angehörigen ein Teil großen Schmerz, der andere

große Freude empfindet?

Freilich.

Entsteht aber solches nicht daraus, wenn im Staate

solcheWörter wie »Mein« und »Nichtmein« nicht zusammen

ausgesprochen werden, und ebenso in betreff

des Fremden?

Allerdings.

Derjenige Staat also, in welchem die meisten in

bezug auf das nämliche gleicherweise dieses »Mein«

Platon: Der Staat 289

und »Nichtmein« aussprechen, der ist am besten eingerichtet?

Bei weitem.

Und derjenige also, der einem einzelnen Menschen

am nächsten kommt? Z.B. wenn etwa einem von uns

der Finger verwundet wird, so empfindet es die ganze

Gemeinschaft, die durch den Leib hin sich zur Seele

erstreckt zu der einheitlichen Zusammenfassung des

in ihr Regierenden, und hat überall gleichzeitig als

Ganzes Schmerz, wenn ein Teil leidet, und so sagen

wir denn, daß den Menschen der Finger schmerze;

und von allem anderen amMenschen gilt dasselbe, in

bezug auf den Schmerz, wenn ein Teil leidet, und in

bezug auf die Lust, wenn er besser wird.

Freilich dasselbe, antwortete er; und, wonach du

fragst, einem solchen am nächsten kommt der am besten

eingerichtete Staat.Wenn also, glaube ich, einem

Einzelnen unter den Staatsgliedern irgend etwas

Gutes oder Schlimmes begegnet, so wird ein solcher

Staat am ehesten sagen, daß es sein Erlebnis sei, und

wird sich als Ganzes mitfreuen oder mitbetrüben?

Das ist notwendig, versetzte er, wenigstens bei

einem wohleingerichteten.

Es wird Zeit sein, sagte ich, daß wir auf unseren

Staat zurückkommen und in bezug auf die Ergebnisse

unserer Erörterung in ihm nachsehen, ob er selbst am

meisten sie hat oder noch ein anderer in höherem

Platon: Der Staat 290

Grade.

Das muß allerdings sein, sprach er.

Wie nun? Regierende und Volk gibt es doch wohl

wie in andern Staaten so auch in diesem?

Ja.

Diese alle werden einander Mitbürger nennen?

Freilich.

Wie nennt aber in den übrigen das Volk die Regierenden

sonst noch, außer »Mitbürger«?

In den meisten »Herrscher«, in den demokratisch

eingerichteten aber eben mit diesem Namen »Regierung

«.

Was tut aber das Volk in dem unsrigen? Wie nennt

es die Regierenden außer »Mitbürger«?

Erhalter und Helfer, antwortete er.

Und diese das Volk?

Lohngeber und Ernäher.

Dagegen in den andern die Regierenden das Volk?

Knechte, erwiderte er.

Und die Regierenden einander?

Mitregierende.

Aber die unsrigen?

Mitwächter.

Kannst du nun sagen, ob von den Regierenden in

den andern Staaten einer den einen von seinen Mitregierenden

als Angehörigen bezeichnen kann, den andern

als Fremden?

Platon: Der Staat 291

Freilich viele.

Den Angehörigen also betrachtet und bezeichnet er

als den Seinigen, den Fremden als nicht den Seinigen?

So ist’s.

Wie ist’s aber bei deinenWächtern? Könnte einer

von ihnen einen seiner Mitwächter als Fremden ansehen

oder benennen?

Durchaus nicht, versetzte er; denn wen immer einer

treffen wird, jedesmal wird er einen Bruder oder eine

Schwester oder einen Vater oder eine Mutter oder

einen Sohn oder eine Tochter oder einen Nachkommen

oder Vorfahren von diesen zu treffen glauben.

Sehr schön gesprochen, bemerkte ich; aber sage

auch noch dies: Wirst du ihnen bloß die Namen als

Angehörige vorschreiben, oder daß sie auch alle

Handlungen den Namen gemäß verrichten, sowohl

hinsichtlich der Väter alles tun, was Brauch ist gegenüber

von Vätern in bezug auf Ehrerbietung und Fürsorge

und pflichtmäßigen Gehorsam gegen die Eltern,

oder sonst weder von den Göttern noch von den Menschen

etwas Gutes erwarten, da er sowohl sündhaft

als ungerecht handeln würde, wenn er anders handelte

als so? Werden solche oder andere Sprüche aus dem

Munde aller Bürger dir gleich um die Ohren der Kinder

erschallen sowohl hinsichtlich der Väter, die man

ihnen bezeichnet, als in betreff der übrigen Verwandten?

Platon: Der Staat 292

Diese, antwortete er; denn es wäre lächerlich, wenn

sie ohne Handlungen die Namen von Angehörigen

nur mit demMunde aussprächen.

Unter allen Staaten also werden sie in diesem,

wenn es einem Einzelnen gut oder schlecht geht, am

meisten einstimmig sein in dem Rufe, von dem wir

vorhin sprachen: »DemMeinigen geht es gut«, oder

»DemMeinigen geht es schlecht«.

Sehr wahr, sagte er.

Haben wir nun nicht gesagt, daß aus dieser Ansicht

und Ausdrucksweise sich die Gemeinsamkeit von

Freude und Leid von selbst ergebe?

Und zwar haben wir das mit Recht gesagt.

So werden also uns die Staatsglieder am meisten an

dem nämlichen teilhaben, was sie dann »Mein« nennen

werden? Haben sie aber an diesem teil, so werden

sie demgemäß am meisten Gemeinschaft von Leid

und Freude haben?

Bei weitem.

Ist nun nicht Ursache hiervon außer der übrigen

Einrichtung die Gemeinschaft der Weiber und Kinder

bei denWächtern?

Bei weitem am meisten, antwortete er.

Nun aber haben wir zugegeben, daß dies das größte

Gut für einen Staat sei, indem wir einen gut eingerichteten

Staat mit einem Leibe verglichen, wie sich

dieser zu einem seiner Teile hinsichtlich von Schmerz

Platon: Der Staat 293

und Lust verhält.

Und zwar haben wir das mit Recht zugegeben, versetzte

er.

So hat sich uns also die Gemeinschaft der Kinder

undWeiber bei den Helfern als Ursache des größten

Gutes für die Gemeinde erwiesen.

Allerdings, erwiderte er.

Und auch mit dem Früheren sind wir in Übereinstimmung:

denn wir haben ja gesagt, daß diese weder

eigene Häuser haben dürfen noch Land noch sonst ein

Besitztum, sondern sie sollen als Lohn ihres Wachens

von den andern Nahrung bekommen und sie alle gemeinschaftlich

verbrauchen, wenn sie inWahrheit

Wächter sein sollen.

Mit Recht, antwortete er.

Macht nun also nicht, wie gesagt, das früher Besprochene

und das jetzt Erörterte sie noch mehr zu

wahrenWächtern und bewirkt, daß sie den Staat nicht

zerreißen, indem sie nicht das nämliche »Mein« nennen,

sondern jeder etwas anderes, indem der eine in

sein Haus schleppt, was er immer abgesondert von

den andern besitzen kann, der andere in das seinige

von jenem verschiedene, und Frau und Kinder nicht

dieselben nennen, sondern eigene haben und damit eigene

Freuden und Schmerzen einführen, sondern daß

sie eines Sinnes in betreff des Angehörigen alle nach

demselben Ziele streben und möglichst gleichen

Platon: Der Staat 294

Schmerz und Freude erfahren?

Freilich gar sehr, erwiderte er.

Und dann, Rechtshändel und Anklagen gegen einander,

– werden sie aus ihrer Mitte nicht fast ganz verschwinden,

weil keiner etwas Eigenes besitzt als den

Leib, alles andere aber gemeinsam, daher diese ohne

all die Zwiste sind, die um den Besitz von Geld oder

Kindern oder Verwandten entstehen?

Ganz notwendig müssen sie davon befreit sein, versetzte

er.

Und ebensowenig werden ferner von Rechts wegen

Rechtshändel wegen Gewalttätigkeit oder Mißhandlung

unter ihnen stattfinden; denn daß ein Altersgenosse

gegen den andern sich verteidigt, werden wir

doch als schön und erlaubt bezeichnen, indem wir der

Sorge für den Leib Notwendigkeit zuerkennen.

Richtig, sagte er.

Denn auch dieses Richtige hat dieses Gesetz, fuhr

ich fort: wenn etwa einer gegen einen andern erzürnt

ist, so wird er an einem solchen seinen Zorn auslassen

und dann weniger zu größeren Unordnungen schreiten.

Allerdings.

Einem Älteren wird doch wohl aufgetragen werden,

über alle Jüngeren zu gebieten und sie zu bestrafen?

Offenbar.

Und dann, daß ein Jüngerer einen Älteren, wofern

Platon: Der Staat 295

nicht Regierende es befehlen, zu schlagen oder sonstwie

zu mißhandeln nie sich erlauben wird, ist natürlich;

und ich glaube, auch nicht auf andere Weise

wird er ihn verunglimpfen: denn stark genug sind die

beidenWächter, die es verhindern: die Furcht und die

Scheu; die Scheu, indem sie von der Berührung dieser

als ihrer Eltern abhält, und die Furcht, es möchten

dem Beleidigten die andern beistehen, die einen als

Söhne, die andern als Brüder, noch andere als Väter.

Allerdings geht es so, bemerkte er.

In jeder Beziehung also werden die Männer infolge

der Gesetze Frieden unter einander halten?

Jawohl, vollkommen.

Wenn nun aber diese nicht unter einander im Zwist

sind, so hat es keine Gefahr, daß der übrige Staat mit

ihnen oder unter sich uneins werde.

Allerdings nicht.

Die ganz kleinen Übel aber, deren sie überhoben

wären, zögere ich wegen ihrer Unschicklichkeit auch

nur zu nennen, wie Schmeicheleien gegen die Reichen,

wenn man arm ist, und alle die Verlegenheiten

und Schmerzen, die sie bei der Kindererziehung und

dem Gelderwerb zur notwendigen Erhaltung ihrer

Hausgenossen haben, indem sie bald Geld borgen,

bald ableugnen, bald auf irgend andereWeise es sich

verschaffen und es bei Frauen und Gesinde niederlegen

und es ihnen zur Verwaltung übergeben, und was

Platon: Der Staat 296

sie alles sonst noch, mein Lieber, in dieser Beziehung

erleiden, das ja allbekannt und gemein und des Erwähnens

nicht wert ist.

Das sieht sogar ein Blinder ein, bemerkte er.

Von allem diesem also werden sie frei sein und

werden ein seliges Leben führen, noch seliger als das

der olympischen Sieger.

Wieso?

Das, um dessen willen man jene glücklich preist,

ist nur ein kleiner Teil von dem, was diese haben;

denn deren Sieg ist schöner, ihr Unterhalt aus öffentlichen

Mitteln vollständiger. Denn der Sieg, den sie

siegen, ist dieWohlfahrt des ganzen Staates, und mit

Unterhalt und allem übrigen, was nur das Leben bedarf,

werden sie selbst und ihre Kinder bekränzt, und

während ihres Lebens empfangen sie Auszeichnungen

von ihrem Staate, und nach ihrem Tode wird ihnen

würdige Bestattung zuteil.

Das sind gewiß schöne Dinge, versetzte er.

Erinnerst du dich nun, fuhr ich fort, daß im Vorhergehenden

ich weiß nicht wessen Bemerkung uns getadelt

hat, daß wir dieWächter nicht glücklich machen,

da sie alles Eigentum der Bürger haben könnten und

nichts haben? Wir aber erwiderten ungefähr, wenn es

sich gelegentlich treffe, wollen wir dies ein anderes

Mal untersuchen, für jetzt aber machen wir dieWächter

zuWächtern, den Staat aber so glücklich, als wir

Platon: Der Staat 297

nur vermöchten, nicht aber berücksichtigen wir eine

einzelne Klasse in ihm und bilden diese glücklich?

Ich erinnere mich, antwortete er.

Wie nun? Glauben wir jetzt, daß das Leben der

Helfer, das sich als weit schöner und besser erwiesen

hat als das der olympischen Sieger, den Vergleich

nicht aushalte mit dem Leben der Schuster oder irgend

welcher anderer Handwerker oder mit dem der

Landleute?

Ich glaube nicht, erwiderte er.

Indessen, was ich schon damals sagte, muß ich

auch jetzt wiederholen, daß, wenn derWächter in solcherWeise

glücklich zu sein versuchen wird, daß er

gar nichtWächter ist, und wenn ihm dieses mäßige

und geregelte Leben, wie wir es als das beste bezeichnet

haben, nicht genügt, sondern eine unverständige

und knabenhafte Vorstellung vom Glücke ihn befällt

und ihn treibt, vermöge seiner Kraft alles im Staate

sich zu eigen zu machen, so wird er erfahren, daß Hesiod

wirklich weise war, wenn er sagte, daß die Hälfte

eigentlich mehr sei als das Ganze.

Wenn er mich zu Rate zieht, versetzte er, so wird er

bei diesem Leben bleiben.

Du bist also einverstanden, sagte ich, mit der beschriebenen

Gemeinschaft der Weiber mit den Männern

hinsichtlich der Bildung und der Kinder und der

Bewachung der übrigen Bürger, daß sie in der Stadt

Platon: Der Staat 298

bleibend wie in den Krieg ziehend mithüten müssen

und mitjagen wie Hunde und überhaupt an allem

überall möglichst Anteil haben, und daß sie, wenn sie

dies tun, das Beste tun und nicht der Natur desWeibes

in Vergleich zu der des Mannes zuwiderhandeln

werden, vermöge der sie bestimmt sind, zu einander

in Gemeinschaft zu treten?

Ich bin damit einverstanden, antwortete er.

So ist also, fuhr ich fort, das noch übrig zu erörtern,

ob es denn auch unter den Menschen wie unter

anderenWesen möglich ist, daß diese Gemeinschaft

stattfinde, und auf welcheWeise es möglich ist?

Du bist, versetzte er, dem zuvorgekommen, was ich

zur Sprache bringen wollte.

Hinsichtlich der Angelegenheiten des Kriegs nämlich

ist, glaube ich, klar, aufweicheWeise sie ihn führen

werden.

Wie? fragte er.

Daß sie gemeinsam ins Feld ziehen und dazu noch

von den Kindern alle, die stark genug sind, mit in den

Krieg nehmen werden, damit sie wie die andern

Handwerker dem zusehen, was sie erwachsen werden

ausüben müssen; außer dem Zuschauen aber auszuheilen

und an die Hand zu gehen in bezug auf alles,

was zum Kriege gehört, und ihre Väter und Mütter zu

bedienen. Oder hast du nicht bemerkt, wie es bei den

Künsten geht: z.B. die Kinder von Töpfern, wie lange

Platon: Der Staat 299

Zeit sie Zuschauer und Handlanger sind, ehe sie selbst

Töpfe zu machen versuchen?

Allerdings.

Müßten nun jene sorgfältiger als dieWächter die

Ihrigen bilden durch Erfahrung und Anschauen des

Erforderlichen?

Das wäre ja doch lächerlich, erwiderte er.

Nun wird aber doch wohl auch jedes Lebendige

ganz vorzüglich kämpfen, wenn diejenigen anwesend

sind, die es geboren hat.

Es ist wirklich so. Aber, Sokrates, die Gefahr ist

nicht klein, daß sie, wenn ihnen ein Unfall begegnet,

dergleichen im Kriege ja gern vorkommen, außer sich

selbst auch noch ihre Kinder ins Verderben stürzen

und auch den übrigen Staat außerstand setzen, sich

wieder zu erholen.

Du hast recht, antwortete ich. Aber glaubst du, fürs

erste man müsse Vorsorge treffen, daß ja alle Gefahr

vermieden werde?

Keineswegs.

Wenn denn also überhaupt Gefahr bestanden werden

muß, ist es nicht solche, durch deren glückliches

Bestehen sie besser werden?

Freilich offenbar.

Aber glaubst du, daß es einen kleinen Unterschied

mache und die Gefahr nicht verlohne, ob diejenigen,

welche kriegerische Männer werden sollen, als

Platon: Der Staat 300

Knaben bei den Geschäften des Kriegs zusehen oder

nicht?

Nein, sondern es macht einen Unterschied bei dem,

was du sagst.

Daß muß demnach der Fall sein, daß man die Kinder

zu Zuschauern beim Kriege macht, dazu aber

ihnen Sicherheit verschafft: so wird es gut sein; nicht

wahr?

Ja.

Also fürs erste werden ihre Väter, soweit es menschenmöglich

ist, nicht einsichtslos sein, sondern die

Feldzüge zu unterscheiden wissen, die gefährlich sind

und nicht?

Natürlich, versetzte er.

In die einen also werden sie sie mitnehmen, in die

andern aber sie mitzunehmen werden sie sich hüten.

Richtig.

Und als Aufseher, sagte ich, werden sie doch wohl

nicht die Schlechtesten über sie setzen, sondern die,

welche durch Erfahrung und Alter imstande sind,

Führer und Leiter der Knaben zu sein.

So geziemt’s sich auch.

Aber freilich, werden wir sagen, auch wider Erwarten

ist ja schon manchem manches begegnet.

Allerdings.

Für solche Fälle denn, mein Lieber, muß man sie

gleich als Kinder beflügeln, damit sie nötigenfalls

Platon: Der Staat 301

davonfliegen können.

Wie meinst du das? fragte er.

Auf die Pferde, war meine Antwort, muß man sie

so jung als möglich bringen und, wenn man sie reiten

gelehrt hat, auf Pferden sie mitnehmen zum Zuschauen,

nicht auf wilden noch kampflustigen, sondern auf

möglichst schnellfüßigen und lenksamen; denn so

werden sie am besten ihrem Geschäfte zuschauen und

am sichersten erforderlichen Falles sich retten, indem

sie ihren älteren Führern nachfolgen.

Du scheinst mir recht zu haben.

Wie ist es nun aber, sagte ich, mit dem, was den

Krieg betrifft? Wie haben sich deine Krieger zu verhalten

gegen einander und gegen die Feinde? Habe

ich eine richtige Ansicht davon oder nicht?

Sage, erwiderte er, welche?

Wer von ihnen, versetzte ich, seinen Platz verläßt

oder dieWaffen wegwirft oder sonst etwas Derartiges

aus Feigheit tut, – muß man ihn nicht zu einem Handwerker

machen oder einem Ackerbauer?

Allerdings.

Wer aber lebendig in die Gefangenschaft der Feinde

gerät, – muß man ihn nicht als Geschenk geben an

solche, die Lust dazu haben, um mit ihrem Fange zu

machen, was sie wollen?

Freilich.

Wer sich aber ausgezeichnet und Beifall erworben

Platon: Der Staat 302

hat, meinst du nicht, daß ihm fürs erste im Feldzuge

von den daran teilnehmenden Jünglingen und Knaben

der Reihe nach von jedem ein Kranz gereicht werden

müsse? Oder nicht?

O ja.

Und wie? Auch ein Handschlag?

Auch dies.

Aber mit folgendem, sagte ich, wirst du wohl nicht

mehr einverstanden sein?

Womit?

Mit dem Küssen und Geküßtwerden von jedem.

Damit am allermeisten, antwortete er, und ich

mache noch den Zusatz zu dem Gesetze, für die Zeit,

wo sie in diesem Feldzuge sind, daß keinem, den er

küssen will, gestattet sein soll, es zu verweigern,

damit auch, falls einer etwa einen Geliebten hat oder

eine Geliebte, er um so eifriger sei, nach dem Preise

der Tapferkeit zu trachten.

Schön, sagte ich. Denn daß für einen, der tüchtig

ist, mehr Heiratsangelegenheiten bereit sind als für

die anderen, und daßWahlen auf solche oft mit Übergebung

der anderen fallen werden, damit möglichst

viele von einem solchen erzeugt werden, ist schon gesagt.

Allerdings haben wir’s bemerkt, versetzte er.

Aber wahrlich, auch in homerischer Weise mit dem

folgenden müssen wir billig unter den Jüngeren alle

Platon: Der Staat 303

diejenigen ehren, die tüchtig sind. Homer nämlich hat

gesagt, daß Aias, der sich im Kampfe ausgezeichnet

hatte, mit langausreichendem Rücken geehrt worden

sei, in der Voraussetzung, daß für den jugendlich

Kräftigen und Tapfern das der angemessene Ehrenlohn

sei, wodurch er gleichzeitig mit der Auszeichnung

auch eine Vermehrung seiner Stärke gewinne.

Ganz richtig, bemerkte er.

Wir werden also, sagte ich, darin dem Homer folgen.

Denn auch wir werden bei Opfern und allen Gelegenheiten

dieser Art die Tüchtigen, in demMaße als

sie sich tüchtig erweisen, mit Lobliedern und dem soeben

Genannten ehren, und überdies mit Sitzen und

Gaben an Fleisch und gefülleten Bechern, damitwir

gleichzeitig mit dem Auszeichnen die tüchtigen Männer

undWeiber kräftigen.

Ganz schön gesagt, bemerkte er.

Nun gut; aber unter denen dann, die im Felde gestorben

sind, – werden wir nicht von denjenigen, die

einen ruhmvollen Tod gefunden, fürs erste sagen, daß

sie zum goldenen Geschlechte gehören?

Freilich unfehlbar.

Aber werden wir nicht dem Hesiod glauben, wenn

von solchem Geschlechte etwelche sterben, daß dann

Heilige Schutzgottheiten umher auf der Erde sie

werden,

Platon: Der Staat 304

Hilfreich, Wehrer des Übels, Behüter der redenden

Menschen – ?

Allerdings werden wir es glauben.

Wir werden also beim Gotte anfragen, in welcher

Weise und mit welcher Auszeichnung man die Heiligen

und Göttlichen bestatten solle, und werden dann

sie so und in der Art bestatten, wie Er es anweist?

Warum sollten wir nicht?

Und in Zukunft werden wir dann ihren Grabstätten

solche Verehrung und Huldigung beweisen wie denen

von Schutzgöttern? Und wir werden es ganz ebenso

halten, auch wenn vor Alter oder auf eine andre Weise

gestorben ist einer von denen, die für ausgezeichnet

gut im Leben erachtet worden sind?

Recht ist das jedenfalls, antwortete er.

Weiter: gegen die Feinde, wie werden da unsere

Krieger verfahren?

In welcher Beziehung denn?

Fürs erste hinsichtlich der Leibeigenschaft: hältst

du für billig, daß Hellenen hellenische Staaten zu

leibeigenen machen, oder daß sie auch anderen nach

Möglichkeit es nicht gestatten und dies zur Gewohnheit

machen, das hellenische Geschlecht zu schonen

und vor der Knechtung durch Ausländer sich zu

hüten?

Ganz und gar den Vorzug verdient das Schonen,

Platon: Der Staat 305

versetzte er.

Also auch selber keinen Hellenen zum Knechte zu

haben und den andern Hellenen in dieser Richtung zu

raten?

Freilich, erwiderte er; dann würden sie sich mehr

gegen die Ausländer wenden, einander aber in Ruhe

lassen.

Weiter, fuhr ich fort, den Gefallenen, wenn man gesiegt

hat, auch das andere auszuziehen außer den

Waffen, – ist das in der Ordnung? Oder bietet es nicht

den Feigen einen Vorwand, nicht gegen die Kämpfenden

zu gehen, als würden sie eine Pflicht erfüllen,

wenn sie am Toten herum sich betätigten? Und hat

nicht solches Plündern schon vielen Heeren den Untergang

gebracht?

Jawohl.

Scheint es ferner nicht unehrenhaft und habgierig,

einen Leichnam zu berauben, und ein Zeichen von

weibischer und kleinlicher Denkweise, für den Feind

zu halten den Leib des Toten, nachdem der Widersacher

entflogen und nur das übriggeblieben ist, womit

er Feindseligkeiten übte? Oder meinst du, wer dies

tut, handle anders als die Hunde, die über die Steine,

womit sie geworfen wurden, ergrimmt sind, an den

Werfenden aber sich nicht heranmachen?

Auch nicht im geringsten, antwortete er.

Unterlassen muß man also das Berauben der

Platon: Der Staat 306

Leichen und das Verwehren derWegschaffung?

Freilich, beim Zeus, muß man’s unterlassen, sagte

er.

Auch werden wir schwerlich dieWaffen in die

Tempel bringen, um sie alsWeihgeschenke aufzuhängen,

zumal die von Hellenen, wofern wir Wert legen

auf die gute Gesinnung gegen die andern Hellenen;

vielmehr werden wir fürchten, es möchte eine Verunreinigung

sein, dergleichen von den eigenen Angehörigen

in den Tempel zu bringen, wofern nicht etwa der

Gott etwas anderes verfügt.

Ganz richtig, bemerkte er.

Weiter: in bezug auf Verheerung hellenischen Landes

und das Anzünden von Häusern, – was werden

deine Krieger tun gegenüber den Feinden?

Deine Meinung, versetzte er, möchte ich darüber

gern vernehmen.

Nun denn, ich meine, sprach ich, man sollte von

diesen beiden keines tun, sondern nur den Jahresertrag

an Früchten wegnehmen; und soll ich dir sagen,

warum?

Jawohl.

Mir scheint, daß Krieg und Zwist, wie sie diese

zweierlei Benennungen haben, so auch zweierlei Begriffe

sind und zweierlei Arten von Streit bedeuten;

ich meine nämlich die beiden, einerseits das Zusammengehörige

und Verwandte, andererseits das

Platon: Der Staat 307

Auswärtige und Fremdländische: Feindschaft von Zusammengehörigem

nennt man Zwist, die des Auswärtigen

aber Krieg.

Und wirklich ist gar nicht fehlgeschossen, was du

sagst, erwiderte er.

So sieh denn auch zu, versetzte ich, ob folgendes

gutgeschossen ist, was ich sage: Ich behaupte nämlich,

daß das hellenische Geschlecht unter sich selbst

zusammengehörig und verwandt ist, dem ausländischen

gegenüber aber fremdländisch und auswärtig.

Schön, bemerkte er.

Wenn also Hellenen mit Ausländern und Ausländer

mit Hellenen kämpfen, so werden wir sagen, daß sie

Krieg führen und daß sie von Natur Feinde seien, und

diese Feindschaft muß man Krieg nennen; wenn Hellenen

aber gegenüber Hellenen etwas Derartiges tun,

werden wir zeigen, daß von Natur sie Freunde seien,

daß aber Hellas in solchem Falle krank und zwistig

sei, und solche Feindschaft müsse Zwist genannt werden.

Ich gebe zu, erwiderte er, daß es so Brauch ist.

Erwäge denn, fuhr ich fort, wie in einem jetzt insgemein

als Zwist anerkannten Falle, wo etwas der Art

geschieht und ein Staat entzweit ist, falls jeder Teil

des anderen Acker verwüstet und seine Häuser anzündet,

der Zwist im höchsten Grade sündhaft und keinem

von beiden Teilen als patriotisch erscheint; denn

Platon: Der Staat 308

nimmer würden sie sonst sich unterfangen, an ihrer

Ernährerein undMutter sich zu vergreifen; vielmehr

scheint es das rechte Maß, wenn die Stärkeren den

Schwachem nur die Früchte wegnehmen und bedenken,

daß sie sich wieder versöhnen und nicht ewig

Krieg führen werden.

Weit mehr, versetzte er, paßt für Gesittete solche

Denkweise als jene.

Wie nun? sagte ich; wird der Staat, den du gründest,

nicht ein hellenischer sein?

Freilich muß er es sein, war seine Antwort.

Werden seine Mitglieder also nicht gut und gesittet

sein?

Sicherlich.

Aber nicht auch hellenenfreundlich? Und werden

sie nicht Hellas für verwandt halten und die gleichen

Heiligtümer haben wie die andern?

Auch dies sicher.

Werden sie also nicht den Streit mit Hellenen, als

mit Angehörigen, als einen »Zwist« betrachten und

auch nicht »Krieg« nennen?

Nein.

Und werden sie also den Streit führen mit dem Gedanken,

daß sie sich wieder versöhnen werden?

Freilich.

Wohlmeinend werden sie denn zur Ordnung bringen,

ohne auf Leibeigenschaft auszugehen bei der

Platon: Der Staat 309

Bestrafung oder auf Untergang, da sie Lehrer der Ordnung

sind, nicht Feinde.

So ist es, sagte er.

Also werden sie auch nicht als Hellenen sich an

Hellenen vergreifen, noch auchWohnungen in Brand

stecken, noch in jedem Staate alle als ihre Feinde betrachten,

Männer wie Frauen und Kinder, sondern

immer nur wenige für Feinde halten, die Urheber des

Streites. Und aus allen diesen Gründen werden sie

weder an deren Land sich vergreifen mögen, da die

meisten ihre Freunde sind, noch die Häuser zerstören,

sondern nur so weit den Streit treiben, bis die Schuldigen

von den leidenden Unschuldigen Strafe zu erleiden

gezwungen werden.

Ich bin einverstanden, erwiderte er, daß unsere

Staatsglieder in solcherWeise mit ihren Gegnern verfahren

müssen, mit den Ausländern aber so, wie jetzt

die Hellenen mit einander.

Wollen wir denn auch dieses als Gesetz für die

Wächter annehmen, daß sie weder Land verwüsten

noch Häuser in Brand stecken?

Ja, wir wollen es, antwortete er, und daß dies sowohl

als das Vorhergehende gut sei. – Aber höre, Sokrates,

ich glaube, wenn man dich in dieser Weise

fortreden läßt, so wirst du gar nie an das denken, was

du im Früheren beiseite geschoben und wofür du dieses

alles gesprochen hast: die Frage, ob diese

Platon: Der Staat 310

Verfassung imstande ist, möglich zu werden, und auf

welcheWeise sie je möglich ist; denn daß, wenn sie

wirklich würde, dem Staate, in dem sie es würde,

alles Gute zufiele, und daß sie – ich will anführen,

was du übergangen hast – auch gegen die Feinde am

besten kämpfen würden, weil sie einander am wenigsten

im Stiche ließen, indem sie sich als Brüder,

Väter, Söhne erkennten und mit diesen Namen riefen;

wenn aber auch das weibliche Geschlecht mit ins Feld

zöge, sei es nun in der nämlichen Reihe oder auch

hinten aufgestellt, um die Feinde zu schrecken und für

den Fall, daß Hilfe nötig würde, so weiß ich, daß sie

hierdurch völlig unüberwindlich würden; auch wie

viele Vorteile, die du übergangen hast, zu Hause

ihnen zuteil würden, sehe ich; aber daß dieses und

tausend anderes der Fall wäre, wenn diese Verfassung

in dieWirklichkeit träte, betrachte als von mir zugegeben

und sprich nicht mehr weiter von ihr, sondern

eben hiervon wollen wir jetzt versuchen uns selbst zu

überzeugen, daß und wie es möglich ist, und wollen

das übrige fahren lassen.

Urplötzlich hast du, erwiderte ich, gleichsam einen

Ausfall gemacht auf meine Rede, und all mein Drehen

undWinden findet keine Gnade vor dir. Denn vielleicht

weißt du nicht, wie du gegen mich, der ich mit

Mühe den beidenWellen entronnen bin, jetzt die

größte und gefährlichste dritte heranwälzest, bei deren

Platon: Der Staat 311

Anblick und Vernehmen du mir ganz gerne verzeihen

wirst, daß ich allerdings mit Recht gezögert und mich

gefürchtet habe, einen so auffallenden Gegenstand

vorzutragen und seiner Untersuchung mich zu unterziehen.

Je mehr du dergleichen sprichst, antwortete er, um

so weniger werden wir dir erlassen, zu sagen, aufweicheWeise

diese Verfassung verwirklicht werden

kann. So sprich denn und zögere nicht!

Nun, begann ich, fürs erste müssen wir uns erinnern,

daß wir durch das Suchen desWesens der Gerechtigkeit

und Ungerechtigkeit hierher gekommen

sind.

Allerdings, versetzte er; aber was soll dies?

Nichts. Aber wenn wir dasWesen der Gerechtigkeit

gefunden haben, werden wir dann von dem gerechten

Manne verlangen, daß er sich von ihr in nichts

unterscheide, sondern in jeder Hinsicht von der Art

sei, wie die Gerechtigkeit ist? Oder werden wir zufrieden

sein, wenn er ihr möglichst nahe kommt und mehr

als alle andern von ihr an sich hat?

Damit, antwortete er, werden wir zufrieden sein.

Als Musterbild also, fuhr ich fort, suchten wir das

Wesen der Gerechtigkeit an sich und den vollkommen

gerechten Mann, ob es einen solchen gebe und von

welcher Art er dann wäre, und andererseits die Ungerechtigkeit

und den Ungerechtesten, damit wir im

Platon: Der Staat 312

Hinblick auf diese, wie sie uns hinsichtlich des

Glücks und des Gegenteiles erscheinen, genötigt werden,

auch in bezug auf uns selbst zuzugestehen, daß,

wer jenen möglichst ähnlich ist, das jenen ähnlichste

Los haben werde, – nicht aber um deswillen, um zu

zeigen, wie dies zu verwirklichen möglich sei.

Damit hast du recht, erwiderte er.

Glaubst du nun, daß derjenige ein minder guter

Maler sei, der, nachdem er ein Musterbild gemalt hat,

wie etwa der schönste Mensch wäre, und alles gehörig

in dem Gemälde angebracht, nicht zu beweisen

vermöchte, daß es einen solchen Mann auch wirklich

geben könne?

Nein, bei Zeus, das nicht, antwortete er.

Wie nun, sprechen wir, haben nicht auch wir durch

unsere Erörterung das Musterbild eines guten Staates

dargestellt?

Allerdings.

Glaubst du nun, daß wir darum minder Recht

haben, wenn wir nicht zu beweisen vermögen, daß es

möglich sei, so einen Staat einzurichten, wie dargestellt

wurde?

Nein, nicht, versetzte er.

DasWahre also, fuhr ich fort, ist dieses; soll ich

mich aber dir zuliebe auch damit befassen, zu zeigen,

aufweicheWeise am ehesten und in welcher Hinsicht

er besonders möglich sei, so mache mir zu einem

Platon: Der Staat 313

solchen Nachweise von neuem dieselben Einräumungen!

Welche denn?

Ist es möglich, daß etwas ebenso getan wie gesprochen

wird, oder liegt es in der Natur, daß die Handlung

derWahrheit weniger nahe kommt als die Rede,

auch wenn es einem nicht so erscheint? Räumst du

das nun ein oder nicht?

Ich tue es, sagte er.

Dazu also nötige mich nicht: was wir in der Rede

durchgegangen haben, von dem nachzuweisen, daß es

ganz ebenso in dieWirklichkeit treten müsse; sondern

wenn wir imstande gewesen sind, aufzufinden, wie

die Einrichtung eines Staates dem Gesagten am nächsten

kommen könnte, so nimm an, daß wir gefunden

haben, daß das wirklich werden könne, was du vorschreibst.

Oder wirst du nicht zufrieden sein, wenn du

das erreichst? Denn ich meinesteils wäre damit zufrieden.

Auch ich bin es, erklärte er.

Dann wollen wir das diesem, wie es scheint. Nachfolgende

zu entdecken und aufzuzeigen suchen, worin

jetzt in den Staaten gefehlt wird, infolgedessen sie

nicht so eingerichtet sind, und welches die leichteste

Änderung wäre, durch die ein Staat zu einer solchen

Art von Verfassung käme, am liebsten eine einzige

Änderung, wo nicht, zwei: wenn auch das nicht,

Platon: Der Staat 314

möglichst wenige an Zahl und möglichst leichte an

Bedeutung.

Allerdings, sagte er.

Nun, von einer einzigen Veränderung, sprach ich,

glaube ich nachweisen zu können, daß sie eine Umwandlung

bewirken würde, freilich einer nicht kleinen

und leichten, aber doch möglichen.

Von welcher? fragte er.

Nun schreite ich, war meine Antwort, eben zu dem,

was wir vorher bildlich als die größteWelle bezeichnet

haben. Dennoch soll es ausgesprochen werden,

und wenn es auch ganz wie eine platzendeWelle mit

Hohn und Schmach uns überströmen wird. Doch erwäge,

was ich sagen werde!

Sprich nur, versetzte er.

Wofern nicht, begann ich, entweder die Philosophen

Könige werden in den Staaten, oder die, welche

jetzt Könige und Herrscher heißen, echte und

gründliche Philosophen werden, und dieses beides in

einem zusammenfällt. Macht im Staate und Philosophie,

den meisten Naturen aber unter den jetzigen, die

sich einem von beiden ausschließlich zuwenden, der

Zugang mit Gewalt verschlossen wird, gibt es, mein

lieber Glaukon, keine Erlösung vom Übel für die

Staaten, ich glaube aber auch nicht für die Menschheit,

noch auch wird diese Verfassung, wie wir sie

eben dargestellt haben, je früher zur Möglichkeit

Platon: Der Staat 315

werden und das Sonnenlicht erblicken. Aber das ist

es, was ich schon lange auszusprechen Bedenken

trage, weil ich sehe, wie sehr es der gewöhnlichen Ansicht

zuwiderläuft; denn es ist schwer zu begreifen,

daß keine andere glücklich sein kann, weder im einzelnen

noch im ganzen.

Und jener meinte: Sokrates, du hast da einWort

und einen Gedanken fallen lassen, nach dessen Aussprechen

du erwarten mußt, daß seht viele und nicht

Verächtliche jetzt ohne weiteres gleichsam die Kleider

abwerfen und entblößt nach der nächsten besten

Waffe greifen und gestreckten Laufes wider dich anrennen

werden, um dir wer weiß was anzutun; und

wenn du diese nicht mit Gründen abwehrst und dich

ihnen entziehst, so wirst du wahrhaftig mit Spott bestraft

werden.

Hast aber nicht du mir das zugezogen? sagte ich.

Und daran habe ich recht getan, versetzte er. Aber

darum will ich dich auch nicht preisgeben, sondern

dich verteidigen, wodurch ich kann; ich kann es aber

durchWohlwollen und Zuspruch, und vielleicht dürfte

ich dir geschickter antworten als irgend ein anderer;

von einem solchen Helfer unterstützt versuche denn

den Zweiflern zu zeigen, daß es sich so verhält, wie

du sagst!

Es muß versucht werden, antwortete ich, da auch

du so wichtigen Beistand anbietest. Es scheint mir

Platon: Der Staat 316

nun notwendig, wenn wir irgend denen entkommen

wollen, von welchen du sprichst, gegen sie fest zu bestimmen,

wen wir unter den Philosophen verstehen,

von denen wir zu behaupten wagen, daß sie regieren

müssen, damit, wenn dies aufgeklärt sein wird, eine

Verteidigung möglich ist durch den Nachweis, daß es

den einen von Natur zukommt, sowohl mit Philosophie

sich zu befassen und Führer zu sein im Staate,

den andern aber, teils damit sich nicht zu befassen,

teils den Führern zu folgen.

Es wird Zeit sein, es zu bestimmen, sagte er.

Auf denn, folge mir auf diesemWege, ob wir es irgendwie

gehörig erklären werden!

Nur zu, antwortete er.

Werde ich dich erinnern müssen, sagte ich, oder erinnerst

du dich selbst, daß derjenige, von dem wir

sagen sollen, daß er etwas liebe, wofern das mit Recht

von ihm ausgesagt wird, sich als solchen zeigen muß,

der nicht bloß das eine an demselben liebt, das andere

aber nicht, sondern das Ganze lieb hat!

Du mußt mich, sagte er, scheint es, erinnern; denn

es ist mir nicht ganz gegenwärtig.

Einem andern, versetzte ich, geziemte es sich, so zu

sprechen, wie du tust, Glaukon; für einen Mann aber,

der sich auf die Liebe versteht, geziemt es sich nicht

zu vergessen, daß den Freund der Knaben und der

Liebe alle jugendlichen Gestalten irgendwie

Platon: Der Staat 317

ermuntern und reizen, indem sie ihm Aufmerksamkeit

und Freundlichkeit zu verdienen scheinen. Oder

macht ihr es nicht so bei den Schönen: den einen werdet

ihr, weil er ein Stumpfnäschen hat, allerliebst nennen

und preisen, von des andern Habichtsnase sagt

ihr, sie habe etwas Königliches, von dem dritten, der

zwischen diesen beiden die Mitte hält, er habe ganz

regelmäßige Züge; die Dunkeln bezeichnet ihr als

männlich aussehend, die Hellen als Engel (Götterlieblinge);

die Honiggelben aber, – glaubst du, sie könnten

irgend jemand anderem schon die Erfindung ihres

Namens verdanken als einem Liebhaber, der einen

Schmeichelnamen wählte und die Blässe sich gern gefallen

ließ, wenn sie mit Schönheit verbunden ist?

Kurz, ihr ergreift alle Vorwände und erschöpft alle

Ausdrücke, um keinen verächtlich zu finden, der in

der Blüte der Schönheit steht.

Wenn du nach mir von den Verliebten sagen willst,

daß sie es so machen, so will ich dem Gespräch zulieb

es erlauben.

Und wie? sagte ich: Siehst du nicht, daß die Liebhaber

desWeins es ebenso machen, indem sie jeden

Wein unter jedem Verwände lieb haben?

Allerdings.

Und auch von den Ehrliebenden siehst du, denke

ich, daß sie, wenn sie nicht eine Feldherrnstelle bekommen

können. Steueraufseher werden, und falls sie

Platon: Der Staat 318

nicht von Größeren und Bedeutenderen geehrt werden,

mit der Achtung von Kleineren und Geringeren

vorlieb nehmen, weil sie überhaupt nach Ehre begierig

sind.

Freilich gar sehr.

So bejahe oder verneine denn folgendes:Wem wir

Begierde nach etwas zuschreiben, wollen wir von dem

sagen, daß er alle Arten desselben begehre, oder nur

die eine, die andere aber nicht?

Alle, erwiderte er. So werden wir also auch von

dem Philosophen (Freunde derWeisheit) sagen, daß

er nicht einen Teil derWeisheit begehre, den anderen

aber nicht, sondern die ganze?

Allerdings.

Wer also in bezug auf die Lerngegenstände Abneigung

zeigt, zumal wenn er jung ist und noch kein

Verständnis hat, was zweckmäßig ist und nicht, den

werden wir nicht als Freund des Lernens und der

Weisheit bezeichnen, wie wir von dem, der in bezug

auf die Speisen Unlust hat, sagen, daß er weder hungere

noch Speisen begehre noch auch ein Freund der

Speisen sei, sondern ein schlechter Esser?

Und das werden wir mit Recht sagen.

Den aber, der willig von jedem Lerngegenstand kosten

mag und gern ans Lernen geht und darin unersättlich

ist, diesen werden wir mit Recht einen Freund

derWeisheit (Philosophen) nennen, nicht wahr?

Platon: Der Staat 319

Da sagte Glaukon: Du wirst viele und wunderliche

Leute dieser Art bekommen; denn die Schaulustigen

alle scheinen mir von dieser Art zu sein, sofern sie am

Kennenlernen Freude haben, und die Hörlustigen nehmen

sich, unter die Freunde derWeisheit gerechnet,

höchst wunderlich aus, sofern sie zwar zu wissenschaftlichen

Gesprächen und derartiger Beschäftigung

von selber nicht wohl Lust hätten zu kommen, dagegen,

als hätten sie ihre Ohren verdungen, alle Chorgesänge

zu hören, bei den Dionysosfesten herumlaufen

und weder bei den städtischen noch bei den ländlichen

fehlen.Werden wir nun diese alle und andere, die

nach etwas dieser Art lernbegierig sind, und die, welche

es in bezug auf die kleinen Künste sind.Weisheitsfreunde

nennen?

Keineswegs, antwortete ich, sondernWeisheitsfreunden

ähnlich.

Welche nennst du aber die wahren ? fragte er.

Diejenigen, erwiderte ich, welche dieWahrheit zu

schauen begierig sind.

Das wäre schon recht, versetzte er, aber wie verstehst

du das?

Keineswegs leicht für einen andern, war meine

Antwort: du aber wirst mir, glaube ich, folgendes zugeben…

Was denn?

Daß Schön und Häßlich, weil sie einander

Platon: Der Staat 320

entgegengesetzt sind, zwei seien.

Natürlich.

Und da sie zwei sind, so ist auch jedes von beiden

eines?

Auch dies.

Und von dem Gerechten und Ungerechten und dem

Guten und Schlechten und von allen Begriffen gilt

dasselbe, daß jeder für sich eins ist, aber dadurch, daß

er infolge der Mitteilung an Handlungen und Körper

und andere Begriffe überall zur Erscheinung kommt,

jeder viele zu sein scheint?

Du hast recht, sagte er.

Hiernach also, fuhr ich fort, unterscheide ich: einerseits

die soeben von dir genannten Schaulustigen und

Kunstliebenden und aufs Handeln Gerichteten, und

andererseits dann die, von denen die Rede ist, die allein

man mit RechtWeisheitsfreunde nennt.

Wie meinst du das? fragte er.

Die Hörbegierigen und Schaulustigen, antwortete

ich, haben doch wohl ihre Freude an den schönen

Stimmen und Farben und Gestalten und allem, was

aus dergleichen gearbeitet wird; vom Schönen selbst

aber ist ihr Sinn unfähig dasWesen zu schauen und

seiner sich zu freuen.

So verhält es sich allerdings, erwiderte er.

Die aber, die imstande sind, dem Schönen selbst

sich zuzukehren und es für sich zu schauen, sind diese

Platon: Der Staat 321

nicht selten?

Allerdings.

Wer nun zwar schöne Dinge annimmt, die Schönheit

selbst aber weder annimmt noch auch, wenn ihn

einer zu ihrer Erkenntnis hinleiten will, zu folgen imstande

ist, – glaubst du, daß der ein Traumleben führt

oder ein wachendes? Zieh aber in Erwägung: Ist Träumen

nicht das, wenn jemand schlafend oder wachend

das einer Sache Ähnliche nicht für etwas Ähnliches

hält, sondern für die Sache selbst, der es gleicht?

Ich wenigstens, versetzte er, möchte von einem solchen

sagen, daß er träume.

Wie aber: Derjenige, der im Gegensatz hierzu das

Schöne selbst für etwas hält und imstande ist, sowohl

es selbst zu schauen als das an ihm Teilhabende, und

der weder das Teilhabende für es selbst noch es selbst

für das Teilhabende hält, – scheint dir andererseits

auch ein solcher ein Traumleben zu führen oder ein

wachendes?

Gar sehr ein wachendes, antwortete er.

Das Denken des einen nun, als eines Erkennenden,

werden wir mit Recht als Erkenntnis bezeichnen, das

des andern aber, als das eines nur Meinenden, als

Meinung?

Allerdings.

Wie nun? Wenn derjenige, dem wir Meinen, nicht

aber Erkenntnis zuschreiben, uns böse wird und

Platon: Der Staat 322

bestreitet, daß wir recht haben, – werden wir etwas

haben, ihn zu beschwichtigen und allgemach, ohne

uns etwas merken zu lassen, ihn zu überzeugen, daß

er nicht klug ist?

Wenigstens sollten wir, bemerkte er.

Wohlan denn, sieh zu, was wir zu ihm sagen werden!

Oder willst du, daß wir ihn fragen, indem wir

sprechen: wenn er etwas wisse, so mißgönnen wir es

ihm durchaus nicht, sondern würden mit Vergnügen

sehen, daß er etwas wisse: »Aber sage uns dies:Wer

erkennt, erkennt der etwas oder nichts?« Gib nun du

mir die Antwort an seiner Statt!

Ich antworte denn, versetzte er, er erkennt etwas.

Seiendes oder Nichtseiendes?

Seiendes; denn wie sollte etwas Nichtseiendes erkannt

werden?

Steht uns nun das hinreichend fest, auch wenn wir

es von mehreren Seiten her betrachten, daß das vollständig

Seiende vollständig erkennbar ist, das

schlechterdings Nichtseiende aber schlechterdings unerkennbar?

Ganz fest.

Gut; wenn aber etwas die Beschaffenheit hat, daß

es sowohl ist als nicht ist, wird es dann nicht in der

Mitte liegen zwischen dem rein Seienden und andererseits

dem schlechterdings Nichtseienden?

Allerdings.

Platon: Der Staat 323

Da nun also Erkenntnis auf das Seiende sich bezog,

Unkenntnis aber notwendig auf das Nichtseiende, –

muß man nicht auch für dieses in der Mitte Liegende

etwas suchen, das in der Mitte liegt zwischen Unwissenheit

undWissenschaft, wenn es etwas dieser Art

gibt?

Allerdings.

Behaupten wir nun, daß die Meinung etwas ist?

Gewiß.

Und daß die Wissenschaft eine andere Kraft habe,

oder dieselbe?

Eine andere.

Zu etwas anderem geordnet ist also die Meinung

und zu etwas anderem dieWissenschaft, jede nach

einer andern Kraft, nämlich ihrer eigenen.

So ist’s.

Ist nun nicht dieWissenschaft ihrer Natur nach für

das Seiende bestimmt, um zu erkennen, daß das Seiende

ist? Oder vielmehr es scheint mir notwendig,

zuvor folgendermaßen zu erörtern…

Wie?

Wir werden behaupten, daß die Kräfte eine Art des

Seienden sind, durch die sowohl wir vermögen, was

wir vermögen, als auch alles andere, was irgend etwas

vermag; z.B. rechne ich das Gesicht und das Gehör zu

den Kräften, wofern du so verstehst, was ich mit dem

Begriffe sagen will.

Platon: Der Staat 324

Ja, ich verstehe, sagte er.

So höre denn, was ich davon denke! An der Kraft

nämlich gewahre ich weder eine Farbe noch eine Gestalt,

noch sonst irgend etwas Derartiges wie an vielem

anderen, rücksichtlich dessen ich manches bei mir

unterscheide, daß es dies sei und jenes; bei der Kraft

aber nehme ich nur auf das Rücksicht, wozu sie ist

und was sie wirkt, und danach habe ich jede derselben

eine »Kraft« genannt und nenne die zu dem nämlichen

Zweck geordnete und das nämliche wirkende die nämliche,

eine andere aber die zu anderem und anderes

wirkende; wie aber machst du es?

Ebenso, antwortete er.

So gehe denn mit mir wieder zurück, mein Bester,

sagte ich.Wissenschaft, – bezeichnest du diese als

eine Kraft, oder zu welcher Gattung rechnest du sie?

Zu dieser, erwiderte er, und zwar als die stärkste

unter allen Kräften.

Die Meinung aber, – werden wir sie zu den Kräften

zählen oder zu einer anderen Gattung?

Keineswegs, versetzte er; denn das, wodurch wir zu

meinen vermögen, ist nichts anderes als Meinung.

Aber du hast ja kurz zuvor zugestanden, daßWissenschaft

und Meinung nicht dasselbe sei.

Wie könnte auch, antwortete er, ein Verständiger je

das Fehlerlose mit dem nicht Fehlerlosen als dasselbe

setzen?

Platon: Der Staat 325

Richtig, sagte ich, und es ist klar, daß wir darüber

einverstanden sind, Meinung sei etwas anderes als

Wissenschaft.

Allerdings.

Ihrer Natur nach vermag also jede von beiden, zu

anderem gehörig, anderes?

Notwendig.

DieWissenschaft nun gehört doch wohl zu dem

Seienden, das Seiende zu erkennen, wie es ist?

Ja.

Die Meinung aber, sagen wir, zu meinen?

Ja.

Erkennt sie dasselbe wie dieWissenschaft, und

wird Gegenstand der Erkenntnis und der Meinung

dasselbe sein? Oder ist das unmöglich?

Unmöglich, erwiderte er, nach dem Zugestandenen,

wofern eine andere Kraft zu etwas anderem geschaffen

ist und beide, Meinung undWissenschaft, zwar

Kräfte sind, jedoch jede eine andere, wie wir gesagt

haben: infolgedessen also ist es nicht möglich, daß

Gegenstand der Erkenntnis und der Meinung dasselbe

sei.

Ist also das Seiende Gegenstand der Erkenntnis, so

wird etwas anderes als das Seiende Gegenstand der

Meinung sein?

Allerdings.

Ist ihr Gegenstand nun etwa das Nichtseiende?

Platon: Der Staat 326

Oder ist das Nichtseiende auch zu meinen unmöglich?

Bedenke aber: richtet der Meinende die Meinung

nicht auf etwas? Oder ist es andererseits möglich,

zwar zu meinen, aber nichts zu meinen?

Unmöglich.

Vielmehr eines meint der Meinende?

Ja.

Nichtseiendes wird aber doch nicht eines, sondern

mit vollstem Recht nichts genannt werden?

Allerdings.

Nichtseiendem teilten wir doch notwendig Unwissenheit

zu, Seiendem aber Erkenntnis?

Richtig, sprach er.

Weder Seiendes also meint sie, noch auch Nichtseiendes?

Gewiß.

Weder Unwissenheit also noch Erkenntnis wäre die

Meinung?

So scheint’s.

Steht sie nun außerhalb dieser, indem sie entweder

die Erkenntnis an Deutlichkeit oder die Unwissenheit

an Undeutlichkeit übertrifft?

Keines von beiden.

Aber scheint dir etwa, fragte ich, die Meinung

dunkler als die Erkenntnis, aber heller als die Unwissenheit?

Und das bei weitem, antwortete er.

Platon: Der Staat 327

Liegt sie innerhalb beider?

Ja.

So wäre also die Meinung in der Mitte zwischen

diesen beiden?

Allerdings vollkommen.

Haben wir nun nicht im Vorhergehenden gesagt,

wenn sich etwas zeige von der Art, daß es zugleich

sei und nicht sei, so liege das derartige in der Mitte

zwischen dem rein Seienden und dem schlechterdings

Nichtseienden, und wederWissenschaft noch Unwissenheit

werde bei ihm sein, sondern gleichfalls das,

was sich ergebe als in der Mitte liegend zwischen Unwissenheit

undWissenschaft?

Richtig.

Nun aber hat sich zwischen diesen beiden das eben

erwiesen, was wir Meinung nennen.

So ist’s.

Das also, scheint es, bliebe uns noch übrig zu finden,

was an beiden teilhat, am Sein sowohl wie am

Nichtsein, und dem man keines von beiden in reiner

Gestalt mit Recht beimessen kann, damit wir, wenn es

sich als Gegenstand der Meinung gezeigt hat, mit

Recht so benennen, indem wir dem Äußersten das

Äußerste und demMittleren das Mittlere zuweisen;

oder ist’s nicht so?

O ja.

Wenn nun das feststeht, so werde ich sagen, es

Platon: Der Staat 328

möge mir Rede und Antwort geben der Gute, der an

ein Schönes an sich und an einen immer in derselben

Hinsicht gleichmäßig sich verhaltenden Begriff der

Schönheit an sich nicht glaubt, wohl aber eine Vielheit

von schönen Dingen annimmt, als ein Schaulustiger,

und der es durchaus nicht aushält, wenn jemand

das Schöne als Einheit bezeichnet und das Gerechte

und das übrige ebenso. Denn gibt es, mein Bester,

werden wir sprechen, unter diesen vielen schönen

Dingen eines, das nicht als häßlich erscheinen wird,

und unter den gerechten eines, das nicht als ungerecht,

und unter den frommen eines, das nicht als gottlos erscheinen

wird?

Nein, versetzte er, sondern es ist notwendig, daß

sie sowohl schön wie häßlich erscheinen, und wonach

du sonst noch fragst.

Wie aber? Die vielen Doppelten – erscheinen sie

weniger als halb wie doppelt?

Um nichts.

Auch Große also und Kleine und Leichte und

Schwere, werden sie mit mehr Recht den Namen führen,

den wir ihnen beilegen, als den entgegengesetzten?

Nein, antwortete er, sondern immer wird jedes

beide führen können.

Sind nun alle diese vielen das, was man sagt, daß

sie seien, mehr, als daß sie es nicht sind?

Platon: Der Staat 329

Dem Doppelaussagen bei den Schmausereien

gleicht es, versetzte er, und dem Kinderrätsel vom

Verschnittenen in betreff desWurfes nach der Fledermaus,

wobei man erraten muß, mit was und auf was

er sie geworfen habe. Denn auch hier scheint eine

Doppelaussage stattzufinden, und weder als seiend

noch als nichtseiend, und weder als beides noch als

keines von beiden läßt sich irgend eines derselben mit

Sicherheit denken.

Weißt du nun, sagte ich, etwas Besseres mit ihnen

anzufangen, oder weißt du eine bessere Stelle für sie

als in der Mitte zwisehen dem Sein und dem Nichtsein?

Denn weder dunkler als Nichtseiendes, mit

einem höheren Grade von Nichtsein, werden sie erscheinen,

noch heller als Seiendes, mit einem höheren

Grade von Sein.

Sehr wahr, bemerkte er.

Wir haben also gefunden, wie es scheint, daß die

bei der Menge geltende Menge von Schönem und anderen

Dingen sich so in der Mitte herumtreibt zwischen

dem Nichtseienden und dem rein Seienden.

Allerdings.

Nun haben wir aber vorher zugegeben, daß, wenn

sich etwas dieser Art zeige, man es als Gegenstand

der Meinung, nicht aber der Erkenntnis bezeichnen

müsse, indem das in der Mitte Umhertreibende von

dem mittleren Vermögen eingefangen werde?

Platon: Der Staat 330

Das haben wir getan.

Von denjenigen also, die vieles Schöne wahrnehmen,

das Schöne selbst aber nicht sehen, noch auch

einem andern, der sie dazu führt, imstande sind zu

folgen, und ebenso vieles Gerechte, das Gerechte

selbst aber nicht, und so alles, – von diesen werden

wir sagen, daß sie alles meinen, aber nichts von dem,

was sie meinen, erkennen.

Notwendig, versetzte er.

Was aber andererseits von denen, die jedes an sich

betrachten und was immer auf dieselbeWeise gleichmäßig

ist? Nicht, daß sie erkennen, aber nicht meinen?

Notwendig auch dies.

Also auchWohlgefallen und Liebe, werden wir

sagen, haben diese für das, wozu Erkenntnis gehört,

jene aber nur für das, wozu Meinung gehört? Oder erinnern

wir uns nicht, daß wir von diesen gesagt

haben, sie lieben und betrachten die schönen Stimmen

und Farben und dergleichen, das Schöne selbst aber

lassen sie nicht einmal als etwas Seiendes gelten?

Wir erinnern uns.

Werden wir also wohl fehlgreifen, wenn wir sie

eher Freunde der Meinung als Freunde derWeisheit

nennen, und werden sie uns sehr zürnen, wenn wir so

sprechen?

Nein, wofern sie wenigstens mir folgen, antwortete

Platon: Der Staat 331

er; denn derWahrheit zu zürnen ist nicht statthaft.

Die also, welche überall am SeiendenWohlgefallen

haben, muß man Freunde derWeisheit (Philosophen),

nicht aber Freunde der Meinung nennen? Allerdings.

Platon: Der Staat 332

Sechstes Buch

Darauf begann ich wiederum: Was also die wahren

Weisheitsfreunde und die nicht wahren anlangt, so

wäre, mein lieber Glaukon, nach Durchführung einer

langen Untersuchung wohl endlich klar, worin das eigentliche

Wesen beider besteht.

Ja, sagte er, denn es wäre wohl dieses Ergebnis

mittels einer kurzen Untersuchung nicht leicht möglich

gewesen.

Es scheint nicht, fuhr ich fort; mich jedoch dünkt,

jenes Ergebnis würde sich in einem noch helleren

Lichte gezeigt haben, wenn über diese Frage allein

der Vortrag sich zu verbreiten gehabt hätte, und wenn

nicht so umfassend die noch übrigen durchzuführenden

Vorfragen wären behufs einer gründlichen Betrachtung

der Hauptfrage:Worin besteht der Unterschied

des gerechten Lebens von dem ungerechten?

Welches wäre denn nun, fragte er, hierauf für uns

die weitere Vorfrage?

Welche andere, erwiderte ich, als die unmittelbar

darauffolgende? Nachdem als wahreWeisheitsfreunde

(Philosophen) diejenigen sich herausgestellt haben,

die das ewig unwandelbare Sein zu erfassen vermögen,

als die nicht wahren aber die, welche im mannigfaltigen

und wandelbaren Sein herumtappen, so folgt

Platon: Der Staat 333

natürlich nun die weitere Vorfrage:Welche von beiden

Klassen soll nun Führer des Staates sein?

Durch welche Antwort hierauf würden wir nun,

fragte er, diese Frage gehörig erledigen?

Daß diejenige von beiden Klassen als Staatshüter

zu bestellen ist, von der es sich offenbar zeigen

würde, daß sie die Fähigkeit Labe, sowohl über das

Grundgesetz des Staates als auch über die gehörige

Berufspflichtenerfüllung der Staatsglieder die Obhut

zu führen.

Ja, richtig, sagte er.

Hierauf begann ich also: Das wäre aber wohl eine

ausgemachte Sache, ob ein Blinder oder ein Scharfblickender

als Hüter einen Gegenstand überhaupt bewachen

solle?

Wie könnte man daran zweifeln? meinte er.

Scheinen nun in irgend einer Beziehung sich von

Blinden diejenigen zu unterscheiden, die erstlich ohne

theoretische Erkenntnis des wahrhaftWesenhaften in

jedem Dinge sind und in ihrer Seele kein himmlisch

reines Urbild besitzen, und die sodann auch praktisch

nicht imstande sind, nach Art der Maler mit unverwandtem

Blicke auf jenes Urbild derWahrheit, mit

stets damit angestellter Vergleichung und mittels

eines möglichst fleißigen Studiums desselben auch

hienieden in der Welt derWirklichkeit die Normen

des Schönen, Rechten und Guten zu schaffen, wenn

Platon: Der Staat 334

sie erst noch geschaffen werden müssen, und die bereits

geschaffenen durch ihre Obhut unversehrt zu erhalten?

Nein, bei Zeus, sagte er, um kein Haar Unterschied!

Werden wir also lieber diese Blinden als Staatshüter

anstellen, oder die, die erstlich die Erkenntnis vom

Wesen jedes Dinges haben, dann aber auch an Erfahrung

vor jenen Blinden nicht zurückbleiben und sonst

auch in keinem Stücke männlicher Tüchtigkeit zurückstehen?

Es wäre ja widersinnig, sagte er, andre vorzuziehen,

wenn sie denn in den übrigen Beziehungen nicht

zurückblieben; denn eben das, worin sie ihren Vorzug

haben, wäre ja doch die Hauptsache.

Nicht wahr, wir hätten also nur die Frage zu erörtern,

auf welcheWeise sie gerade imstande wären, sowohl

die Vorzüge jener theoretischen Erkenntnis wie

die der praktischen Erfahrung zu bekommen?

Ja, freilich.

Sonach ist notwendig, was wir uns schon am Anfang

dieser Betrachtung als Aufgabe stellten, nämlich

zuerst uns über ihren eigentlichen Charakter zu unterrichten.

Und wenn wir uns hierüber gehörig verständigt

haben, werden wir uns, glaube ich, auch darüber

verständigen, daß sie in derselben Person die zwei

eben genannten verschiedenen Eigenschaften

Platon: Der Staat 335

(theoretische und praktische Tüchtigkeit) verbinden

können, und daß somit keine anderen als diese die

Führer des Staates sein dürfen.

Und wie können wie uns hierüber verständigen?

Nun denn, in betreff der wahren wissenschaftlichen

Charaktere müssen wir doch bereits über diese erste

Eigenschaft einverstanden sein, daß sie immer Lust

und Liebe haben müssen zu solchem Lerngegenstande,

der ihnen den Schleier zu lüften vermag von

jenem Sein, das ewig ist und keiner Veränderung unterworfen

ist durch Entstehen und Vergehen?

Ja, darüber sind wir bereits einig.

Und doch wohl auch darüber, fuhr ich fort, daß sie

Lust und Liebe haben zu allen möglichen Zweigen

jenes Seins, daß sie weder einen kleinen noch einen

größeren, weder einen mehr oder minder geachteten

Teil davon mitWissen undWillen unbeachtet lassen,

ganz wie wir es vorhin an den Beispielen der Ehrund

Geschlechtsliebe gezeigt haben?

Richtig bemerkt, antwortete er.

Hiernach bedenke weiter, ob es nicht unbedingt

notwendig ist, daß nebst jener auch im Besitze dieser

zweiten Haupteigenschaft von Geburt aus sein müssen

diejenigen, die dereinst solche Männer sein sollen,

wie wir sie vorhin bezeichneten.

Und worin bestände denn diese zweite Haupteigenschaft?

Platon: Der Staat 336

Nicht zu täuschen und wissentlich auch die Täuschung

sich nicht beikommen zu lassen, sondern sie

zu hassen, dagegenWahrheit zu lieben.

Wahrscheinlich ja, sagte er.

Nicht nur, mein Lieber, wahrscheinlich, sondern

auch unbedingt notwendig ist’s, daß der durch angeborenen

Trieb in jemand Verliebte die ganze Blutsund

Hausverwandtschaft seines Lieblings liebt.

Ja, richtig, sagte er.

Würdest du nun etwas finden können, was der

Weisheit verwandter wäre als dieWahrheit?

Unmöglich, sagte er.

Ist es also möglich, daß ein und derselbe Charakter

ein Freund derWeisheit und ein Freund der Täuschung

ist?

Auf gar keineWeise.

Der wahreWißbegierige muß also nach jeder

Wahrheit gleich von Kindheit an das möglichst größte

Verlangen tragen.

Ganz gewiß.

Ferner: von jedemMenschen, bei dem die Begierden

und Bestrebungen sich mit Gewalt auf einen einzigen

Gegenstand hinwerfen, wissen wir wohl, daß

sie in den übrigen Beziehungen bei ihm schwächer

sind, wie etwa bei einem durch Seitenkanäle abgeleiteten

Strome.

Freilich.

Platon: Der Staat 337

Bei demMenschen, bei dem der Strom seiner Begehrlichkeit

sich in den Studien und überhaupt im Bereiche

desWissens entladet, werden sie demnach

wohl ihren Hauptzug auf das reine Seelenvergnügen

haben, in bezug auf die sinnlichen Vergnügen aber

versiechen, wenn er kein heuchelnder, sondern ein

wahrer Freund derWeisheit (Philosoph) sein will.

Ganz notwendig.

Die dritte Eigenschaft eines solchen ist also denn

besonnene Mäßigung und Abwesenheit aller Gewinnsucht;

denn die Triebfedern, deretwegen man mit so

großem Kraftaufwand nach Geld und Gut strebt, dürfen

bei keinem in derWelt weniger die Tätigkeit bestimmen

als bei einem solchen.

So ist’s.

Viertens muß man auch auf folgende Eigenschaft

sehen, wenn du den angeborenen Charakter eines

wahren Freundes derWeisheit und den des falschen

unterscheiden willst…

Auf welche?

Daß dir in ihm nicht niederträchtige Gemeinheit

stecke! Denn im größtenWiderspruch steht gemeine

Kleingeisterei mit einer Seele, die Natur und Geist in

ihrer Allgemeinheit und Gesamtheit stets zu erfassen

streben soll.

Ja, sehr wahr!

Dem Geiste, der die Naturgabe einer großartigen

Platon: Der Staat 338

Denkart und die eines Blickes in die gesamte Zeit und

in das gesamte Sein hat, wird dem wohl nun das

menschliche Leben als etwas Großes vorkommen

können?

Unmöglich, sagte er.

Also auch den Tod wird ein solcher nicht für etwas

Schreckliches halten?

Nein, nicht im geringsten.

Eine von Geburt feige und niederträchtige Seele

also kann demnach mit wahrerWissenschaft (Philosophie)

offenbar nichts zu schaffen haben.

So meine ich auch.

Weiter! Wenn einer nun hübsch mäßig, nicht habsüchtig,

nicht niederträchtig, keinWindbeutel, kein

Feigling ist, – könnte der wohl je unverträglich oder

ungerecht im Verkehr werden?

Nein.

Bei Beobachtung einer Seele, ob sie eine wahre

Freundin derWeisheit sei oder nicht, mußt du natürlich

also fünftens auch auf diese Eigenschaft von ihrer

Jugend an sehen, ob sie gerecht und human, oder ob

sie unverträglich und roh ist.

Ja, darauf jedenfalls.

Gewiß wirst du auch die sechste Eigenschaft nicht

außer acht lassen wollen?

Und was ist das für eine?

Ob er Gelehrigkeit oder Ungelehrigkeit hat; oder

Platon: Der Staat 339

erwartest du, daß einer etwas ordentlich lieben werde,

bei dessen Verrichtung er mit Schmerzen arbeitet und

mit gar geringen Fortschritten?

Kann wohl nicht sein.

Jetzt von der siebenten Eigenschaft!Wenn er von

dem, was er gelernt hat, nichts behalten könnte, weil

er voll von Vergeßlichkeit wäre, muß da sein Kopf

vomWissen nicht leer bleiben?

Jedenfalls.

Bei nutzlosen Anstrengungen wird er natürlich

wohl in den Fall kommen müssen, daß er sich sowohl

wie auch eine solche Beschäftigung haßt?

Allerdings.

Eine vergeßliche Seele also dürfen wir niemals

unter die Jünger der wahrenWissenschaft aufnehmen,

sondern wir müssen verlangen, daß sie ein gutes Gedächtnis

haben.

Ja, das jedenfalls.

Achtens dürfen wir wohl den Satz aufstellen: Die

Eigenschaft einer den Künsten und Musen abgeneigten

und alles Maßes ermangelnden Natur hat auch nur

zur Maßlosigkeit ihren Zug.

Freilich.

Wahrheit aber hältst du für verwandt mit Maßlosigkeit

oder mit Maßhaltigkeit?

Mit Maßhaltigkeit.

Einen angeborenen inneren Sinn für Maß und

Platon: Der Staat 340

schöne Form müssen wir daher neben den anderen Eigenschaften

als achte verlangen; diesem Sinne wird

dann der angeborene Trieb denWeg zur Schauung

desWesenhaften eines jeden Dinges leicht machen.

Allerdings.

Und was ist nun der Schluß aus allem dem? Scheinen

wir dir nicht hier lauter Eigenschaften aufgezählt

zu haben, die alle einzeln notwendig für eine Seele

sind, die das ideelle Wesenhafte gehörig und vollständig

erfassen soll, und folgt nicht eine jede dieser Eigenschaften

aus der anderen?

Jawohl, notwendig, sagte er.

Wirst du nun in irgend einerWeise ein Studium tadelnswert

finden, das einer gehörig zu betreiben niemals

imstande sein wird, wenn er nicht angeboren hat

ein gutes Gedächtnis, Gelehrigkeit, eine hohe edle

Denkart, Sinn für schöne Formen, Neigung und Verwandtschaft

zuWahrheit, zu Gerechtigkeit, zu wahrer

Männlichkeit, zu besonnener Mäßigung?

Nicht einmal der Tadel selbst, sagte er, könnte es

tadeln.

Und so von Geburt aus begabten Männern, fuhr ich

fort, wenn sie überdies sowohl an Bildung wie an

Alter die höchste Reife erreicht haben, würdest du

diesen nicht einzig und allein unseren Staat anvertrauen?

Da fiel Adeimantos insWort: O Sokrates, gegen

Platon: Der Staat 341

diese vorzüglichen Eigenschaften möchte wohl niemand

imstande sein einenWiderspruch zu erheben;

dagegen aber ist hier eine andere Einrede am Ort.

Denn die Zuhörer deiner Beweisführungen, wie du sie

eben da lieferst, machen allemal diese ärgerliche Erfahrung:

Aus Unerfahrenheit in der Kunst des Fragens

und Antwortens meinen sie von deiner begrifflichen

Schlußkette bei jeder Frage nur um einen ganz kleinen

Schritt von ihrer Ansicht abgeleitet zu werden; wenn

aber die kleinen Schritte am Ende der Erörterungen

summiert werden, so erscheint der Irrgang ein großer

und mit den ersten Sätzen imWiderspruch. Und gerade

wie die im Brettspiel Ungeübten von den dann Geschickten

endlich eingeschlossen werden und nicht

mehr zu ziehen wissen, so glauben auch jene sich eingeschlossen

und wissen gleicherweise bei dieser anderen

Art von Brettspiel, aber nicht mit Steinen, sondern

mit Begriffen, nichts mehr vorzubringen, obgleich sie

der Ansicht bleiben, daß die eigentlicheWahrheit

nichtsdestoweniger auf der Seite ihrer ursprünglichen

Meinung stehe. Diese Bemerkung mache ich aber zunächst

im Hinblick auf den vorliegenden Fall. Denn

jetzt müßte dir einer freilich eingestehen, theoretisch

könne er gegen jeden einzelnen Fragesatz von dir

nichts einwenden; in der Praxis aber finde er folgende

Bemerkung bestätigt: Alle, die bei ihrer Verlegung

aufWissenschaft (Philosophie) sie nicht behufs einer

Platon: Der Staat 342

gewissen allgemeinen Bildung treiben und dann noch

in ihrer Jugend sie verlassen, sondern etwas länger

dabei verweilen, sind meistenteils ganz überspannte,

um nicht zu sagen ganz verdorbene Menschen; dagegen

diejenigen, die es darin zum Ruhme der größten

Tüchtigkeit bringen, tragen doch von dem Studium,

das du so erhebst, wenigstens den Nachteil davon,

daß sie dadurch für die Staaten unbrauchbar werden.

Als ich das gehört hatte, nahm ich dasWort:

Glaubst du denn, daß die Leute, die solche Äußerungen

tun, Unwahres reden?

Das weiß ich nicht, versetzte er, aber deine Ansicht

hierüber möchte ich gerne hören.

Da kannst du denn vernehmen, daß sie meines Dafürhaltens

dieWahrheit zu reden scheinen.

Und wie soll dann, fragte er hierauf, damit die Behauptung

sich zusammenreimen, daß die Staaten nicht

eher ihres Unheils ledig werden, bis die vorhin beschriebenen

echten Jünger derWissenschaft (Philosophie)

darin die Herrschenden sind, sie, von denen wir

zugestehen, daß sie für sie unbrauchbar sind?

Du stellst mir hier eine Frage, erwiderte ich, deren

Beantwortung nur durch ein Bild (ein Gleichnis) sich

geben läßt.

Ja, sagte er, du bist, glaube ich, gar nicht der

Mann, der in Bildern zu reden gewohnt ist!

So? antwortete ich. Du beliebst auch noch zu

Platon: Der Staat 343

scherzen, nachdem du mich in die Verlegenheit eines

so schwierig zu führenden Beweises gebracht hast?

Vernimm aber nun jenes Bild (Gleichnis), damit du

noch besser einsiehst, wie zähe ich an der Sprache in

Bildern hänge: Denn das Schicksal, das die tüchtigsten

Jünger derWissenschaft in bezug auf die Verwaltung

der Staaten erfahren, ist so hart, daß es sonst

gar kein einzelnes Wesen in der Welt gibt, dem ein

ähnliches begegnet; man muß daher bei der Erläuterung

und bei der Verteidigung derselben durch ein

Bild dieses von einer Mehrheit hernehmen, wie z.B.

die Maler tun, wenn sie Bockshirsche und dergleichen

Zusammensetzungen malen. Denke dir nämlich einmal,

über mehrere Schiffe oder auch nur über eines

gebe es einen Schiffsherrn von folgenden Eigenschaften:

an Größe und Stärke des Körpers zwar über alle,

die sich im Schiffe befinden, erhaben; aber harthörig,

ebenso mit kurzem Gesichte und auch mit kurzem

Verstande über das Schiffswesen. Denke dir dabei die

Schiffsmannschaft im Aufruhr gegen einander wegen

Führung des Steuerruders, indem ein jeder davon

wähnt, daß er es führen müsse, ohne diese Kunst gelernt

zu haben, ohne seinen Lehrmeister angeben zu

können noch auch die Zeit, in der er sie gelernt habe.

Denke dazu, daß die Mannschaft behaupte, jene

Kunst sei gar kein Gegenstand des Lernens, ja sie sei

gar bereit, den, der sie als einen Gegenstand des

Platon: Der Staat 344

Lernens hinstelle, zusammenzuhauen; daß ferner die

Mannschaft die Person des Schiffsherrn beständig mit

Bitten und allen möglichen Bewegungsmitteln umlagert,

er möge ihnen doch das Ruder überlassen; daß

sie, wenn sie ihn weniger mitWorten bewegen als

eine andere Partei, die Gegner erstlich entweder ermorden

oder aus dem Schiffe hinauswerfen, zweitens

dem guten Schiffsherrn durch einen Schlaftrunk oder

durch einen Rausch oder durch sonst ein Mittelchen

die Hände binden und dann die Herrschaft über das

Schiff ergreifen, mit allem darin vorhandenen Vorrate

schalten und walten, dabei unter Zechen und Schmausen

dahinsegeln, wie es bei solchen Leuten natürlich

zu erwarten steht; daß sie überdies den Kerl, der bei

ihrer Absicht auf die Herrschaft, sei es durch Überlistung

oder Überwältigung des Schiffsherrn, hilfreiche

Hand anzulegen versteht, unter großen Lobsprüchen

einen Meister im Schiffswesen sowie in der Ruderführung

und einen Mann nennen, der die Schiffahrt aus

dem Grunde verstehe, dagegen den, der sich dazu

nicht versteht, als einen unbrauchbaren Menschentadeln:

daß sie dabei nicht einmal so viel vom echten

Steuermann wissen, daß er notwendig auf die Jahresund

Tageszeit, auf Himmel und Gestirne, aufWinde

und alles sonst in seine Kunst Einschlagende acht

haben muß, wenn er wahrhaft Herr über sein Schiff

sein will, – und daß sie sogar imWahne stehen, um

Platon: Der Staat 345

mit oder ohne Zustimmung einiger Leute das Ruder

zu führen, darin könne man unmöglich eine Geschicklichkeit

und eine Übung gewinnen zugleich mit der

Aneignung der Steuermanns-Wissenschaft.Wenn nun

dergleichen in den Schiffen vorgeht, wird da nicht der

wahrhaft für das Ruder Geeignete bei den Seglern in

den also bestellten Schiffen ein luftiger Spekulant, ein

spitzfindiger Grübler, ein für sie unbrauchbarer

Mensch heißen?

Ja, sicherlich, sagte er.

Darauf fuhr ich fort: Ich glaube nun nicht, daß du

die nähere Ausmalung dieses Bildes zu sehen

brauchst, wie es nämlich ganz auf die Staaten paßt in

bezug auf ihr Verhalten zu den echten Jüngern der

Wissenschaft; du begreifst ja, was ich damit sagen

will?

Jawohl, sagte er.

Wem die Nichtachtung der Wissenschaftsfreunde

(Philosophen) in den Staaten auffällt, dem bringe

denn nun zuvörderst dieses Bild bei und suche ihn zu

überzeugen, daß es noch viel auffallender wäre, wenn

sie geachtet würden!

Ja, sagte er, das will ich ihm sagen.

Dazu auch, daß er in dem Satze, die Tüchtigsten in

der gelehrten Welt seien für das Volk unbrauchbar,

sonach allerdings eineWahrheit sage; nur befiehl ihm

an, von dieser Unbrauchbarkeit die Schuld denen zu

Platon: Der Staat 346

geben, die sie nicht gebrauchen, aber nicht jenen tüchtigen

Philosophen! Denn es hat ja doch keine Art, daß

ein Steuermann die Schiffsleute anfleht, sich von ihm

leiten zu lassen, und ebenso auch nicht, daß die Weisen

an die Türen der Großen kommen, sondern der

berühmte Urheber diesesWitzwortes hat sich einer

Unwahrheit schuldig gemacht; die richtige Art ist

vielmehr die, daß der Kranke, mag es nun ein Großer

oder ein Geringer sein, den Ärzten in das Haus kommen

muß, und daß jeder Regierungsbedürftige zu den

Türen des Regierungsverständigen komme, nicht aber

daß das eigentliche Herrschertalent, wenn es inWahrheit

etwas taugt, die der Beherrschung Bedürftigen

bitte, sich von ihm beherrschen zu lassen.Wenn also

der, dem die Verachtung der Gelehrten von Seiten der

Politiker auffällt, die jetzigen Staatslenker mit den

eben erwähnten Schiffsleuten und die von diesen geschimpften

unbrauchbaren oder metaphysischen

Grübler mit den echten Steuermännern vergleicht, so

wird er den Nagel auf den Kopf treffen.

Ganz richtig, sagte er.

Schon aus diesen Gründen und unter diesen Umständen

ist es also nicht leicht, daß das edelste Streben

von Seiten derer, die gerade das entgegengesetzte

Streben haben, Achtung gewinnen kann; aber die bei

weitem größte und gewaltigste Verleumdung widerfährt

wissenschaftlichem Studium durch jene, die sich

Platon: Der Staat 347

fürWissenschaftler (Philosophen) ausgeben, und von

diesen läßt du den Ankläger derWissenschaft sagen,

die meisten derer, die sich darauf legen, seien ganz

schlechte Menschen, die Tüchtigsten davon aber unbrauchbar,

wobei ich dir beifällig bemerkte, daß du

eineWahrheit aussprächest: nicht wahr?

Ja.

Nicht wahr, von der angeblichen Unbrauchbarkeit

der tüchtigen Jünger derWissenschaft hätten wir die

Ursache bereits dargetan?

Jawohl!

Beliebt es dir denn, hierauf nun auch die Notwendigkeit

nachzuweisen, daß die meisten der angeblichen

Philosophen verdorben sein müssen, und, falls

wir es vermögen, den Beweis zu versuchen, daß auch

hieran die Philosophie nicht schuld sei?

Ja, allerdings.

So laß uns denn hören und diese Nachweisung mit

der Erinnerung an unsere Unterhaltung von jenem

Punkte an beginnen, wo wir die Anlage darstellten,

mit der einer geboren werden müsse, wenn er ein

Mann vom höchsten sittlichen Adel werden will. Vor

allem aber war seine Führerin, wenn du es noch im

Sinne hast, die Wahrheit, der er in jedem Fall und auf

jedeWeise folgen müßte, widrigenfalls wäre er ein

Windbeutel und könne an echterWissenschaft keineswegs

teil haben.

Platon: Der Staat 348

Ja, so hieß es.

Nicht wahr, dieser eine und erste Satz steht schon

mit den heutigen Ansichten darüber schnurstracks im

Widerspruch?

Jawohl, sagte er.

Werden wir uns aber nicht mit gutem Fug hier auf

unsere Behauptung berufen, daß der wahrhafte wissenschaftliche

Forscher nur der sein könne, der von

Natur für das Streben nach dem reinen Sein des Begriffs

seine Richtung hat, daß er nicht verbleiben

könne bei den mannigfaltigen Einzeldingen, denen

nur die subjektive Meinung ein Sein zuschreibt: sondern

daß er vielmehr weiter gehen müsse und sich

nicht blenden noch in seiner Liebe zurWahrheit kalt

machen lassen dürfe, bis er du ursprüngliche reine

Wesen von jedem Dinge erfaßt hat, und zwar mit

demjenigen Seelenvermögen, mit dem es zu erfassen

einem so Begabten zukommt, d.h. mit demjenigen,

das mit dem reinen Sein verwandt ist: und hat er mit

diesem Seelenvermögen dem wahren Sein sich einmal

genähert und sich mit ihm begattet und dadurch objektive

Vernunft und reine Wahrheit erzeugt, so hat er

dann erst die wahre Erkenntnis und lebt erst wahrhaft

und nimmt in diesem wahren Leben immer mehr zu

und bekommt so endlich von seinem Geburtsschmerze

Ruhe, eher aber nicht.

Ja, sagte er, ganz füglich.

Platon: Der Staat 349

Und was folgt nun weiter aus jener Grundtugend

derWahrheit? Wird der eben beschriebene Liebhaber

der Wahrheit die geringste Neigung zu Täuschung

und Lüge haben oder vielmehr ganz im Gegenteil

diese verabscheuen?

Verabscheuen, antwortete er.

Natürlich, wenn dieWahrheit seine Führerin ist, so

können wir ihr, glaube ich, keine Reihe von Untugenden

folgen lassen.

Unmöglich.

Im Gegenteil, einen verständigen und gerechten

Charakter werden wir derWahrheit als Begleiter

geben müssen, und mit diesem hängt dann ferner die

besonnene Mäßigung aller Begierden zusammen.

Richtig, bemerkte er.

Und damit natürlich auch das übrige Gefolge eines

nachWahrheit dürstenden Charakters; doch wozu

brauchen wir sie noch einmal von vorn wiederholtenmals

aufziehen zu lassen? Du erinnerst dich ja noch

wohl, daß nach dem Ergebnis unserer Untersuchung

von den eben erwähnten Tugenden das natürliche Gefolge

war: echte Männlichkeit, großartige Denkart,

Gelehrigkeit, gutes Gedächtnis. Und hierauf machtest

du den Einwurf: Ein jeder müsse zwar mit meiner Ansicht

theoretisch notwendig einverstanden sein; sähe

man aber von der Theorie ab auf die inWirklichkeit

vorkommenden Personen, die der Gegenstand jener

Platon: Der Staat 350

Theorie sind, so könne er nicht umhin zu behaupten,

manche davon seien sichtlich unbrauchbar, die meisten

aber von Grund aus sittlich verdorben. Und auf

diesen Einwurf suchten wir dann die Ursache dieses

üblen Rufes, und wir standen bereits bei der Frage,

warum denn die Mehrzahl sittlich verdorben sei, und

haben nun deswegen die erforderlichen angeborenen

Eigenschaften der wahrenWissenschaftsfreunde noch

einmal wiederholt und sie in ihrer notwendigen Aufeinanderfolge

definiert.

Ja, es ist so, sagte er.

Hinsichtlich dieser für echteWissenschaft erforderlichen

Anlage müssen wir nun erstlich die verschiedenen

Zerstörungsarten in Betracht ziehen, durch die sie

bei so vielen zugrunde geht, während nur ein kleiner

Teil sich durch die Flucht rettet, – die man dann bekanntlich

wenn auch nicht nichtsnutz, doch unbrauchbar

nennt: zweitens hernach müssen wir auch in Betrachtung

ziehen die Seelenbeschaffenheiten derer, die

die erwähnte echte Anlage zur Wissenschaft nur äußerlich

nachzuäffen suchen und ohne inneren Beruf

sich zum Studium derselben hindrängen, und wie sie

dann, weil sie zu einem für ihre Kräfte nicht geeigneten

und deren Maß übersteigenden Geschäft sich

drängen, auf mancherlei Weise sich Blößen geben

und dadurch auf alle Art und bei allerWelt echt wissenschaftlichem

Streben den üblen Rufanhängen, wie

Platon: Der Staat 351

du ihn da beschreibst.

Und welches sind denn nun, fragte er, die Zerstörungsarten,

die du da meinst?

Ich will sie dir, antwortete ich, wenn ich imstande

bin, darzustellen versuchen. Vor allem nun wird uns,

denke ich, alleWelt zugestehen, daß eine Naturanlage

der oben beschriebenen Art nebst allen den hohen Eigenschaften,

die wir eben von einem verlangten, wenn

er vollkommen ein Jünger derWissenschaft werden

wolle, selten und nur in geringer Zahl unter Menschen

vorkommen wird, – oder glaubst du nicht?

Ja, gewiß.

Für diese nun zugestandenermaßen ursprünglich

wenigen Köpfe siehe nun, wie viele und große Gefahren

gibt es!

Welche denn?

Was erstens am allerwunderbarsten lautet, ist, daß

jeder einzelne der Vorzüge, die wir an jener angeborenen

Anlage gerühmt haben, die ihn besitzende Seele

verderben und von echterWissenschaftlichkeit abziehen

kann, nämlich hohe Männlichkeit, Besonnenheit

und alle aufgezählten Tugenden.

Ja, meinte er, auffallend lautet das!

Ein zweites Verderben und Abziehen liegt in den

sogenannten Gütern, als da sind: Schönheit, Reichtum,

Körperstärke, eine im Staate einflußreiche Verwandtschaft

und überhaupt alle Herrlichkeiten, die

Platon: Der Staat 352

mit den genannten Dingen verschwistert sind; da hast

du im allgemeinen, was ich in diesen zwei Sätzen

meine.

Ja, sagte er, ich möchte indessen gern auch eine

speziellere Ausführung dieser von dir ausgesprochenen

Sätze hören.

So erfasse denn, erwiderte ich, jene Erscheinung in

ihrer Gesamtheit, und es wird dir sonnenklar werden:

jene vorhin hinsichtlich der angeborenen Anlagen angedeuteten

Gefahren werden dir dann nicht mehr auffallend

vorkommen.

Wie soll ich denn, fragte er, das machen?

Von jedem Samen und Geschöpf, sei es aus dem

Pflanzen oder Tierreiche, wissen wir, daß es, wenn es

nicht die ihm zukommende Nahrung,Witterung und

Örtlichkeit erhält, desto mehr hinter den ihm eigentümlichen

Vollkommenheiten zurückbleibt, je edler es

ist; denn auf das Edle wirkt das Schlechte zerstörender

als auf das Nichtedle.

Allerdings.

Es hat somit allgemein seine Richtigkeit, denke

ich, daß ein Geschöpf, je edler es ist, bei einer für es

ganz unpassenden Nahrung desto schlechter wegkomme,

als das gemeine.

Ja.

Nicht wahr, mein lieber Adeimantos, fuhr ich fort,

wir dürfen demnach auch aus dieser allgemeinen

Platon: Der Staat 353

Wahrheit die Behauptung aufstellen, daß auch die

Edelsten allemal ganz besonders schlecht werden,

wenn sie eine schlechte Erziehung bekommen? Oder

meinst du, die großen Verbrechen und die ausgemachteste

Schlechtigkeit kämen von einer gemeinen und

nicht viel mehr aus einer der Anlage nach herrlichen,

aber durch die erhaltene geistige Nahrung verdorbenen

Naturanlage, da ja eine schwache Natur zu

Großem weder im Guten noch im Schlechten Veranlassung

sein kann?

Nein, sagte er, von keiner gemeinen kommen sie,

sondern von einer solchen Natur.

Die vorhin von uns verlangte Naturanlage für den

künftigen echten Freund derWissenschaft wird, denke

ich, wenn sie den gehörigen Unterricht erhält, in jeder

Tugend notwendig zur Reife gelangen; dagegen wird

sie, wenn das Samenkorn ihres Talentes in dem ihr

gehörigen Unterrichtsboden nicht gepflegt und genährt

wird, zum Gegenteil ausschlagen, falls nicht ein

Gott ihr zu Hilfe kommen sollte. Oder bist vielleicht

auch du der Meinung wie die Menge, daß das Verderben

dieser oder jener jungen Leute von Sophisten ausgehe,

daß aber diejenigen Sophisten, die hier und da

eigene Lehrstühle haben, die Urheber davon seien,

und daß in diesen die Haupts Ursache jenes Verderbens

liege; Im Gegenteil, eben die Leute, die diese

Klagen führen, sind selbst die größten Sophisten und

Platon: Der Staat 354

verstehen es weit meisterhafter, die Menschen dazu zu

bilden und abzurichten, wozu sie wollen, und zwar

nicht nur junge, sondern auch alte, nicht nur männlichen,

sondern auch weiblichen Geschlechts!

Wann denn? fragte er.

Wenn sie, erwiderte ich, zu großen Haufen beisammen

in Volksversammlungen oder in Theatern oder in

Kriegslagern oder überhaupt sonst in einer öffentlichen

Volkszusammenkunft sitzen und da jedesmal

über diese oder jene Reden und Handlungen teils

Tadel, teils Lob aussprechen und jenen sowohl durch

übermäßiges Auszischen wie diesen durch übermäßiges

Zuklatschen übertreiben, während noch dazu die

Felswände und der Platz, an dem sie sich eben befinden,

durch denWiderhall den Lärm des Tadels und

Lobes noch verdoppeln.Welchen Herzenszug, wie

man zu sagen pflegt,muß da nun ein jungerMensch

haben? Und welche Schulbildung könnte hiergegen

ein Damm sein, die nicht von dem Schwalle solcher

Schmäh- und Lobreden weggeschwemmt würde, und

die nicht in diesem Strudel dem Strome folgte, wohin

dieser eben treibt? Und wird wohl er nicht dieselben

Dinge schön und häßlich nennen, nicht dieselben

Dinge treiben wie jene Menge, nicht denselben Charakter

annehmen?

Ja, antwortete er, das folgt mit der größten Notwendigkeit,

lieber Sokrates.

Platon: Der Staat 355

Und doch haben wir, warf ich ein, die größte Notwendigkeit

noch nicht vorgebracht!

Welche denn? fragte er.

Die, welche jene Staats-Schulmeister und Sophisten

durch Tätigkeit hinzufügen, wenn sie mitWorten

nicht überreden können. Oder weißt du nicht, daß sie

den, der ihnen nicht folgt, mit Verlust der bürgerlichen

Ehren, mit Geld- und Todesstrafen züchtigen?

Ja, meinte er, ich kenne sie gar wohl!

Welcher andere Sophist oder welche häusliche Belehrungen

können nun wohl jenen das Gegengewicht

halten, um darüber obzusiegen?

Ich glaube, keiner, antwortete er.

Freilich nicht, fuhr ich fort, und es nur zu wagen

verriete schon einen großen Unverstand. Denn es geschieht

nicht, geschah nicht und wird auch wohl nicht

geschehen, daß es eine andere Denkweise in Absicht

auf Tugend gebe als die, welche durch die Anleitung

jener Staats-Schulmeister eingepflanzt wird, versteht

sich, nach dem gewöhnlichen Gange menschlicherweise,

mein Lieber; die außerordentliche Fügung

eines Gottesfingers, wie man zu sagen pflegt, nehmen

wir bei unserer Behauptung freilich aus; denn wohlgemerkt,

wenn du behauptest, das, was sich unter solchen

Verfassungen noch rette und zur gehörigen Vollkommenheit

gelange, habe die besondere Fügung

eines Gottes gerettet, so wäre diese Äußerung gar

Platon: Der Staat 356

nicht so ungereimt.

Freilich, sagte er, und ich habe eigentlich auch gar

keine andere Meinung.

Nun denn, sprach ich, so mußt du ferner nebst dem

auch noch folgende Meinung haben…

Was für eine?

Daß ein jeder der um Geld lehrenden privaten Lehrer,

die jene »Sophisten« nennen und für Gegner ihres

Treibens halten, nichts anderes in seinem Unterrichte

verbreitet als eben nur jene Grundsätze der politischen

Volksmenge, über die sie in den Versammlungen

salbadert, und dies dann Staatsweisheit nennt.

Dies gemahnt einen dann gerade so, wie wenn jemand

bei Haltung einer ungeheuren und starken Bestie ihre

Leidenschaften und Begierden in der Hinsicht kennen

lernte, wie man ihr näher treten und wie man sie antasten

dürfe, wann sie am wildesten oder am zahmsten

sei und aus welchen Gründen, sowie unter welchen

Bedingungen sie gewöhnlich Töne hören lasse, und

aufweiche Töne eines anderen sie besänftigt und aufgebracht

werde; und wenn er alles dies dann durch

Beobachtung und Zeitaufwand erlernt hätte, es dann

Wissenschaft hieße, in eine wissenschaftliche Form

brächte und hinsichtlich dieser Lehrsätze sowohl wie

jener Neigungen ohne gründliche Kenntnisse der eigentlichen

Begriffe von Schön oder Häßlich, von Gut

oder Schlecht, von Gerecht oder Ungerecht doch alle

Platon: Der Staat 357

diese Ausdrücke von den Sinnesarten des ungeheuren

Tieres brauchte, indem er das gut hieße, was diesem

Vergnügen machte, und das schlecht, worüber es aufgebracht

würde, dabei aber sonst gar keine andere innere

vernünftige Begründung geben könnte, als daß er

die unbedingten Naturbedürfnisse gerecht und schön

hieße; aber von dem großen Unterschiede zwischen

dem eigentlichen Naturtriebe und dem wahrhaft Guten

weder eine klare Ansicht bekommen hätte noch ihn

einem anderen zeigen könnte.Würde bei solchem

Verfahren, bei Zeus, einer dir nicht als ein entsetzlicher

Lehrer vorkommen?

Ja, mir wenigstens, sagte er.

Wäre aber wohl nun ein Unterschied zwischen diesem

und jenem, der es fürWeisheit hält, der vielköpfigen

und bunten Volksmenge bei ihren Zusammenkünften

ihre Leidenschaft und ihre Gelüste abgemerkt

zu haben, sei dies nun in der Malerei oder in der

Musik oder in der Staatsweisheit, mit welcher letzteren

es natürlich hier dieselbe Bewandtnis hat wie mit

jenen Künsten? Denn eine ausgemachte Sache ist das:

wenn jemand sich mit jener Menge abgibt und vor ihr

entweder mit einer Dichtung oder sonst mit einem

Kunstwerke oder in einem Staatsdienste auftritt und

außer den ihn ohnehin schon beengenden Natureinflüssen

sich auch noch dem Einflusse des Pöbelurteils

unterwirft, so gebietet ihm dann die sprichwörtlich

Platon: Der Staat 358

gewordene Notwendigkeit des Diomedes, nur solche

Leistungen zu liefern, die den Beifall der Menge erhalten

können; aber daß diese Leistungen sich auf das

ewig Gute und Schöne gründeten, hast du darüber

schon einen eine andere Rechtfertigung geben hören,

die nicht lächerlich gewesen wäre?

Ja, ich glaube es, versetzte er, und ich werde auch

keine hören, die es nicht wäre.

Nachdem du nun alle diese Ursachen vom Verderben

wahrhaft wissenschaftlicher Anlagen beherzigt

hast, so bedenke auch noch diese Ursache unter Erinnerung

an das, was schon oben angedeutet wurde:

Das Schöne an sich und nicht die sichtbare Mannigfaltigkeit

von Schönheiten, oder überhaupt jedes Ding

an sich und nicht die sichtbare Mannigfaltigkeit von

Dingen, – kann möglicherweise das der große Haufen

je annehmen oder daran glauben?

Durchaus nicht, sagte er.

Wahrhaft wissenschaftlichen Sinn kann also, sagte

ich, die Masse unmöglich haben.

Unmöglich.

Die wahren Freunde derWissenschaft müssen

demnach auch notwendig von ihnen getadelt werden.

Notwendig.

Und dann natürlich auch von den gemeinen Pfuschern

in der Wissenschaft, die sich mit dem Pöbel

einlassen und ihm zu gefallen suchen?

Platon: Der Staat 359

Versteht sich.

Schon bei diesen hier erwähnten Gefahren siehst du

irgend eine Möglichkeit, daß eine wahrhaft wissenschaftliche

Natur sich retten, bei ihrem Berufsgeschäfte

standhaft verbleiben und zum Ziele kommen

könne? Betrachte die Sache aber noch weiter aus dem

zweiten der oben angedeuteten Gesichtspunkte:Wir

waren doch bekanntlich einverstanden, daß die Eigentümlichkeit

der erwähnten echt wissenschaftlichen

Natur in den Anlagen zu Gelehrigkeit, einem guten

Gedächtnisse, Männlichkeit, Hochherzigkeit bestehe.

Ja.

Wird nun ein Mensch von solchen geistigen Vorzügen

nicht von Jugend auf unter allen seinen Gespielen

in allen Stücken der erste sein, besonders wenn auch

seine Körpergestalt seinem Geiste entspricht?

Ja, ohne Zweifel, sagte er.

Da werden denn, denke ich, schonWünsche gehegt

werden, ihn einst, wenn er einmal älter wäre, zu ihren

Plänen zu gebrauchen, von Verwandten sowohl wie

von Mitbürgern.

Jedenfalls.

Sie werden also auch ihm demütiglich Bitten zu

Füßen legen, tiefe Bücklinge machen und so seine

hoffentlich einflußreiche Stellung der Zukunft durch

frühzeitige Schmeicheleien schon im voraus in Beschlag

nehmen.

Platon: Der Staat 360

Ja, sagte er, so geht es gern.

Wie wird nun, fuhr ich fort, ein solcher unter solchen

Umständen sich benehmen, besonders wenn er

Bürger einer großen Stadt ist, darin die Rolle eines

reichen und vornehmenMannes spielt, dazu noch

wohlgestaltet und schlank gewachsen ist? Wird er da

nicht von einer unbegrenzten Hoffnung erfüllt werden

und die Meinung von sich haben, daß er nicht nur die

Gebiete der Hellenen, sondern auch die der Barbaren

zu regieren imstande sein werde? Wird er unter diesen

Umständen sich nicht übermütig erheben, sich in die

Brust werfen und den Kopf voll Eitelkeit und leeren

Dünkels ohne Verstand haben?

Ja, sicher, sagte er.

Wenn zu einemMenschen in diesem Zustande jemand

nun ganz friedlich hinträte und ihm dieWahrheit

sagte, daß er kein Hirn im Kopfe habe; daß er

noch einer tieferen Einsicht bedürfe, diese aber nicht

zu erwerben sei, wenn man nicht um ihren Besitz wie

ein treuer Knecht sich bemühe, – glaubst du, daß seine

von so vielen Übeln umlagerten Ohren hierauf leicht

hören würden?

Weit gefehlt, sagte er.

Wenn nun aber auch, sprach ich, einer vermöge

ganz vorzüglicher Anlagen und wegen seiner Neigung

zu wissenschaftlichen Forschungen darauf merkte, zu

Studium gelenkt und hingezogen würde: was tun da

Platon: Der Staat 361

wohl jene, die dadurch glauben, seine Dienste und

seinen freundschaftlichen Verkehr zu verlieren? Werden

sie nicht jedes mögliche Mittel aufbieten, jede

mögliche Überredung anwenden einmal in bezug auf

seine eigene Person, damit er ja nicht sich bereden

lasse, und dann auch in bezug auf jenenWahrheitsprediger,

damit er nichts ausrichte, indem sie diesem

letzteren im Privatleben Schlingen legen und ihn bei

der Staatsbehörde in gefährliche Prozesse stürzen?

Ja, ganz notwendig, sagte er.

Gibt es nun eine Möglichkeit, daß ein solcher zur

wahrenWissenschaft gelangen kann?

Durchaus nicht.

Siehst du nun, fuhr ich fort, daß wir nicht ohne

Grund die Behauptung aufstellten: gerade die einzelnen

Bestandteile der Anlage eines wissenschaftlichen

Kopfes seien gewissermaßen eine Hauptursache des

Abkommens vom Studium, wofern sie nämlich in verkehrte

Pflege geraten; die zweite Hauptursache davon

seien die sogenannten Güter: Reichtum und überhaupt

die ganze Herrlichkeit dieser Welt?

Freilich nicht ohne Grund, sondern die Behauptung

hatte ihre Richtigkeit, erwiderte er.

So groß und von der Art, mein Bester, sagte ich, ist

also denn die Gefahr und das Verderben der edelsten

und für die edelste Beschäftigung bestimmten Naturanlage,

die nach unserer Aussage ohnehin schon so

Platon: Der Staat 362

selten ist. Und aus den Individuen dieser Art gehen

nun bekanntlich für die Staaten wie für die einzelnen

Bürger die größten Übeltäter hervor, wie auch die

größtenWohltäter, wenn sie durch besonderen glücklichen

Zufall diese letztere Richtung nehmen; ein armseliger

Kopf dagegen fügt keinem etwas Großes zu,

weder einem Bürger noch einem Staate.

Sehr wahr! sagte er.

Während nun einerseits diese auf jeneWeise entarteten

Abtrünnigen der wahrenWissenschaft, deren

nächste Angehörige sie ist, eben darum, weil sie sie

sitzen und im Stiche lassen, ihrerseits kein ihren Anlagen

entsprechendes, wahres Leben führen, drängen

sich ihr, wie einer von ihren nächsten Verwandten

verlassenenWaise, andere. Unberufene auf und hängen

ihr dann dadurch solche Schmach und Schande

an, wie sie deiner Aussage nach von ihren Anklägern

vorgeworfen werden: von denen, die sich tiefer mit ihr

einließen, wäre ein Teil zu nichts nütze, der größte

Teil sogar verdiente das größte Unglück.

Ja, versetzte er, das sind die Äußerungen, die getan

werden.

Und sie werden ganz mit Recht getan, erwiderte

ich.Wenn nämlich andere Menschenkindlein sehen,

daß dieser Platz leer steht und schöne Titel undWürden

mit sich bringt, so springen, wie die Zuchthäusler

in die heiligen Freistätten entlaufen, ebenso freudig

Platon: Der Staat 363

aus ihren Alltagsberufen in das Bereich derWissenschaft

alle jene, die etwa im beschränkten Kreise ihres

ursprünglichen Handwerks die Nase etwas hoch tragen.

Denn derWissenschaft, wenngleich sie im erwähnten

schlimmen Zustande sich befindet, bleibt

doch, wenigstens im Vergleich zu den übrigen Professionen,

noch ein Ansehen übrig, das alle überstrahlt.

Danach trachten nun bekanntlich die meisten, obgleich

sie erstlich schon von Natur unvollkommene

Anlagen haben und dann auch unter dem Drucke ihrer

Berufe und Handwerke infolge der Stubenhockereien

ebenso hinsichtlich ihrer Seelen zusammengeschrumpft

und ausgemergelt sind, wie sie auch schon

am Körper die Zeichen der Verkrüppelung tragen;

oder ist das nicht eine notwendige Folge?

Ja, sicher, sagte er.

Gewähren denn nun, sprach ich, jene Leute wohl

einen anderen Anblick als etwa ein zu einem Sümmchen

Geld gekommener Gesell in einer Schmiede,

neulich erst der Sklavenkette entwischt, jetzt aber in

einem Bade rein gewischt, in ein neues Gewand gekleidet,

wie ein Bräutigam herausgeputzt und bereit,

die Tochter seines Herrn zu heiraten, weil sie verarmt

und von ihren nächsten Verwandten verlassen ist?

Kein sehr verschiedener Anblick, sagte er.

Was für Geburten müssen nun solche Leute hervorbringen?

Nicht bastardartiges und schlechtes Zeug?

Platon: Der Staat 364

Ganz notwendig.

Nun hiervon die Anwendung:Wenn Leute, die für

eine höhere Bildung gar keine Fähigkeiten haben,

ohne die gehörige Ebenbürtigkeit sich mit dieser verehelichen,

– was für Hirngeburten und Ansichten müssen

diese dann erzeugen? Nicht wohl solche, die in

Wahrheit den Namen Sophistereien verdienen, und

was gar keine Spur eines edlen Ursprungs und auch

nicht denWert eines gründlichen Nachdenkens an

sich trägt?

Ja, das allerdings, sagte er.

Es bleibt also, fuhr ich fort, mein lieber Adeimantos,

eine ganz geringe Zahl von ebenbürtigen Freiern

der wahrenWissenschaft, entweder ein von Verbannung

ereiltes, von Natur edles und wohlerzogenes

Gemüt, das aus Mangel der erwähnten Verderber bei

ihr geblieben ist, oder wenn in einer kleinen Stadt

eine große Seele geboren wird, die das Treiben um die

Staatsmaschine aus Geringschätzung übersieht;

manchmal mag einer oder der andere Kopf auch von

einem anderen Berufe, den er nicht ohne Grund für

unter seinerWürde hält, zu ihr übergehen; auch der

unserem Freunde Theages angelegte Zügel kann imstande

sein, dabei festzuhalten. Beim Theages nämlich

ist alles übrige darauf angelegt zum Abwendigwerden

von der Wissenschaft; aber die schwächliche

Gesundheit, die ihm die Teilnahme an

Platon: Der Staat 365

Staatsgeschäften verwehrt, hält ihn dabei fest. Und

was mich betrifft, so war bei mir die göttliche Stimme

meines guten Geistes in mir schuld, welcher Fall hier

jedoch nicht angeführt werden darf, denn er ist bei

keinem der Freunde derWissenschaft vor mir vorgekommen.

Und welche nun von dieser ohnehin geringen

Anzahl wohlgeraten sind und einmal gekostet

haben, wie süß und herrlich die Sache ist, und welche

andererseits die Tollheit des souveränen Pöbels sehen,

ferner sehen, daß niemand, um es geradeheraus zu

sagen, in den Staatsangelegenheiten etwas mit gesundemMenschenverstande

treibt, und daß es auch keinen

zweiten Mann gibt, mit dem man zum Schutze

der gerechten Sache mit heiler Haut ausziehen könnte,

sondern daß man wie ein unter wilde Tiere geratener

Mensch, ohne denWillen, mitzusündigen, oder ohne

die Kraft, allen UngetümenWiderstand zu leisten,

noch vor einer Dienstleistung gegen den Staat oder

seine Freunde zugrunde geht, ohne Nutzen für sich

und die übrigen, – wer, sage ich, alle diese Umstände

in vernünftiger Überlegung zusammenfaßt, wird ganz

in der Stille leben, nur seine eigenen Angelegenheiten

besorgen und – wie einer, der beim brausenden Sturme

einer Staubwolke oder eines Platzregens sich unter

Dach gestellt hat, – beim Anblicke der übrigen im

Schmutze eines zügellosen Treibens sich in der Seele

freuen, wenn er nur das Leben hienieden rein von

Platon: Der Staat 366

Ungerechtigkeit und frevelhaften Handlungen vollbringen

und von ihm mit guter Hoffnung, heiter und

guten Mutes Abschied nehmen kann.

Und gewiß, versetzte er, hat er dann nichts Geringes

erkämpft, wenn er so scheiden kann.

Und doch auch nicht das Allergrößte, sprach ich,

weil ihm nicht das Glück einer seinen Anlagen entsprechenden

Staatsverfassung zuteil ward; denn in

einer entsprechenden Staatsverfassung würde er sich

selbst noch mehr vervollkommnet und nebst dem

Heile seiner eigenen Seele auch das des Staates bewirkt

haben. – Diese Frage also, aus welchen Gründen

die wahreWissenschaft (die Philosophie) in Verruf

geraten, und zwar nicht mit Recht, scheint mir nun

hinlänglich beantwortet zu sein, wenn nicht du noch

etwas vorzubringen hast.

Nein, sagte er, ich habe über diese Frage nichts

mehr vorzubringen; aber was die jenerWissenschaft

entsprechende Staatsverfassung anlangt, welche der

heutigen verstehst du denn darunter?

Gar keine auf dieser Welt, erwiderte ich; denn das

ist ja eben meine Klage, daß es unter den heutigen gar

keine Staatseinrichtung gibt, die für die Entwicklung

eines echt philosophischen Kopfes geeignet wäre;

deshalb verwandelt und verschlimmert sich auch seine

ursprüngliche Anlage, und wie ein in ein anderes

Land verpflanztes ausländisches Gewächs endlich

Platon: Der Staat 367

unterliegt und ausartend in die Natur des Inlandes

gerne übergeht, so kann auch jene wissenschaftliche

Pflanzschule ihre angeborene Kraft nicht bewahren,

sondern schlägt in eine andere Art aus.Wenn sie aber

den Boden des vollkommensten Staates einmal bekommt,

wie sie selbst eine Vollkommenheit ist, –

dann wird sie sonnenklar zeigen, daß sie ursprünglich

göttlich war, alles übrige aber menschlich, sowohl

hinsichtlich der Anlagen als auch der Beschäftigungen.

Offenbar wirst du nun danach fragen, welches

jene Staatsverfassung sei.

Nicht getroffen! antwortete er; denn danach wollte

ich nicht fragen, sondern ob es eben jene Verfassung

sei, die wir beim Aufbau unseres Staates dargestellt

haben, oder eine andere?

Ja, sprach ich, diese ist’s in den übrigen Beziehungen

wie ganz besonders in dem Hauptpunkte, von

dem oben schon die Rede war, als wir sagten, daß in

dem Staate immer ein Halt für eben das theoretische

Ideal der Verfassung im Staate dasein müsse, welches

auch du als Gesetzgeber eben aufrechthieltest und wonach

du die Gesetze gäbest.

Ja, davon war die Rede, sagte er.

Aber nicht mit der gehörigen Entwicklung, erwiderte

ich, aus Furcht vor euren Einwürfen, durch die

ich von euch bereits angedeutet bekommen habe, daß

die nähere Erörterung jenes Ideals lang und schwierig

Platon: Der Staat 368

ist; denn auch der übrige Teil der Beweisführung ist

nicht durchweg sehr leicht.

Welcher denn?

Auf welcheWeise ein Staat mit gründlicherWissenschaft

sich befaßt, ohne dadurch unterzugehen.

Denn alles Große hat ja seine Schwierigkeit, und, wie

das Sprichwort sagt, das Schöne ist in der Tat

schwer.

Aber dessen ungeachtet, sagte er, muß die Beweisführung

ihr Ende bekommen und dieser übrige Teil

ins klare gebracht werden!

Nicht der böseWille, antwortete ich, sondern es

wird, wenn irgend etwas, das Unvermögen daran hinderlich

sein; denn was meine Bereitwilligkeit anlangt,

so wirst du diese schon als Augenzeuge kennen. Sieh

aber auch jetzt eine Probe, wie bereit und waghalsig

ich in dieser Beziehung bin: Ich wage den Satz auszusprechen,

daß ganz auf die entgegengesetzteWeise,

als es heutzutage geschieht, jenes Studium der Staat

angreifen müsse.

Wie denn?

Heutzutage, sagte ich, sind die, welche es ergreifen,

noch junge Bürschchen, kaum aus den Knabenschuhen,

und wenn sie so mittendurch zwischen den Geschäften

der Haushaltung und ihres Gewerbes bis zum

schwierigsten Teile vorgedrungen sind, so lassen sie

es liegen, und diese gelten noch für die größten

Platon: Der Staat 369

Freunde derWissenschaft – unter dem schwierigsten

Teile verstehe ich aber die Beschäftigung mit den Begriffen;

wenn sie dann in der späteren Zeit auf die

Veranlassung, weil auch andere dies tun, zum Besuche

von Vorträgen sich bequemen, so glauben sie

wunder was sie täten, indem sie imWahne leben, daß

man jenes Studium nur als Nebenwerk zu treiben

brauche; gegen das hohe Alter aber hin erlischt ihr

Eifer mit wenigen Ausnahmen noch viel mehr als die

Sonne des Herakleitos, indem er so bald bei ihnen

sich nicht wieder entzündet.Wie soll man dieWissenschaft

aber nun treiben? fragte er.

Ganz entgegengesetzt: schon Jünglinge und Knaben

müssen eine dem jugendlichen Alter angemessene

Geistesentwicklung undWissenschaft bekommen,

dabei auch für die Ausbildung ihrer Körper sorgen,

solange sie wachsen und zu Männern reifen und dadurch

eine fördernde Stütze für ihre geistige Bildung

gewinnen; beim Herannahen des Alters aber, in dem

das Seelenleben die volle Reife zu erlangen beginnt,

müssen sie ihre Übungen steigern; endlich, wenn die

Körper kraft schon nachläßt und für die Staats- und

Kriegsdienste nicht mehr ausreicht, dann müssen sie,

von allem entbunden, nur ihre Seele weiden und jedes

andere Geschäft höchstens als Nebenwerk treiben, sie,

die glücklich leben und nach ihrem Ende dem hier

vollbrachten Leben ein entsprechendes Los im

Platon: Der Staat 370

Jenseits folgen lassen wollen.

Ja, sagte er da, das heiße ich waghalsige Sätze aufstellen,

o Sokrates; ich glaube indessen, daß die meisten

derer, die sie hören, dir noch waghalsiger widersprechen

und sich auf keineWeise davon überzeugen

lassen werden, besonders Thrasymachos hier.

Entzweie doch, entgegnete ich, mich und Thrasymachos

nicht, nachdem wir eben Freunde geworden

sind und auch vorher keine Feinde waren! Ich will es

ja durchaus nicht an Versuchen fehlen lassen, bis ich

entweder diesen und die übrigen zur Überzeugung gebracht,

oder doch wenigstens etwa eine Vorarbeit

dazu für jenes Leben der Zukunft geliefert habe, wenn

sie nach einer abermaligen Geburt etwa wieder auf

solche Untersuchungen stoßen.

Ja, sagte er, da hast du auf einen kurzen Termin appelliert!

Auf die Zeit eines Augenblicks ja nur, erwiderte

ich, verglichen mit der Ewigkeit! Wenn übrigens die

große Masse sich von meinen Behauptungen nicht

überzeugt, so ist dies gar keinWunder: denn wir

haben ja noch niemals in derWirklichkeit die hier

aufgestellte theoretische Behauptung wahrgenommen,

sondern nur ähnliche Phrasen, die künstlich in ein

äußeres System gebracht waren, nicht Gedanken, die

unwillkürlich mit derWirklichkeit identisch sind; ein

menschliches Individuum gar, das dem Ideale der

Platon: Der Staat 371

Tugend gleich ist, sie so vollkommen wie möglich sowohl

in der Praxis wie in der Theorie ausdrückt, in

einem ähnlichen Staate die oberste Macht und Gewalt

besitzt, – dies haben sie niemals gesehen, weder in der

Einheit noch weniger in der Mehrheit: oder glaubst

du?

Nein, keineswegs.

Auch haben sie ferner, mein Teuerster, noch keine

echten und uninteressierten Untersuchungen über wissenschaftliche

Gegenstände anzuhören bekommen,

d.h. von solchen, die dieWahrheit mit Anstrengung

und auf jedeWeise bloß des Erkennens wegen suchen,

und die vor jenen Pfiffen und Spitzfindigkeiten,

die auf nichts anderes als auf Ruhm und Rechthaberei

in Gerichtshöfen wie im privaten Verkehr zielen, sich

schon von weitem segnen.

Nein, erwiderte er, solche Vorträge haben sie auch

nicht gehört.

Eben deshalb, fuhr ich fort, und in Voraussicht dessen

stellten wir vorhin, wiewohl nicht ohne Besorgnis,

jedoch von der Wahrheit gezwungen, den Satz

auf, daß weder ein Staat noch eine Verfassung noch

ebensowenig ein menschliches Individuum vollkommen

werden könne, bis jenen wenigen wahren Jüngern

derWissenschaft, die wenn auch nicht als nichtswürdig,

doch als unbrauchbar verschrieen sind, eine

gewisse zwingende Notwendigkeit aus ungefähr

Platon: Der Staat 372

zustößt, mögen sie wollen oder nicht, sich mit dem

Staate abzugeben und der Stimme des Staatswohles

Gehör zu schenken, oder bis Söhne der jetzigen gewalthabenden

Familien und Königshäuser entweder

von selbst oder durch göttliche Eingebung zur wahren

Wissenschaft (der Philosophie) wahre Liebe bekommen.

Daß aber einer von beiden Fällen oder alle beide

unmöglich seien, dafür erkläre ich keinen Grund zu

haben; und nur im Falle solcher absoluten Unmöglichkeit

könnten wir mit Fug als solche ausgelacht

werden, die nur theoretische Luftschlösser bauen.

Oder ist’s nicht so?

Ja.

Wenn also Fürsten der Wissenschaft zur Verwaltung

eines Staates entweder in der unendlichen vergangenen

Zeit durch den Zwang einer unbedingten

Notwendigkeit gekommen sind oder in einer Gegend

des Auslandes weit aus unserem Gesichtskreise dazu

gegenwärtig kommen oder noch dazu in Zukunft kommen

werden, so wären wir in dieser Beziehung erbötig,

die Behauptung mit Gründen durchzufechten, daß

die von uns aufgestellte Staatsverfassung wirklich

war, wirklich ist, wirklich sein wird, – falls eben jene

wahreWissenschaft die Herrschaft über einen Staat

erlangt hat. Absolut unmöglich ist ja diese unsere

Staatsverfassung nicht; sonach sind auch nicht unmöglich

unsere Behauptungen; daß ihre Ausführung

Platon: Der Staat 373

aber ihre Schwierigkeiten habe, ist von uns auch zugegeben.

Ja, sagte er, auch ich denke so.

Damit willst du sagen, erwiderte ich, die große

Masse andererseits denkt nicht so?

Möglich, sagte er.

Mein Bester, fuhr ich fort, klage doch nicht so sehr

die Leute der großen Masse an; sie werden schon eine

andere Ansicht bekommen, wenn du sie nicht streitsüchtig

angehst, sondern mit gutenWorten belehrst,

die Gelehrsamkeit vom bösen Rufe befreist, ihnen

zeigst, was für Männer du unter deinen Philosophen

verstehst, und wie eben eine nähere Erklärung von

ihren Anlagen und von dem Zwecke ihres Studiums

gibst, damit die Leute nicht die Meinung behalten, du

verständest unter Philosophen jene, die sie meinten.

Oder gibst du nicht dein Ja dazu, daß sie, wenn sie

diese Einsicht erhalten, eine andere Meinung bekommen

und eine andere Sprache führen werden? Oder

glaubst du, es werde jemand aus dem Volke heftig

sein gegen einen, der nicht heftig ist, boshaft gegen

einen, der nicht boshaft ist, – das Volk, das an sich

ohne Falsch und gutmütig ist? Ich komme hier deiner

Antwort zuvor und erkläre für meine Person, daß nach

meiner Meinung nur unter gewissen wenigen, nicht

unter der Menge, ein so böser Charakter vorkomme.

Ja, sei versichert, sprach er, auch ich teile diese

Platon: Der Staat 374

Meinung.

Folglich teilst du auch eben diese Meinung, daß am

Widerwillen der Leute aus der Volksmenge gegen

Philosophie die Schuld nur jene tollkühnen Eindringlinge

ohne Beruf haben, die jene Leute mit Schimpfwörtern

behandeln, mutwillig anfeinden und ihre Vorträge

nur über Welthändel halten, ein Verfahren, wodurch

sie echt wissenschaftlichem Streben gar keine

Ehre machen?

Jawohl, sagte er.

Es hat auch, mein lieber Adeimantos, wer inWahrheit

seinen Verstand auf das wahrhaftWesenhafte der

Dinge richtet, gar keine Zeit, hinab auf das Treiben

derWeltkinder zu blicken, sich mit ihnen herumzuschlagen

und dadurch sich Haß und Feindschaft zu

bereiten: sondern nur Zeit dafür, seinen Blick und

seine Betrachtung auf eineWelt zu richten, worin eine

ewige Ordnung und Unwandelbarkeit herrscht, worin

dieWesen weder Unrecht tun noch von einander leiden,

und worin alles nach einer himmlischen Ordnung

und Vernunftmäßigkeit geht, sowie dann dieseWelt

nachzuahmen und soviel als möglich davon in seinem

Leben ein Abbild darzustellen. Oder glaubst du, es

sei eine Möglichkeit, daß jemand mit etwas gern umgehe,

ohne es nachzuahmen?

Unmöglich, sagte er.

Der mit Göttlichem undWohlgeordnetem

Platon: Der Staat 375

umgehende Jünger der wahrenWissenschaft wird

demnach auch wohlgeordnet und göttlich, soweit es

einemMenschen möglich ist: denn üble Nachrede

gibt es bei allen noch genug.

Ja, allerdings.

Wenn ihm nun, fuhr ich fort, irgend ein Zwang aufgelegt

wird, darauf zu denken, die in jenerWelt geschauten

Ideen in das Bürger- und Staatsleben zu verpflanzen

und nicht bloß auf seine persönliche Bildung

zu beschränken: glaubst du, er werde da ein ungeschickter

Arbeiter werden in Hervorbringung von besonnener

Mäßigung, von Gerechtigkeit und überhaupt

von jeder Bürgertugend?

Durchaus nicht, meinte er.

Ja, wie gesagt, wenn die Leute der Menge nur einmal

einsehen, daß wirWahrheit von ihm berichten, –

werden sie da über die wahrhaften Jünger derWissenschaft

noch aufgebracht sein und unseren Versicherungen

mißtrauen, daß ein Staat niemals glücklich

werden könne, wenn nicht Maler den Plan dazu entworfen

haben nach einem göttlichen Ideale?

Sie werden nicht mehr aufgebracht sein, versetzte

er, wenn sie einmal diese Einsicht bekommen haben

werden; aber auf welcheWeise denn soll jener Plan

entworfen werden?

Sie nehmen, erwiderte ich, einen Staat und die

menschlichen Naturtriebe wie die Tafel eines zu

Platon: Der Staat 376

entwerfenden Gemäldes und machen diese erstlich

rein, was gar keine leichte Arbeit ist; aber selbstverständlich

unterscheiden sie sich wohl gleich von Anfang

an von den übrigen Staatsmännern dadurch, daß

sie weder mit einem einzelnen Menschen noch mit

einem Staate oder mit einer Gesetzgebung sich befassen

wollen, bevor sie ihn entweder schon gesäubert in

die Hand nehmen oder selbst sauber machen.

Und das mit Recht, warf er ein.

Nicht wahr, sodann müssen sie wohl den Grundriß

der Verfassung entwerfen?

Allerdings.

Hierauf, denke ich, begeben sie sich an das genauere

Ausmalen, sehen dabei öfters hinüber und herüber,

bald auf die ursprüngliche Idee des Gerechten,

Schönen, Besonnenen usw., bald wiederum auf das in

der wirklichen Menschenwelt als solches Geltende,

und stellen also mittels ihrer Studien durch Vermählung

und Vermischung das Menschenideal dar, indem

sie hierbei nach jenem sich richten, was bekanntlich

schon Homer, wo er es in der Menschenwelt verwirklicht

fand, ein Götterbild und göttliches Ideal genannt

hat.

Ja, richtig, sagte er.

Dabei werden sie, glaube ich, bald hier eine irdisch

menschliche Farbe austilgen, bald dort eine göttliche

auftragen, bis sie die irdisch menschlichen

Platon: Der Staat 377

Natureigentümlichkeiten gottgefällig gemacht haben.

Ja, meinte er, sehr schön muß das Gemälde werden.

Wie? fuhr ich fort, werden wir jene Leute, die nach

deiner Bemerkung von vorhin im Sturmschritte gegen

uns zogen, nun bald überzeugen, daß kein anderer als

solcher Verfassungsmaler es ist, den wir vorhin bei

ihnen so hoch priesen und dessentwegen sie wider uns

aufgebracht wurden, weil wir ihm die Verwaltung des

Staates zu übergeben befahlen, und werden sie bei

Anhören jener Beschreibung etwas gelassener werden?

Ja, sehr, sagte er, wenn sie gesunden Verstand

haben.

In welcher Beziehung werden sie denn auch noch

Zweifel erheben können? Etwa daß unsere Wissenschaftsjünger

keine Liebhaber des Reichs des ewigen

und wahren Seins seien?

Das wäre unmöglich, sprach er.

Nun, so etwa, daß ihre angeborene Geistesanlage

nicht verwandt sei mit dem von uns dargestellten

Göttlichen?

Auch das nicht.

Oder ferner, daß eine solche angeborene Geistesanlage

nach Erlangung der entsprechenden Bildungsmittel

nicht vollkommen sittlich gut sein und mehr als

jede andere nach der Philosophie trachten werde?

Oder sollten sie es eher von jenen behaupten, die wir

Platon: Der Staat 378

ausgeschlossen haben?

Nein doch.

Werden sie also noch wild werden bei unserer Behauptung:

erstlich, daß, ehe der Stand der wahren

Wissenschaft (Philosophie) an die Spitze kommt,

weder Staat noch Bürger Ruhe von ihren Leiden bekommen

werden; zweitens, daß auch die von uns in

der Idee aufgestellte Staatsverfassung nicht eher ihre

Wirklichkeit bekommen werde?

Vielleicht, meinte er, werden sie jetzt weniger wild

sein. Nun, sprach ich, wollen wir sie statt weniger

nicht lieber ganz besänftigt und überzeugt sein lassen,

damit sie wenigstens ihre Beschämung eingestehen?

Sehr wohl, sagte er.

JeneWidersager aus der großen Masse nun, fuhr

ich fort, müssen also von dieser Behauptung (daß die

wahreWissenschaft den Staat regieren müsse) einmal

überzeugt sein.Wird aber über folgende weitere Behauptung

jemand einen Zweifel haben können, daß

Söhne von Königen oder anderen Machthabern einmal

mit echt philosophischen Anlagen geboren werden

können?

Niemand, sagte er.

Daß sie aber trotz dieser angeborenen Anlagen mit

großer Wahrscheinlichkeit das Schicksal haben, zu

verderben, das könnte wohl jemand behaupten; denn

daß sie allerdings mit Mühe durchkommen, räumen

Platon: Der Staat 379

auch wir zusammen ein: dagegen, daß in aller Ewigkeit

von allen niemals ein Einziger unversehrt durchkomme,

– kann das wohl jemand in gerechten Zweifel

ziehen?

Schlechterdings nicht!

Aber, fuhr ich fort, ein Einziger auf derWelt, wenn

er einen folgsamen Staat in die Hände bekommt, ist

hinreichend, alle Dinge zu verwirklichen, die jetzt unglaublich

sind.

Ja, hinreichend.

Denn wenn irgendwo, sprach ich, ein Herrscher die

Gesetze und die von uns angedeuteten Beschäftigungen

einführt, so ist dann doch keine Unmöglichkeit

vorhanden, daß die Bürger diese Gebote bereitwillig

ausführen.

Auf keinen Fall.

Ferner, daß unsere Ansichten auch die Ansichten

anderer Leute werden, – wäre denn das wohl einWeltwunder

oder eine Unmöglichkeit?

Ich glaube es nicht, antwortete er.

Ferner, daß diese Ansichten jedenfalls die besten

seien, sofern möglich, das haben wir, wie ich glaube,

hinlänglich im Vorhergehenden dargetan.

Ja, hinlänglich.

Nun denn, so ergibt sich hieraus das offenbare Resultat:

Die von uns hinsichtlich der Staatseinrichtung

aufgestellten Grundsätze seien die besten, wenn sie

Platon: Der Staat 380

verwirklicht würden; schwierig aber sei ihre Ausführung,

nicht jedoch ganz unmöglich.

Ja, das ist das Resultat, meinte er.

Nicht wahr, nachdem diese Frage endlich ihre Erledigung

bekommen hat, so sind die übrigen nach dieser

noch zu erörtern: Erstens, nach welcher Methode

sowie mittels welcher Lerngegenstände und Beschäftigungen

die Erhalter unserer Staatsverfassung herangebildet

werden; zweitens, in welchem Alter sie sich

mit diesen oder jenen jedesmal beschäftigen sollen?

Ja, sagte er, freilich ist das noch zu erörtern.

Gar nichts, sagte ich, hat mir also mein schlauer

Einfall geholfen, daß ich vorhin die heikle Erörterung

in bezug auf die Art desWeibernehmens und der Kindererzeugung

sowie auf die Einsetzung der Herrscher

beiseite schob, in der Überzeugung, daß die Ausführung

sowohl mit Volkshaß wie mit großer Schwierigkeit

verbunden ist, wenngleich sie auf der reinsten

Wahrheit beruht; jetzt nämlich ist dessenungeachtet

die Nötigung gekommen, auf jene Fragen näher einzugehen.

Und da sind nun bekanntlich einerseits die

Fragen in betreff der Weiber und Kinder bereits abgefertigt;

aber auf das Kapitel von den Regierenden ist

noch einmal zurückzukommen, und zwar wie von

vorn an.Wir sprachen uns aber, wenn du dich erinnerst,

früher dahin aus, daß sie sich als gute Patrioten

bei Prüfungen in Freuden wie in Leiden beweisen und

Platon: Der Staat 381

die Probe ablegen müßten, daß sie diese Gesinnung

weder in Mühseligkeiten noch in Gefahren noch in irgend

einer anderen Erschütterung niemals außer acht

lassen; oder, wer es nicht könne, sei auszuschließen;

wer aber aus jeder Probe unversehrt hervorgehe, wie

im Feuer geprüftes Gold, der sei als Herrscher zu bestimmen,

und ihm sei Preis und Ehre zu erweisen im

Leben wie im Tode. So etwa lauteten unsere Äußerungen,

als die Untersuchung vomWege ausbog und,

ohne ihre Absicht erkennen zu geben, sich daneben

vorbeischlich aus Furcht, das jetzt nun auf das Tapet

gekommene Kapitel in Anregung zu bringen.

Sehr richtig bemerkt, sagte er; ja, ich erinnere

mich.

Bedenklich war’s, sprach ich, mein Lieber, die Äußerungen

zu tun, die jetzt einmal gewagt worden sind:

jetzt ja muß die Behauptung heraus: Zu den tüchtigsten

Staatshütern darf man nur die echten Jünger der

Wissenschaft (die Philosophen) bestellen.

Ja, sagte er, heraus muß sie.

Zu bedenken ist hier nun bekanntlich, daß du deren

wahrscheinlich nur wenige haben wirst; denn von der

nach unserer Beschreibung dazu erforderlichen Anlage

wachsen die einzelnen Bestandteile nicht gerne auf

einem und demselben Stamme beisammen, sondern

sie finden sich gewöhnlich nur vereinzelt vor.

Wie meinst du das? fragte er.

Platon: Der Staat 382

Gelehrigkeit, gutes Gedächtnis, Geistesgegenwart,

Scharfsinn und die weiteren Geisteseigenschaften finden

von Natur sich doch bekanntlich nicht leicht beisammen;

ferner Köpfe von jugendlichem Feuergeiste

und hoher Sinnesart haben nicht leicht zugleich die

Eigenschaft, eingezogen in Stille und in festen Grundsätzen

zu leben; sondern Menschen der Art werden

von der Raschheit ihres Geistes dahin getrieben,

wohin es der Zufall will, und die Festigkeit des Charakters

geht ihnen gänzlich ab.

Ja, richtig bemerkt, sagte er.

Nicht wahr, dagegen jene festen und nicht leicht

wandelbaren Charaktere, auf die man sich wegen ihrer

Treue verlassen könnte, und die im Kriege gegen die

Gefahren wie Mauern stehen, tun dasselbe gleichfalls

beim Erlernen der Künste undWissenschaften, sind

auch hier Mauern, hartköpfig, als wenn sie vernagelt

wären, Schlafens und Gähnens voll, wenn sie eine

geistige Arbeit vornehmen sollen?

Es ist so, sagte er.

Nach unserer Forderung aber müßte einer in beiden

Stücken gut und wohlbeschlagen sein, oder man dürfte

ihn weder an der höchsten Bildung noch an der

höchsten Ehre und Gewalt teilnehmen lassen.

Recht, versetzte er.

Nicht wahr, selten wird nun wohl jener Fall vorkommen?

Platon: Der Staat 383

Allerdings.

Eine Probe muß er also bestehen nicht nur in den

vorhin schon erwähnten Beschwerden und Schrecknissen

sowie in den Reizen sinnlicher Lüste, sondern

man muß, was wir vorhin übergingen, jetzt aber hinzufügen,

auch noch in vielen Lehrgegenständen seine

Seele üben und dabei beobachten, ob sie imstande sei,

die größtenWissenschaften zu ertragen, oder ob sie

auch hierbei den Mut verliert, wie die Feiglinge in

den körperlichen Übungen.

Ja, sagte er, es muß allerdings diese Beobachtung

stattfinden; aber was verstehst du denn unter den

»größtenWissenschaften«?

Du erinnerst dich wohl daran, antwortete ich, daß

wir nach Aufstellung dreier Seelenvermögen daraus

das eigentliche Wesen von Gerechtigkeit, Besonnenheit,

Tapferkeit undWeisheit ermittelten.

Ohne meine Erinnerung hieran, sprach er, wäre ich

nicht wert, die übrigen Belehrungen zu vernehmen.

Auch wohl an die damals zuvor gemachte Bemerkung

erinnerst du dich?

An welche denn?

Wir machten wohl damals die Bemerkung, daß es,

um dasWesen jener Tugenden vollkommen einzusehen,

noch einen anderen, jedoch etwas weiteren,

Umweg gebe, nach dessen Zurücklegung es einem

sonnenklar werde; man könnte jedoch Erörterungen

Platon: Der Staat 384

nachMaßgabe der vorhergehenden Besprechungen

folgen lassen. Und ihr sagtet damals, daß es euch genüge,

und so wurde denn die Abhandlung dieses Gegenstandes

damals, wie es mir vorkommt, ohne die

gehörige Gründlichkeit abgemacht: wenn sie euch

aber hinlänglich scheint, so mögt ihr das sagen.

Nun, mir wenigstens, sagte er, schien sie das gehörige

Maß zu haben, und es war dies unstreitig auch

bei den übrigen der Fall. Aber, mein Freund, erwiderte

ich, das Maß in dergleichen Dingen, wenn es auch

um ein kleines Teilchen der wahren Vollständigkeit

ermangelt, ist kein gehöriges; denn Unvollständigkeit

ist durchaus nicht ein gehöriges Maß von etwas. Aber

es scheint bisweilen manchen Leuten eine Sache

schon ihre Richtigkeit zu haben, um keine weitere

Untersuchung anstellen zu müssen.

Ja, sicher, sprach er, haben manche diese Neigung

aus Leichtsinn.

Diese Neigung aber, sagte ich, soll durchaus nicht

sein bei einem Hüter des Staats und der Gesetze.

Versteht sich, sprach er.

Den größeren Umweg also, mein Freund, sagte ich,

muß ein solcher gehen und muß ebenso auf dem Felde

derWissenschaft sich anstrengen wie auf dem Turnplatze,

oder er wird niemals an das Ziel der vorhin erwähnten

größten und aller notwendigstenWissenschaft

gelangen.

Platon: Der Staat 385

Begreifen denn die bisher verhandelten Gegenstände,

fragte er, nicht schon die höchste Wissenschaft,

und gibt es noch eine größere als Gerechtigkeit und

die damit von uns dargestellten Tugenden?

Ja, es gibt noch eine größere, versetzte ich; von

eben diesen Tugenden darf er nicht bloß wie bisher

einen Schattenriß schauen, sondern er muß unablässig

nach ihrem höchsten wirklichen Ideale streben; oder

wäre es nicht lächerlich, bei anderen geringfügigen irdischen

Dingen in Absicht auf Sorgfalt und reinste

Vollendung mit aller Kraftanstrengung sich Gewalt

anzutun, dagegen von den größten Gütern nicht zu

glauben, daß sie auch der größten Sorgfalt wert seien?

Ja, sicherlich, sagte er, ist dieser Gedanke in seiner

Ordnung; was du jedoch unter der »größtenWissenschaft

« und unter dem Objekt verstehst, worauf du sie

beziehst, – wird man dich da wohl loslassen, ohne

nach ihrem eigentlichen Wesen gefragt zu haben?

Ich glaube es kaum, sprach ich; frage daher nur! Jedenfalls

hast du es nicht selten schon gehört; aber in

diesem Augenblicke entsinnst du dich entweder nicht,

oder du hast wiederum im Sinne, mir Schwierigkeiten

zu bereiten durch einen solchen Angriff, und das ist

mir wahrscheinlicher. Denn daß die Idee des Guten

der Gegenstand der größtenWissenschaft ist, das hast

du schon öfter gehört, und daß gerechte Handlungen

usw. eist durch die Teilnahme an ihm heilsam und

Platon: Der Staat 386

nützlich werden. Und auch jetzt weißt du wohl schon,

was ich unter jenem Ausdrucke verstanden haben

will, und zudem noch, daß wir vomWesen jenes

Guten noch keine vollkommeneWissenschaft besitzen.

Wenn wir aber dieses nicht erfaßt haben, so

weißt du, daß ohne diesesWesenhafte, hätten wir

auch alle übrigenWissenschaften, nichts uns nütze

ist, geradeso als wenn wir etwas besäßen, ohne daß es

ein Gut für uns wäre. – Oder glaubst du, es bringe

einen Gewinn, die ganzeWelt zu besitzen, ohne daß

das Gute dabei ist? Oder in alles übrige der Welt Einsicht

zu haben, vom eigentlichen wesenhaften Schönen

und Guten aber keine zu haben?

Nein, bei Zeus, antwortete er, ich gewiß nicht!

Ferner mußt du auch das bereits wissen, daß es in

bezug auf das eigentliche wesenhafte Gute bis jetzt

zweierlei Ansichten gibt: Dem großen rohen Haufen

ist Sinnenlust das eigentliche Gute, den Gebildeteren

verständige Einsicht.

Allerdings.

Ferner mußt du wissen, mein Lieber, daß die, welche

letztere Ansicht haben, das Objekt jener Einsicht

nicht näher bestimmen können; aber konsequenterweise

müssen sie endlich von ihr sagen, sie sei die

Einsicht in das Gute.

Und diese nähere Bestimmung, sagte er, ist sehr

sonderbar.

Platon: Der Staat 387

Allerdings, erwiderte ich: erst schelten sie, daß wir

das eigentliche Gute nicht wüßten: hernach drücken

sie sich bei seiner Erklärung so aus, als wenn wir es

schon wüßten; denn nach ihrer näheren Erklärung ist

jenes eigentliche Gute Einsicht in das Gute, als wenn

wir dann verständen, was sie meinten, wenn sie das

Wort »gut« aussprächen.

Ja, sprach er, ganz recht?

Wie sieht es nun mit der anderen Ansicht aus? Die

die Sinnenlust als das Gute Bestimmenden, schweben

sie vielleicht in einem geringeren Irrtume als ihre

Gegner? Oder müssen auch diese, in die Enge getrieben,

einräumen, es gebe auch Sinnenlüste mit Übeln?

Ja, sicher.

Sie kommen also in den Fall, zuzugeben, daß

Güter und Übel einerlei sind, nicht wahr?

Ja, wahrlich!

Nicht wahr, daß in bezug auf die Frage, was gut

sei, große und viele Streitigkeiten bestehen, das liegt

nun am Tage?

Allerdings.

Liegt nicht auch das am Tage, daß in bezug auf gerechte

und schöne Dinge, Handlungen oder Eigenschaften

viele, wenngleich gar keine Realität dabei

ist, dennoch in den hier genannten Beziehungen den

Schein vorziehen, daß aber in bezug auf Güter niemandem

es genügt, den Schein davon zu besitzen,

Platon: Der Staat 388

sondern daß man die Realitäten davon erstrebt, den

Schein aber in dieser Beziehung längst schon alle

Welt verachtet?

Jawohl, sagte er.

In betreff also des eigentlichen Guten, wonach jede

Menschenseele strebt und dessentwegen sie alle Anstrengungen

unternimmt, weil es nach ihrer dunkeln

Ahnung das Höchste ist, aber mit dem auch die übrigen

Gewinne in dem Falle zugrunde gehen, wenn sie

über diesen Gegenstand in Ungewißheit bleibt, wenn

sie von seinemWesen keinen vollkommen klaren Begriff

erlangen, nicht einen festen Glauben daran haben

kann wie an die übrigen Dinge, – in betreff eines solchen

uns so wichtigen Gegenstandes sollten wir auch

jene im Finsteren herumtappen lassen, die in unserem

Staate die Besten sein sollen, und deren Händen wir

allesWohl desselben anvertrauen wollen?

Nein, durchaus nicht, sagte er.

Ja, fuhr ich fort, die Meinung wenigstens hege ich,

daß die einzelnen gerechten und schönen Handlungen

oder Dinge ohne ein gründlichesWissen, inwiefern

sie gut sind, an dem einen schlechten Hüter über sich

haben werden, der von jenem Gegenstande keine

gründliche Kenntnis hat, und ich vermute, daß vor

jener Kenntnis niemand in jene einzelnen guten und

schönen Handlungen usw. eine klare Einsicht bekommen

werde.

Platon: Der Staat 389

Ja, sagte er, gar nicht ohne Grund ist deine Vermutung.

Nicht wahr, unsere Staatsverfassung hat erst dann

die Krone aufbekommen, wenn ein solcher Hüter über

sie die Oberaufsicht hat, der in den genannten Beziehungen

zur vollkommenenWissenschaft gelangt ist?

Ja, notwendig, sagte er. Aber wie sieht’s denn aus

mit deiner Ansicht hiervon, o Sokrates? Ist Wissen

nach deiner Behauptung das eigentliche Gute, oder

Lust? Oder etwas außer diesen beiden?

Du bist mir der rechte Mann! sprach ich. Schön,

daß ich dir schon längst anmerkte, daß es dir nicht genüge,

nur die Ansicht der anderen hierüber zu vernehmen!

Es scheint mir auch gar nicht recht, sagte er, o Sokrates,

zwar die Ansichten anderer vortragen zu können,

die seinige aber nicht, zumal wenn man schon so

lange Zeit sich damit abgibt.

Wie? versetzte ich; es scheint dir recht zu sein,

wenn jemand über Dinge, worüber er kein gründlichesWissen

hat, sich äußerte, als habe er es?

Das soll man ja auch nicht, sagte er; man soll sich

nur zum Vortrage seiner subjektiven Meinungen verstehen,

die man für wahr hält.

Wie? sprach ich. Hast du dir denn von den Meinungen

ohneWissenschaftlichkeit noch nicht gemerkt,

wie verabscheuenswert sie alle sind? Denn die

Platon: Der Staat 390

besten davon sind blind. Oder scheinen dir die, welche

ohne wissenschaftliche Vernunft einmal durch

bloßes Meinen eineWahrheit ertappen, von Blinden

sich zu unterscheiden, die einmal auf dem richtigen

Pfade wandeln?

Nein, antwortete er.

Hast du also Lust, bei mir schreckliches, blindes

und linkisches Zeug anzuschauen, während du bei anderen

herrlich strahlende und schöne Meisterstücke

sehen kannst?

Um Gottes willen, rief hier Glaukon, tritt jetzt

nicht zurück, als wenn du zu Ende wärest! Wir wollen

uns ja damit begnügen, wenn du uns in derselben

Weise eine Darstellung vom eigentlichen Guten gibst,

wie du es in bezug auf Gerechtigkeit, Besonnenheit

usw. getan hast.

Ja, mein Freund, sprach ich, auch ich wollte damit

recht zufrieden sein; aber ich befürchte, ich möchte

auch dies nicht vermögen und bei dem bestenWillen

durch meine Ungeschicktheit euch Stoff zum Lachen

geben. Drum, meine himmlischen Kinderchen, wollen

wir die eigentlicheWesenheit des Guten für jetzt lassen;

denn es scheint mir zu umfassend, als daß ich

nach dem gegenwärtigen Anlaufe auch nur das erschöpfend

darstellen könnte, was ich in dem Augenblick

darüber subjektiv meine; was aber eine Kopie

von dem eigentlichen Guten und ein sehr treues Bild

Platon: Der Staat 391

von ihm zu sein scheint, das will ich euch zeigen,

falls es euch beliebt; widrigenfalls wollen wir es lassen.

Nun, zeig’ es nur, sagte er: vom eigentlichen Originale

kannst du ja ein anderes Mal die Darstellung liefern.

Ja, ich wünschte, sprach ich, ich könnte jenes Original

euch geben, und ihr könntet es mit nach Hause

tragen und nicht wie dieses mal bloß das Bild davon.

Also dieses Bild und diese Kopie von dem eigentlichen

Originale des Guten sollt ihr jetzt bekommen.

Nehmt euch jedoch in acht, daß ich euch nicht wider

Willen täusche und euch kein Trugbild von jener

Kopie gebe!

Ja, wir wollen uns schon in acht nehmen nach

Kräften, sagte er; aber nur mit dem Vortrage angefangen!

Ich will zuvor nur, sprach ich, ein paar Worte vorausschicken

und euch die Gedanken ins Gedächtnis

zurückrufen, die vorhin schon und schon anderwärts

oftmals ausgesprochen worden sind.

Welche denn? fragte er.

Daß es eine Vielheit von Schönem, sagte ich, eine

Vielheit von Gutem und so überhaupt von jedem

gebe, räumen wir ein und bezeichnen es auch näher

sprachlich.

Ja.

Platon: Der Staat 392

Auch bekanntlich ein Schönes an sich, ein Gutes an

sich, und so überhaupt in bezug auf alles: was wir

erst als eine individuelle Vielheit von jedem hinstellten,

das stellen wir dann wieder- um in einem einzigen

begrifflichen Gedankenbild hin, als wenn die

Vielheit eine Einheit wäre, und nennen es dasWesen

von jedem.

Es ist so.

Und von jener Vielheit räumen wir ein, daß sie

sichtbar und nicht denkbar, sowie andererseits von

den Gedankenbildern, daß sie nur denkbar und nicht

sichtbar sind.

Ja, allerdings.

Mit welchem Teile unserer Persönlichkeit sehen

wir nun die sichtbaren Dinge?

Mit dem Gesichte, erwiderte er.

Nicht wahr, sprach ich, und mit dem Gehöre die

hörbaren und mit den übrigen Sinnen alle sinnlich

wahrnehmbaren Dinge?

Freilich.

Hast du denn nun auch, fragte ich, schon bemerkt,

wie der Schöpfer der Sinne das Vermögen des Sehens

und Gesehenwerdens viel edler geschaffen hat?

Nicht doch, antwortete er.

Nun, so gib einmal acht: Bedarf Gehör und Stimme

irgend eines anderen Dinges dazu, damit das eine

hört, die andere gehört wird, so daß in Ermangelung

Platon: Der Staat 393

jenes Dritten das eine nicht hören, die andere nicht

gehört werden könnte?

Nein, sagte er.

Und ich glaube es bis jetzt wenigstens, fuhr ich

fort, daß auch die meisten anderen Sinne, um nicht zu

sagen keiner, keines solchen Etwas bedürfen; oder

kannst du eines angeben?

Ich wenigstens nicht, antwortete er.

Von dem Sinne des Gesichtes und der sichtbaren

Welt siehst du aber ein, daß er eines solchen bedarf?

Wieso?

Wenngleich in Augen sich ein Sehvermögen befindet

und der Besitzer es zu gebrauchen sucht, wenngleich

andererseits auch eine Farbe vorliegt: so weißt

du, daß, falls nicht ein eigens dafür geschaffenes drittes

Etwas vorhanden ist, der Gesichtssinn nichts sieht

und die Farben unsichtbar sind.

Nun, was verstehst du denn unter diesem »Etwas«

da? fragte er.

Was du bekanntlich, sagte ich, Licht heißest.

Ja, richtig bemerkt, sprach er.

Nach keinem schlechten Vorbilde also ist der Gesichtssinn

und das Vermögen des Gesehenwerdens

durch ein edleres Band verbunden als bei den übrigen

Verbindungen, wofern das Licht nichts Unedles ist.

Nein, wahrlich, antwortete er, das ist es auf keinen

Fall.

Platon: Der Staat 394

Welchen der himmlischen Götter kannst du nun als

Urheber davon angeben, dessen Licht nämlich erstlich

uns den Gesichtssinn ganz klar sehen macht und

zweitens auch die sichtbaren Gegenstände sehen läßt?

Keinen anderen, erwiderte er, als den du sowohl

wie die übrige Welt dafür ansiehst: denn nach dem

Sonnengotte fragst du offenbar.

Ist nun das naturgemäße Verhältnis des Gesichtes

zu dem Sonnengotte folgendes?

Welches?

Nicht ein Sonnengott ist der Gesichtssinn, weder er

selbst noch das Ding, worin er sich befindet, was wir

bekanntlich Auge nennen.

Ja, freilich nicht.

Aber am sonnenartigsten ist er doch wohl unter

allen Sinneswerkzeugen.

Ja, das allerdings.

Und nicht wahr, das Vermögen, welches er besitzt,

erhält er von dorther wie durch einen Kanal gespendet?

Jawohl.

Nicht wahr, auch der Sonnengott ist kein Gesichtssinn,

wohl aber die Ursache davon und wird von eben

diesem gesehen?

Ja, sagte er.

Unter dieser Sonne also, fuhr ich fort, denke dir,

verstehe ich die Kopie des Guten, die von dem

Platon: Der Staat 395

eigentlichen wesenhaften Gut als ein ihm entsprechendes

Ebenbild hervorgebracht worden ist: was das eigentliche

Gute in der durch Vernunft erkennbaren

Welt in bezug auf Vernunft und auf die durch Vernunft

erkennbaren Gegenstände ist, das ist diese seine

Kopie in der sinnlich sichtbarenWelt in bezug auf

Gesicht und sichtbare Gegenstände.

Wie? sprach er: Erkläre mir’s noch!

Wenn man die Augen, entgegnete ich, nicht mehr

auf jene Gegenstände richtet, auf deren Oberfläche

das helle Tageslicht scheint, sondern auf jene Dinge,

worauf nur ein nächtliches Geflimmer fällt, so sind

sie, weißt du, blöde und scheinen beinahe blind, als

wäre ein helles Sehvermögen in ihnen nicht vorhanden.

Ja, sicher, sprach er.

Wenn man sie aber darauf richtet, worauf die

Sonne scheint, so sehen sie, meine ich, dann ganz

deutlich, und in eben denselben Augen scheint dann

wieder ein Sehvermögen sich zu befinden.

Freilich.

Dasselbe Verhältnis denke dir nun auch so in

bezug auf die Seele: Wenn sie darauf ihren Blick heftet,

was das ewig wahre und wesenhafte Sein bescheint,

so vernimmt und erkennt sie es gründlich und

scheint Vernunft zu haben; richtet sie ihn aber auf das

mit Finsternis gemischte Gebiet, auf das Reich des

Platon: Der Staat 396

Werdens und Vergehens, so meint sie dann nur, ist

blödsichtig, indem sie sich ewig im niederen Kreise

der Meinungen auf und ab bewegt, und gleicht nun

einem vernunftlosen Geschöpfe.

Ja, dem gleicht sie dann freilich.

Was den erkannt werdenden ObjektenWahrheit

verleiht und dem erkennenden Subjekte das Vermögen

des Erkennens gibt, das begreife also als die Wesenheit

des eigentlichen (höchsten) Guten und denke

davon: Das eigentliche Gute ist zwar die Ursache von

reiner Vernunfterkenntnis undWahrheit, sofern sie erkannt

wird; aber obgleich beide (Erkenntnis und erkannt

werdendeWahrheit) also etwas Herrliches sind,

so mußt du unter ihm selbst noch etwas weit Herrlicheres

vorstellen, wenn du davon eine ordentliche

Vorstellung haben willst; ferner, wie es vorhin in unserem

Bilde seine Richtigkeit hatte, Licht und Gesichtssinn

für sonnenartig zu halten, sie aber als

Sonne sich vorzustellen nicht richtig ist, so ist es auch

hier recht, jene beiden, reine Vernunfterkenntnis und

Wahrheit, für gutartig zu halten, aber sie, welche von

beiden es auch sei, als das eigentliche höchste Gut

sich vorzustellen, unrichtig; nein, dasWesen des eigentlichen

Guten ist weit höher zu schätzen.

Schwer zu raten, sagte er, ist die Herrlichkeit, von

der du da sprichst, wenn sie erstlich die Quelle von

reiner Erkenntnis undWahrheit ist und dann noch

Platon: Der Staat 397

über diesen beiden an Herrlichkeit stehen soll; denn

ein Sokrates kann, versteht sich, nicht Sinnenlust

unter jenem höchsten Gut verstehen.

Versündige dich nicht! sprach ich. Nur noch weiter

das Bild von jenem höchsten Gut von dieser Seite betrachtet!

Von welcher?

Du wirst wohl einräumen, glaube ich, daß die

Sonne den sinnlich sichtbaren Gegenständen nicht nur

das Vermögen des Gesehenwerdens verleiht, sondern

auchWerden,Wachsen und Nahrung, ohne daß sie

selbst einWerden ist?

Das ist sie nicht!

Und so räume denn auch nun ein, daß den durch

die Vernunft erkennbaren Dingen von dem eigentlichen

Guten nicht nur das Erkanntwerden zuteil wird,

sondern daß ihnen dazu noch von jenem das Sein und

dieWirklichkeit kommt, ohne daß das höchste Gut

Wirklichkeit ist: es ragt vielmehr über dieWirklichkeit

an Hoheit und Macht hinaus.

Da rief Glaukon mit einem feinenWortwitze aus:

O Gott Apollon, welch übernatürliches Übertreffen!

Daran, erwiderte ich, ist niemand als du schuld

durch die Nötigung, nur meine subjektiven Meinungen

über jenes höchste Gut zu äußern.

Und höre ja nicht auf, sprach er, das Gleichnis in

bezug auf die Sonne weiter zu verfolgen, wenn du

Platon: Der Staat 398

noch etwas rückständig hast!

Ja, sprach ich, noch gar mancherlei habe ich rückständig.

Und übergehe davon, sprach er, doch nicht das geringste!

Ich glaube zwar, entgegnete ich, gar vieles ist zu

übergehen; indessen, soweit es gegenwärtig in meinen

Kräften steht, will ich nichts mitWillen auslassen.

Ja nicht! sagte er.

Denke dir also, fuhr ich fort, wie gesagt, jene zwei,

und das eine, denke dir, sei König in dem nur durch

die Vernunft schaubaren Reiche und Gebiete, das andere

in der Region des Gesichts (ich sage Region des

Gesichts und nicht Region des Lichts, damit ich dir es

nicht zu gelehrt zu treiben scheine in bezug auf den

Ausdruck); – aber du merkst dir doch diese zweifachen

Reiche, das des sinnlich Sichtbaren und das des

durch die Vernunft Erkennbaren?

Ja.

Als wenn du nun eine in zwei ungleiche Hauptabschnitte

geteilte Linie hättest, nimm wiederum mit

jedem von beiden Hauptabschnitten, sowohl mit dem

des durchs Auge sichtbaren als auch mit dem des

durch die Vernunft erkennbaren Gebietes, wiederum

nach demselben Verhältnisse eine abermalige Teilung

vor, und du wirst dann erstlich bei dem durch das

Auge sichtbaren Hauptabschnitte in bezug auf

Platon: Der Staat 399

Deutlichkeit und Undeutlichkeit zu einander an dem

einen Unterabschnitte Bilder haben: ich verstehe aber

unter Bildern erstlich Schatten, dann die Abspiegelungen

in denWassern, in allen Körpern von dichter,

glatter und reflektierender Oberfläche und überhaupt

in jedem Dinge dieser Eigenschaft, wenn du es begreifst?

Ja, ich begreife.

Unter dem anderen Unterabschnitte (der sinnlichsichtbaren

Welt), von dem der eben genannte nur

Schattenbilder darstellt, denke dir sodann die uns umgebende

Tierwelt, das ganze Pflanzenreich und die

sämtliche Kunstproduktion.

Ich tue es, sagte er.

Wärst du denn nun auch bereit, fuhr ich fort, einzuräumen,

daß jener erste Hauptabschnitt auch in bezug

aufWahrheit und deren Gegenteil in zwei Unterabschnitte

zerfällt, daß nämlich im Reich desWissens

das Meinbare zu dem durch die Vernunft Erkennbaren

sich verhalte wie das Schattenbild zu dem abgebildeten

wirklichen Gegenstande?

O ja, sagte er, sehr gerne.

So betrachte denn nun den anderen Hauptabschnitt,

den des durch die Vernunft Erkennbaren, wie er in

Unterabschnitte zu teilen ist!

Wie?

So: den ersten Unterabschnitt desselben muß die

Platon: Der Staat 400

Seele von unerwiesenen Voraussetzungen ausgehend

erforschen, indem sie sich dabei der zuerst geteilten

Unterabschnitte wie Bilder bedient und dabei nicht

nach einem Urprinzipe dringt, sondern nur zu einem

sich gesetzten Ziele schreitet; den anderen Unterabschnitt

jener Hälfte aber erforscht sie, indem sie von

einer gläubigen Voraussetzung aus zu einem auf keiner

Voraussetzung mehr beruhenden Urprinzipe

schreitet und ohne Hilfe von Bildern, deren sie sich

bei ersterem Unterabschnitte des Erkennbaren bedient,

nur mit reinen Begriffen denWeg ihrer Forschung

bewerkstelligt.

Die Gedanken, sagte er, welche du hier aussprichst,

habe ich nicht recht verstanden.

Nun, erwiderte ich, du wirst sie bald leichter verstehen,

wenn folgendeWorte vorausgeschickt sind:

Ich glaube, du weißt ja doch, daß die, welche sich mit

Geometrie und Arithmetik und dergleichen abgeben,

den Begriff von Gerade und Ungerade, von Figuren

und den drei Arten vonWinkeln und sonst dergleichen

bei jedem Beweisverfahren voraussetzen, als

hätten sie über diese Begriffe einWissen, während sie

diese doch nur als unerwiesene Voraussetzungen hinstellen

und weder sich noch anderen davon noch Rechenschaft

schuldig zu sein glauben, als verstände sie

alle Welt; von diesen angenommenen Begriffen gehen

sie als von Prinzipien aus, führen dann schon das

Platon: Der Staat 401

Weitere durch und kommen so endlich folgerecht an

dem Ziele an, auf dessen Erforschung sie losgegangen

waren.

Ja, sagte er, das weiß ich allerdings.

Nicht wahr, auch das weißt du, daß sie sich der

sinnlich sichtbaren Dinge bedienen und ihre Demonstrationen

auf jene beziehen, während doch nicht auf

diese als solche (als sinnlich sichtbare) ihre Gedanken

zielen, sondern nur auf das, wovon jene sinnlich sichtbaren

Dinge nur Schattenbilder sind? Nur des intelligiblen

Vierecks, nur der intelligiblen Diagonale

wegen machen sie ihre Demonstrationen, nicht derentwegen,

die sie mit einem Instrumente auf die Tafel

zeichnen; und so verfahren sie in allem übrigen:

selbst die Körper, die sie bilden und zeichnen, wovon

es auch Schatten und Bilder im Gewässer gibt, eben

diese Körper gebrauchen sie weiter auch nur als

Schattenbilder und suchen dadurch zur Schauung

eben jener Gedankenurbilder zu gelangen, die niemand

anders schauen kann als mit dem Auge des Geistes.

Richtig bemerkt, sagte er.

Das ist’s also, was ich vorhin meinte, als ich von

dem einen Unterabschnitte der bloß durch die Vernunft

erkennbaren Hälfte sagte: daß die Seele bei dessen

Erforschung von unerwiesenen Voraussetzungen

auszugehen genötigt sei; daß sie dabei zu keinem

Platon: Der Staat 402

Urprinzipe komme, weil sie über ihre Voraussetzungen

nicht hinausgehen könne: endlich, daß sie sich

dabei als Bilder bediene nicht nur der eigentlichen

Bilder von der sinnlich-irdischen Körperwelt, sondern

auch jener sinnlich-irdischen Körperwelt selbst, die

von den gewöhnlichen Leuten im Vergleich zu jenen

Nachbildungen für reelle Dinge gehalten und geschätzt

sind.

Ich begreife, sagte er, daß du die unter der Geometrie

und den damit verwandten Disziplinen begriffene

Wissenschaft meinst. So begreife denn nun auch, daß

ich unter dem anderen Unterabschnitte der nur durch

die Vernunft erkennbaren Hälfte das verstehe, was die

Vernunft durch das Vermögen, eine Forschung diskursiv

mit reinen Begriffen anzustellen, erfaßt und

wobei sie ihre Voraussetzungen nicht als schon erwiesene

Prinzipien ausgibt, sondern als eigentliche Voraussetzungen,

gleichsam nur als Einschritts- und Anlaufungspunkte,

damit sie zu dem auf keiner Voraussetzung

mehr beruhenden Urprinzipe des Alls gelangt;

nach Erfassung jenes Urprinzipes hält sie (die

Vernunft) sich wiederum an die Folgen von demselben

und gelangt also an das Ende, braucht dabei gar

kein sinnlich Wahrnehmbares, sondern nur reine Begriffe

zu reinen Begriffen und endigt bei reinen Begriffen.

Ich begreife, sagte er, zwar nicht vollständig, –

Platon: Der Staat 403

denn du scheinst mir hier eine ungeheure Aufgabe im

Sinne zu haben; so viel begreife ich indessen, du

willst (zwischen Philosophie und Mathematik) die bestimmte

Grenze setzen: bei der reinen und nur durch

die Vernunft erkennbaren Hälfte des Seins sei derjenige

Abschnitt, der nur durch die Erkenntnis mit reinen

Begriffen (Dialektik) geschaut wird, deutlicher als

derjenige, der von jenen sogenannten strengenWissenschaften

erkannt wird, weil bei ihnen unerwiesene

Voraussetzungen für Prinzipien gelten; und es müßten

zwar die Jünger jener strengenWissenschaften ihre

Objekte durch den Verstand und nicht durch die Sinne

schauen; aber weil sie bei ihrer Forschung nicht bis

zu einem Urprinzipe hinaufstiegen, sondern nur von

unerwiesen bleibenden Voraussetzungen ausgingen,

so schienen sie dir darüber keine eigentliche Vernunfteinsicht

zu haben; es sei jedoch auch in jenen

Dingen Vernunfteinsicht möglich in Verbindung mit

einem Aufsteigen zu einem Urprinzipe; ferner

scheinst du mir die Geistestätigkeit der Mathematiker

und dergleichen Leute nur Verstand zu nennen, nicht

Vernunfteinsicht, als wenn der Verstand die Mitte

hielte zwischen Meinung und Vernunfteinsicht.

Vollkommen hast du begriffen, erwiderte ich.

Merke mir daher auch für die vier Abschnitte des

Seins die vier in der menschlichen Seele davon herrührenden

Zustände: Vernunfteinsicht für den

P

Platon: Der Staat 404

obersten. Verstandeseinsicht für den zweiten, dem

dritten teile Glauben an die Sinne zu, dem vierten

bloß einen eitlen Schein vomWahren, und stelle sie

in ein proportionales Verhältnis, in der Überzeugung,

daß sie in eben demMaße der wissenschaftlichen

Klarheit teilhaftig sind, in dem ihre Objekte an dem

wahren Sein teilhaben.

Ich begreife, Sprache er, stimme bei und stelle sie

ins Verhältnis, wie du sagst.

Platon: Der Staat 405

Siebentes Buch

Nach diesen Erörterungen, fuhr ich fort, betrachte

nun unsere menschliche Anlage vor und nach ihrer

Entwicklung mit dem in folgendem bildlich dargestellten

Zustande: Stelle dir nämlich Menschen vor in

einer höhlenartigenWohnung unter der Erde, die

einen nach dem Lichte zu geöffneten und längs der

ganzen Höhle hingehenden Eingang habe, Menschen,

die von Jugend auf an Schenkeln und Hälsen in Fesseln

eingeschmiedet sind, so daß sie dort unbeweglich

sitzenbleiben und nur vorwärts schauen, aber links

und rechts die Köpfe wegen der Fesselung nicht umzudrehen

vermögen; das Licht für sie scheine von

oben und von der Ferne von einem Feuer hinter ihnen;

zwischen dem Feuer und den Gefesselten sei oben ein

Querweg; längs diesem denke dir eine kleine Mauer

erbaut, wie sie die Gaukler vor dem Publikum haben,

über die sie ihre Wunder zeigen.

Ich stelle mir das vor, sagte er.

So stelle dir nun weiter vor, längs dieser Mauer trügen

Leute allerhand über diese hinausragende Gerätschaften,

auch Menschenstatuen und Bilder von anderen

lebendenWesen aus Holz, Stein und allerlei sonstigem

Stoffe, während, wie natürlich, einige der Vorübertragenden

ihre Stimme hören lassen, andere

Platon: Der Staat 406

schweigen.

Ein wunderliches Gleichnis, sagte er, und wunderliche

Gefangene!

Leibhaftige Ebenbilder von uns! sprach ich. Haben

wohl solche Gefangene von ihren eigenen Personen

und von einander etwas anderes zu sehen bekommen

als die Schatten, die von dem Feuer auf die ihrem Gesichte

gegenüberstehendeWand fallen?

Unmöglich, sagte er, wenn sie gezwungen wären,

ihr ganzes Leben lang unbeweglich die Köpfe zu halten.

Ferner, ist es nicht mit den vorübergetragenen Gegenständen

ebenso?

Allerdings.

Wenn sie nun mit einander reden könnten, würden

sie nicht an der Gewohnheit festhalten, den vorüberwandernden

Schattenbildern, die sie sahen, dieselben

Benennungen zu geben?

Notwendig.

Weiter: Wenn der Kerker auch einenWiderhall von

der gegenüberstehendenWand darböte, sooft jemand

der Vorübergehenden sich hören ließe, – glaubst du

wohl, sie würden den Laut etwas anderem zuschreiben

als den vorüberschwebenden Schatten?

Nein, bei Zeus, sagte er, ich glaube es nicht.

Überhaupt also, fuhr ich fort, würden solche nichts

für wahr gelten lassen als die Schatten jener Gebilde?

Platon: Der Staat 407

Ja, ganz notwendig, sagte er.

Betrachte nun, fuhr ich fort, wie es bei ihrer Lösung

von ihren Banden und bei der Heilung von

ihrem Irrwahne hergehen würde, wenn solche ihnen

wirklich zuteil würde: Wenn einer entfesselt und genötigt

würde, plötzlich aufzustehen, den Hals umzudrehen,

herumzugehen, in das Licht zu sehen, und

wenn er bei allen diesen Handlungen Schmerzen empfände

und wegen des Glanzgeflimmers vor seinen

Augen nicht jene Dinge anschauen könnte, deren

Schatten er vorhin zu sehen pflegte: was würde er

wohl dazu sagen, wenn ihm jemand erklärte, daß er

vorhin nur ein unwirkliches Schattenspiel gesehen,

daß er jetzt aber dem wahren Sein schon näher sei und

sich zu schon wirklicheren Gegenständen gewandt

habe und daher nunmehr auch schon richtiger sehe?

Und wenn man ihm dann nun auf jeden der vorüberwandernden

wirklichen Gegenstände zeigen und ihn

durch Fragen zur Antwort nötigen wollte, was er sei, –

glaubst du nicht, daß er ganz in Verwirrung geraten

und die Meinung haben würde, die vorhin geschauten

Schattengestalten hätten mehr Realität als die, welche

er jetzt gezeigt bekomme?

Ja, bei weitem, antwortete er.

Und nicht wahr, wenn man ihn zwänge, in das

Licht selbst zu sehen, so würde er Schmerzen an den

Augen haben, davonlaufen und sich wieder jenen

Platon: Der Staat 408

Schattengegenständen zuwenden, die er ansehen kann,

und würde dabei bleiben, diese wären wirklich deutlicher

als die, welche er gezeigt bekam?

So wird’s gehen, meinte er.

Wenn aber, fuhr ich fort, jemand ihn aus dieser

Höhle mit Gewalt den rauhen und stellen Aufgang

zöge und ihn nicht losließe, bis er ihn an das Licht

der Sonne herausgebracht hätte, – würde er da wohl

nicht Schmerzen empfunden haben, über dieses Hinaufziehen

aufgebracht werden und, nachdem er an das

Sonnenlicht gekommen, die Augen voll Blendung

haben und also gar nichts von den Dingen sehen können,

die jetzt als wirkliche ausgegeben werden?

Er würde es freilich nicht können, sagte er, wenn

der Übergang so plötzlich geschähe.

Also einer allmählichen Gewöhnung daran, glaube

ich, bedarf er, wenn er die Dinge über der Erde schauen

soll. Da würde er nun erstlich die Schatten am

leichtesten anschauen können und die imWasser von

den Menschen und den übrigenWesen sich abspiegelnden

Bilder, sodann erst die wirklichen Gegenstände

selbst. Nach diesen zwei Stufen würde er die Gegenstände

am Himmel und den Himmel selbst erst des

nachts, durch Gewöhnung seines Blickes an das Sternen-

und Mondlicht, leichter schauen als am Tage die

Sonne und das Sonnenlicht.

Ohne Zweifel.

Platon: Der Staat 409

Und endlich auf der vierten Stufe, denke ich, vermag

er natürlich die Sonne, das heißt nicht ihre Abspiegelung

imWasser oder in sonst einer außer ihr

befindlichen Körperfläche, sondern sie selbst in ihrer

Reinheit und in ihrer eigenen Region anzublicken

sowie ihr eigentliches Wesen zu beschauen.

Ja, notwendig, sagte er.

Und nach solchen Vorübungen würde er über sie

die Einsicht gewinnen, daß sie die Urheberin der Jahreszeiten

und Jahreskreisläufe ist, daß sie die Mutter

von allen Dingen im Bereiche der sichtbaren Welt

und von allen jenen allmählichen Anschauungen gewissermaßen

die Ursache ist.

Ja, entgegnete er, offenbar muß er zu diesen Einsichten

nach jenen Vorübungen gelangen.

Wenn er nun an seinen ersten Aufenthaltsort zurückdenkt

und an die dortigeWeisheit seiner Mitgefangenen:

wird er da wohl nicht sich wegen seiner

Veränderung glücklich preisen und jene bedauern?

Ja, sicher.

Und wenn damals bei ihnen Ehres- und Beifallsbezeugungen

wechselseitig bestanden sowie Belohnungen

für den schärfsten Beobachter der vorüberwandernden

Schatten, feiner für das beste Gedächtnis

daran, was vor, nach und mit ihnen zu kommen pflegte,

und für die geschickteste Prophezeiung des künftig

Kommenden: meinst du, daß er da danach Verlangen

Platon: Der Staat 410

haben werde, daß er die bei jenen Höhlenbewohnern

in Ehre Stehenden und Machthabenden beneidet?

Oder daß es ihm geht, wie Homer sagt, und er viel lieber

als Tagelöhner bei einem linderen dürftigen

Manne das Feld bestellen und eher alles in derWelt

über sich ergehen lassen will, als jene Meinungen und

jenes Leben haben?

Letzteres glaube ich, sagte er, daß er nämlich sich

eher allen Leiden unterziehen als jenes Leben führen

wird.

Hierauf nun, fuhr ich fort, bedenke folgendes:

Wenn ein solcher wieder hinunterkäme und sich wieder

auf seinen Platz setzte: würde er da nicht die

Augen voll Finsternis bekommen, wenn er plötzlich

aus dem Sonnenlicht käme?

Ja, ganz sicherlich, sagte er.

Aber wenn er nun, während sein Blick noch verdunkelt

wäre, wiederum im Erraten jener Schattenwelt

mit jenen ewig Gefangenen wetteifern sollte, und

zwar ehe seine Augen wieder zurechtgekommen

wären – und die zu dieser Gewöhnung erforderliche

Zeit dürfte nicht ganz klein sein -: würde er da nicht

ein Gelächter veranlassen, und würde es nicht von

ihm heißen, weil er hinaufgegangen wäre, sei er mit

verdorbenen Augen zurückgekommen, und es sei

nicht der Mühe wert, nur den Versuch zu machen,

hinaufzugehen? Und wenn er sich gar erst

Platon: Der Staat 411

unterstände, sie zu entfesseln und hinaufzuführen, –

würden sie ihn nicht ermorden, wenn sie ihn in die

Hände bekommen und ermorden könnten?

Ja, gewiß, antwortete er.

Das Gleichnis hier also, mein lieber Glaukon, fuhr

ich fort, ist nun in jeder Beziehung auf die vorhin ausgesprochenen

Behauptungen anzuwenden: Die mittels

des Gesichts sich uns offenbarendeWelt vergleiche

einerseits mit der Wohnung im unterirdischen Gefängnisse,

und das Licht des Feuers in ihr mit dem

Vermögen der Sonne; das Hinaufsteigen und das Beschauen

der Gegenstände über der Erde andererseits

stelle dir als den Aufschwung der Seele in die nur

durch die Vernunft erkennbareWelt vor, – und du

wirst dann meine subjektive Ansicht hierüber haben,

dieweil du sie doch einmal zu hören verlangst; ein

Gott mag aber wissen, ob sie objektiv wahr ist! Aber

meine Ansichten hierüber sind nun einmal die: im Bereiche

der Vernunfterkenntnis sei die Idee des Guten

nur zu allerletzt und mühsam wahrzunehmen, und

nach ihrer Anschauung müsse man zur Einsicht kommen,

daß es für alle Dinge die Ursache von allen Regelmäßigkeiten

und Schönheiten sei, indem es erstlich

in der sichtbaren Welt das Licht und dessen Urprinzip

erzeugt, sodann auch in der durch die Vernunft erkennbarenWelt

selbst Urprinzip ist und sowohl die

objektiveWahrheit als auch unsere Vernunfteinsicht

Platon: Der Staat 412

gewährt; ferner zur Einsicht kommen, daß dasWesen

des Guten ein jeder erkannt haben müsse, der verständig

handeln will, sei es in seinem eigenen Leben oder

im Leben des Staates.

Ja, sagte er, auch ich teile deine Ansicht, wie ich

eben vermag.

Wohlan denn, fuhr ich fort, teile auch noch folgende

Ansicht mit mir und finde es gar nicht auffallend,

daß die, welche zu jener Erkenntnis gelangt

sind, gar keine Lust haben, sich mit den Händeln der

Menschen abzugeben, sondern daß sie immer zum

Verweilen im Überirdischen sich gezogen fühlen; begreiflich

wohl ja doch, wofern auch hier nach dem

vorerwähnten Gleichnisse es sich so verhält.

Begreiflich freilich, meinte er.

Und kann man denn es ferner auffallend finden, daß

jemand, von den göttlichen Anschauungen in dieWelt

der menschlichen Trübsale versetzt, sich ungeschickt

stellt und gar albern scheint, wenn er noch während

seines blöden Blickes und ohne hinreichende Gewöhnung

an die nunmehrige Finsternis in die Notwendigkeit

kommt, in Gerichtshöfen oder anderswo über die

Schatten der Gerechtigkeit oder über die Gebilde,

wovon die Schatten kommen, zu streiten und darüber

zu wetteifern, wie sie von den Menschenkindern aufgefaßt

werden, von ihnen, die die Gerechtigkeit an

sich niemals geschaut haben?

Platon: Der Staat 413

Das wäre, sagte er, in keinerWeise auffallend!

Ja, wenn jemand Verstand hat, fuhr ich fort, so erinnert

er sich, daß zweierlei und von zweierlei Ursachen

kommende Trübungen den Augen widerfahren,

nämlich einmal, wenn sie aus dem Licht in die Finsternis,

und dann, wenn sie aus der Finsternis ins

Licht versetzt werden; und wenn er nun daran festhält,

daß dieselben Erscheinungen in der Seele sich zutragen,

so wird er nicht unvernünftig lachen, sooft er

Verblüfftheit und Ungeschicktheit beim Erschauen

eines Gegenstandes bei einer Seele bemerkt, sondern

er wird untersuchen, ob sie aus einem lichtvolleren

Leben herkomme und aus Ungewohnheit verfinstert

wird, oder ob sie durch den Übergang aus einem ungebildeteren

Zustande in einen lichtvolleren von dem

helleren Lichtglanz verblüfft sei. Und demnach wird

er erstere wegen ihres Zustandes und Lebens glücklich

preisen, letztere aber bemitleiden; wenn er jedoch

über letztere lachen wollte, so würde dieses Lachen

ihm weniger Schande machen als das über eine aus

dem Licht kommende Seele.

Ja, sagte er, sicher hast du recht.

Wir müssen also, fuhr ich fort, dieWahrheit dieser

Ansichten vorausgesetzt, hierüber folgende Ansicht

festhalten: Die Jugendbildung sei nicht von der Art,

wofür sie einige Lehrer von Profession ausgeben.

Nach ihrem Vorgeben gibt es ganz und gar kein in der

Platon: Der Staat 414

Seele ursprünglich gelegenesWissen, und sie setzten

es hinein, als wenn sie blinden Augen ein Gesichtsvermögen

einsetzten.

Ja, sagte er, das geben sie vor.

Aber die gegenwärtige Theorie, sprach ich weiter,

deutet offenbar daraufhin, daß das Vermögen jenes

Wissens ursprünglich in der Seele gelegen sei; das

Organ, mit dem ein jeder erkennt, muß nur ebenso,

wie wenn ein Auge nicht anders als mit dem ganzen

Körper sich nach dem Hellen aus dem Dunklen umwenden

könnte, mit der ganzen Seele aus dem Bereiche

des wandelbarenWerdens umgelenkt werden, bis

diese die Anschauung des reinen Seins und die der

hellsten Region desselben ertragen kann; diese hellste

Region ist aber nach unserer Erklärung das höchste,

wesenhafteste Gute, nicht wahr?

Ja.

Jugendbildung, fuhr ich fort, wäre also von nichts

anderem die Kunst als eben hiervon: von der Herumdrehung,

auf welcheWeise nämlich jenes Organ mit

der möglichst größten Leichtigkeit undWirksamkeit

sich umwenden lasse, – nicht aber die Kunst, jenem

ein Sehvermögen einzusetzen; sie muß vielmehr annehmen,

daß jenes Organ dieses Vermögen schon besitze,

daß es aber noch nicht die gehörige Richtung

genommen habe und noch nicht dahin sähe, wohin es

sehen sollte, und muß ihm hierzu behilflich sein.

Platon: Der Staat 415

Ja, offenbar, sagte er.

Die übrigen sogenannten Seelenfähigkeiten scheinen

indes allerdings in einiger Beziehung mit den körperlichen

verwandt zu sein: sie scheinen in der Tat ursprünglich

nicht vorhanden und nachher erst durch

wiederholte Gewöhnung und Übung eingepflanzt zu

werden. Aber das Vermögen des intellektuellen Erkennens

hat nach aller Wahrscheinlichkeit jenen höheren

Ursprung, da dieses seine eigentliche Kraft niemals

verliert und, je nachdem es seine Lenkung erhält,

gut und heilsam, oder im Gegenteil schlecht und

schädlich wird. Oder hast du noch nicht an den Leuten,

die als Bösewichte bekannt sind und dabei als gescheit

gelten, die Bemerkung gemacht, wie spitz ihr

Seelchen sieht und wie scharfes das durchschaut, worauf

sein Ziel gerichtet ist, und daß es also gar keine

schlechte Sehkraft hat, sondern daß es damit nur gezwungen

der Schlechtigkeit dient? Daher es denn

auch kommt, daß eine Seele in diesem Falle desto

größere Übeltaten verübt, je schärfer ihr Geistesblick

ist.

Ja, allerdings, sagte er.

Wenn jedoch, fuhr ich fort, dieses Vermögen einer

solchen angeborenen Anlage gleich von Jugend auf

beschnitten worden wäre und die dem Reiche des vergänglichenWerdens

verwandten und ihr wie Bleikugeln

anhängenden Teile abgehauen bekommen hätte,

Platon: Der Staat 416

die Teile, die durch allzuvieles Essen sowie durch

ähnliche sinnliche Lüste und Schwelgereien mit ihr

verwachsen und die geistige Sehkraft natürlich hinab

auf das Irdische lenken, – wenn sie, sage ich, von diesen

Bleikugeln befreit und auf das Reich desWahren

hingelenkt worden wäre, so hätte eben diese Seelentätigkeit

jener Leute jenes Reich desWahren am schärfsten

geschaut, wie sie nun auch die Dinge sieht, worauf

sie jetzt gerichtet ist.

Natürlich, sagte er.

Nun, sprach ich, ist nicht auch das natürlich, ja

nach den vorausgeschickten Sätzen ganz notwendig,

daß weder die geistig Ungebildeten und mit dem

Reich derWahrheit Unbekannten je ordentlich einen

Staat verwalten, noch die, welche man mit geistiger

Bildung ihr ganzes Leben lang sich abgeben läßt: erstere

nicht, weil sie in ihrem Leben nicht ein bestimmtes

Ziel haben, wonach sich alle Handlungen

richten müßten, im Privatleben wie im Staat; letztere

nicht, weil sie gutwillig sich mit keinen Geschäften

abgeben wollen, indem sie meinen, sie seien schon

bei ihrem Leben auf die Inseln der Seligen versetzt?

Ja, richtig, sagte er.

Da ist’s für uns, fuhr ich fort, die Gründer des Staates,

eine Aufgabe, die fähigsten Köpfe anzuhalten,

daß sie zu jenerWissenschaft gelangen, die nach unserer

vorigen Erklärung die größte ist, daß sie

Platon: Der Staat 417

schauen das höchste, wesenhafteste Gut und denWeg

zu ihm emporklimmen, und wenn sie nach diesem

Emporklimmen sich satt geschaut haben, so dürfen

wir ihnen nicht mehr die Erlaubnis geben, die sie jetzt

haben.

Welche denn?

Dort droben, sprach ich, zu verweilen und sich

nicht dazu zu verstehen, wieder herunterzusteigen zu

jenen Gefangenen, sowie nicht Anteil zu nehmen an

ihren Mühseligkeiten und an ihren Ehren, mögen letztere

nun geringfügiger oder ernster Art sein.

So wollen wir, sagte er, ihnen Unrecht tun und sie

ein schlimmeres Leben haben lassen, während es

ihnen möglich ist, ein besseres zu führen?

Da hast du schon wieder vergessen, mein Lieber,

sprach ich, daß die Hauptsorge eines vernünftigen

Staatsgrundgesetzes nicht die ist, daß nur irgend ein

Stand im Staate besonders im Glücke lebe, sondern

daß es das Emporkommen dieses höheren Glückes in

dem ganzen Staate überhaupt bewerkstelligt, indem es

die Bürger teils durch Lehren, teils durch Zwang zu

einer Einheit bringt, indem es sie sich einander den

Vorteil mitteilen läßt, mit dem ein jeder in seinem besonderen

Stande nach Kräften zur Vervollkommnung

des Allgemeinen beiträgt, und indem es endlich dem

Geiste des Staates ähnliche Männer hervorbringt,

nicht daß es jeden eine beliebige Lebensrichtung

Platon: Der Staat 418

nehmen läßt, sondern daß es sie zur einheitlichen Zusammenhaltung

des Staates gebraucht.

Ja, richtig, sagte er, das hatte ich freilich vergessen.

So bedenke denn nun, mein lieber Glaukon, fuhr

ich fort, daß wir den in unserem Staate gereiften Jüngern

derWissenschaft gar kein Unrecht tun, sondern

gerechte Ansprüche an sie machen, wenn wir ihnen

den Zwang auflegen, für ihre übrigen Mitmenschen zu

sorgen und zu wachen. Mit Grund dürfen wir ihnen

vorstellen: »Die in anderen Staaten emporgekommenen

Männer euresgleichen nehmen mit ganz gutem

Grunde keinen Anteil an den Mühseligkeiten in ihnen;

sie wachsen darin nämlich von selbst hervor, ohne absichtliche

Pflege der jedesmaligen Staatsverfassung,

und da ist es denn ganz in der Ordnung, daß das von

selbst Gewachsene, weil es niemandem seine Pflege

verdankt, keine sonderliche Lust hat, die Pflegegelder

abzuverdienen. Euch aber haben wir zu eurem eigenen

und des übrigen Staates Besten, wie in Bienenstöcken,

zuWeiseln und Königen absichtlich erzogen,

euch eine theoretisch gründlichere und praktisch

tüchtigere Erziehung geben lassen, als jene Selbstgepflanzten

sie haben, und wir haben euch so eher in

den Stand gesetzt, in beiden Beziehungen euch zu beteiligen.

Hinab muß also jeder der Reihe nach steigen

in die Behausung der übrigen Mitmenschen und sich

angewöhnen, das Reich der Finsternis zu schauen;

Platon: Der Staat 419

denn gewöhnt ihr euch daran, so werdet ihr tausendmal

besser als jene Höhlenbewohner an den einzelnen

Schattenbildern sehen, was sie sind und wovon sie

sind, weil ihr eine Anschauung von den ewig währenden

Urbildern der einzelnen vergänglichen Erscheinungen

im Bereiche des Schönen, Gerechten und

Guten habt. Und so wird die Verwaltung des Staates

für uns wie für euch einem wachenden Zustande ähnlich

sein, nicht einem Schlaftaumel, in welchem die

meisten Staaten jetzt von Leuten verwaltet werden,

die um Schatten fechten und über das Herrschen

Krieg und Streit anfangen, als wäre es ein großes Gut,

während doch dieWahrheit sich also verhält: In dem

Staate, in dem die zum Herrschen Bestellten am wenigsten

Verlangen danach haben, in diesem muß die

beste und friedlichste Verwaltung sein; in dem Staate

mit Herrschern vom Gegenteil ist auch das Gegenteil

der Fall.«

Allerdings, sagte er.

Werden nun deiner Meinung nach nach Anhören

solcher Vorstellungen unsere Zöglinge sich gegen uns

noch unfolgsam beweisen und sich weigern, einzeln

reihum an den Beschwerden der Staatsregierung teilzunehmen,

und werden sie die ganze Lebenszeit mit

einander nur in der leinen Lichtwelt des Gedankens

wohnen wollen?

Unmöglich, sagte er; denn gerechte Forderungen

Platon: Der Staat 420

können wir ja an gerechte Männer stellen. Jedenfalls

jedoch wird ein jeder von ihnen zum Herrschen wie

zu einer unabwendbaren Notwendigkeit gehen, ganz

im Gegensatz zu denen, die jetzt in den einzelnen

Staaten das Ruder führen.

Ja, sprach ich, so ist’s, mein Freund; wenn du nämlich

für die zur Herrschaft Bestellten noch ein glücklicheres

Leben ausfindig machen wirst als das Herrschen,

dann wird bei dir die Möglichkeit zu einer

guten Staatsverwaltung vorhanden sein; denn nur in

ihm herrschen die wahrhaftig Reichen, nicht die an

Gold reich sind, sondern reich daran, woran der

Glückselige reich sein muß: an einem sittlich guten

und vernünftigen Leben.Wenn dagegen Bettelleute

und nur an ihren eigenen Beutel denkende Menschen

zu Staatsämtern kommen, die ihr vermeintliches

höchstes Gut sich von dort erst holen zu müssen glauben,

so gibt’s keine Möglichkeit zu einer guten Staatsverwaltung.

Denn wird das Staatsruder ein Gegenstand

des Raufens, so wird ein solcher Krieg, da er in

den eigenen Eingeweiden geführt wird, sowohl die

streitenden Parteien selbst als auch den übrigen Staat

verderben.

Ja, ganz recht, sagte er.

Kennst du nun, fuhr ich fort, noch eine andere Lebensweise,

die sich aus den Staatsämtern weniger

macht als die wahre und nur auf das sittlich gute

Platon: Der Staat 421

Leben zielendeWissenschaft (die Philosophie)?

Nein, wahrhaftig nicht, sagte er.

Aber nun sollen doch Nichtliebhaber zum Herrschen

kommen; sonst aber werden die erwähnten Nebenbuhler

sich darum raufen!

Allerdings.

Welche anderen sollte man also noch anhalten, an

die Obhut des Staates sich zu begeben, als diejenigen,

die erstlich in den Dingen am kundigsten sind, durch

die ein Staat am besten verwaltet wird, und die zweitens

noch andere, höhere Ehren und ein glücklicheres

Leben kennen als das eines gewöhnlichen Staatsmannes?

Nein, keine anderen, sagte er.

Wärst du nunmehr zu der Betrachtung bereit, auf

welcheWeise solche Männer im Staate hervorgebracht

werden, und wie sie jemand hinauf ans Licht

führen wird, wie etwa schon aus der Unterwelt einige

zu den Göttern aufgestiegen sein sollen?

Warum sollte ich nicht bereit sein? meinte er.

Da handelt es sich nun nicht um eine so leichte

Umwendung wie im Scherbenspiele, sondern um eine

Seelenumlenkung, d.h. um ihre Auffahrt aus einem

nächtlichen Tage zum wahren Tage des wesentlichen

Seins, in der nach unserer Erklärung die wahreWissenschaft

(Philosophie) besteht.

Allerdings.

Platon: Der Staat 422

Also müssen wir danach sehen, welcher der Lehrgegenstände

solche Kraft hat?

Allerdings.

Welcher Lehrgegenstand, mein lieber Glaukon,

könnte wohl nun einen solchen Zug für die Seele von

dem vergänglichenWerden zum wesenhaften Sein bewirken?

Doch während dieser Worte überlege ich zugleich,

jene Männer sollten ja auch in ihrer Jugend rüstige

Kriegskämpfer sein, nicht?

Ja, das sollten sie.

Es muß also jener Lehrgegenstand, den wir suchen,

nebst der erwähnten Eigenschaft auch noch folgende

haben…

Was für eine denn?

Daß sie auch praktischen Nutzen für Kriegsmänner

hat.

Ja, sagte er, das sollte sie, wenn’s möglich wäre.

In Turnkunst und Musenkunst wurden sie schon

früherhin von uns unterrichtet.

Es war so, sagte er.

Die Turnkunst nun erstlich hat es nur mit dem

Werdenden und Vergänglichen zu tun; sie ist die

Lehrmeisterin von des Körpers Zu- und Abnahme.

Offenbar.

Das einmal wäre also nicht der Lehrgegenstand,

den wir suchen.

Freilich nicht.

Platon: Der Staat 423

Nun denn vielleicht die Musenkunst in dem Umfange,

in dem wir sie früher dargestellt haben?

Aber die war ja, sagte er, nur ein Gegenstück zur

Turnkunst, wenn du dich erinnerst; sie bildete unsere

Wächter nur durch sittliche Gewöhnung, indem sie

ihnen erstlich durch die Harmonie der Töne nur eine

gewisse harmonische Stimmung, aber kein wirkliches

Wissen, und durch den Takt eine taktfeste Regelmäßigkeit

beibrachte; indem sie zweitens bei den mündlichen

Belehrungen ähnliche Zwecke verfolgte, sowohl

bei denen, die das Gewand der Fabel tragen, als

auch bei denen, die das Gepräge der nacktenWahrheit

haben; aber ein für einen solchen Zweck geeigneter

Unterrichtsgegenstand, wie du jetzt einen suchst,

war in jener Musenkunst nicht enthalten.

Sehr genau erinnerst du mich da, sprach ich; denn

in der Tat, einen solchen enthält sie nicht. Aber, mein

göttlicher Glaukon, welcher Lehrgegenstand hätte

denn besagte Eigenschaft? Denn auch die Künste

schienen uns ja schon insgesamt etwas handwerksmäßig

zu sein!

Aber welcher andere Zweig des Lernens bleibt uns

da noch übrig, der von Musenkunst, Turnkunst und

den handwerksmäßigen Künsten verschieden wäre?

Wohlan denn, sagte ich, wenn wir außer diesen

sonst keinen Lehrgegenstand mehr bekommen können,

so laß uns etwas nehmen, was sich auf alle

Platon: Der Staat 424

erstreckt!

Was denn?

So etwas, wie jener allgemeine Lehrgegenstand ist,

den alle Künste und Handwerke, Erkenntnisse und

Wissenschaften außerdem bedürfen, und den daher

auch ein jeder vor allem erlernen muß.

Welcher denn? fragte er.

Jener ganz einfache, antwortete ich: eins, zwei und

drei zu unterscheiden. Ich nenne das aber überhaupt

Zähl- und Rechenkunst. Oder ist es mit dieser nicht

so, daß jede Kunst und jedeWissenschaft sie noch

dazu unumgänglich nötig hat?

Ja, sagte er, sicher.

Also auch die Kriegswissenschaft? fragte ich.

Ja, erwiderte er, ganz notwendig.

Ja, sagte ich, als einen ganz lächerlichen Feldherrn

stellt daher Palamedes den Agamemnon jedesmal in

den Tragödien hin. Oder weißt du nicht, daß er sagt,

Agamemnon habe erst das Zählen erfunden, dann bei

dem Heere vor Ilion die Glieder geordnet, die Schiffe

und alles übrige gezählt, als ob sie vorher ungezählt

gewesen wären, und als wenn Agamemnon, demnach

zu schließen, nicht einmal gewußt hätte, wie viel

Füße er habe, wenn anders er nicht zu zählen verstanden

hätte? Und was für ein Feldherr war er wohl da,

meinst du?

Ein gar ungeschickter, sagte er, wenn dieses wahr

Platon: Der Staat 425

wäre.

Nicht wahr, fuhr ich fort, so dürfen wir also die Rechen-

und Zählkunst erstlich für eine ausgeben, die

einem Kriegsmanne unumgänglich notwendig ist?

Ja, sagte er, als die allernotwendigste, wenn er auch

nur ein klein wenig von der Ordnung eines Heeres

verstehen soll, ja wenn er überhaupt nur ein Mensch

sein will.

Bemerkst du sodann, fragte ich, an diesem Lehrgegenstande

die Eigenschaft, die ich daran bemerke?

Was für eine denn?

Er scheint mir einer der von Natur zur Vernunfterkenntnis

fuhrenden zu sein, nach denen wir suchen;

es: scheint mir aber niemand noch davon den richtigen

Gebrauch zu machen, wiewohl er eine besondere

Kraft hat, zum Reich des wesenhaften Seins hinzuziehen.

Wie meinst du denn? fragte er.

Ich will es versuchen, entgegnete ich, dir meine

Ansicht hierüber klarzumachen. Stelle dich nämlich

mit mir einmal auf den Standpunkt, von dem aus ich

bei mir unterscheide, was Lenkungsmittel zu dem von

uns angegebenen Ziele sind oder nicht, und gib hernach

dein Ja oder Nein dazu, damit wir auch in dieser

Beziehung zu einer klareren Anschauung darüber

kommen, ob es inWahrheit so ist, wie ich ahne.

Gib einmal, sagte er, einen näheren Fingerzeig;

Platon: Der Staat 426

Nun, erwiderte ich, ich gebe dir hier einen Fingerzeig,

wenn du ihm mit deinem Blicke folgen kannst: Manche

sinnliche Wahrnehmungen fordern das Denkvermögen

gar nicht zur Betrachtung auf, weil man

glaubt, hierin seien die Aussagen des Sinnes evident

genug; manche dagegen halten das Denkvermögen

ganz besonders an, jene Sinnenaussage dem Prüfsteine

des Denkens zu unterwerfen, weil dieWahrnehmung

des Sinnes nichtsWahrhaftes enthalte.

Offenbar, sagte er, meinst du wohl unter den letzteren

die aus der Ferne her sich zeigenden Gegenstände

und Schattengebilde.

Dein Blick, entgegnete ich, hat gar nicht getroffen,

was ich meine.

Nun, fragte er, was für Dinge meinst du denn da?

Unter die nicht zum Denken aufforderndenWahrnehmungen,

sprach ich, rechne ich überhaupt alle, bei

denen nicht zugleich schnurstracks entgegengesetzte

Wahrnehmungen vorgehen; bei denen diese aber vorgehen,

diese rechne ich unter die zum Denken auffordernden,

weil in diesem Falle der körperliche Sinn

von einem Gegenstande ebenso die eine wie die andere

ganz entgegengesetzte Eigenschaft angibt; ob er

dabei auf jenen Gegenstand in der Nähe oder Ferne

fällt, das tut hier gar nichts zur Sache. Doch auf folgendeWeise

wirst du meine Gedanken hierüber deutlicher

einsehen: Hier sind zum Beispiel meine drei

Platon: Der Staat 427

Finger: der kleinste, der folgende und der mittelste.

Sehr wohl, sagte er.

Denke also, daß ich von ihnen als in der Nähe gesehenen

Fingern rede, und stelle mir folgende Betrachtung

über sie an…

Was für eine?

Als Finger erscheint ein jeder von ihnen auf gleiche

Weise, und in dieser Beziehung macht es gar keinen

Unterschied, ob man ihn in der Mitte sieht oder am

Ende, ob er weiß ist oder schwarz, ob dick oder dünn,

und überhaupt in Beziehung auf jede allgemeine Eigenschaft.

Bei allen diesen Eigenschaften nämlich

wird die Seele der meisten Menschen nicht aufgefordert,

das Denkvermögen zu fragen, was eigentlich

denn ein Finger ist; in keiner Beziehung nämlich kündigt

hier der Gesichtssinn vom Finger zugleich an,

daß er auch das Gegenteil vom Finger ist.

Nein, sagte er.

Von einer solchen sinnlichenWahrnehmung, fuhr

ich fort, können wir also mit Recht sagen, daß mit ihr

keine Aufforderung und keine Erregung des Denkvermögens

verbunden sei, nicht wahr?

Ja, mit Recht.

Aber wie steht’s andererseits mit der Größe und

Kleinheit jener Finger? Gibt hierüber der Gesichtssinn

auch eine beruhigendeWahrnehmung, und ist es

ihm einerlei, ob einer in der Mitte oder am Ende

Platon: Der Staat 428

steht? Ferner wird ebenso das sinnliche Gefühl genügende

Auskunft über Dünnheit,Weichheit und Härte

geben können? Und die übrigen Sinne überhaupt,

sind ihre Berichte über ähnliche Eigenschaften ganz

befriedigend? Oder verfährt jeder von ihnen also, daß

erstlich der für das Harte bestimmte notwendig auch

für dasWeiche geschaffen ist und also der Seele berichtet,

daß er an einem und demselben Gegenstande

Hartes undWeiches wahrnehme ?

Ja, sagte er, so ist’s.

Muß alsdann, fuhr ich fort, bei solchen Erscheinungen

die Seele ihrerseits nicht in die Lage versetzt werden,

daß sie gar nicht weiß, was denn eigentlich der

Sinn unter dem Harten andeute, wenn er dasselbe

auch weich nenne; daß sie ferner nicht weiß, was der

Sinn des Leichten und Schweren unter dem Leichten

und Schweren verstanden haben will, wenn er das

Schwere auch als leicht und das Leichte als schwer

ankündigt?

Ja, sagte er, freilich müssen solche Berichte der

Seele auffallen und eine nähere Prüfung verlangen.

Natürlich, sprach ich, fordert die Seele dann in desgleichen

Fällen das rechnende Abstraktions- und

Denkvermögen auf und versucht dadurch zu erforschen,

ob ein oder zwei Objekte solchen einzelnen

Berichten zugrunde liegen.

Allerdings.

Platon: Der Staat 429

Nicht wahr, wenn sich ergibt, daß zwei zugrunde

liegen, so ist doch jedes von beiden ein vom anderen

Verschiedenes und eines?

Ja.

Und wenn also jedes von beiden eine Einheit ist

und beide zwei sind, so erkennt sie sodann durch ihr

Denken, daß die zwei gesondert sind; denn wären sie

nicht gesondert gewesen, so hätte sie sie ja nicht als

zwei, sondern nur als eines erkannt.

Richtig.

Großes und Kleines, um auf das vorige Beispiel

wieder zu kommen, nahm unser Gesichtssinn wahr,

jedoch nicht getrennt, sondern als etwas Vermischtes,

nicht wahr?

Ja.

Um also über diesenWiderspruch ins klare zu

kommen, muß auch seinerseits das Denkvermögen

notwendig ein Großes und Kleines sich begrifflich

vorstellen, nicht vermischt, sondern gepennt von einander,

gerade das Gegenteil wie der Gesichtsinn.

Richtig.

Nicht wähl, von diesemMomente an kommt uns

erst der Gedanke zu fragen:Was ist das vernünftig

begreifliche Große und Kleine im Gegensatz zum

sinnlich wahrnehmbaren?

Ja, allerdings.

Und daher nun bekanntlich unsere Benennungen:

Platon: Der Staat 430

durch die Vernunft Erkennbares einerseits, sinnlich

Wahrnehmbares andererseits.

Ja, ganz richtig, sagte er.

Das also waren meine Gedanken, die ich vorhin

ausdrücken wollte, als ich sagte: mancheWahrnehmungen

hätten die Eigenschaft, das Denkvermögen

anzuregen, und manche nicht, und als ich dazu den

Unterschied von ihnen also angab: Diejenigen sinnlichenWahrnehmungen,

die zugleich mit widersprechendenWahrnehmungen

uns zukommen, sind geeignet,

das Denkvermögen anzuregen; diejenigen aber,

bei denen dies nicht der Fall ist, haben nicht diese

Anregungskraft für dasselbe.

Ich begreife nun bereits, sagte er, und teile deine

Meinung.

Wie steht’s nun mit der Anwendung hiervon? Zählkunst

und das Eins, zu welcher von beiden Rubriken

scheinen sie dir zu gehören?

Ich bringe es nicht zusammen, erwiderte er.

Du brauchst ja nur, sprach ich, nach den vorhin erörterten

Grundsätzen zu schließen.Wenn nämlich das

Eins in seinem ganzenWesen vollständig mit dem

Gesichte oder mit einem anderen Sinne wahrgenommen

wird, so wäre es nicht imstande, zum wesenhaften

Sein hinzuziehen, wie wir am Beispiel vom Finger

zeigten; wenn aber immer mit ihm ein widersprechendes

Gegenteil wahrgenommen wird, so daß es ebenso

Platon: Der Staat 431

gut als Eins denn als das Entgegengesetzte erscheint,

so wäre natürlich bereits ein genauerer Prüfstein

nötig, und die Seele sähe sich gedrungen, Zweifel zu

hegen und mit der Weckung des in ihr liegenden

Denkvermögens zu untersuchen und zu fragen:Was

ist begrifflich das Eins an und für sich? Und sonach

wäre die Lehre vom Eins eines der Anleitungs- und

Lenkungsmittel zur begrifflichen Anschauung des wesenhaften

Seins.

Ja wirklich, sagte er, die sinnliche Gesichtswahrnehmung

des Eins hat diese Eigenschaft ganz besonders.

Denn dasselbe Ding sehen wir mit dem Sinne

zugleich als Eins und als mannigfaltige Vielheit.

Nicht wahr, sagte ich, wenn denn das Eins diese

Eigenschaft hat, so hat sie auch jede Zahl überhaupt?

Allerdings.

Nun hat es aber die Rechen- und Zählkunst durchweg

mit der Zahl zu tun?

Ja, sicher.

Diese stellen sich demnach ferner als Anleitungsmittel

zum wahren Sein heraus?

Ja, ganz vorzüglich.

Und gehörten also wohl offenbar zu den vorübenden

Lehrgegenständen, nach denen wir suchen; denn

erstlich ist ihre Erlernung für einen praktischen

Kriegsmann unerläßlich notwendig wegen der Anordnungen

des Kriegsheeres, zweitens auch für den

Platon: Der Staat 432

wahrenWissenschaftsfreund, weil er dadurch aus der

Welt des wandelbarenWerdens sich emporarbeiten

und mit dem unwandelbaren Sein umgehen lernen

muß, oder er wird niemals ein begrifflich berechnender

Kopf.

Es ist so, sagte er.

Unser Staatshüter ist nun ja doch Kriegsmann sowohl

wie Freund der wahrenWissenschaft?

Jawohl.

Es kommt uns also zu, lieber Glaukon, diesen

Lerngegenstand gesetzlich einzuführen und die, die

dereinst in dem Staate an den erhabensten Würden

teilnehmen wollen, anzuhalten, an die Rechenkunst zu

gehen und sie nicht bloß für den gemeinen Hausgebrauch

zu betreiben, sondern bis sie mittels des reinen

Denkvermögens zu einer begrifflichen Anschauung

vomWesen der Zahlen gelangen, nicht Kaufs und

Verkaufs halber, wie Kaufleute und Krämer sie betreiben,

sondern einmal des praktischen Nutzens

wegen für den Krieg und dann vorzüglich zur leichteren

Umlenkung der Seele vomWerden zuWahrheit

und Sein.

Ja, sagte er, trefflich bemerkt!

Ja, fuhr ich fort, während der Verhandlung über

den Lerngegenstand der Rechenkunst sehe ich auch

jetzt bei mir selbst ein, wie vortrefflich er ist und wie

ein vielfach gutes Hilfsmittel er zu unserem

Platon: Der Staat 433

Hauptzwecke abgibt, wenn jemand als Vorschule zur

höheren Erkenntnis und nicht der Krämerei wegen ihn

studiert.

Worin liegt denn jene Vortrefflichkeit? fragte er.

Darin gerade, was wir eben erwähnten, daß sie

nämlich ganz besonders nach oben leitet, mit rein abstrakten

Zahlen bei ihren Operationen zu verfahren

nötigt und es durchaus nicht gestattet, wenn jemand

körperlich sichtbare oder fühlbare Zahlen in sie hineinbringen

und damit rechnen wollte. Denn du weißt

ja, daß die echten Meister in dieser Kunst einen auslachen

und fortweisen, wenn einer das abstrakte Eins in

Gedanken Zerschneiden wollte, und wenn du es in

viele Stückchen zerschnittest, so würden sie diese vielen

Stückchen dann wiederum als ebensoviele Einheiten

setzen und so es nie geschehen lassen, daß die

Einheit einmal nicht als Einheit, sondern als Vielheit

von Teilchen erschiene.

Ganz richtig bemerkt, sagte er.

Was glaubst du nun, mein lieber Glaukon, wenn jemand

an sie die Frage stellte: »O ihr hochgelehrten

Meister, was für Zahlen sind es denn, von denen ihr

in eurer Wissenschaft redet, und bei denen das Eins

nach eurer Ansicht die Eigenschaft hat, daß jedes dem

anderen gleich, nicht im geringsten verschieden ist

und gar kein Teilchen in sich hat?«Welche Antwort

werden sie da wohl geben?

Platon: Der Staat 434

Folgende, glaube ich: daß sie von solchen Zahlen

sprächen, die man nur denken könne, und auf eine andere

Weise damit zu verfahren sei ganz unmöglich.

Siehst du es da, mein Lieber, fuhr ich fort, daß uns

jener Lehrgegenstand als ein in der Tat unumgänglich

notwendiger erscheint, daß sich außer dem praktischen

Nutzen bei ihm herausstellt, daß er die Seele

nötigt, das reine Denken zur Auffassung der reinen

Wahrheit zu gebrauchen?

Ja, wirklich, sagte er, das bewirkt er offenbar in

einem ganz besonderen Grade.

Endlich, hast du denn schon darauf gemerkt, daß

erstlich die von Geburt zur Rechenkunst Begabten

fast zu allen Lehrgegenständen eine scharfe Auffassung

angeboren haben, und zweitens, daß die von

Natur langsamen Köpfe durch die Bildung und

Übung in diesem Zweige desWissens, wenn sie auch

sonst nichts profitieren, wenigstens doch alle den Gewinn

haben, daß sie eine schnellere Fassungskraft als

vorbei bekommen?

Ja, sagte er, es ist so.

Und dann findet man nach meiner Ansicht wirklich

nicht viele Lehrgegenstände, die dem Lernenden und

Studierenden mehr Schwierigkeit zu überwinden

gäben, als eben dieser.

Nein, nicht leicht.

Aus allen diesen Gründen dürfen wir diesen

Platon: Der Staat 435

Lehrgegenstand ja nicht außer acht lassen, sondern

müssen die besten Köpfe sorgfältig darin unterrichten

lassen.

Ja, ich stimme bei, sprach er.

Dieser erste vorübende Lehrgegenstand, fuhr ich

fort, sei also abgemacht.Wir wollen jetzt zweitens

den damit verwandten näher betrachten, ob er etwas

zu unserem Zwecke beiträgt.

Was für einen? Vielleicht Geometrie meinst du?

fragte er.

Ja, eben diese, war meine Antwort.

Was nun hier fürs erste, sagte er, ihre Beziehung

auf das Kriegswesen betrifft, so versteht sich von

selbst, daß sie dafür einen praktischen Nutzen hat: um

nämlich Lager abzustecken, feste Plätze einzunehmen,

ein Heer zusammenzuziehen oder auszudehnen, sowie

in betreff aller sonstigenWendungen, die Heere nicht

nur im Gefechte selbst, sondern auch auf ihren Märschen

machen, wird es bei einem einen großen Unterschied

machen, ob er Geometrie versteht oder nicht.

Ja, gut, sprach ich, aber zu dergleichen würde offenbar

ein klein wenig Geometrie hinreichend sein;

darum müssen wir nun zweitens ihr umfassenderes

und tieferes Studium in Erwägung ziehen und nachsehen,

ob es etwas zu jenem Zwecke beiträgt, nämlich

zur Bewerkstelligung der leichteren begrifflichen Anschauung

der Idee des Guten. Es trägt aber nach

Platon: Der Staat 436

unserer Erklärung alles dazu bei, was die Seele nötigt,

sich nach jener Region hinzuwenden, wo das Himmlischste

des Seins sich befindet, was sie auf alle

Weise sehen muß.

Ja, richtig bemerkt, sagte er.

Nicht wahr, wenn Geometrie auf wesenhaftes Sein

zu schauen nötigt, so ist sie förderlich dazu, wenn

aber auf die sichtbare Welt des vergänglichen Werdens,

so ist sie es nicht? Ja, nach unserer Behauptung

wenigstens.

Darüber wenigstens, fuhr ich fort, wird also doch

bei denen kein Zweifel sein, die nur wenig in der Geometrie

erfahren sind, daß die genannteWissenschaft

etwas ganz anderes ist, als die Ausdrücke lauten, die

diejenigen imMunde führen, die sie berufsmäßig betreiben.

Wieso? fragte er.

Sie führen bekanntlich doch eine spaßhafte und

handwerksmäßige Sprache: denn gerade als verrichteten

sie eine mechanische Arbeit und als machten sie

nur dieser Arbeit wegen alle ihre Demonstrationen,

sprechen sie nur von quadrieren, prolongieren, addieren

und wie alle diese ihre Ausdrücke lauten, während

doch die ganzeWissenschaft einer geistigen Erkenntnis

wegen betrieben wird.

Ja, allerdings, sagte er.

Nicht wahr, nur über folgendes hätten wir uns noch

Platon: Der Staat 437

zu verständigen?

Worüber denn?

Daß es Erkenntnis des immer unveränderlichen

Seins ist und nicht des in der Zeit etwas Werdenden

und wieder Vergehenden?

Da haben wir uns gut zu verständigen, antwortete

er; denn bei dieser Alternative kann die Geometrie nur

Erkenntnis des immer unveränderlichen Seins sein!

Sie hätte nach deinem Zugeständnisse, mein Lieber,

die Kraft, die Seele zum immerwährenden Sein

hinzuziehen, und wäre eine Vorschule für einen wissenschaftlichen

Kopf, um Seelentätigkeiten nach dem

Überirdischen zu richten, die wir jetzt ungebührenderweise

nur auf das Irdische halten.

Ja, sagte er, sie ist jenes im höchsten Grade.

Im höchsten Grade, fuhr ich fort, müssen wir also

darauf halten, daß die Bürger in deinem Himmelsstaat

auf keineWeise der Geometrie abhold sind; denn

auch die Nebengewinne sind nicht unbedeutend.

Welche denn? fragte er.

Erstlich der, den du schon erwähntest, erwiderte

ich: der praktische Gewinn für den Krieg; zweitens

wird außerdem bekanntlich in bezug auf jedes andere

Lernen, um besser aufzufassen, ein himmelhoher Unterschied

sein zwischen einem, der sich mit Geometrie

befaßt hat, und dem, der es nicht getan hat.

Ja wahrhaftig, ein himmelhoher, bemerkte er.

Platon: Der Staat 438

Wollen wir diese also als die zweite Vorbereitungswissenschaft

für junge Männer aufstellen?

Ja, sagte er, das wollen wir.

Wie nun weiter? Sollen wir als die dritte die Sternkunde

auf stellen? Oder meinst du nicht?

Ja, ich denke, erwiderte er; denn die Zeitwechsel in

Monat und Jahr etwas prophetisch vorauszubemerken,

ist nicht nur ein Erfordernis für Ackerbau und

Schiffahrt, sondern auch in eben dem Grade für die

Kriegskunst.

Du bist naiv! sprach ich. Du scheinst Furcht vor

dem großen Publikum zu haben, es möchte scheinen,

du wolltest unpraktische Lehrgegenstände einführen.

Der Hauptnutzen aber, freilich schwer zu glauben,

liegt darin, daß einem jeden ein gewisses Organ der

Seele gereinigt und angefeuert wird, das unter den übrigen

Lebensbeschäftigungen abstirbt und erblindet,

obgleich an dessen Erhaltung mehr gelegen ist als an

tausend Augen; denn durch jenes Organ allein wird

dieWahrheit geschaut. Die nun diese Meinung teilen,

denen wirst du mit deiner Äußerung da außerordentlich

gefallen; diejenigen aber, die hiervon noch gar

keine Vorstellung haben, die werden natürlich glauben,

daß gar nichts daran sei; denn einen anderen bedeutenden

Nutzen von jenen Studien sehen sie gar

nicht ein. Daher bedenke nun, zu welcher von beiden

Parteien du sprichst, oder ob zu keiner von beiden,

Platon: Der Staat 439

sondern ob du hauptsächlich deiner selbst wegen die

Untersuchungen anstellst, ohne auch es einem anderen

zu mißgönnen, wenn er etwas davon profitieren könnte.

Ja, sagte er, letzteres will ich vorziehen, vorzüglich

meiner selbst wegen die Untersuchung führen helfen

durch Fragen und Antworten.

So lenke denn erst wieder zurück, sprach ich; denn

wir taten eben einen Mißgriff bei dem unmittelbar auf

die Geometrie folgenden Lerngegenstand.

Wieso? fragte er.

Dadurch, erwiderte ich, daß wir gleich nach der

Fläche das Körperliche in seiner Bewegung und nicht

zuvor dasselbe ohne Bewegung vornahmen, da es sich

doch gehört, unmittelbar nach der zweiten Ausdehnung

erst die dritte zu nehmen. Es handelt sich aber

hier um die Ausdehnung der Würfel und um das überhaupt,

was Tiefe hat.

Ja, freilich, sagte er; aber diese Dinge da, o Sokrates,

warten noch auf ihren Erfinder.

Ja, freilich, aus zweierlei Ursache, sprach ich; erstlich,

weil kein Staat sie hoch anschlägt, so ist die Forschung

darin schläfrig wegen der Schwierigkeit der

Sache; zweitens hätten die Forscher darin an ihrer

Spitze eine höhere Autorität nötig, ohne die sie keine

neuen Erfindungen machen können. Diese Autorität

steht nun einmal schwerlich auf, und stände sie auf,

Platon: Der Staat 440

so würden die hierfür geeigneten Köpfe unter den jetzigen

Verhältnissen ihr aus gelehrtem Handwerksdünkel

keine Folge leisten.Wenn aber sich an die Spitze

die ganze Autorität eines Staates stellte, der jeneWissenschaft

gehörig zu schätzen verstände, so würden

diese folgen, und die Sache müßte bei anhaltender

und angestrengter Forschung mit ihrem ganzenWesen

an das Licht kommen; wird sie doch schon jetzt, obwohl

von dem großen Publikum vernachlässigt und

gehemmt, von ihren eifrigen Liebhabern, obgleich sie

nicht angeben können, wozu sie nützt, dessen ungeachtet

trotz alledem aus reiner Liebe zur Sache vervollkommnet,

und es wäre keinWunder, wenn sie

auch auf diesemWege ganz ans Licht käme.

Ja, gewiß, sagte er, reizvoll ist sie auch in hohem

Grade; aber sage mir nur deutlicher, welcheWissenschaft

du hier meinst; denn du stelltest doch einmal

die ganze Behandlung der Fläche als Geometrie auf?

Ja, erwiderte ich.

Darauf, sprach er, stelltest du zuerst die Sternkunde

auf, machtest hernach aber einen Rückschritt.

Ja, sagte ich: während ich mich tummelte, recht

schnell alles abzumachen, verspätete ich mich noch

mehr; denn eigentlich wäre die Lehre von der Ausdehnung

nach der von der Tiefe an der Reihe gewesen;

aber weil die Untersuchung darüber noch ins Lächerliche

fällt, so überging ich sie und brachte nach der

Platon: Der Staat 441

Geometrie die Sternkunde vor, die sich mit der Bewegung

der Tiefe abgibt.

Ja, richtig bemerkt, sagte er.

Als vierte Vorbereitungswissenschaft, fuhr ich fort,

dürfen wir also die Sternkunde aufstellen, in der Voraussetzung,

daß die jetzt übergangene dritte (die Stereometrie)

sich schon einstellen werde, wenn einmal

ein Staat sich um sie bekümmert.

Ja, sagte er, wahrscheinlich; doch weil du, Sokrates,

mir eben in bezug auf die Sternkunde den Vorwurf

machtest, daß ich sie nur ihres gemeinen Nutzens

wegen empfohlen hätte, so will ich sie nun nach

deiner Weise loben! AllerWelt ist nämlich doch offenbar,

daß sie es ist, die eine Seele ganz besonders

nötigt, ihren Blick nach dem Überirdischen zu richten,

und sie aus dem Diesseits nach dem Jenseits

führt.

Vielleicht, sprach ich, allerWelt offenbar, nur mir

nicht; denn ich bin nicht dieser Meinung.

Nun, welcher denn? fragte er.

Daß sie, wie sie jetzt die Lehrer der Gelehrsamkeit

behandeln, den Blick ganz nach unten gewöhnt.

Wie meinst du das? fragte er.

Nicht übel scheinst du mir, sprach ich, dasWesen

des Studiums über das Überirdische in dir aufgefaßt

zu haben! Auch in dem Falle, wenn jemand an einer

Zimmerdecke Verzierungen beschaute und mit

Platon: Der Staat 442

zurückgebeugtem Kopfe etwas wahrnähme, so wärst

du imstande zu glauben, er schaue mit seiner Vernunft

und nicht mit seinen Augen. Doch vielleicht meinst

du recht, und ich bin der Einfältige. Denn ich kann

hier wiederum dieWirksamkeit, den Blick einer Seele

nach oben zu richten, keinem anderen Lehrgegenstande

zuschreiben als jenem, der sich mit dem reinen

und nicht sinnlich wahrnehmbaren Sein abgibt; wenn

aber jemand sich einfallen ließe, etwas von dem sinnlichWahrnehmbaren

zu studieren, möge er nun mit

aufgehobenem Nacken nach oben gaffen oder mit geschlossenen

Augen nach unten blicken, – so gestehe

ich ihm weder ein Studium zu, weil nichts dergleichen

eineWissenschaft enthält, noch einen wahren Blick

nach oben; sondern ich behaupte, daß seine Seele

nach unten schaue, wenn er auch auf dem Rücken liegend

studierte, zu Land oder zuWasser.

Ja, sagte er, da habe ich meinen Teil bekommen!

Mit Recht freilich hast du mich hergenommen. Aber

wie verstehst du denn das, wenn du sagtest, man

müsse die Sternkunde ganz anders studieren, als wie

sie sie jetzt treiben, wenn sie mit Nutzen für die von

uns angegebenen Zwecke sie studieren wollten?

Auf folgendeWeise, erwiderte ich: Man darf zwar

von jenen bunten Gebilden, weil sie denn einmal am

Himmel ein Zierat sind, die Meinung haben, daß sie

sehr schön seien und, mit andern Zieraten verglichen,

Platon: Der Staat 443

die vollkommensten der Art seien, muß aber dabei

den Gedanken festhalten, daß sie hinter den wahren

Schönheiten noch weit zurückbleiben, nach den Bewegungen

zu urteilen, die die wahre intellektuelle Geschwindigkeit

und die wahre intellektuelle Langsamkeit

in dem wahren intellektuellen Takte und überhaupt

in allen intellektuellen Verhältnissen zu einander

haben und dadurch die unter ihnen sichtbaren

Körper bewegen, lauter Dinge, die nur durch das

Denken und den Verstand sich erfassen lassen, nicht

aber mittels des Gesichtes; oder glaubst du?

Keineswegs, antwortete er.

Nicht wahr, sagte ich, jenen bunten Zierat am Himmel

muß man nur als Beispiele gebrauchen, um daran

jene ewig wahren Schönheiten zu studieren, so ähnlich

etwa, wie wenn jemand Figuren anträfe, die von

Daidalos oder einem anderen Meister oder Maler mit

Pinsel oder Meißel vorzüglich dargestellt wären.

Denn es würde wohl ein Geometrieverständiger beim

Anblicke solcher Gebilde hinsichtlich der Kunstschöpfung

sie zwar sehr schön finden; aber wahrhaft

lächerlich wäre es, wenn man sie ernstlich in der Absicht

studieren wollte, darin das wahreWesen des

Gleichen oder des Doppelten oder eines anderen Verhältnisses

finden zu können.

Ja, das wäre wirklich lächerlich, meinte er.

Wenn einer nun ein wahrer Sternkundiger ist, fuhr

Platon: Der Staat 444

ich fort, wird er da nicht beim Anblick der Bewegungen

von Sonne und Mond dieselbe Ansicht haben?

Nämlich wohl anerkennen, daß der Himmel samt

dem, was daran ist, von seinem Schöpfer so vollkommen

gebaut ist, wie immer nur dergleichenWerke gebaut

sein können. Aber das Verhältnis von Nacht und

Tag, das Verhältnis dieser zumMonat, das des Monates

zum Jahre und das der übrigen Gestirne zu jenen

und zu einander betreffend, glaubst du, er werde den

nicht für einen Einfaltspinsel halten, der da annähme,

diese Dinge erfolgten immer auf dieselbeWeise, und

die Himmelskörper wichen nie das mindeste ab, da

sie ja materiell und sinnlich sichtbar sind, – und der

da glaubte, er müsse auf alleWeise suchen, das wahre

Sein an ihnen zu erfassen?

Ja, sagte er, ich glaube es, da ich es jetzt von dir

höre.

Also um Übungen des denkenden Verstandes, sagte

ich, an ihnen zu haben, lassen wir Astronomie wie

Geometrie uns angelegen sein; die am Himmel befindlichen

Körper werden wir dabei nicht so hoch anschlagen,

wenn wir das in der Seele von Natur angelegte

Vernunftvermögen aus einem unbrauchbaren zu

einem brauchbaren zu machen beabsichtigen.

Ja wahrlich, bemerkte er, da stellst du eine viel

größere Aufgabe hin, als eben jetzt bei der Astronomie

stattfindet.

Platon: Der Staat 445

Freilich, sagte ich; aber ich glaube, daß wir bei den

übrigen Lehrgegenständen dieselbe Aufgabe zu stellen

haben, wenn wir als Gesetzgeber etwas nütze sein

wollen. – Aber, um weiterzukommen, was hast du

noch unter den zum fraglichen Zweck beitragenden

Vorbereitungswissenschaften zu erwähnen?

Ich habe keine mehr in dem Augenblicke jetzt,

sagte er.

Die Bewegung liefert jedoch meines Bedünkens,

sprach ich, nicht bloß eine Art von sich, sondern

mehrere. Sie alle hier aufzuzählen, vermag nur ein

Sachkundiger; derer aber, die uns hauptsächlich bekannt

sind, gibt es zwei.

Welche sind es denn?

Außer der Astronomie, sagte ich, noch ein Gegenstück

von ihr.

Und wie heißt das?

Wie es mir scheint, antwortete ich, so sind die

Ohren ebenso für die in harmonischen Tönen sich offenbarende

Bewegung bestimmt wie die Augen für die

Astronomie, und dieseWissenschaften sind mit einander

verschwistert, wie die Pythagoreer behaupten,

mit welcher Behauptung auch wir, mein Glaukon, einverstanden

sind, oder wie wollen wir es machen?

Ebenso, gab er zur Antwort.

Nicht wahr, fuhr ich fort, dieweil dies eine zu weitläufige

Materie wäre, so wollen wir uns bei jenen

Platon: Der Staat 446

erkundigen, wie ihre Lehren hierüber lauten, und ob

sie außerdem noch auf sonst etwas sich erstrecken;

wir aber wollen neben allem dem unseren Hauptgrundsatz

in acht nehmen.

Welchen?

Daß unsere Zöglinge sich nicht einfallen lassen,

etwas in diesem Fache stümperhaft zu treiben oder so,

daß es nicht beständig zu jenem Ziele führt, zu dem

alles führen muß, wie wir es vorhin an der Sternkunde

zeigten. Oder weißt du nicht, daß die Leute auch in

der Harmonie ein ähnliches Seitenstück darstellen?

Denn auch diese messen Akkorde und Töne nach einander

nur durch das Ohr und machen sich dadurch ihrerseits

ebenso eine nutzlose Arbeit wie die empirischen

Astronomen.

Ja, bei den Göttern, sagte er, gar lächerlich ist’s,

wenn sie ich weiß nicht welche »Verdichtungen« im

Munde führen und ihre Ohren hinhalten, als wollten

sie aus des Nachbars Haus herüber einen Ton erlauschen,

und wenn einige behaupten, sie vernähmen dazwischen

noch einen Ton, und dies sei das kleinste Intervall,

nach dem man messen müsse, während andere

es bestreiten und sagen, man vernehme bereits keinen

Unterschied der Intervalle; beide Parteien gebrauchen

aber dabei ihre Ohren statt ihrer Vernunft.

Du meinst gewiß hier, sprach ich, die guten armen

Tröpfe, die die Saiten quälen und foltern, indem sie

Platon: Der Staat 447

diese auf die Schrauben ziehen. Damit aber deine malerische

Schilderung von den Schlägen mit dem Hammer,

von dem Ansprechen und Versagen sowie von

der Sprödigkeit der Saiten nicht zu lang werde, so

will ich dieser Beschreibung ein Ende machen und bemerke,

daß ich an jene armen Tröpfe gar nicht denke,

sondern an diese, von denen wir eben sagten, daß wir

sie über die Musik zu Rate ziehen wollten. Diese

nämlich verfahren ebenso wie jene empirischen Astronomen:

denn sie forschen zwar in den wirklichen, mit

ihrem Ohre vernommenen Akkorden nach den ihnen

zugrunde liegenden Zahlen; aber sie bringen es darin

nicht zu den höheren Untersuchungen, welche harmonische

Zahlen sind, welche nicht, und weshalb sie beides

sind.

Ja, sagte er, da sprichst du von einer überaus herrlichen

Aufgabe!

Ja, sprach ich, von einer, die wahrhaft vorteilhaft

ist zur Erforschung des höchsten Schönen und Guten;

wenn sie aber anders betrieben würde, so wäre sie

dafür unnütz.

Wahrscheinlich wohl, sagte er.

Wenn, fuhr ich fort, das Studium aller dieser von

uns dargestellten vorbereitenden Lehrgegenstände zur

Einsicht ihrer wechselseitigen Gemeinschaft und Verwandtschaft

gelangt, und wenn man dabei die allgemeine

Übersicht gewinnt, daß sie mit einander nur

Platon: Der Staat 448

eine Familie ausmachen, so glaube ich, daß die Beschäftigung

mit ihnen nicht wenig zu dem von uns beabsichtigten

Ziele beiträgt, und daß die darauf verwandte

Mühe nicht verloren ist.Wenn aber diese Methode

nicht eingehalten wird, so ist alle Mühe verloren.

Auch mich will es so bedünken, sagte er. Aber, Sokrates,

eine ungeheure Aufgabe stellst du da hin!

Die vom Vorspiele, fragte ich, oder was meinst du?

Oder wissen wir denn nicht, daß alle jene Lehrgegenstände

nur Vorspiele sind zur Hauptmelodie, die das

Ziel alles Studiums ist? Denn diejenigen, welche in

diesen vorbereitenden Lehrgegenständen stark sind,

die scheinen dir wohl nicht deshalb schon im Besitze

der Wissenschaft der Dialektik?

Nein, sagte er, wahrhaftig nicht, mit Ausnahme einiger

ganz wenigen, die mir vorgekommen sind.

Aber, fuhr ich fort, scheinen dir diese einigen wenigen

schon etwas von dem Gebiet zu wissen, das man

nach unserer Lehre unerläßlich kennen muß, wenn sie

nicht imstande sind, bei irgend einem wissenschaftlichen

Diskurs den wahren Grund begrifflich anzugeben

oder zu fassen?

Nein, sagte er, das ebensowenig.

Nicht wahr, mein Glaukon, sprach ich, das ist erst

die wahre Hauptmelodie, die von der Kunst der Dialektik

durchgeführt wird? Von ihr, die nur durch die

Platon: Der Staat 449

Vernunft möglich ist, soll uns eine bildliche Darstellung

das Vermögen des sinnlichen Gesichtes geben,

das nach unserer obigen Darstellung schon die Tiere

selbst, die Gestirne selbst und die Sonne selbst anzuschauen

versuchte. Ähnlich geht’s, wenn jemand zur

Dialektik schreitet: ohne alle Beihilfe der Sinne dringt

er nur mittels der begrifflichen Tätigkeit des Verstandes

zum wesenhaften Sein eines jeden Dinges;

und wenn er nicht abläßt, bis er dasWesen des höchsten

Guten erfaßt hat, dann ist er natürlich an dem

Ziele des durch die VernunftWahrnehmbaren, gerade

wie einer in jenem Bilde (bei der Sonne selbst) am

Ziele des durchs körperliche AugeWahrnehmbaren

ist.

Ja, allerdings, sagte er.

Und diese Prozedur nennst du Dialektik, nicht?

Allerdings.

Dagegen, sagte ich, die dieser Prozedur vorhergehende

Entfesselung – und die Umlenkung von den

Schatten zu ihren (körperlich reellen) Bildern sowie

zu dem (von einem in der Höhle brennenden Feuer

bewirkten) Lichte – und das Emporklimmen aus dem

unterirdischen Kerker zur Sonne – und das dort im

Sonnenlichte (infolge des noch vorhandenen Unvermögens,

sogleich die Tiere, Pflanzen und den Sonnenglanz

anschauen zu können) zuerst gerichtete Schauen

auf die imWasser befindlichen Abspiegelungen vom

Platon: Der Staat 450

Göttlichen und auf die Schattenrisse von den intelligibel

wirklichen Urbildern, aber nicht von körperlich

wirklichen Bildern, welche Schattenrisse durch ein

anderes, im Vergleich mit der Sonne ähnliches Licht

(d.h. das höchste Gute) gebildet werden; – diese Kraft

hat die angestrengt geistige Beschäftigung mit den

von uns aufgestellten (mathematischen) Vorbereitungsstudien,

und diese Prozedur heißt die Hinaufführung

des edelsten Seelenvermögens zu der Anschauung

des Edelsten in den Dingen, eine ganz ähnliche

Hinaufführung, wie die oben erwähnte des hellsten

Teiles am Körper zur Anschauung des hellsten Gegenstandes

in der körperlichen und sichtbaren Welt.

Ja, ich für meinen Teil, bemerkte er, will die Dinge

einmal so annehmen. Obgleich sie durchaus anzunehmen

einerseits Bedenklichkeiten vorhanden scheinen,

so sind doch in anderer Beziehung wiederum Bedenklichkeiten,

sie nicht anzunehmen. Drum (sie sind ja

nicht bloß in diesem Augenblicke allein anzuhören,

man kann ja wiederum öfter zu ihnen zurückkommen),

drum, wie gesagt, will ich von den Dingen hier

annehmen, daß es mit ihnen ist, wie eben gesagt worden;

dagegen lasset uns nun zur eigentlichen Hauptmelodie

schreiten und sie so darstellen, wie wir das

Vorspiel dargestellt haben! Erkläre also nun, welches

ist der eigentliche Begriff der dialektischen Kunst,

welches sind ihre Teile, und worin besteht auch hier

Platon: Der Staat 451

wiederum der höhere geistige Weg dazu? Denn dieser

Weg muß doch offenbar zu jenem Ziele führen, bei

dessen Erreichung ein Ausruhen vomWege und das

Ende der Wanderung lacht.

Mein lieber Freund Glaukon, sprach ich, du wirst

hier nicht mehr imstande sein, zu folgen; denn an meinem

gutenWillen würde es nicht fehlen, auch würdest

du kein Bild von dem in Frage stehenden Hauptgegenstande

mehr zu sehen haben, sondern das reine

wahre Sein, natürlich, wie es mir erscheint. Ob es

aber in der Tat so ist, das kann noch nicht mit Zuversicht

behauptet werden; aber behauptet darf bekanntlich

werden, daß es ähnlich aussieht: oder nicht?

Jawohl!

Nicht wahr, und daß nur die Kunst der Dialektik

einem, der die oben beschriebenen Vorbereitungswissenschaften

studiert hat, dasselbe zeigen kann, auf

eine andereWeise aber es nicht möglich ist?

Auch das, sagte er, darf behauptet werden.

Und das wird uns weiter niemand in Abrede stellen,

fuhr ich fort, wenn wir behaupten, daß kein anderes

wissenschaftliches Verfahren das reine Sein eines

jeden Dinges von allem ordentlich zu erfassen strebt;

alles andere Können undWissen ist insgesamt gerichtet

entweder auf menschliche Meinungen und Begierden,

oder auf Natur- und Kunsterzeugnisse, oder auf

die Pflege von Natur- und Kunsterzeugnissen; die

Platon: Der Staat 452

übrigenWissenschaften, denen wir zugestanden, daß

sie etwas vom reinen Sein erfaßten, wie Geometrie

und die ihr verwandten, sehen wir zwar über das Sein

träumen, aber wachend es zu schauen ist ihnen unmöglich,

solange sie sich unerwiesener Voraussetzungen

bedienen und sie ganz unberührt lassen, weil sie

diese nicht begründen können. Denn bei einem Dinge,

wobei der Anfang aus dem besteht, was man nicht

weiß, Ende und Mitte aus dem Nichtgewußten zusammengeflochten

werden, – wie in allerWelt kann eine

solche Reihe von unbegründeten Folgerungen je eine

Wissenschaft werden?

Unmöglich, sagte er.

Nicht wahr, sprach ich weiter, das wissenschaftliche

Verfahren der Dialektik allein steigt, unter Aufhebung

der anfänglich aufgestellten Voraussetzungen,

zum Urgrunde, damit er dann unerschütterlich fest

steht; sie zieht das in einem gewissen barbarischen

Schlamme vergrabene Auge der Seele allmählich hervor

und führt es aufwärts, indem sie sich dabei als

Gehilfinnen und Dienerinnen bedient der erwähnten

vorbereitenden Lehrfächer, die von uns schon oft der

hergebrachten Gewohnheit zuliebe den Namen »Wissenschafter

« bekamen, aber eigentlich einen anderen

Namen haben sollten, der etwas Klareres ausdrückte

als »Meinung« und etwas Dunkleres als »Wissenschaft

«. In dem Vorhergehenden war es der Name

Platon: Der Staat 453

»Verstandeseinsicht«, womit wir sie charakterisierten.

Bei Männern aber, die, wie wir, eine Betrachtung

über so wichtige Gegenstände vor sich haben, gibt es,

denke ich, keinen Streit um einen Namen.

Gewiß nicht, sagte er, sondern nur soweit er zur

Verdeutlichung des in der Seele Gedachten beitragen

mag. Es genügt also, fuhr ich fort, den ersten und

obersten Abschnitt des Erkennens Wissenschaft zu

nennen, den zweiten Verstandeseinsicht, den dritten

Glauben an die Sinne, den vierten bloßen Schein von

Wahrheit, und einerseits die beiden letzten zusammen

Meinung, andererseits die ersten zusammen Vernunfteinsicht;

dabei bezieht sich Meinung auf das wandelbare

Werden, Vernunfteinsicht auf das unwandelbare

Sein, so daß wie Sein zumWerden, so Vernunfteinsicht

zu Meinung, und wieWissenschaft zu Glauben

an die Sinne, so Verstandeseinsicht zu Scheinwissen

sich verhält. Das entsprechende Verhältnis der Objekte

für jene Gliederung und die entsprechende Zweiteilung,

sowohl hinsichtlich des durch Meinung Erkennbaren

als auch bei dem durch Vernunft Erkennbaren,

wollen wir jetzt, mein lieber Glaukon, beiseite setzen,

damit wir nicht in noch viel umfassendere Erörterungen

geraten als vorher.

Ja gewiß, sagte er, mir scheint es ganz recht, das

Weitere zu behandeln, soweit ich ihm folgen kann.

Nennst du auch denjenigen einen Dialektiker, der

Platon: Der Staat 454

von jedem Dinge den Begriff desWesens auffaßt?

Und wirst du nicht dem dessen Unfähigen darüber

Vernunft absprechen, worüber er sich und einem anderen

nicht einen begrifflichen Grund angeben kann?

Wie könnte ich sie ihm doch zugestehen? sagte er.

Nicht wahr, in betreff des eigentlichen wesenhaften

Guten ist es ebenso? Wer nicht imstande ist, die Anschauung

vom wesenhaften Guten mit dem begrifflichen

Ausdrucke zu bestimmen und dadurch von allem

anderen zu begrenzen, wie in einer Schlacht durch alle

Angriffe sich durchzuschlagen, sie mutig zu verfechten

nicht im Hinblick auf einen Schein, sondern im

Hinblick auf wahres Sein, und in allen diesen Gefahren

mittels seines unerschütterlichen Begriffes durchzuschreiten:

von solchemMenschen wirst du sagen,

daß er wederWissenschaft vom wesenhaften Guten

habe noch von irgend einem anderen Gut; und wenn

er je einmal ein Schattenbild hiervon erfasse, so tue er

dies durch Meinung, nicht durch Wissenschaft; das

jetzige Leben verträume und verschlafe er und gelange,

ohne hier in dieserWelt erwacht zu sein, in die

Unterwelt und versinke da erst vollends in einen Todesschlaf?

Ja, bei Zeus, sagte er, ich werde gar sehr alles dies

sagen.

Wenn du daher deine eigenen Zöglinge zu künftigen

Staatsmännern, denen du jetzt in der Idee

Platon: Der Staat 455

Erziehung und Jugendunterricht gibst, einmal in der

Wirklichkeit erzögest, so würdest du nicht zugeben,

denke ich, daß sie ohne Rede und Antwort wie Figuren

im Staate die Herrschaft führen und über die

wichtigsten Angelegenheiten höchsten Orts entscheiden.

Gewiß nicht, sagte er.

Du wirst ihnen also gesetzlich auferlegen, daß sie

sich ganz besonders in ihrer Jugend mit dieserWissenschaft

hier befassen, durch die sie am gründlichsten

zu fragen und zu antworten imstande sein werden?

Ja, antwortete er, ich will das Gesetz aufstellen,

und zwar in Verbindung mit dir!

Scheint dir nun nicht, fragte ich, daß die Dialektik

uns wie ein Schlußstein auf denWissenschaften liegt,

und daß über diese hinaus keine andereWissenschaft

mehr mit Fug gestellt werden kann, sondern daß hier

das Bereich derWissenschaften sein Ende hat?

Ja, sagte er, mir wenigstens scheint es so.

Hierauf fuhr ich fort: Zu verteilen bleibt dir sonach

nur übrig, welchen Leuten und aufweicheWeise wir

diese hier aufgezähltenWissenschaften mitzuteilen

haben.

Offenbar, sagte er.

Du erinnerst dich doch noch der Eigenschaften, die

wir bei der Auswahl unserer Staatsoberhäupter

Platon: Der Staat 456

hervorhoben?

Sehr wohl, war seine Antwort.

So nimm denn an, sprach ich, daß sie vorerst im

allgemeinen nach den dort erwähnten natürlichen Eigenschaften

ausgewählt werden müssen: denn hiernach

sind nicht nur die Festesten und Mannhaftesten,

sondern womöglich zugleich auch dieWohlgestaltetsten

auszuwählen; insbesondere aber ist außer diesen

Eigenschaften nicht nur auf Adel und Ernst der Denkart

zu sehen, sondern auch auf die Erfordernisse, die

sie für die obenerwähnte wissenschaftliche Ausbildung

ihrer angeborenen Anlage haben müssen.

Welche bestimmst du denn als solche?

Erstlich, mein Bester, sagte ich, müssen sie eine

leicht auffassende Geistesschärfe für die wissenschaftlichen

Lehrgegenstände haben und dürfen nicht

schwer lernen; denn viel eher reißt doch eine Seele

vor der Schwierigkeit wissenschaftlicher Aufgaben

aus als vor der der Turnhalle: es geht nämlich ihr die

erstere Anstrengung näher, weil sie von ihr besonders

und nicht in Gemeinschaft des Körpers getragen wird.

Richtig, sagte er.

Zweitens ist natürlich auf gutes Gedächtnis, auf unverwüstlichen

Fleiß und allseitige Arbeitslust zu

sehen; oder glaubst du, daß jemand auf sonstige

Weise neben den Anstrengungen des Körpers noch so

vieles Lernen und Studieren fertigbringe?

Platon: Der Staat 457

Nein, sagte er, falls er nicht in allen Stücken ein

Günstling der Natur ist.

Der jetzige Verfall, fuhr ich fort, und die jetzige

Unehre, worin wahreWissenschaft geraten ist, ja

gewiß, sie rühren von keinen andern Ursachen als

davon, weil sie, wie vorhin schon bemerkt, nicht mit

den gehörigen Eigenschaften ausgerüstet sich mit ihr

befassen: denn nicht Bastardseelen dürfen sich mit ihr

befassen, sondern nur echte, edelgeborene.

Inwiefern? fragte er.

Einmal, erwiderte ich, darf einer, der sich mit ihr

abgeben will, in bezug auf Arbeitslust nicht hinkend

sein: d.h. er darf nicht in der einen Hälfte seiner Beschäftigungen

die Arbeit lieben, in der anderen dagegen

scheuen. Es ist dies aber der Fall, wenn jemand

zwar ein Liebhaber von Leibesübungen, von Jagd und

überhaupt von allen körperlichen Arbeiten ist, aber

nicht vom Studieren, vom Hören, vom Forschen, und

wenn er überhaupt in allen diesen Stücken die Anstrengungen

haßt. Hinkend ist aber auch der, der auf

das Gegenteil hiervon ganz seine Arbeitslust geworfen

hat.

Ja, sagte er, ganz recht.

Nicht wahr, fuhr ich fort, auch in bezug aufWahrhaftigkeit

werden wir ebenfalls eine Seele für verstümmelt

halten müssen, die zwar die absichtliche

Lüge an sich selbst haßt und unleidlich findet sowie

Platon: Der Staat 458

auch gar unwillig über Mitmenschen wird, wenn sie

lügen, dagegen aber die unfreiwillige Lüge gelassen

erträgt und, wenn sie auf einer Unwahrheit ertappt

wird, sich gar nichts daraus macht, sondern wohlbehaglich

wie eine Sau sich im Unrat seiner Unvernunft

herumwälzt?

Ja, allerdings, sagte er.

Auch in bezug auf besonnene Mäßigung der Begierden,

fuhr ich fort, mannhafte Tapferkeit, Hochherzigkeit

und überhaupt in allen Teilen der Tugend ist

vorzüglich darauf zu achten, was eine Bastardseele

und was eine edelgeborene ist: Denn wenn einer, sei

es ein einzelner Mann oder ein Staat, für solche Eigenschaften

keinen Blick hat, so hat er dann an ihnen

Krüppel und Bastarde, in was immer für einer Hinsicht

er ihnen in die Hände fallen mag, sei es hinsichtlich

der Freundschaft oder der Staatsregierung.

Ja, sprach er, wohl verhält sich’s so.

Wir müssen also, sagte ich, in allen dergleichen

Dingen Vorsichtsmaßregeln treffen. Denn wenn wir

lauter Geradgliederige und lauter Geraddenkende in

so ein Studium und in so eine Übungsschule bringen

und darin heranbilden, so wird uns die Gerechtigkeit

selber nicht tadeln können, und wir werden Staat und

Verfassung unversehrt erhalten; führen wir aber Andersartige

ihr zu, so werden wir in allem das Gegenteil

bewirken und wahreWissenschaft noch

Platon: Der Staat 459

lächerlicher machen.

Schmählich wäre das ja, sagte er.

Ja gewiß, erklärte ich; eine Lächerlichkeit aber

scheint mir auch im Augenblicke begegnet zu sein.

Welche denn? fragte er.

Ich hatte vergessen, sprach ich, daß wir uns hier

traulich unterhalten, und habe den Bogen meiner Rede

zu hart angespannt. Denn während meines Vertrags

warf ich einen Blick auf wahreWissenschaft, und

indem ich sie so unwürdig mit Füßen getreten sah,

habe ich wohl aus allzu großer Ereiferung, wie es

Hitzköpfen geht, gegen die, die daran schuld sind,

mich in meinen Ausdrücken allzu hart ausgesprochen.

Wahrlich, sagte er, mir als Zuhörer scheint es

nicht!

Aber mir als Redner, sagte ich. Aber eine weitere

Eigenschaft dürfen wir nicht vergessen: bei der ersten

Regentenauswahl hatten wir dazu Männer von schon

vorgerücktem Alter ersehen: das wird aber bei dieser

hier nicht angehen; denn dem Solon darf man nicht

trauen, wenn er sagt, daß man im Alter noch viel zu

lernen vermöge; man kann dies noch weniger als laufen.

Nur der Jugend gehören alle die großen und vielen

Anstrengungen.

Ja, sagte er, notwendig.

Rechenkunst, Geometrie und alle zur Vorbildung

gehörigen Lehrgegenstände, die der Dialektik

Platon: Der Staat 460

vorausgehen sollen, die muß man ihnen also in ihrer

Jugend vorlegen und dabei in der Methode des Unterrichtes

das Lernen nicht zum Zwange machen.

Warum denn?

Weil, antwortete ich, die edle freie Seele keinerlei

wissenschaftliche Kenntnis mit Sklavenfurcht erwerben

soll; denn die körperlichen Anstrengungen, mit

Zwang verrichtet, machen den Körper um nichts

schlechter; aber in einer Seele ist keine mit dem

Stocke beigebrachte Kenntnis von Dauer.

Richtig, sagte er.

Nicht also mit dem Stocke, mein Bester, sprach

ich, erziehe die jungen Leute in den erwähnten Lehrgegenständen,

sondern spielend, damit du auch eher

imstande bist, zu beobachten, wofür ein jeder geboren

ist!

Ja, sagte er, diesWort ist vernünftig.

Nicht wahr, fuhr ich fort, du hast noch im Gedächtnisse,

daß wir die jungen Männer als Zuschauer zu

Pferde auch in die Schlacht nehmen und, wenn es

ohne Gefahr geschehen könnte, nahe hinzuführen und,

wie junge Jagdhunde, Blut kosten lassen wollten?

Ja, gab er zur Antwort, ich erinnere mich.

Wer also in allen diesen Stücken, sprach ich, in

körperlichen Anstrengungen und Studien sowie in

Gefahren, jedesmal am gewandtesten sich zeigt, der

muß in die Zahl von Auserwählten kommen.

Platon: Der Staat 461

In welchem Alter? fragte er.

Wenn sie, war meine Antwort, von den notwendigen

Leibesübungen entbunden werden. Denn in dieser

Turnzeit, mag sie nun zwei oder drei Jahre dauern, ist

es nicht möglich, noch etwas anderes zu treiben: Müdigkeit

und Schläfrigkeit sind ja den Studien feind;

und dann besteht zugleich eben darin die erste und

nicht geringste Prüfung, wie ein jeder bei den Leibesübungen

die Probe besteht.

Jawohl, sagte er.

Nach dieser Turnzeit nun, fuhr ich fort, müssen die

vornweg Auserwählten vom zwanzigsten Jahre an

größere Ehren vor den übrigen genießen, und die

ihnen bei ihrer Jugendbildung ohne System erteilten

Kenntnisse müssen für sie systematisch zusammengestellt

werden, damit sie einen Überblick über die Verwandtschaft

der wissenschaftlichen Unterrichtsgegenstände

untereinander und mit der Natur des wesenhaften

Seins erhalten.

Ja, meinte er, nur ein solches Lernen faßtWurzel,

wo es eingepflanzt ist.

Und ist dazu, sprach ich, die größte Probe für einen

dialektischen Kopf und für einen nichtdialektischen:

denn wer Fähigkeit für jenen Überblick hat, der hat

auch Fähigkeit für Dialektik; wer aber jene nicht hat,

der hat auch diese nicht.

Einverstanden, erklärte er.

Platon: Der Staat 462

Sonach, fuhr ich fort, wirst du dein Augenmerk

darauf richten müssen, welche von ihnen die genannte

Eigenschaft in vorzüglichem Grade besitzen, außerdem

beharrlich im Studieren, beharrlich im Kriege

und in den übrigen Vorschriften des Gesetzes sind;

wirst sodann von den vorhin Auserwählten, wenn sie

das dreißigste Jahr überschritten haben, abermals eine

Auswahl treffen und diese zu noch größeren Ehren erheben,

mit ihnen eine Prüfung in der Dialektik anstellen,

wer imstande ist, sich der Hilfe der Augen und

der übrigen sinnlichenWahrnehmungen zu entäußern

und auf das wahrhafte Sein an sich loszugehen. Und

in diesem Zeitpunkte ist dann bekanntlich große

Achtsamkeit nötig, mein Freund!

Warum denn? fragte er.

Kennst du denn nicht, erwiderte ich, das große

Übel, welches heutzutage mit der Dialektik verbunden

zu sein pflegt?

Was für eines denn? fragte er.

Rebellischen Sinnes, sprach ich, werden da die jungen

Leute voll!

Jawohl, sagte er.

Ist das aber nun wohl zu verwundern, sprach ich,

und wirst du nicht Nachsicht mit den jungen Leuten

haben?

Inwiefern denn? fragte er.

In einem Gleichnisse will ich antworten, sprach

Platon: Der Staat 463

ich:Wenn jemand als untergeschobenes Kind unter

großem Reichtume in einer großen und vornehmen

Familie unter einer Menge von Schmeichlern aufgezogen

wäre und merkte, nachdem er ein Mann geworden,

daß er nicht das Kind derer sei, die sich für seine

Eltern ausgeben, ohne aber seine eigentlichen Eltern

zu finden, – kannst du wohl da vermuten, was für ein

Benehmen gegen die Schmeichler und gegen die vermeintlichen

Eltern er erstlich in jener Zeit annehmen

werde, während der er noch nichts von der Unterschiebung

weiß, und dann auch in jener, in der er

darum weiß? Oder willst du meine Vermutung darüber

hören?

Ja, ich will, sagte er.

Ich vermute so, fuhr ich fort: Er wird den Vater, die

Mutter und die übrigen vermeintlichen Blutsverwandten

weit mehr ehren als die Schmeichler; er übersieht

es nicht, wenn sie etwas bedürfen; er erlaubt sich

gegen sie keine ungezogenen Handlungen oder Worte;

in wichtigen Dingen ist er ihnen weniger ungehorsam

als den Schmeichlern, nämlich solange er dasWahre

noch nicht weiß.

Natürlich, sagte er.

Hat er aber nun das wahre Verhältnis erfahren, so

vermute ich nun das Gegenteil: An Hochachtung und

Dienstfertigkeit läßt er bei jenen nun ab, erhöht sie

dagegen bei den Schmeichlern; er ist diesen letzteren

Platon: Der Staat 464

folgsamer als vorher: er lebt nun schon nach ihrem

Willen, indem er sich unverhohlen zu ihnen hält; er

kümmert sich gar nicht mehr um jenen Vater und die

übrigen angeblichen Verwandten, wenn er nicht schon

von Natur ganz besonders gut ist.

Ganz nach derWirklichkeit, sagte er, sind deine

Schilderungen da; aber welche Beziehung hat dieses

Gleichnis auf die jungen Dialektiker?

Folgende:Wir haben doch von der ersten Kindheit

her gewisse Glaubenssätze über gerechte und sittliche

Handlungen, von welchen Sätzen wir wie von Eltern

auferzogen sind, gehorsam und achtungsvoll gegen

sie?

Ja, solche Glaubenssätze gibt’s.

Es gibt aber auch andere, diesen entgegenarbeitende

und mit sinnlichem Vergnügen in Verbindung

stehende Lebensprinzipien, die unserer Seele schmeicheln

und sie verlocken, aber die nur einigermaßen

Gesitteten nicht verführen; denn diese halten jene elterlichen

Glaubenssätze in Ehren und folgen nur ihren

Winken. Nicht wahr?

Ja, es gibt solche Lebensprinzipien.

Was ist nun die Folge? fuhr ich fort.Wenn an

einen in solchem Zustande eine dialektische Frage

herantritt, z.B. was der Begriff des Schönen sei, und

wenn ihn auf die Antwort dessen, was er von der positiven

Autorität gelehrt worden ist, das dialektische

Platon: Der Staat 465

Räsonnement auf den Sand setzt und ihm durch öftere

und mehrfache beschämendeWiderlegungen die Meinung

in den Kopf bringt, daß dasselbe konkrete Ding

bald schön, bald häßlich sei, daß es mit den Begriffen

von Gerechtigkeit und überhaupt mit allem von ihm

bisher Heiliggehaltenen dieselbe Bewandtnis habe:

wie wird es dann mit seiner Hochachtung gegen diese

aussehen?

Notwendige Folge, sagte er, ist, daß er ihnen weder

dieselbe Hochachtung noch dieselbe Folgsamkeit beweist.

Wenn er nun, sprach ich, diese positiven Grundsätze

nicht mehr für ehrwürdig, nicht mehr für blutsverwandt

hält wie ehedem, und wenn er auch die absolut

wahren noch nicht aufgefunden hat: kann er sich da

natürlicherweise zu einem anderen Leben wenden als

zu dem der schmeichlerischen Sinnlichkeit?

Nein, war seine Antwort.

Ein Rebell, denke ich, ist er also nun wohl statt

eines ordentlichenMenschen.

Notwendig.

Nicht wahr, sagte ich, also ganz natürlich ist die

Krankheit solcher jungen Dialektiker und verdient,

wie vorhin schon bemerkt, sehr unsere Nachsicht?

Ja, und unser Mitleid dazu, sagte er.

Damit dir nun dies Mitleid über deine dreißigjährigen

Schüler nicht nötig wird, so mußt du sie mit jeder

Platon: Der Staat 466

Art von Vorsicht die Dialektik anfangen lassen.

Ja, sicher, meinte er.

Ist das nun nicht schon einmal eine große Vorsicht,

wenn man sie nicht zu jung davon kosten läßt? Denn

es ist dir, glaube ich, nicht unbekannt, daß die jungen

Bürschlein, wenn sie zum ersten Male Dialektik

schmecken, wie mit einem Spielwerk damit umgehen,

immer zumWiderspruche sie gebrauchen, durch

Nachahmung der sie beschämenden Disputatoren

selbst auch andere niederdisputieren, dabei gleich jungen

Hündchen ihren Spaß daran haben, alle, die mit

ihnen in Berührung kommen, mit ihrer Disputation zu

zerren und zu rupfen.

Ja, sagte er, einen außerordentlichen Spaß macht

ihnen das.

Wenn sie nun recht viele selbst schon zuschanden

disputiert haben, andererseits auch von vielen schon

auf den Sand gesetzt worden sind, so müssen sie natürlich

gar leicht dahin geraten, daß sie gar nichts

mehr fürwahr halten, was sie früher glaubten. Und

aus diesen Gründen stehen sie selbst sowohl als auch

der ganze Stand wahrerWissenschaft bei der übrigen

Welt in üblem Ruf.

Sehr wahr, sagte er.

Dagegen der junge Mann von schon etwas reiferem

Alter, fuhr ich fort, wird sicher solche Verrücktheit

nicht mitmachen wollen und wird viel mehr den

Platon: Der Staat 467

Freund der vernünftigen Dialektik und den redlichen

Forscher derWahrheit als den des Spaßes wegen

streitenden Worthelden undWiderspruchsgeist nachahmen,

wird dadurch selbst achtbarer sein und seinem

Studium eher Ehre statt Unehre bereiten.

Richtig, bemerkte er.

Nicht wahr, auch die vor der hier erwähnten Vorsicht

geforderten Eigenschaften sind alle als ebensoviele

Vorsichtsmaßregeln aufgestellt, daß es nämlich

nur sittsame und ernste Talente sein sollen, die man

an der Dialektik Anteil nehmen läßt, und daß nicht

wie jetzt der nächste Beste und Unbefugte zu ihr Eingang

findet?

Jawohl, sagte er.

Bei der Teilnahme an der Dialektik mit anhaltendem

und angestrengtem Fleiße zu verweilen, ohne

sich noch mit sonst etwas abzugeben und sich so auf

eine den leiblichen Übungen entgegengesetzteWeise

geistig zu üben, – werden da für einen doppelt so viele

Jahre hinreichen als für die körperlichen Übungen?

Sechs oder vier Jahre meinst du? fragte er.

Setze ohne weiteres fünf gab ich zur Antwort.

Denn hierauf mußt du sie wieder in die vorhin erwähnte

Höhle bringen und sie anhalten, Ämter zu verwalten

sowohl im Kriegswesen als auch auf sonstigen,

für junge Männer geeigneten Posten, damit sie

auch nicht an Erfahrung den anderen Leuten

Platon: Der Staat 468

nachstehen. Und auch bei diesen Beschäftigungen

müssen sie geprüft werden, ob sie in Versuchungen

nach allen Richtungen standhalten, oder ob sie sich

vom rechtenWege abbringen lassen werden.

Den Zeitraum dafür, fragte er, wie groß bestimmst

du ihn?

Auf fünfzehn Jahre, antwortete ich.Wenn sie nun

so fünfzig Jahre alt geworden sind, so muß man die

davon, die in allen Stücken und in jeder Beziehung

sowohl in den Zweigen der Praxis wie in denWissenschaften

die Probe gehalten und sich ausgezeichnet

haben, endlich zum Ziele führen und sie anhalten, den

Lichtstrahl ihrer Seele nach dem allen Dingen Licht

spendenden Urlicht zu wenden und nach Anschauung

des wesenhaften Guten nach dessen Ideale ihr übriges

Leben lang der Reihe nach das Leben des Staates, der

Bürger und ihrer eigenen Personen einzurichten. Den

größten Teil ihres Lebens verwenden sie hierbei auf

dieWissenschaft; wenn aber die Reihe an einen

kommt, so muß er sich der Last der Staatsgeschäfte

unterziehen und Ämter dem Staate zuliebe annehmen,

nicht als einWerk der Herrlichkeit, sondern als eines

der Notwendigkeit. Und wenn sie immer wieder Männer

ihresgleichen herangebildet und an ihrer Stelle

dem Staate wieder andere Wächter geliefert haben, so

werden sie nach den Inseln der Seligen zu wohnen

kommen. Denkmäler aber und Opfer muß ihnen der

Platon: Der Staat 469

Staat auf öffentliche Kosten widmen, als wie höheren

göttlichenWesen, falls die Pythia mit ihrem Orakel

damit einverstanden ist, wo nicht, doch als Seligen

und Heiligen.

Ja, sagte er, ganz herrlich hast du, Sokrates, die

Staatsregenten wie ein Bildhauer herausgearbeitet.

Und auch die Staatsregentinnen dazu, sagte ich,

mein Glaukon! Denn glaube ja nicht, daß ich das Gesagte

nur auf die Männer bezöge und nicht in demselben

Grade auf alle die Frauen, die unter ihnen ihren

Anlagen nach dazu tauglich befunden werden mögen!

Ja, richtig, sagte er, wenn anders sie nach unserer

Darstellung ganz gleichmäßig an allen Geschäften

teilnehmen sollen.

Wie sieht’s nun aus? fuhr ich fort. Seid ihr nun einverstanden,

daß wir in bezug auf Staat und Staatsverfassung

durchaus keine Luftschlösser aufgebaut

haben? Allerdings zwar haben wir schwer ausführbare

Dinge behauptet, aber doch mögliche auf gewisse

Weise, und zwar nur auf die angedeutete: wenn nämlich

wahre Freunde derWissenschaft (Philosophie),

seien es mehrere oder sei es nur einer, in einem Staate

die Gewalthaber werden, indem sie einerseits die

heutzutage üblichen Ehren als eines freien Mannes

und des Aufhebens unwürdig verachten, dagegen die

Geradheit und die daraus entspringenden Ehren sehr

hoch, für das Höchste und Notwendigste aber die Idee

Platon: Der Staat 470

der Gerechtigkeit halten und sonach als ihre Diener

und Förderer ihren eigenen Staat neu einrichten.

Wie denn? fragte er.

Welche von der Bevölkerung in der Stadt, antwortete

ich, älter als zehn Jahre wären, diese Leute müßten

sie alle hinausschicken auf das Land, dann deren

Kinder nehmen und sie weit anders als nach den jetzigen

Sitten und Gewohnheiten, die ihre Eltern haben,

erziehen, nämlich nach ihren eigenen Sitten und Vorschriften,

die so sind, wie wir sie vorhin dargestellt

haben. Und seid ihr ferner einverstanden, daß auf solcheWeise

am schnellsten und leichtesten ein Staat

und eine Verfassung, wie wir sie in der Theorie aufstellten,

zustande gebracht werde, daß er selbst sowohl

glücklich sein als auch dem Volke, bei dem er

verwirklicht wird, zum größten Nutzen gereichen

werde?

Gewiß zum größten Nutzen, sagte er; auch wie er

entstehen würde, wenn er einmal entstände, scheinst

du mir gut angegeben zu haben.

Vollständig ist also, sprach ich, unsere Lehre sowohl

über diesen Staat als auch über das ihm entsprechende

Individuum? Klar steht nämlich offenbar auch

das Ideal vom letzteren da, wie es nach unserer Lehre

sein soll.

Jawohl, sagte er, und deine Frage scheint mir hiermit

erledigt zu sein.

Platon: Der Staat 471

Achtes Buch

Gut also! Über diese Punkte sind wir nun einverstanden,

mein lieber Glaukon: erstlich in dem dereinst

vollkommen einzurichtenden Staate sind gemeinschaftlich

Frauen, Kinder und die ganze Erziehung;

zweitens ebenso gemeinschaftlich ihre Beschäftigungen

im Kriege wie im Frieden; drittens ihre Könige

sind die, welche sowohl in der wahrenWissenschaft

wie in dem praktischen Kriegswesen als die Besten

geraten sind.

Ja, sagte er, darüber sind wir einverstanden.

Ferner auch über folgende Punkte haben wir uns

verständigt: Wenn die Regenten einmal auf die erwähnteWeise

eingesetzt sind, so nehmen sie die

Krieger und verlegen sie in die vorhin beschriebenen

Wohnungen, nämlich in solche, die für keinen etwas

Eigenes haben, sondern allen gemeinschaftlich sind;

und außer solchenWohnungen sind wir auch hinsichtlich

der Besitztümer, wenn du dich erinnerst,

einig geworden, wie sie bei ihnen sein sollen.

Ja, ich erinnere mich, sagte er, daß nach unserer

Meinung keiner etwas von den Besitztümern haben

solle, die heutzutage die übrige Welt hat: sondern sie

sollten als kunstgerechte Kriegskämpfer und Staatswächter

als Lohn für ihrWachen jährlich die hierzu

Platon: Der Staat 472

nötige Nahrung von den übrigen bekommen und für

nichts weiter besorgt sein als für das Heil ihrer Seelen

und für das des übrigen Staates.

Richtig bemerkt, sagte ich; aber nachdem wir hierüber

im reinen sind, wohlan, laß uns weiter erinnern,

von wo aus wir von der Hauptaufgabe hierher abgeschweift

sind, damit wir wieder auf demselbenWege

weitergehen können!

Das ist gar nicht schwer, erwiderte er: denn du tatest

in deinem Vortrage etwa gerade wie jetzt, als hättest

du die Darstellung des Staates vollendet, und du

bemerktest, du hättest an dem so beschaffenen Staate,

wie du ihn damals beschriebest, ein vollkommenes

Ideal aufgestellt, und ebenso eines an dem jenem verwandten

Individuum, obgleich du, wie die Folge gezeigt

hat, einen noch vollkommeneren Staat und ein

noch vollkommeneres Individuum hättest hinstellen

können; und wenn dieses der wahre Staat sei, so seien

im Gegensatze zu diesem nun die übrigen offenbar die

verfehlten. Der übrigen Staatsverfassungen gebe es

aber, soweit ich mich erinnere, nach deiner Ansicht

vier Hauptarten, worüber es der Mühe wert wäre,

einen Begriff zu haben und ihre Fehler zum Gegenstand

einer wissenschaftlichen Betrachtung zu machen,

und ebenso gebe es vier Hauptarten der jenen

Verfassungen entsprechenden individuellen Menschencharaktere,

und diese möchten wir sämtlich in

Platon: Der Staat 473

der Absicht betrachten, damit wir, nach beiderseitigem

Einverständnisse über den besten und schlechtesten

Menschen, darauf die zweite Hauptuntersuchung

anstellen, ob der beste der glücklichste und der

schlechteste der elendeste sei, oder ob es sich anders

verhalte. Und als ich darauf fragte, welche Verfassungen

du unter jenen vier verfehlten verständest, in diesem

Augenblicke unterbrachen dich Polemarchos und

Adeimantos, und durchWiederaufnahme ihrer Frage

bist du nun hierher gekommen.

Vollkommen richtig, sprach ich, sind deine Erinnerungen!

So nimm denn nun abermals wie ein Fechter dieselbe

Stellung und gib mir, wenn ich meine frühere

Frage wiederhole, die Aufschlüsse, die du damals

geben wolltest!

Ja, sagte er, wenn ich kann.

Ich bin auch, fuhr er fort, wirklich ohnehin begierig,

zu hören, welche Verfassungen du unter jenen

vier verfehlten verstanden haben wolltest.

Auf diese Frage, erwiderte ich, sollst du unschwer

die Antwort hören; denn es sind keine anderen, die ich

darunter verstehe, als die, welche schon ihre bestimmten

historischen Namen haben, nämlich: erstlich die

von den meisten so gepriesene kretische und auch lakedaimonische

zugleich; zweitens die auch dem

Range nach als die zweite gerühmte sogenannte

Platon: Der Staat 474

Oligarchie, eine mit den mannigfaltigsten Übeln beladene

Verfassung; drittens die, obwohl jener schnurstracks

entgegenstehende, jedoch unmittelbar aus ihr

entspringende Demokratie; endlich die bekanntlich

gar hübsche und von allen jenen verschiedene Tyrannis,

die vierte und auch die letzte Krankheit eines

Staates. Oder hast du noch eine bestimmte Anschauung

von Verfassung, in der ein wesentlicher Begriff

von Staat enthalten wäre? Denn Dynastien, käufliche

Monarchien und dergleichen Verfassungen mehr, die

liegen zwischen den genannten in der Mitte, und man

kann sie in nicht geringerer Zahl bei den Barbaren

wie bei den Hellenen finden.

Ja, freilich, sagte er, gar viele und sonderbare werden

noch genannt.

Selbstverständlich gibt es nun, fuhr ich fort, eben

notwendigerweise so viele Arten von Menschencharakteren

als Arten von Verfassungen. Oder meinst du,

aus Holz oder Stein bildeten sich die Verfassungen

und nicht aus den Charakteren der Einwohner in den

Staaten, je nachdem diese sich dahin oder dorthin neigen

und alles übrige mit sich fortreißen?

Nein, sagte er, ich glaube es keineswegs, daß sie

sich anderswoher als daraus bilden.

Nicht wahr, wenn es bei den Staaten fünf Arten

gibt, so gibt es auch bei den menschlichen Individuen

fünf Arten?

Platon: Der Staat 475

Allerdings.

Was also erstlich das dem besten Staate (der Aristokratie)

entsprechende Individuum betrifft, so

haben wir dieses bereits beschrieben, von dem wir mit

Recht sagen, daß er der Gute und Gerechte ist.

Ja, das ist bereits beschrieben.

Nicht wahr, nach diesem müssen wir nun die ausgearteten

charakterisieren, zuvörderst das kämpf- und

ehrgeizige Individuum, das der lakedaimonischen

Verfassung entspricht, hierauf das oligarchische, dann

das demokratische, endlich das tyrannische Individuum,

damit wir nach Anschauung des ungerechtesten

Menschen ihn dem gerechtesten gegenüberstellen

können, und damit also die Untersuchung unserer

zweiten Hauptfrage:Wie doch die vollkommene Gerechtigkeit

sich zur vollendeten Ungerechtigkeit in

Absicht auf Glückseligkeit und Elend bei ihrem Inhaber

verhalte? einmal zu Ende kommt, auf daß wir entweder

nach der Lehre des Thrasymachos entweder den

Weg der Ungerechtigkeit verfolgen, oder in dem jetzt

hervortretenden Lichte unserer Beweisführung den der

Gerechtigkeit.

Ja, sagte er, auf alleWeise muß so verfahren werden.

Wie wir nun angefangen haben, eher im Staate als

im Individuum den moralischen Charakter zu studieren,

weil er so deutlicher in die Augen springe, –

Platon: Der Staat 476

müssen wir nun nicht auch so zuerst die ehrliebende

Staatsverfassung (denn ich kenne keinen, anderen

gangbaren. Namen, man müßte sie denn Timokratie

oder Timarchie nennen), betrachten und das ihr ähnliche

Individuum: zweitens die Oligarchie und den oligarchischen

Menschen; dann drittens werden wir nach

dem Anblick der Demokratie den demokratischen

Menschen in Augenschein nehmen; und wenn wir

viertens zum tyrannisch beherrschten Staate gekommen

sind und ihn angeschaut haben, wollen wir dann

nicht wieder auf die tyrannischeMenschenseele sehen

und mit besonderem Hinblicke auf diese hierauf dann

versuchen, über die vorliegende Frage zu Gerichte zu

sitzen?

Ja, ganz nach der vernünftigen Ordnung, sagte er,

würde so unsere Betrachtung wie unser Richterspruch

geschehen.

Wohlan denn, fuhr ich fort, versuchen wir zu zeigen,

aufweicheWeise eine Timokratie aus einem nach

den moralisch besten Grundsätzen eingerichteten Vernunftstaate

(Aristokratie) entstehen kann! Oder ist das

einmal für allemal ohne Ausnahme als wahr anzunehmen,

daß die Umwandlung eines jeden Staates von

dem Teile ausgeht, der das Regiment in den Händen

hat, dann nämlich, wenn unter diesem selbst Zwietracht

entsteht; daß dagegen bei dessen Einmütigkeit,

und wenn er auch sehr klein wäre, unmöglich eine

Platon: Der Staat 477

Erschütterung entstehen könne?

Ja, freilich ist’s so.

Wie soll nun, sprach ich, mein lieber Glaukon, der

Staat nur erschüttert werden, wie soll der Wehr- und

Regentenstand gegen einander oder unter sich in

Zwietracht geraten? Oder wollen wir, wie Homer, die

Musen anrufen, uns anzusagen, wie zuerst Zwietracht

hineingeraten, und wollen wir sagen, sie hätten mit

uns wie mit Kindern auf eine rätselhafteWeise Scherz

und Neckerei getrieben und, als gäben sie ernstliche

Aufschlüsse, zu uns im erhabenen Stil der Tragödie

gesprochen?

Wie?

Folgendermaßen etwa: »Schwer ist es allerdings,

daß ein so aufgebauter Staat in Verfall gerät: allein da

allem, was entstanden ist, ein Untergang bevorsteht,

so kann auch nicht einmal ein solcher Bau auf alle

Zeit Bestand haben, sondern er muß seine Auflösung

erfahren. Die Auflösung aber ist folgende: Nicht nur

für die in der Erde stehenden Pflanzen, sondern auch

für die auf ihr lebenden Geschöpfe gibt es einWachsjahr

und ein Mißjahr an Seele wie an Körpern, jedesmal

nämlich, wenn bei einer jeden Gattung die Lebensperiode

einen Kreisumschwung vollendet; bei

kurzlebendenWesen ist dieser kürzer, bei langlebenden

länger. Obgleich nun diejenigen, die ihr zu

Staatshäuptern erzogen habt, theoretisch wie

Platon: Der Staat 478

praktisch weise sind, so werden sie aber dessenungeachtet

die Momente der günstigen und ungünstigen

Geburten durch theoretische Berechnung in Verbindung

mit praktischer Wahrnehmung nicht immer treffen,

sondern diese werden ihnen entgehen, und so

werden sie einmal Kinder erzeugen, wenn sie nicht

sollten. Für ein göttlich Erzeugtes gibt es aber einen

Lebensumlauf, den eine vollkommene Zahl umfaßt;

für das menschliche dagegen einen, den eine Zahl umfaßt,

in der als dem kleinsten Nenner sowohl potenzierende

als auch durch wechselseitige Multiplikation

hervorgebrachte Vermehrungen mit drei Abständen

und vier Gliedern alles ohne Bruch und unter gemeinschaftlichem

Nenner stehend erscheinen lassen, mag

man nun Ähnliches oder Unähnliches verbinden, multiplizieren

oder dividieren. Das kleinste Verhältnis

jener beiden menschlichen und göttlichen Zahlen ist

3:4; dieses mit 5 verbunden liefert zwei Proportionalzahlen,

nachdem dreimal vermehrt worden ist: die

eine, die gleiche, gleich vielmal genommen, nämlich

hundert mit sich selbst multipliziert; die andere aber,

die mit ersterer zwar gleiche Länge hat, aber oblong

ist, bestehend erstlich aus der hundertfachen Quadratzahl

einer der Diagonalen eines Quadrates, dessen

Seite = 5 ist, welche Diagonale rational ist, wenn 1

subtrahiert wird, dagegen irrational, wenn 2 subtrahiert

werden, wodurch beide irrational werden, –

Platon: Der Staat 479

ferner bestehend aus dem hundertfachen Kubus von

drei.. Diese gesamte geometrische Zahl ist hierüber

nun entscheidend, nämlich in betreff der glücklichen

oder unglücklichen Zeugung.Wenn nämlich eure

Staatswächter diese Zahl nicht verstehen und zur Unzeit

den Jünglingen Bräute zur Beiwohnung zugesellen,

so wird es Kinder geben, die weder eine vorzüglich

moralische Anlage noch ein guter Glücksstern

zum Rechten leitet. Denn zuerst werden zwar die

Wächter nur die verhältnismäßig besten von jenen

Kindern an ihre Stelle setzen; aber diese werden doch,

wenn sie bei ihremMangel an Seelenadel ihrerseits zu

den Machtstellen ihrer Väter gelangt sind, anfangen,

obwohl sie die Staatswächter sind, unsere Vorschriften

zu vernachlässigen, indem sie zuerst die musische

Bildung hintansetzen [, später dann auch die körperliche].

Und daraus werden dann Regenten aufkommen,

die nicht besonders wachsam sind, wenn es gilt, die

bei Hesiod sowohl wie auch in unserem Staate vorkommenden

Geschlechter aus Gold, Silber, Erz und

Eisen zu prüfen.Wenn aber Eisen mit Silber und Erz

mit Gold vermischt wird, so entsteht dann eine Ungleichartigkeit

der politischen Gesinnung und eine zu

keiner Harmonie mehr zurückführbare Unordnung,

und wo immer diese Übel sich einmal eingenistet

haben, da erzeugen sie nach ihrem Emporkommen

immer Krieg und Feindschaft. Solcher Abkunft muß

Platon: Der Staat 480

man also immer politische Zwietracht erklären, wo

auch immer sie emporkommen mag.«

Und daß diese Antwort richtig ist, sagte er, wollen

wir bejahen.

Ja, meinte ich, das müssen wir notwendig; sie

kommt ja von Musen.

Nun, was sagen denn die Musen weiter? fragte er.

»Ist einmal,« fuhr ich fort, »bürgerliche Zwietracht

da, so ziehen beide Teile jederseits nach entgegengesetzter

Richtung: der eiserne und eherne nach Erwerb,

nach Besitztum an Land, Haus, Gold und Silber; der

goldne und silberne dagegen führen die Seelen zur

Tugend und zur alten guten Staatseinrichtung, weil

sie keine Armut empfinden, sondern von Geburt den

größten Schatz in sich haben.Wenn es hierauf bei

ihnen zu offenem Kampfe mit der Faust und zur gegenseitigen

Parteiverfolgung kommt, so vergleichen

sie sich dahin, daß sie erstlich Land und Behausung

unter sich verteilen und als Eigentum besitzen, daß

sie sodann diejenigen, die von ihnen früher als freie

Leute, als Freunde und Ernährer behütet wurden, nunmehr

nach geschehener Unterjochung als Dienstleute

und Sklaven halten und selbst Kriegsführung sowie

Bewachung jener Unterjochten besorgen.«

Ja, es leuchtet mir ein, sagte er, wie dieser entartende

Übergang von da seinen Ursprung nimmt.

Nicht wahr, sprach ich, diese hier in Rede stehende

Platon: Der Staat 481

Verfassung wäre also ein gewisses Mittelding zwischen

der moralisch besten (der Aristokratie) und der

Oligarchie?

Allerdings.

Ihr Übergang wird also auf die besagte Weise geschehen;

nach geschehenem Übergange aber, wie wird

da die charakteristische Eigenschaft ihrer Einrichtung

sein? Oder ist in dieser Beziehung offenbar, daß sie in

manchen Einrichtungen die vorhergehende Verfassung

und in manchen die Oligarchie nachahmen wird,

weil sie ja in der Mitte von beiden liegt; daß sie ferner

dabei auch manches ihr ganz Eigentümliche haben

wird?

Ja, offenbar, sagte er.

Darin einerseits, daß sie Ehrerbietung gegen die

Regierenden vorschreibt; daß ihrWehrstand des

Ackerbaues, der Handwerke und jedes sonstigen Gewerbes

sich enthält; daß sie gemeinschaftliche Speisung

einrichtet; daß Leibesübung sowie der Kriegskampf

ein Hauptgegenstand ihrer Sorgfalt sind: in

allen diesen Stücken wird sie die vorige Verfassung

nachahmen, nicht wahr?

Ja.

Daß sie aber Bedenken trägt, die mit Erfahrung

verbundeneWissenschaft, die die wißbegierige Vernunft

aus dem Erforschen der ewigenWeltgesetze gewinnt,

zu den Staatsämtern zu befördern, weil sie

Platon: Der Staat 482

solche Männer nicht mehr von reinem und echtem

Golde besitzt, sondern nur mit einem Zusatz vom gemeinen

Metall der Begierlichkeit, und daß sie daher

ihre Hauptstütze mehr bei dem nur nach Ehre begierigen

Mut und der damit noch verbundenen größeren

Einfachheit sucht, obgleich die Männer der Art mehr

zum Kriege als zum Frieden geboren sind; ferner daß

sie Überlistung und Intrige in bezug auf den Krieg für

Ehrendinge hält; daß sie ewig im Kriege lebt: solche

und dergleichen Dinge mehr wird sie andrerseits als

charakteristische Eigentümlichkeiten haben?

Ja.

Als dritte charakteristische Eigentümlichkeit, fuhr

ich fort, wird sich bei solchen Staatsregenten heiße

Geldgier einstellen, wie es in den Oligarchien der Fall

ist: sie werden Gold und Silber leidenschaftlich im

geheimen verehren, weil sie nunmehr eigene Schatzkammern

und Geldkasten haben, wo sie es niederlegen

und verbergen können, weil sie ferner Umzäunungen

um ihreWohnungen recht wie eigne Nester

haben, in denen sieWeibern und andren Lieblingen

zu Gefallen vielen Aufwand machen können.

Ja, sehr wahr, sagte er.

Daher werden sie denn auch sparsüchtig mit dem

Gelde umgehen, weil sie viel darauf halten und nur im

Verborgenen erwerben dürfen; werden dagegen aber

auf Antrieb ihrer Begierlichkeit lieber mit fremdem

Platon: Der Staat 483

Gute Aufwand machen und verstohlenerweise die

Frucht der Lüste genießen, indem sie sich dabei vor

dem Gesetze wie Buben vor ihrem Vater verstecken.

Und dies geschieht aus keinem andern Grunde, als

weil sie nicht mittelst wissenschaftlich belehrender

Überzeugung, sondern mittelst äußeren Zwangs ihre

Jugendbildung erhalten, weil sie die in dialektischer

Methode und warmer Weisheitsliebe bestehendeWissenschaft

vernachlässigt und mehr auf die Übung des

Körpers als des Geistes gegeben haben.

Das ist ja, sagte er, eine gar gemischte Verfassung

aus Schlechtem und Gutem, von der du da sprichst!

Ja, sagte ich, freilich ist sie eine gemischte: ein

Kennzeichen ist aber darin wegen der Oberhand des

von uns genannten zornmütigen Seelenbestandteiles

besonders hervorstechend, nämlich Streitlust und

Ehrliebe.

Ja, meinte er, in hohem Grade.

Das wäre also nun, sprach ich weiter, die Entstehungsart

und die charakteristische Eigenschaft dieser

Verfassung, um hiervon in unserer Beschreibung nur

einen Grundriß, kein vollkommen ausgemaltes Bild

zu geben, da es uns ja auch genügt, nur in einem

Grundrisse eine Anschauung vom gerechtesten und

ungerechtesten Menschen zu gewinnen; auch wäre es

ein ungeheuer weitläufiges Werk, wenn man alle

möglichen Verfassungen und alle Charaktere ohne

Platon: Der Staat 484

irgend eine Auslassung darstellen wollte.

Ja, richtig, erwiderte er.

Welches wäre nun das dieser Staatsverfassung entsprechende

Individuum? Wie ist erstlich seine Entstehung,

zweitens sein Charakter?

Auf diese Frage antwortete Adeimantos: Ich meine,

dieses Individuum käme ziemlich nahe diesem Glaukon

da, wenigstens was die Streitlust anlangt.

Vielleicht, sagte ich, in dieser Beziehung; aber

nicht in folgenden Stücken scheint es mir von Natur

seiner Art zu sein…

In welchen denn?

Ein eingebildeter Trotzkopf, erwiderte ich, muß

jenes Individuum sein, ein Feind desWissens; er

kann keine Liebe für die musischen Künste, kein Ohr

für Belehrungen, keine Gewandtheit in der Redekunst

haben. Ferner gegen Sklaven roh, ohne ein Feind von

Sklaven zu sein, wie der vollkommen wissenschaftlich

Gebildete; gegen freie Männer gar zahm; gegen

die Regierenden gehorsamst untertänig; dabei

herrsch- und ehrsüchtig; anspruchsvoll auf Herrschaft

nicht wegen Beredsamkeit oder einer sonstigen geistigen

Eigenschaft, sondern wegen seiner Kriegstaten

und Kriegsfertigkeiten; ein Freund von Turnerei und

Weidwerk.

Ja, sagte er, dieser Charakter hier entspricht jener

timokratischen Staatsverfassung.

Platon: Der Staat 485

Nicht wahr, fuhr ich fort, Geld wird ein solcher

während des Übermutes seiner Jugend verachten; aber

je älter er wird, desto mehr wird er danach greifen,

teils weil er etwas von dem Charakter des geldgierigen

Menschen hat, teils weil sein Tugendstreben nicht

aufs reinste Gold gerichtet ist, da er von dem besten

Führer hierzu verlassen ist.

Von welchem denn? fragte Adeimantos.

Von jener Geisteskultur, antwortete ich, die besteht

aus einer sorgfältigen Jugendvorbildung in den musischen

Künsten in Verbindung mit einer gründlich

wissenschaftlichen Hauptbildung; denn diese Geisteskultur,

wenn sie bei einem einmal zur Reife gelangt

ist, wird allein nur als Schutzgeist der Tugend bei

ihrem Besitzer durch sein ganzes Leben wohnen.

Schön! sprach er.

Und das wäre denn erstlich, fuhr ich fort, der Charakter

unseres timokratischen Junkers, das Abbild des

Staates gleichen Namens.

Ja, allerdings.

Was nun zweitens, sprach ich weiter, seine Entstehung

anlangt, so erfolgt diese etwa auf folgende

Weise: Zuweilen gibt’s einen schon erwachsenen

Sohn von einem in einem unvernünftig verwalteten

Staate wohnenden braven Vater, der Ehren, Ämter,

Rechtshändel und alle solche Liebhaberei an Geschäften

des öffentlichen Lebens verabscheut und lieber

Platon: Der Staat 486

vor anderen zurückstehen will, um in keine widerwärtigen

Händel zu geraten.

Wie entsteht denn nun von solchem Vater ein timokratischer

Sohn? fragte er.

Wenn er, antwortete ich, erstlich von seiner Mutter

hört, wie sie sich darüber grämt, daß ihr Mann nicht

unter den leitenden Beamten wäre, und daß sie darum

unter den übrigen Frauen zurückstehe; dann, daß sie

ihn gar nicht nach Geld und Gut trachten, ihn nicht

Schneid und Zähne zeigen sehe in Gerichts- und

Staatsdebatten; sondern in allen diesen Dingen bemerke

sie an ihm eine unausstehliche Gleichgültigkeit;

immer seien seine Gedanken mit seinem Innern

beschäftigt, ihr dagegen bezeige er weder eine sonderliche

Aufmerksamkeit noch auch gerade eine Mißachtung:

über alle dieseWahrnehmungen müsse sie sich

sehr grämen und könne es nicht über das Herz bringen,

wie einen unmännlichen und gar fahrlässigen

Vater er habe, und wie die übrigen Klagelieder alle

lauten, welche dieWeiber bei dergleichen Gelegenheiten

anzustimmen pflegen.

Ja, sagte Adeimantos, gar viele und ihnen recht

ähnliche!

Der zweite Entstehungsgrund nun, fuhr ich fort,

liegt darin, daß bekanntlich auch die Hausgenossen in

dem Hause solcher Leute (Sklaven, Diener), die nämlich,

die es recht gut zu meinen glauben, manchmal

Platon: Der Staat 487

hinter ihrem Rücken deren Söhnen Reden ähnlichen

Inhaltes zuflüstern:Wenn sie nämlich einen bösen

Schuldner sehen, dem der Vater nicht zu Leibe geht,

oder einen in anderer Hinsicht ihm unrecht begegnenden

Menschen, so reden sie dem Sohne zu, er möge,

wenn er einmal ein Mann geworden, an allen solchen

dafür Rache nehmen und sich mehr als Mann beweisen

denn sein Vater. Und kommt ein Sohn aus dem

Hause des Vaters, so hört und sieht er dergleichen

noch mehr, daß die nur ihren nächsten Berufspflichten

treuen Männer in der Stadt Einfaltspinsel heißen und

in keinem besonderen Rufe stehen, während andrerseits

die ihre nächsten Berufspflichten vernachlässigenden

Rechtsverdreher und politischen Schreier Ehre

und Lob einernten. Hört und sieht nun alles dergleichen

der junge Mann, und hört und sieht er dann wiederum

die Sprache und Lebensweise seines Vaters

neben denen der übrigenWelt, so fühlt er sich von

diesen beiden Seiten angezogen, indem sein Vater den

vernünftigen Teil seiner Seele nährt und pflegt, die

übrige Welt aber dagegen die sinnliche Begierlichkeit

und die hitzige Zornmütigkeit. Und weil er von Natur

kein schlechter Mann ist, aber von schlechten Gesellschaften

der Welt beeinflußt ist, so wandelt er, von

diesen beiden Seiten hin und her gezerrt, den Mittelweg

und überliefert die Oberherrschaft seines Inneren

dem mittleren Seelenbestandteile, nämlich dem

Platon: Der Staat 488

streitlustigen Zornmut, und wird dadurch ein hochmütiger

und ehrgieriger Mensch.

Ja, sagte er, gar sorgfältig hast du wohl da die Entwicklung

dieses Individuums dargestellt.

Hiermit hätten wir also, sprach ich, die im Range

zweite Staatsverfassung und so auch das zweite Individuum.

Ja, die hätten wir, sagte er.

Nicht wahr, hierauf nun wollen wir, um mit Aischylos

zu reden, ein andres einem andren Staate zugeordnetes

Individuum, oder vielmehr dem vorhin

einmal gefaßten Plane gemäß wiederum erst den Staat

vornehmen?

Ja, allerdings, sagte er.

Da wäre aber, wie ich meine, nach der eben beschriebenen

Verfassung die Reihe an der Oligarchie.

Welche Staatseinrichtung, fragte er, verstehst du

denn unter dem Namen Oligarchie?

Ich antwortete: Die auf Vermögensschätzung gegründete

Staatsverfassung, in der nur die Reichen das

Ruder führen und dem Armen kein Anteil an der Regierung

zukommt.

Ich verstehe schon, sprach er.

Nicht wahr, da ist denn erstlich die Art des Überganges

der Timokratie in die Oligarchie darzustellen?

Ja.

Da ist nun, sagte ich, sogar einem Blinden

Platon: Der Staat 489

offenbar, wie sie vor sich geht.

Wie denn?

Jene vorhin erwähnte mit Gold gefüllte Privatschatzkammer

im Hause jedes einzelnen der Regierenden,

erwiderte ich, ist das Unheil für die vorhin beschriebene

Staatsverfassung (die Timokratie). Denn

erstlich sind sie für ihre eignen Personen erfinderisch

in Ausgaben und revidieren in dieser Absicht die bisher

bestehende Staatsverfassung, ohne daß sie und

ihre Weiber jenen revidierten Gesetzen gehorchen.

Natürlich, sagte er.

Zweitens machen sie sodann, glaube ich, das von

ihnen regierte Volk zum Affen ihres Modetons durch

den Anblick des verführenden Beispiels des einen

vom anderen und durch den gegenseitigen Wetteifer.

Ja, so geht’s.

Ist dieses Ziel erreicht, fuhr ich fort, so geht’s bei

ihnen vorwärts zum Geldschacher, und je höher sie

diesen angeschlagen, desto weniger achten sie moralisch

geistige Tüchtigkeit. Oder steht Tugend zu

Reichtum nicht in diesem Verhältnisse, daß sie

gleichsam auf zweiWaagschalen liegen und die eine

in eben demMaße sinkt, als die andere steigt?

Ja, sicher, sagte er.

Stehen also in einem Staate Reichtum und reiche

Leute hoch in Ehren, so müssen Tugend und edle

Männer in desto niederermWerte stehen.

Platon: Der Staat 490

Ja, offenbar.

Als Mode wird aber getrieben das allgemein Hochgeschätzte,

während das Nichtgeschätzte vernachlässigt

wird.

Ja, so ist’s.

Statt streit- und ehrgieriger Menschen sind es daher

endlich erwerb- und geldgierige geworden, und daher

preisen, bewundern und erheben sie zu Ehrenstellen

den Reichen, während sie den Armen verachten.

Jawohl.

Dann ziehen sie durch ein Gesetz einen Zaun um

die oligarchische Herrschaft, indem sie eine bestimmte

Menge von Vermögen festsetzen, die größer oder

kleiner ist, je nachdem an einem Orte eine größere

oder kleinere Oligarchie besteht, und indem sie ausdrücklich

bestimmen, daß derjenige keine Staatsämter

bekommen könne, dessen Vermögen nicht die bestimmte

Schätzung erreicht. Und dies setzen sie entweder

mit Gewalt derWaffen durch, oder sie bringen,

auch ehe es dazu kommt, durch Einschüchterung eine

solche Verfassung zustande. Oder geht es nicht so?

Ja, so geht’s.

Das wäre also, um es kurz zu sagen, das Zustandekommen

der Oligarchie.

Ja, sagte er; welches ist aber nun zweitens der Charakter

dieser Staatsverfassung, und welche Gebrechen

hat sie unseres Erachtens?

Platon: Der Staat 491

Erstlich, sagte ich, die erwähnte Hauptgrundlage,

ihre Umzäunung anlangend, wie sieht es in dieser Beziehung

damit aus! Stelle dir doch einmal vor, wenn

einer so Schiffssteuermänner nach der Vermögensschätzung

machen und den Armen, wenn er noch so

gute Eigenschaften zu einem Steuermann hätte, nicht

zulassen wollte!

Da sehe ich, sagte er, daß die Leute auf dem Schiffe

eine unheilvolle Fahrt haben.

Und nicht wahr, so ist’s überhaupt bei Leitung

jedes anderen Dinges?

Ich glaube es.

Vielleicht mit Ausnahme der eines Staates, fragte

ich, oder auch in bezug auf die Leitung eines Staates?

Ja, sagte er, sicher in desto höherem Grade, je

schwieriger und wichtiger diese Leitung ist.

Das wäre also ein Fehler von ungeheurer Größe,

den die Oligarchie hat.

Augenscheinlich.

Weiter! Ist der folgende zweite Fehler etwa kleiner

als der hier erwähnte erste?

Welcher denn?

Daß notwendigerweise ein so beschaffener Staat

keine Einheit bildet, sondern eigentlich zwei Staaten

auf demselbenWohnplatze, nämlich den Staat der

Armen und den der Reichen, daher beide in immer gegenseitiger

Auflauer.

Platon: Der Staat 492

Nein, wahrhaftig, bei Zeus, sagte er, dieser zweite

Fehler ist nicht kleiner!

Aber drittens ist auch das kein Vorzug an jenem

Staate zu nennen, daß die Regierenden desselben unmöglich

einen Krieg führen können, weil sie in der

Lage sich befinden, daß sie entweder die bewaffnete

arme Volksmenge gebrauchen und dann sie mehr

fürchten müssen als den Feind, oder sie nicht gebrauchen

und dann im wahren Sinne desWortes Oligarchie

als eine Macht von wenigen auch imMomente

der Schlacht erscheinen; daß sie zugleich als Erzpfennigfuchser

keine Kriegssteuern zahlen wollen.

Nein, das ist auch kein Vorzug.

Viertens, daß dieselben Herren, wogegen wir schon

lange und unaufhörlich loszogen, in solchem Staate

so vielgeschäftig sind: daß sie nicht nur Landwirte

und Geschäftsleute, sondern auch Kriegsmänner zugleich

sind, – scheint dir das in der Ordnung zu sein?

Nein, auf gar keineWeise.

Siehe nun fünftens, ob diese Verfassung nicht zuerst

von allen diesen Übeln dem größten Übel Tür

und Tor durch folgendes öffnet?

Wodurch?

Dadurch, daß ein jeder alle seine Besitztümer veräußern

und ein anderer von ihm solche erwerben

kann; daß er nach der Veräußerung noch in dem Staate

wohnt, ohne daß er einem der Stände im Staate

Platon: Der Staat 493

angehört: er ist dann weder ein Geschäftsmann noch

ein Handwerker, weder Reiter noch Fußgänger; sondern

er heißt ein Armer und Proletarier.

Ja, sagte er, diese Verfassung eröffnet zuerst unter

allen übrigen diesem Übel Tür und Tor.

Wenigstens wird zur Verhinderung solchen Übels

in den oligarchisch regierten Staaten nichts getan;

denn sonst würden ja einerseits nicht die übermäßig

Reichen, andrerseits die gänzlich Armen vorhanden

sein.

Richtig.

Erwäge sechstens noch folgendes Übel: Als so ein

herabgekommener Proletarier noch reich war und

Aufwand machte, war er da dem Staate von größerem

Nutzen in bezug auf die vorhin erwähnten Berufsarten;

Oder gehörte er nur dem Scheine nach zu dem regierenden

Beamtenstande, war aber in der Tat weder

ein Herrscher noch ein Diener des Staates, sondern

eben nur ein Verprasser seiner Besitztümer?

Ich glaube letzteres, sagte er: er war Regierender

nur dem Scheine nach, war aber wirklich nichts anderes

als ein Verprasser.

Dürfen wir daher nicht, fuhr ich fort, von ihm behaupten,

daß er bei solchem Charakter ebenso in seiner

Behausung eine Pest für den Staat wird, wie z.B.

eine Drohne in einer Honigwabe ein Verderben des

Bienenstockes ist?

Platon: Der Staat 494

Ja, sagte er, das dürfen wir allerdings, o Sokrates.

Die Drohnen mit Flügeln nun, nicht wahr, Adeimantos,

hat Gott alle ohne Stachel geschaffen, während

von den Drohnen mit Beinen einige zwar auch

Stachellos sind, andre aber gar gewaltige Stacheln

haben? Stachellos sind die, welche bis zum hohen

Alter hin Bettler bleiben, dagegen bestachelt alle jene,

welche Übeltäter heißen?

Ja, sagte er, sehr wahr!

Wenn man daher, sprach ich weiter, in einem Staate

Bettler sieht, so ist demnach offenbar, daß es da

auch heimliche Diebe, Beutelschneider, Räuber und

Meister in allen dergleichen Übeltaten gibt?

Ja, offenbar, sagte er.

Und was ist nun die Anwendung von diesem

Satze? Sind in den oligarchisch regierten Staaten

nicht augenscheinlich Bettler vorhanden?

Ja gewiß, sagte er, fast lauter Bettler, mit Ausnahme

der wirklich regierenden Herren.

Müssen wir demnach nicht meinen, fragte ich, daß

auch viele Übeltäter mit Stacheln darin sind, die von

den Obrigkeiten sorgfältig mit Gewalt niedergehalten

werden?

Ja, sagte er, das müssen wir hiernach.

Und dürfen wir daher nicht behaupten, daß infolge

von Mangel an gehöriger Jugendbildung, schlechter

Erziehung und schlechter Staatseinrichtung solche

Platon: Der Staat 495

Übeltäter darin emporwachsen?

Ja, das dürfen wir.

Nun, das wäre also etwa der Charakter des oligarchisch

regierten Staates, und mit solchen Gebrechen

ist er behaftet, vielleicht aber auch noch mit mehr.

Ja, das wäre er ungefähr, sagte er.

Damit möge denn, fuhr ich fort, die Darstellung

dieser Staatsverfassung ihr Ende haben, die Oligarchie

heißt, und die ihre regierenden Häupter nach der

Vermögensschätzung erhält; hierauf müssen wir sofort

das dieser Staatsverfassung ähnliche Individuum

in Betracht ziehen, und zwar erstens seine Entstehungsart,

zweitens seinen eigentümlichen Charakter.

Ja, sagte er, allerdings.

Geschieht nun nicht am gewöhnlichsten auf folgendeWeise

der Umschlag von einem timokratischen

Individuum in ein oligarchisches?

Wie denn?

Wenn einer als Sohn jenes timokratischenMenschen

anfangs seinem Vater nacheifert und seine Fußtapfen

verfolgt, hernach aber an ihm sieht, daß er an

dem Staate wie an einer Klippe plötzlich scheitert,

wie er nicht nur sein Vermögen, sondern auch sein

Selbst verschwendet, sei es durch Führung einer Feldherrnstelle

oder eines sonstigen wichtigen Staatsamtes,

wie er sodann dem Gerichte in die Hände fällt und

da, von falschen Ränkemachern mitgenommen,

Platon: Der Staat 496

entweder Leben oder Vaterland oder bürgerliche Ehre

und seine ganze Habe verliert.

Ja, sagte er, das ist ein treues Bild des Lebens!

War er aber, mein Lieber, nicht bloß ein Zuschauer

solcher Unfälle, sondern erfährt er sie dann auch in eigener

Person und verliert sein Vermögen, so stürzt er

jene Ehrliche und jenen feurigen Zornmut von dem

Herrscherthrone in seiner Seele gänzlich herab, legt

dann, von Armut herabgestimmt, sich auf Gelderwerb

und bringt durch Filzigkeit, Pfennigknauserei und

übermäßige Anstrengung sich wieder ein Sümmchen

zusammen. Und wird ein solcher dann wohl nicht auf

den erledigten Herrscherthron in seiner Seele nunmehr

den sinnlich begierlichen und den geldgierigen Seelenbestandteil

setzen, ihn zum Großmogul in seinem

Inneren machen, ihn mit Krone, Halskette und Prachtsäbel

zur Majestät herausschmücken?

Ich glaube es gern, sagte er.

Das wißbegierige Vernunftvermögen dagegen,

glaube ich, und den hochstrebenden Zornmut setzt er

zu Füßen auf beide Seiten des Thrones jener sinnlichen

Begierlichkeit als ihr unterworfene Sklaven, läßt

einerseits das Denkvermögen der Vernunft nichts anderes

denken und ins Auge fassen, als wie man aus

kleineren Kapitalien größere machen könne, andrerseits

den ehrbegierigen Feuermut nichts anderes bewundern

und ehren als Reichtum und reiche Leute,

Platon: Der Staat 497

und sich aus sonst gar nichts eine Ehre machen als

aus Geldbesitz und was dazu führt.

Nein, sagte er, auf keine andereWeise geschieht so

schnell und so gewaltig die Umwandlung eines ehrgierigen

Jünglings in einen geldgierigen.

Ist also letzterer, fragte ich, das der Oligarchie entsprechende

Individuum?

Seine Umwandlung geschieht wenigstens aus dem

Individuum, das entsprechend jener Staatsverfassung

ist, aus der die Oligarchie hervorging.

So laß uns nun in Betrachtung ziehen, ob das oligarchische

Individuum der Oligarchie ähnliche Eigenschaften

hat!

Ja, das wollen wir.

Nicht wahr, die erste ähnliche Eigenschaft ist die,

daß ihm Geld als Höchstes gilt?

Ohne Zweifel.

Und die zweite diese, daß solcher Mensch wie ein

Pfennigfuchser und Tagelöhner bloß die Begierden

nach den notwendigsten Naturbedürfnissen befriedigt,

zu anderen Ausgaben aber nichts hergibt, sondern die

übrigen Begierden als unvernünftige unterdrückt.

Allerdings.

So ein Schmutzlapp, fuhr ich fort, so ein Profitchen-,

so ein Kapitalmacher, eine Sorte Leute, die bekanntlich

der Pöbel sehr erhebt. Oder sollte nicht dieser

der der Oligarchie entsprechende

Platon: Der Staat 498

Menschencharakter sein?

Mir scheint es so, sagte er; Geld wenigstens ist das

Höchste sowohl bei solchem Staate wie bei solchem

Individuum.

Denn, sprach ich, auf den Schatz geistiger Bildung,

denke ich, hat ein solcher Mensch nie sein Augenmerk

gerichtet.

Ich glaube nicht, sagte er; denn wie hätte er sonst

einen Blinden zum Führer des Chores seiner Seelenvermögen

bestellt und ihn am höchsten geehrt?

Schön! sagte ich. Erwäge daher als die dritte ähnliche

Eigenschaft folgendes: Dürfen wir hiernach nicht

annehmen, daß drohnenartige Begierden in dem Inneren

jenes Menschen auf kommen, teils den Bettlern,

teils den Übeltätern nachgeartete, die nur mit Gewalt

durch die Zuchtrute eines anderen im Zaume gehalten

werden?

Ja, sicher, sagte er.

Weißt du denn nun, fragte ich, wohin du deinen

Blick richten mußt, wenn du ihre Übeltaten entdecken

willst?

Wohin? fragte er.

Auf die Vormundschaften über dieWaisen und

wenn ihnen sonst so ein Geschäftchen in die Hände

fällt, womit sie ein großes Feld bekommen, ungestraft

Unrecht zu verüben.

Wahrhaftig!

Platon: Der Staat 499

Ist dadurch nun nicht klar, daß ein solcher in dem

übrigen Geschäftsverkehr, in dem er durch Scheinheiligkeit

den Ruf eines gerechten Mannes bekommt,

durch eine ziemliche Gewaltübung über sich selbst

die übrigen einwohnenden teuflischen Begierden im

Zaume hält, nicht aus Überzeugung, daß das besser

sei, nicht durch Beruhigung von Vernunftgründen,

sondern durch Zwang und Furcht, indem er wegen

seines übrigen Vermögens zittert?

Ja, ganz klar, sagte er.

Ja, beim Zeus, fuhr ich fort, sei versichert, mein

Freund, in den meisten von ihnen wirst du der Drohne

verwandte Begierden finden, wenn es gilt, das Gut

des Nebenmenschen vertun zu können!

Ja, gar sehr, sagte er.

Demnach wäre ein solcher Mensch voll Zwiespalt

in seinem Inneren, hätte in sich keine Einheit, sondern

eine gewisse Zweiheit; aber im Kampfe der Begierden

über Begierden siegen meist die besseren über die

schlechteren.

So ist’s.

Aus diesen Gründen, denke ich, zeigt sich ein solcher

im Äußeren zwar anständiger als viele; aber die

wahre Tugend einer mit sich einigen und in ihren verschiedenen

Teilen harmonisch gestimmten Seele ist

weit von ihm entfernt.

So scheint mir.

Platon: Der Staat 500

Viertens, was die öffentlichenWettkämpfe mit seinen

Mitbürgern anbelangt, so wird der sparsüchtige

Geizkragen bei einem Ehrensiege oder bei Erringung

eines sonstigen Ehrenpreises im Gebiet des Schönen

ein schlechter Bewerber sein, weil er wegen eines gefeierten

Namens und wegen der dahin führenden

Wettkämpfe kein Geld aufwenden will, weil er fürchtet,

die Aufwand kostenden Begierden aufzuregen und

zur Beihilfe seiner herrschenden Begierde, aber hiermit

zugleich zumWettstreit mit dieser aufzufordern;

und daher rückt er auf echte Oligarchenart nur mit wenigen

Talern bei einem öffentlichen Kampfe zu Felde,

tut sich meist nicht hervor, wird aber ein reicher

Mann.

Ganz recht, sagte er.

Können wir nun noch zweifeln, daß dem oligarchisch

regierten Staate gegenüber mit entsprechender

Ähnlichkeit das sparsüchtige und geldhungrige Individuum

dasteht?

Keineswegs, sagte er.

Die Demokratie ist es also wohl, die wir hierauf

ausgemachterweise zu betrachten haben: erstlich, auf

welcheWeise sie entsteht, zweitens, welche charakteristische

Eigenschaft sie hat, – auf daß wir wiederum

den Innern moralischen Zustand des ihr entsprechenden

Individuums erkennen und dann ihn für das zu

fällende Urteil mit hinstellen.

Platon: Der Staat 501

Wir würden, sagte er, wenigstens also unseren eingeschlagenenWeg

konsequent verfolgen.

Den Übergang aus der Oligarchie in die Demokratie,

sprach ich weiter, bildet nun die Unersättlichkeit

dessen, was in jener als höchstes Gut aufgestellt ist:

daß man möglichst reich werden müsse?

Wieso denn?

Da, wie ich glaube, die regierenden Häupter in der

Oligarchie nur infolge der Größe des erworbenen Besitztums

regieren, so beeilen sie sich nicht, alle diejenigen

jungen Leute, die sich einem sinnlich ausschweifenden

Leben hingeben, durch ein Gesetz in

der Freiheit zu beschränken, das Ihrige zu verzehren

und zu verschleudern, und die Absicht der Oligarchen

hierbei ist keine andere, als daß sie das Vermögen

solcher jungen Leute durch KaufundWucher an sich

bringen, sonach reicher und damit auch vornehmer

werden.

Ja, auf alle Weise suchen sie das.

Nicht wahr, das ist also hinsichtlich eines Staates

eine bereits ausgemachteWahrheit, daß er unmöglich

Hochachtung vor Reichtum und zugleich vor weiser

Selbstbeherrschung unter den Bürgern behalten kann;

sondern er muß notwendigerweise entweder das eine

oder das andre hintansetzen?

Ja, sattsam ausgemacht, sagte er.

Dadurch, daß die Häupter in den Oligarchien die

Platon: Der Staat 502

liederliche Ausschweifung nicht kümmert, ja daß sie

ihr noch Vorschub leisten, zwingen sie zuweilen

Leute von gar nicht gemeiner Herkunft, arm zu werden.

Jawohl.

Da sitzen nun diese, denke ich, bestachelt und bewaffnet

im Staat, einige verschuldet, einige ihrer

Staatsbürgerrechte beraubt, einige beides, kochen

Haß und Pläne nicht nur gegen die Inhaber ihres

durchgebrachten Vermögens, sondern auch gegen die

übrigeWelt, und lauern auf eine Revolution.

Es ist so.

Jene geldhungrigen Schacherer aber ducken sich

bekanntlich und tun, als bemerkten sie diese Herabgesunkenen

gar nicht, schießen jeden nächsten besten

der übrigen jungen Herrn, der sich nicht zurWehr

setzt, mit einer Ladung ihres Geldes an, streichen die

das Kapital weit übersteigenden Zinsen ein und bringen

also eine große Drohnen- und Bettlerzahl in dem

Staate hervor.

Ja, sagte er, allerdings muß diese groß werden.

Weder auf die oben erwähnte Weise, fuhr ich fort,

wollen sie ja das auflodernde Feuer eines solchen

Übels ersticken, nämlich durch Beschränkung der

Freiheit, sein Vermögen auf beliebige Zwecke zu verwenden,

noch auf folgendeWeise, wonach zweitens

nach einem anderen Gesetze dergleichen Übelstände

Platon: Der Staat 503

sich erledigen…

Nach welchem Gesetze denn?

Welches nach jenem das zweite ist und darin besteht,

daß es den Bürgern einen absoluten Zwang auflegt,

Tugend üben zu müssen. Denn wenn einmal irgend

ein Gesetz verordnete, daß jeder Gläubiger auf

seine eigene Gefahr die freiwilligen Borgschuldverträge

abschließe, so würden einerseits die Schacherseelen

weniger schamlos ihre Geldgeschäfte in dem Staate

treiben, andrerseits würde weniger dergleichen Unkraut

darin emporwachsen können, von dem eben die

Rede war.

Ja, viel weniger, sagte er.

Wie es aber heutzutage hierin steht, fuhr ich fort,

so stürzen aus allen den gedachten Ursachen die Regierenden

erstlich die Regierten im Staate, wie wir gesehen

haben, in das vorhin beschriebene Unheil von

Proletariat; sodann, was ihre eigenen Personen und

ihre Familien betrifft, verleiten sie nicht vor allem die

Söhne zur luxuriösen Liederlichkeit, zur Untätigkeit

in bezug auf körperliche und geistige Anstrengungen,

zu allzu großerWeichlichkeit, um als Mann in Lust

und Schmerz sich zu benehmen, zum Hang für Faulenzerei?

Ohne Zweifel.

Und bringen sie nicht sich selbst dahin, daß sie

alles übrige außer dem Gelderwerb vernachlässigen,

Platon: Der Staat 504

und daß sie ebensowenig sich Mühe für wahre Mannestüchtigkeit

geben als ihre Proletarier?

Ja, ebensowenig.

Wenn nun bei solchen Beschaffenheiten Regierende

und Regierte zu einander geraten, sei es auf

Wegmärschen oder bei anderen Zusammenkünften,

z.B. bei Festgesandtschaften, bei Kriegszügen zu

Wasser oder zu Land, oder wenn sie sich gar in den

Gefahren der Schlacht zu Gesicht bekommen und in

dieser Hinsicht die Armen von den Reichen gar nicht

so verächtlich befunden werden, vielmehr wenn ein

rüstiger und in der Sonne abgehärteter Proletarier in

der Schlacht der Nebenmann eines reichen Herren mit

der Stubenfarbe und einem von fremdem Fette gemästeten

Balge wird und diesen voll Atemnot und ganz

unbeholfen sieht: glaubst du nicht, daß jener dann die

nicht ungegründete Ansicht gewinnt, daß solche Herren

nur allein durch ihre proletarische Schlechtigkeit

reich seien, und daß die Proletarier, wenn sie unter

sich allein zusammen sind, sich gegenseitig zuflüstern:

»Unsere Herren sind so viel wie nichts!« Nicht

wahr?

Ja, ich weiß es sehr wohl, sagte er, daß sie es so

machen.

Wie nun ein krankhafter Körper nur einen ganz

kleinen Anstoß von außen braucht, um in eine tödliche

Krankheit zu verfallen, ja bisweilen ohne die

Platon: Der Staat 505

äußeren Einwirkungen mit sich selbst in Zwiespalt

gerät, – nicht wahr, so verfällt auch der mit jenem

Körper in denselben Zuständen befindliche Staat auf

eine ganz geringfügige Veranlassung, mag nun die

eine Partei Hilfe von außen her von einem oligarchisch

regierten Staate oder die andre von einem demokratischen

Staate Hilfe zugeführt bekommen, in

eine Krankheit und gerät in einen Kampf mit sich

selbst, – ja zuweilen kommt es schon ohne diese äußeren

Veranlassungen zu einem Bürgerkrieg?

Ja, im höchsten Grade.

Eine Demokratie entsteht, denke ich, alsdann bekanntlich,

wenn die Armen nach gewonnenem Siege

einen Teil der anderen Partei ermorden, einen Teil

verbannen und dann die Übriggebliebenen gleichen

Anteil an der Staatsverwaltung und den Staatsämtern

nehmen lassen [, und gewöhnlich ist es darin, daß die

Obrigkeiten durch das Los gewählt werden].

Ja, sagte er, das ist allerdings die Einführung einer

Demokratie, mag sie nun durch den Sieg derWaffen

oder durch die aus Furcht erfolgende freiwillige

Flucht der Gegenpartei geschehen.

Auf welcheWeise nun, fuhr ich fort, werden diese

Leute in dem neuen Staate sich befinden, und was ist

wiederum die charakteristische Eigenschaft einer solchen

Staatsverfassung? Denn offenbar wird in dem

Einzelmenschen der Art das der Demokratie

Platon: Der Staat 506

entsprechende Individuum anschaulich werden.

Ja, offenbar, sagte er.

Nun, da ist wohl die allererste Eigenschaft, daß sie

frei sind, daß der Staat voll Freiheit und voll Redefreiheit

ist, und daß in ihm unbedingte Erlaubnis

herrscht, zu tun, was einer nur will, nicht wahr?

Ja, meinte er, man sagt wenigstens so.

Wo aber in einem Staate eine gänzliche Ungebundenheit

eintritt, da versteht sich von selbst, daß ein

jeder hinsichtlich seines Privatlebens eine Einrichtung

trifft, wie es seiner subjektiven Laune gefällt.

Ja, offenbar.

Menschen aller möglichen Art, denke ich, werden

also bei solcher Staatsverfassung am allermeisten sich

heranbilden.

Allerdings.

Es scheint demnach, fuhr ich fort, daß dies die

schönste der Staatsverfassungen sei: Wie ein buntes,

mit Blumen aller Art ausgesticktes Kleid, so ist auch

diese mit subjektiven Charakteren aller Art ausstaffierte

Verfassung dem Anscheine nach die schönste,

und die große Mehrheit, die mit einem Kinder und

Weiberverstande nur an dem Bunten ihr Auge ergötzt,

wird sie auch gewiß als die schönste wirklich anerkennen.

Ja, sicher, sagte er.

Eine zweite Eigenschaft dieses Staates, sprach ich

Platon: Der Staat 507

weiter, liegt darin, mein Schönster, daß man es so bequem

hat, wenn man darin sich nach einer Verfassung

umsieht.

Wieso denn?

Weil er alle möglichen Arten von Verfassungen in

sich hat, infolge des erwähnten großen freien Spielraumes,

zu treiben, was man will; und wer einen Staat

einrichten will, wie wir vorhin taten, muß, scheint es,

nur in einen demokratisch verwalteten Staat gehen, da

wie in einer Marktbude von Verfassungen sich eine

Sorte, die ihm etwa ansteht, auswählen, nach geschehener

Auswahl sie nach Hause bringen und da realisieren.

Ja, gewiß, sagte er, wohl wird er an Mustern keinen

Mangel haben.

Drittens, fuhr ich fort, die absolute Zügellosigkeit,

daß kein Zwang in diesem Staate ist, ein Regierungsamt

anzunehmen, selbst dann nicht, wenn du dazu der

Tüchtigste wärest; daß andrerseits auch kein Zwang

da ist, sich regieren zu lassen, wenn es dir nicht beliebt;

daß du nicht in den Krieg zu ziehen brauchst,

wenn andere dahin ziehen; daß du keinen Frieden zu

halten brauchst, wenn andre ihn halten, falls du keine

Lust nach Frieden hast: daß ferner andrerseits, falls

ein Gesetz dir verwehrt, den Staat zu verwalten oder

im Gericht zu rechten, du dessen ungeachtet die Freiheit

hast, zu regieren und zu rechten, falls es nur dir

Platon: Der Staat 508

selbst einfällt: eine solcheWirtschaft, ist sie nicht

göttlich bezaubernd für den Augenblick?

Jawohl, sagte er, für den Augenblick!

Und weiter: Ist die Humanität gegen manche der

nach dem Gesetze Verurteilten nicht etwas Hübsches?

Oder hast du in einem solchen Staate noch keine

Leute nach ihrer Verurteilung zum Tode oder zur Verbannung

nichtsdestoweniger dableiben und mitten in

der Stadt auf und ab spazieren sehen? Als habe kein

Mensch acht noch Auge auf ihn, stolziert ein solcher

Kerl wie ein Held einher!

Ja, sagte er, schon viele sah ich so.

Und endlich die größte Liberalität und gar keine

kleinliche Pedanterei in jenem Staate hinsichtlich des

Unterrichts- und Erziehungswesens! Im Gegenteil

stolzes Herabsehen auf die Vorschriften, die wir als

Dinge der größtenWichtigkeit hinstellten, als wir unseren

Staat gründeten, namentlich auf unseren Satz:

Niemand könne, er müsse denn von Geburt aus eine

außerordentliche Anlage zum Guten haben, je ein

wahrhaft guter Mann werden, wenn er nicht schon als

Knabe in Geist weckenden und zur Anschauung des

wesenhaften Guten entwickelnden Anschauungen und

Gegenständen nach Maßgabe der kindlichen Fassungskraft

spielend beschäftigt würde und dann lauter

dergleichen Studien triebe. O, mit welcher Großartigkeit

gibt der demokratische Staat allen diesen

Platon: Der Staat 509

Grundsätzen einen Tritt und bekümmert sich gar nicht

darum, von welcherlei Bänken der Kandidat eines

Staatsamtes herkommt, wenn er nur versichert, ein gesinnungstüchtiger

Volksfreund zu sein!

Ja, sagte er, eine außerordentlich liberale Verfassung!

Diese, fuhr ich fort, und andere diesen verschwisterte

Eigenschaften hätte also eine Demokratie, und

sie wäre nach diesem Ergebnis eine allerliebste

Staatsverfassung: zügellos, buntscheckig, eine Sorte

von Gleichheit gleicherweise unter Gleiche wie Ungleiche

verteilend.

Ja, sagte er, deine Schilderung ist sehr kenntlich

aus dem Leben genommen.

Mache dir, fuhr ich fort, nunmehr, wie ausgemacht

worden ist, in deinem Geiste ein Bild von demWesen

des solcher Verfassung entsprechenden Individuums!

Oder ist zuerst zu erwägen, was wir auch bei jener

Verfassung taten, aufweicheWeise sie entsteht?

Ja, sagte er.

Nun, nicht etwa folgendermaßen? Jener sparsüchtige

und der Oligarchie entsprechende individuelle

Mensch könnte wohl einen Sohn haben, der unter dem

Vater in dessen Sitten auf erzogen ist?

Natürlich, denn warum sollte dies unmöglich sein?

Der also auch mit Gewalt diejenigen sinnlichen

Lüste in seinem Inneren beherrscht, die

Platon: Der Staat 510

verschwenderischer, nicht einträglicher Art sind, und

diese haben bekanntlich den Namen »nicht notwendige

«?

Ja, offenbar, sagte er.

Wollen wir nun nicht, sprach ich weiter, damit wir

in keiner unklaren Gelehrtensprache reden, vorerst die

notwendigen Begierden und die nicht notwendigen

deutlicher bestimmen?

Ja, gern, sprach er.

Nicht wahr, die wir erstlich nicht abzuwenden vermögen

und die zweitens durch ihre Befriedigung uns

stärken helfen, diese heißen wohl mit Recht notwendige?

Denn aus beiderlei Gründen ist unsere Natur

genötigt, jene Begierden zu haben, oder nicht?

Jawohl.

Mit Recht also werden wir zur Bezeichnung jener

Begierden den Ausdruck notwendig gebrauchen.

Ja, mit Recht.

Nun weiter! Welcher man sich entledigen kann,

wenn man von Jugend an darin sich übt, und welche

im Falle ihres Vorhandenseins in keiner Beziehung

Gutes, vielmehr das Gegenteil stiften, – wenn wir alle

diese für nicht notwendige erklärten, würden wir uns

da gut ausdrücken?

Ja, hiernach gewiß richtig.

Wollen wir daher von beiden Arten von Begierden,

die existieren, ein Beispiel vornehmen, damit wir sie

Platon: Der Staat 511

nun in einer bestimmt bezeichnenden allgemeinen

Vorstellung erfassen?

Ja, das müssen wir demnach.

Wäre also nicht die Begierde nach dem Essen in

Absicht nicht nur auf Gesundheit, sondern auch auf

Schönheit und Kraft, sowie die Begierde nicht nur

nach bloßem Brote, sondern auch nach etwas Zukost

zu dem Brote eine notwendige?

Ich denke.

Die nach dem Brote erstlich ist wohl in beiden Hinsichten

eine notwendige, sofern sie einmal durch Befriedigung

stärken hilft und dann sofern bei ihrer

Nichtbefriedigung einer unmöglich leben kann.

Ja.

Und zweitens die Begierde nach Fleisch und dergleichen,

inwiefern sie irgendwie Kraft und Schönheit

befördern hilft?

Allerdings.

Aber wie steht’s mit den Begierden folgender Art?

Die über dieses Brot und Fleisch hinausgehende, nach

delikateren Bissen, als diese sind, lüsterne Begierde,

die aber durch gehörige Zucht von Jugend an und

durch eine gute Jugendbelehrung aus den meisten vertrieben

werden kann, die zudem nachteilig dem Körper

und nachteilig der Seele für geistige Tätigkeit

sowie für besonnene Selbstbeherrschung ist: dürfte

diese nicht mit Recht eine nicht notwendige genannt

Platon: Der Staat 512

werden?

Ja, mit dem größten Rechte.

Die Begierden der letzteren Art werden wir daher

für verschwenderische erklären dürfen, die der ersteren

dagegen für erwerbende, weil sie bei Betreibung

unseres Gewerbes förderlich sind?

Allerdings.

Diese Unterscheidung dürfen wir nun auch weiter

hinsichtlich der Liebesbegierden und der übrigen

überhaupt aufstellen?

Ja, das dürfen wir.

Und unter dem, den wir vorhin eine Drohne nannten,

verstanden wir doch den mit solchen Lüsten und

Begierden beladenen und von nicht notwendigen Begierden

beherrschten Menschen, dagegen unter dem

Sparsüchtigen und oligarchisch Gesinnten den nur

von den notwendigen Begierden Beherrschten, nicht

wahr?

Freilich.

Nun wollen wir denn wiederum, fuhr ich fort, auf

unsere Darstellung zurückkommen, wie aus dem oligarchischen

Individuum das demokratische entsteht.

Es scheint mir aber die Entstehung desselben in den

meisten Fällen so vor sich zu gehen…

Wie?

Wenn ein junger Mensch, geistig verwahrlost und

spärlich erzogen, wie wir es vorhin beschrieben

Platon: Der Staat 513

haben, einmal von dem Honig für Drohnen gekostet

hat und mit tollen Schweinigeln in Gesellschaft gerät,

die Vergnügen aller Alt und mit der größtenMannigfaltigkeit

und Abwechslung meisterlich zu verschaffen

wissen: so glaube, daß für ihn hier der Anfang ist, den

oligarchischen Zustand seines Inneren in einen demokratischen

zu verwandeln.

Ja, sehr notwendig, sagte er.

Wie nun der ihm verwandte Staat sich umwandelte,

indem der einen Partei in ihm Beistand von außen

zukam, eine Farbe der anderen, so wird, nicht wahr?,

nun auch bei jenem jungen Manne die Umwandlung

vor sich gehen, indem auch hier eine Art Begierden

von außen der einen von beiden Arten in seinem Inneren

zu Hilfe kommt, nämlich immer die der verwandten

und ähnlichen Farbe?

Ja, freilich.

Und wenn nun, meine ich, der oligarchischen Begierdenart

in seinem Innern auch eine Beihilfe gegen

jene Beihilfe unter die Arme greift, entweder vom

Vater her oder von Verwandten, die ihn durchWort

und Tat zurechtweisen, so steht dann Partei und Gegenpartei

mit denWaffen gegenüber, und es entbrennt

in ihm ein Kampf mit sich selbst.

Allerdings.

Und manchmal nun, glaube ich, weicht dann das

demokratische Begierdenheer dem oligarchischen,

Platon: Der Staat 514

und einige der demokratischen Begierden werden teils

abgetötet, teils verbannt infolge der in der Seele des

jungen Mannes sich ermannenden Scham, und er

kehrt wieder zur Ordnung zurück.

Ja, sagte er, das ist bisweilen der Fall.

Dann werden aber, glaube ich, wiederum andere,

den verbannten demokratischen Begierden verwandte

Begierden nachwachsen und infolge der Unwissenheit

des Vaters für Erziehungsfragen zahlreich und gewaltig

stark werden.

So pflegt es, sagte er, gern wenigstens zu geschehen.

Diese ziehen den Sohn dann wieder zu dem alten

Umgang, und infolge der hinter dem Rücken des Vaters

gepflogenen Zusammenkünfte gebären sie in ihm

unzählige junge.

Sicherlich.

Endlich nehmen sie dann wohl die Hauptfestung in

der Seele des Jünglings ein, wenn sie merken, daß

diese entblößt ist von Geisteswaffen, von wissenschaftlichen

Beschäftigungen und von wissenschaftlich

befestigten alten Grundsätzen, die bekanntlich ja

die besten Beschützer und Aufseher in den Seelen

gottgeliebter Menschen sind.

Ja, sicherlich, sagte er.

Statt deren nehmen dann offenbar falsche und neumodische

Grundsätze und Meinungen durch einen

Platon: Der Staat 515

Sturmlauf von demselben Platze bei einem solchen

Menschen Besitz.

Jawohl, meinte er.

Begibt er sich nun nicht wiederum zu jenen Lotterbuben

und hauset mit ihnen offenkundig? Und wenn

von seinen Verwandten dem sparsüchtigen Begierdenheere

seines Inneren irgend ein Beistand käme, –

würden da nicht jene neumodischen Grundsätze die

Tore an der königlichen Hauptfestung verschließen,

weder das Hilfsheer selbst einlassen noch belehrende

Gesandtschaften von selten einzelner älterer Männer,

und also im Kampfe den Sieg davontragen, indem sie

die Scham Einfaltspinselei nennen und mit Beschimpfung

als eine Verbannte verjagen, indem sie verständige

Besonnenheit Unmännlichkeit heißen, mit Füßen

treten und verbannen, indem sie Einschränkung und

Ordnung im Aufwande, die nach ihrer Versicherung

Ungeschliffenheit und Unvornehmheit sind, unter dem

Beistande von vielen anderen verschwenderischen Begierden

über die Grenze bringen?

Jawohl.

Haben aber diese Lügen- und neumodischen

Grundsätze die Seele jenes von ihnen eingenommenen

und in ihre großen Geheimnisse eingeweihten Jünglings

von jenen Tugenden geleert und gesäubert, da

führen sie hierauf dann ausgelassenen Frevelmut, Zügellosigkeit,

Liederlichkeit und Schamlosigkeit, alle

Platon: Der Staat 516

im Ehrenschmuck und Ehrenkranz, mit einer zahlreichen

Prozession wieder ein, unter Lobpreisungen und

beschönigenden Benennungen; Frevelmut heißt vornehme

Erziehung, Zügellosigkeit ein freies Leben,

Liederlichkeit noble Manier, Schamlosigkeit männliche

Bravour. Ist dies nicht etwa die Art des Übergangs

eines unter den nur notwendigen Begierden erzogenen

jungen Mannes zur Entfesselung und Loslassung

der nicht notwendigen?

Ja, sagte er, und zwar sehr anschaulich.

Was nun die Beschaffenheit des Lebens eines solchen

Menschen anlangt, so lebt, denke ich, hierauf ein

solcher dergestalt, daß er Geld, Mühe und Zeit ebenso

auf notwendige wie auf nicht notwendige Vergnügen

verwendet; und wenn er noch glücklich ist und nicht

über alle Schranken hinaus tollt, sondern wenn er

etwas in die Jahre kommt und der Taumel sich etwas

verlaufen hat, die Verbannten zum Teil wieder aufnimmt

und den Heimkehrenden sich doch nicht ganz

hingibt, so bringt er unter seine Lüste eine gewisse

Gleichheit und bringt sein Leben dahin, indem er der

jedesmal von ungefähr eintretenden Lust, als ob das

Los sie dazu gezogen hätte, die Herrschaft über sich

einhändigt, bis sie gestillt ist, und dann wiederum

einer anderen, keine hintansetzt, sondern alle gleichmäßig

hält.

Ja, ganz richtig.

Platon: Der Staat 517

Und einer wissenschaftlichenWahrheitspredigt,

fuhr ich fort, gönnt er bei solchem Leben kein Ohr

und keinen Eingang in seine Burg, wenn ihn jemand

in der Art belehren wollte: »einige Lüste rührten von

heilsamen und guten Begierden her, andere von

schlechten; die einen müsse man pflegen und hochhalten;

die anderen müsse man beschneiden und unterjochen

«. Bei allen solchen Belehrungen vielmehr schüttelt

er den Kopf und beharrt bei der Behauptung, alle

seien einander gleich, und einer wie der anderen sei

die gleiche Ehre zu erweisen.

Jawohl, sagte er, tut das ein Mensch in dieser Lage.

Nicht wahr, sprach ich weiter, und erlebt also sein

ganzes Leben lang jeden Tag der ersten besten sich

einstellenden Lust zu Gefallen: Bald berauscht er sich

und läßt sich durch Flötenspiel ergötzen: bald trinkt

erWasser und hungert sich ab; bald wiederum quält

er sich mit gymnastischen Übungen; bald faulenzt er

und vernachlässigt alle Geschäfte; bald tut er, als beschäftige

er sich mit tieferWissenschaft (Philosophie);

oft treibt er Politik und spricht und tut in der

Volksversammlung, was ihm nur während des Aufspringens

in den Sinn kommt; wird er einmal eifersüchtig

auf den Ruhm von Kriegsmännern, so stürzt

er sich auch darauf; wird er’s auf den Gewinn der Geschäftsleute,

so läßt er sich auch wiederum damit ein.

Kurz: weder eine Ordnung noch eine Konsequenz ist

Platon: Der Staat 518

in seinem Leben; sondern er nennt ein solches Leben

frei und selig und treibt es bis zu seinem Ende.

Ja, sagte er, ganz genau hast du das Leben eines

Gleichheits- und Freiheitsmannes geschildert.

Ich denke, fuhr ich fort, der Hauptcharakter dieses

Individuums drückt sich erstlich darin aus, daß er eine

Buntscheckigkeit und Fülle von fast allen Charakteren

darbietet; zweitens, daß ein solcher Mensch, gerade

wie die ihm entsprechende Verfassung, der schöne

und buntscheckige ist, den die Mehrheit der Männerwie

der Frauenwelt wegen seines herrlichen Lebens

bewundert, weil so ein Exemplar Muster von Staatsund

Herzensverfassungen in reichster Auswahl in sich

enthält.

Ja, sagte er, das ist sein Hauptcharakter.

Und darf demnach gegenüber einer Demokratie folgerecht

ein so beschaffenes Individuum als fertig hingestellt

sein, mit der Behauptung, daß es treffend ein

der demokratischen Verfassung entsprechendes genannt

wird?

Ja, sagte er.

So wäre uns, sprach ich weiter, noch die allerliebste

Verfassung und das allerliebste Individuum zu

schildern übrig, die Tyrannis und der Tyrann.

Ja, freilich, sagte er.

Wohlan denn, mein lieber Freund, welches ist der

Charakter der Tyrannis? Denn was ihre Entstehung

Platon: Der Staat 519

anlangt, so ist so viel gewiß, daß sie aus der Demokratie

durch deren Ausartung vor sich geht.

Ja, gewiß.

Entsteht also nicht auf dieselbeWeise, wie Demokratie

aus Oligarchie, so Tyrannis aus Demokratie?

Wie denn?

Was die Oligarchie, sprach ich, sich als das größte

Gut vorsteckte und wodurch sie auch zustande kam,

das war doch Reichtum, nicht wahr?

Ja.

Der unersättliche Hunger nach Reichtum also und

die Vernachlässigung aller anderen Dinge um des

Gelderwerbs willen waren ihr Verderben?

Richtig, sagte er.

Nicht wahr, auch die Unersättlichkeit in demjenigen

Gute, was sich die Demokratie als Ziel bestimmt,

richtet auch diese zugrunde?

Welches Gut bestimmt sie sich aber nach deiner

Meinung als Ziel?

Die Freiheit, antwortete ich; denn davon wirst du in

einem demokratisch regierten Staate immer hören, wie

sie das allerschönste Gut sei, und wie deshalb in solchem

Staate allein ein Freigeborener würdig leben

könne.

Ja freilich, sagte er, gar oft wird diese Sprache geführt.

Ist hiernach, fuhr ich fort, anzunehmen – das ist nun

Platon: Der Staat 520

die Frage, die ich vorhin folgen lassen wollte -, daß

die Unersättlichkeit in diesem Gute (der Freiheit)

auch diese Verfassung umwandelt und in die Lage

versetzt, daß sie eines Tyrannen bedürftig wird?

Wie soll das kommen? fragte er.

Wenn eine nach Freiheit durstige Demokratie,

denke ich, an ihre Spitze schlechte Mundschenke bekommt

und über Gebühr mit dem stärksten Feuergeiste

der Freiheit sich berauscht, so pflegt sie bekanntlich

ihre Regierenden, wenn sie nicht ganz nachgiebig

sind und im Übermaß die Freiheit verzapfen, als Verräter

und Oligarchen zu beschuldigen und zu bestrafen.

Ja, sagte er, so machen sie’s.

Und die den Obrigkeiten noch gehorsamen Bürger,

fuhr ich fort, diese tritt die Demokratie mit Füßen als

Bedientenseelen und Nichtswürdige; dagegen die Beamten,

die sich wie Untergebene gebärden, und Untergebene,

die sich das Ansehen von Beamten geben, die

lobt und erhebt die Demokratie im Privat- wie im

Staatsleben: ist es da nicht eine absolute Notwendigkeit,

daß in einem solchen Staate über alles der Freiheitsschwindel

kommt?

Allerdings.

Ja, daß er, mein Freund, sprach ich weiter, sogar in

das Familienleben eindringt und es endlich dahin

kommt, daß auch dem Vieh jene Zügellosigkeit sich

Platon: Der Staat 521

einpflanzt?

Wie meinen wir das z.B.? fragte er.

Wenn z.B., erwiderte ich, ein Vater sich gewöhnt,

einen Buben vorzustellen, und sich vor seinen Söhnen

fürchtet, wenn dagegen ein Sohn den Vater spielt und

weder Scham noch Furcht vor seinen Eltern hat, damit

er nämlich frei sei: wenn der bloße Beisasse sich dem

Altbürger gleichstellt und der Altbürger sich zum

Beisassen herabläßt, und ebenso der Ausländer.

Ja, so geht es, sagte er.

Und es bleibt nicht allein, fuhr ich fort, bei diesen

Freiheitserscheinungen, sondern es ereignen sich auch

noch andere Kleinigkeiten folgender Art: Der Lehrer

fürchtet und hätschelt seine Schüler, die Schüler fahren

den Lehrern über die Nase und so auch ihren Erziehern.

Und überhaupt spielen die jungen Leute die

Rolle der alten und wetteifern mit ihnen inWort und

Tat, während Männer mit grauen Köpfen sich in die

Gesellschaft der jungen Burschen herbeilassen, darin

von Possen und Späßen überfließen, ähnlich den Jungen,

damit sie nur ja nicht als ernste Murrköpfe, nicht

als strenge Gebieter erscheinen.

Ja, allerdings, sagte er.

Darauf sagte ich weiter; aber der höchste Grad von

Volksfreiheit, die in einem solchen Staate zum Vorschein

kommen kann, tritt ein, wenn bekanntlich die

gekauften Sklaven und Sklavinnen ebenso frei sind

Platon: Der Staat 522

wie die kaufenden Herren und Herrinnen. Im Verhalten

aber derWeiber zu Männern und der Männer zu

Weibern, wie groß da die Gleichheit und Freiheit ist,

das hätte ich beinahe vergessen zu erwähnen!

Wollen wir nicht, fragte er, um mit Aischylos zu

sprechen, vortragen, wie es uns eben in den Mund

kam?

Jawohl, antwortete ich, und ich wenigstens mache

es so.Was nun das Benehmen der unter der Herrschaft

der Menschen lebenden Tiere anlangt, so

glaubt niemand, der es nicht erfahren hat, um wieviel

freier diese hier sind als sonst. Denn nicht nur die

Hunde sind nach dem Sprichworte ganz wie ihre Herrinnen,

sondern auch Pferde und Esel sind da gewohnt,

ganz wie freie Leute und gravitätisch einherzuschreiten,

und fällen auf den Straßen jeden ihnen

Begegnenden an, wenn er vor ihnen nicht auf die Seite

geht, und so ist alles übrige voll von Freiheit.

Da sprichst du mir ganz aus der Seele, sagte er;

denn solche Erfahrung mache ich oft, wenn ich auf

das Land gehe.

Wenn du alle diese Erscheinungen zusammennimmst,

fuhr ich fort, siehst du nun ein, was das Allerschlimmste

hierbei ist? Daß sie die Seele der Bürger

so empfindlich machen, daß sie, wenn ihnen jemand

auch nur den mindesten Zwang antun will, sich

alsbald verletzt fühlen und es nicht ertragen; ja

Platon: Der Staat 523

endlich, wie du wohl weißt, verachten sie gar alle Gesetze,

die geschriebenen wie die ungeschriebenen, um

nur keinen Gebieter in irgend einer Beziehung über

sich zu haben.

Ja, sagte er, das weiß ich sehr wohl.

Diese so schöne, sagte ich, und jugendlich kecke

Wirtschaft, mein Lieber, ist also denn der Anfang,

woraus die Staatsform der Tyrannis erwächst, wie ich

glaube.

Ja, sagte er, freilich eine jugendlich keckeWirtschaft;

aber was folgt auf diesen Anfang?

Derselbe proletarische Krankheitsstoff, antwortete

ich, der in der Geldoligarchie sich erzeugte und sie

zugrunde richtete, dieser erzeugt sich in diesem Freistaate

in einem noch höheren und stärkeren Grade aus

der zügellosen Freiheit und bringt die Demokratie in

die Knechtschaft; und in der Tat führt überhaupt das

Allzuviel gern einen Umschlag in das Gegenteil mit

sich, z.B. in den Jahreszeiten, imWachsen der Pflanzen

und Körper, und so auch nun ganz vorzüglich in

den Verfassungen.

Natürlich , sagte er.

Denn die allzu große Freiheit schlägt offenbar in

nichts anderes um als in allzu große Knechtschaft, sowohl

beim Individuum wie beim Staate.

Natürlich.

Natürlich also denn, fuhr ich fort, geht die Tyrannis

Platon: Der Staat 524

aus keiner anderen Staatsverfassung hervor als aus

der Demokratie, aus der zur höchsten Spitze getriebenen

Freiheit die größte und drückendste Knechtschaft.

Das hat seine Richtigkeit, meinte er.

Aber nicht auf diese Folge des Allzuviel, glaube

ich, ging deine Frage vorhin, sondern vielmehr darauf:

Welcher ebenso in der Oligarchie wie in der Demokratie

sich erzeugende Krankheitsstoff bringt letztere

unter das Joch der Knechtschaft?

Ja, sagte er, richtig bemerkt.

Unter jenem Krankheitsstoffe also, sagte ich, verstand

ich das Pack der müßiggängerischen und alles

vertuenden Menschen, wovon der mannhaftere Teil

die Rolle der anführenden Rädelsführer spielt, der unmännliche

dagegen das Gefolge bildet: diese Menschen

verglichen wir vorhin mit Drohnen: die ersteren

mit gestachelten, die letzteren mit ungestachelten.

Und zwar ganz passend, bemerkte er.

Diese beiden Sorten von Unrat nun, sprach ich weiter,

zerrütten jeden Staat, in welchem sie sich ansammeln,

gerade wie Verschleimung und Galle einen

Körper; der gute Arzt und Gesetzgeber eines Staates

muß nun vor diesen beiden Arten von Ungeziefer, wie

der weise Bienenvater, von ferne schon Vorsichtsmaßregeln

ergreifen: die allerbesten Maßregeln sind

die, wodurch ihr Einnisten verhütet wird; die nächstbesten

solche, durch die sie da, wo sie sich eingenistet

Platon: Der Staat 525

haben, so schnell wie möglich samt denWaben ausgeschnitten

werden.

Ja wahrlich, bei Zeus, sagte er, auf alleWeise.

Damit wir indessen, fuhr ich fort, dieWahrheit der

Antwort auf die vorliegende Frage noch leichter und

verständlicher ansehen, wollen wir die Sache von folgender

Seite auffassen…

Von welcher?

Teilen wir in Gedanken die Bürgerschaft einer Demokratie

in drei Klassen, in die sie bekanntlich auch

in derWirklichkeit zerfällt: die erste, die eben erwähnte

Drohnenklasse, wächst in der Demokratie infolge

der übermäßigen Freiheit in nicht geringerer

Zahl empor als in dem von einer Oligarchie regierten

Staate.

Ja, so ist’s.

Aber in ersterer ist sie weit leidenschaftlicher als in

letzterer.

Wieso?

Weil sie in der Oligarchie nicht im Besitze der

Bürgergeltung ist und von der Staatsregierung ausgeschlossen

wird, kann sie dort ihre Geisteskraft nicht

entwickeln und kommt zu keiner durchdringenden

Kraft: in der Demokratie dagegen ist diese Klasse diejenige,

die die ganze Bürgerschaft derselben, mit Ausnahme

weniger, bevormundet: der leidenschaftlichste

Teil davon spielt die tätige Rolle der Politik inWort

Platon: Der Staat 526

und Tat, der übrige Schwarm umlagert passiv mit Gesumse

die Rednerbühne und läßt niemanden eine andere

Meinung vortragen, so daß bei einer solchen

Verfassung alle Geschäfte des Staates, mit Ausnahme

weniger, von der genannten Klasse abgemacht werden.

Ja freilich, sagte er.

Die zweite Klasse ist nun die, welche sich immer

vom Volke vornehm absondert.

Von welcher Beschaffenheit denn?

Wenn irgendwo alle Welt Gelderwerb treibt, so

werden diejenigen in der Regel am reichsten, die,

wenn auch nicht durch Geistesbildung, doch bloß

durch eine besondere Naturanlage am meisten Sinn

für Ordnung und Anstand haben.

Natürlich.

Von dieser zweiten Klasse nun, denke ich, läßt sich

für jene Drohnen Honig schneiden, im reichlichsten

Maße und ganz ohne alle Mühe.

Wie könnte auch einer, sagte er, bei denen Honig

schneiden wollen, welche wenig haben?

Diese zweite Klasse, die Reichen, führen bekanntlich

den Namen »Drohnenfutter«.

Ja, sagte er, so ungefähr.

Die dritte Klasse der Demokratie aber wäre das

niedere Volk, worunter alle gehören, die von eigner

Handarbeit leben, die keine Freunde von

Platon: Der Staat 527

Staatsgeschäften sind, die keinen großen Landbesitz

haben, und dieser Teil ist der zahlreichste und zugleich

der entscheidendste, wenn er ganz versammelt

ist.

Ja, sagte er, das ist er freilich; aber er hat keine

sonderliche Lust, eine solche vollständige Versammlung

zu bilden, wenn er keine Aussicht hat, Anteil am

Honig zu bekommen.

Nun, sagte ich, er bekommt immer, wenn die rädelsführenden

Volksführer imstande sind, die besitzende

Klasse zu berauben und den Raub unter das

Volk so zu verteilen, daß er den größten Teil davon

behalten kann.

Ja freilich, sagte er, so bekommt das Volk seinen

Anteil.

Die beraubten Reichen werden dann natürlich in

die Notwendigkeit versetzt, sich zur offenen Wehr zu

setzen, indem sie in der Volksversammlung auftreten

und Politik treiben, wie sie können.

Das müssen sie.

Dann werden sie von der Gegenpartei beschuldigt,

daß sie die Volkssouveränität stürzen wollten und der

Oligarchie zusteuerten, wenngleich sie gar keine

Neuerung beabsichtigen.

Ja, so kommt’s.

Wenn sie nun sehen, daß das Volk, nicht aus vorsätzlicher

Bosheit, sondern aus Unverstand und von

Platon: Der Staat 528

ihren anschwärzenden Gegnern betrogen, sie zu plündern

sucht, dann werden sie endlich, sie mögen wollen

oder nicht, in der Tat oligarchisch gesinnt, nicht

aus innerem Antriebe, sondern auch dieses Übel impft

jene Drohnenklasse ein durch ihre giftigen Stiche

gegen die Begüterten.

Ja, offenbar.

Es erfolgen nun öffentliche Anklagen auf gravierende

Staatsverbrechen, Gerichtsprozesse, öffentliche

Parteikämpfe.

Jawohl.

Nicht wahr, daher die bekannte Gewohnheit des

niederen Volkes, vorzugsweise irgend einen sich als

Volksanwalt an seine Spitze zu stellen, ihn dick und

mächtig groß zu füttern?

Ja, freilich ist das seine bekannte Gewohnheit.

Dies wäre also, sagte ich, erstlich außer Zweifel,

daß ein Tyrann, wenn er entsteht, nur aus dieser Wurzel

der Volksanwaltschaft und nirgends anderswoher

hervorkeimt?

Ja, ganz ohne Zweifel.

Wo ist nun der Anfang seiner Umwandlung aus

einem Volksanwalt zu einem Tyrannen? Oder ist der

Anfang offenbar da, wenn der Volksanwalt anfängt,

dasselbe zu tun, was der Mann in der Fabel tat, die

von dem Tempel, des Zeus auf demWolfsberg in Arkadien

erzählt wird?

Platon: Der Staat 529

Welche denn? fragte er.

Wer menschliches Eingeweide, wenn auch nur ein

einziges unter andere von anderen Opfertieren zerhackt

war, gekostet habe, dieser werde nach einem

unabwendbaren Verhängnisse in einenWolf verwandelt.

Oder hast du von dieser Sage noch nicht gehört?

O ja.

Wer nun dem Volke als Anwalt vorsteht, an ihm

eine auf sein Kommando fein merkende Masse unter

die Hände bekommt und sich nicht infolge solcher

Gewalt des Blutes seiner eigenen (reichen) Mitbürger

enthalten kann, sondern, wie es gern die Art solcher

Volksmänner ist, bald durch ungerechte Anklagen sie

vor die Kriminalgerichte bringt und sich mit Blutschuld

befleckt durch Vernichtung von Menschenleben

und durch das Kosten des verwandten Blutes mit

gottloser Zunge und Lippe, bald Verbannungen und

Todesurteile ausspricht, bald Schuldenerlaß und

Ackerverteilung predigt: kommt über einen solchen

hierauf nicht ebenso die zwingende Notwendigkeit

und das unabwendbare Verhängnis, zwischen dem

Tode von der Hand seiner Feinde und dem Tyrannenthrone

zu wählen und also aus einemMenschen ein

Wolf zu werden?

Ja, sagte er, die unabwendbarste Notwendigkeit!

Und dieser, sprach ich, und kein anderer wird sodann

das Haupt des Bürgerkrieges gegen die

Platon: Der Staat 530

begüterte Klasse?

Ja, kein anderer.

Er muß natürlich hierbei die Stadt räumen; und

kehrt er dann trotz seiner Feinde wieder zurück, so ist

wohl der Tyrann ausgebrütet?

Ja, offenbar.

Wenn aber nun die Reichen nicht imstande sind,

ihn zu vertreiben oder durch eine Kriminalanklage vor

der Volksgemeinde um das Leben zu bringen, so

schmieden sie dann bekanntlich Pläne, ihn durch gewaltsamen

Tod heimlich aus demWege zu räumen.

Ja, sagte er, so pflegt es wirklich zu gehen.

Daraufhin das bei allen, die bis zu dieser Stufe

kommen, übliche Hervortreten der bekannten Tyrannenbitte:

sie erbitten nämlich vom Volk sich einige

Leibwächter zum Schutze, damit ihnen doch der Beschützer

des Volkes am Leben bleibe!

Ganz richtig, bemerkte er.

Die Leute geben sie ihm, versteht sich, weil sie einerseits

wirklich für ihn Besorgnis tragen und andrerseits

wegen ihrer Personen und Freiheiten keinen Argwohn

hegen.

Richtig.

Wenn nun diesen Moment ein Mann wahrnimmt,

der mit Gütern und neben diesen Gütern natürlich

auch mit dem Verbrechen behaftet ist, ein »Volksfeind

« zu sein, dann wird ein solcher, mein Freund,

Platon: Der Staat 531

nach dem dem Kroisos gewordenen Orakel

zum Strom des kiesigten Hermos

Fliehen, er bleibt nicht mehr; nicht schämt er sich,

feige zu heißen.

Natürlich, sagte er, denn der würde sich auch nicht

zum zweiten Male zu schämen haben!

Ja, sprach ich, wird er nämlich erwischt, da ist er,

meine ich, dem Tode verfallen.

Ja, unrettbar!

Jener Herr Volksanwalt dagegen legt sich selbstverständlich

nicht groß großmächtig hin, sondern

steht nach Niederstreckung vieler anderer Thronkandidaten

am Ruder des Staates und ist nun ein Tyrann

in seiner Vollendung!

Ja, sagte er, das läßt er erwarten.

Wollen wir nun, fuhr ich fort, verabredetem Plane

gemäß die Glückseligkeit des Lebens sowohl des Individuums

wie des Staates darstellen, in dem es aufkommen

konnte?

Ja, sagte er, allerdings müssen wir das nun.

Nicht wahr, sprach ich, in den ersten Tagen und in

den Flitterwochen wirft er aller Welt, wer ihm auch

begegnen mag, lächelnde Mienen und Komplimente

zu, versichert, gar kein Tyrann zu sein, macht einzelnen

wie dem ganzen Gemeinwesen Aussichten auf

Platon: Der Staat 532

große Verbesserungen, mildert die Schuldenlast, verteilt

Land unter das Volk und unter seine erklärten

Anhänger und tut gegen alle huldvoll und sanftmütig?

Ja, notgedrungen, sagte er.

Hat er aber, glaube ich, was die emigrierten einheimischen

Feinde anlangt, sich mit einem Teile ausgesöhnt,

den anderen vernichtet und Ruhe vor diesen

einheimischen Feinden bekommen, so ist dann, denke

ich, sein erstes, immer einige Kriege mit dem Auslande

zu veranlassen, damit erstlich das Volk eines Anführers

benötigt bleibt.

Natürlich.

Nicht wahr, damit auch zweitens die Leute durch

Entrichtung der dadurch veranlaßten außerordentlichen

Kriegssteuern arm werden und ihre Gedanken

auf den Erwerb des täglichen Brotes zu richten gezwungen

sind und also ihm weniger gefährlich sein

können?

Offenbar.

Damit er drittens, denke ich, unter einem guten

Scheingrunde jene sich vom Halse schaffen und dem

Schwert der auswärtigen Feinde überliefern kann, von

denen er etwa argwöhnt, daß sie mit ihren freien Gesinnungen

ihn nicht am Ruder lassen werden?

Muß er nicht aller dieser Gründe wegen beständig

Krieg anzetteln?

Ja, notgedrungen.

Platon: Der Staat 533

Muß er nicht bei diesem Treiben sonach unfehlbar

in weiterem Kreise den Staatsbürgern verhaßt werden?

Freilich.

Daher werden dann auch wohl sicherlich einige von

denen, die ihn mit an das Ruder gebracht haben und

Einfluß besitzen, frei mit der Sprache herausrücken,

sowohl ihm selbst ins Angesicht als auch unter sich,

und gegen die Früchte, die sie jetzt reifen sehen, laut

losschlagen, da es Männer sind, die noch einigermaßen

das Herz am rechten Flecke haben?

Ja, natürlich, daß sie solche Sprache erheben.

Aus demWege räumen muß er also alle diese, der

Tyrann, wenn er das Regiment behalten will, bis er in

seiner Nähe keinen weder von Freunden noch Feinden

übrig hat, der noch etwas taugt.

Offenbar.

Sofort muß er sich eine feine Spürnase anschaffen,

wo es sonst noch einen Mann von Mut oder Stolz

oder Geist oder Geld gibt; und auf seinem Tyrannenthrone

ist er so glücklich, daß ihm sein Schicksal unbedingt

gebietet, allen solchen Männern ohne Ausnahme,

mag sein Herz wollen oder nicht, den Krieg

zu erklären und Schlingen zu legen, bis er den Staat

gereinigt hat.

Ja, sagte er, eine schöne Art zu reinigen!

Ja freilich, sagte ich, ganz das Gegenteil von dem,

Platon: Der Staat 534

wie vernünftige Ärzte die Körper der Patienten reinigen:

denn diese schaffen das Schlechteste in ihnen fort

und schonen das Beste, der Tyrann aber tut das Gegenteil.

Es gebietet’s ihm ja offenbar seine Situation, sagte

er, wenn er auf seinem Herrscherthrone bleiben will.

In einer sehr glückseligen Situation, fuhr ich fort,

steckt also fürs erste der Tyrann, in einer Situation,

die ihm die gebieterische Notwendigkeit auflegt, entweder

mit der Nichtsnutzigkeit der Masse und sogar

auch von dieser gehaßt zu hausen, oder überhaupt

nicht zu leben!

Ja, bemerkte er, in solcher Lage steckt er.

Ist nun nicht hiervon die weitere Folge, daß er eine

desto zahlreichere und treuere Leibwache bedarf, je

verhaßter er seinen Staatsbürgern durch jene Handlungen

wird Allerdings.

Welches sind nun die Treuen, und woher soll er sie

sich nehmen?

Von selbst, sagte er, kommen gar viele geflogen,

wenn er nur den Köder des Soldes aushängt.

Von einer neuen Sorte Drohnen, beim Hunde, sagte

ich, scheinst du mir wiederum zu reden, von ausländischem

Gesindel aus allerlei Herren Ländern!

Ja, sagte er, das tue ich aus gutem Grunde!

Aber wie? Sollte er nicht lieber in dem Inlande

wollen…?

Platon: Der Staat 535

Wie meinst du?

Die Sklaven den Staatsbürgern nehmen, sie mit der

Freiheit beschenken und sie zu seinen Leibwächtern

erheben.

Ja, sagte er, ganz wohl, denn diese wären ihm noch

am treuesten.

Fürwahr, sprach ich, ein schönes Stück von Glückseligkeit

zählst du weiter da von einem Tyrannen auf,

wenn er die Freundschaft und Treue solcher Früchtchen

zu genießen hat, nachdem er jene früheren

Freunde beiseite geschafft!

Aber er hat nun einmal, sagte er, nur solche Früchtchen

und keine anderen zu genießen!

Und dieser Genuß, sagte ich, besteht natürlich in

der Bewunderung von seiten dieser Kameraden sowie

in dem Umgang mit den von ihm neugebackenen

Staatsbürgern, während die noch ordentlichen Bürger

ihn hassen und wie die Pest fliehen?

Warum sollten sie das nicht?

Nun, fuhr ich fort, da wird gar nicht so übel die

dramatische Poesie überhaupt, insbesondere der darin

sich auszeichnende Euripides als ein Schatzkästlein

vonWeisheit ausgegeben!

Weshalb denn?

Weil er unter anderem auch folgendes inhaltsschwereWort

ausgesprochen hat: Hochweise seien

Tyrannen durch den Umgang mit großen Weisen,

Platon: Der Staat 536

und offenbar damit sagen wollte, daß die großenWeisen

die Personen wären, mit denen ein Tyrann Umgang

pflege!

Ja, sagte er, als göttergleich lobpreist er die Tyrannis,

und noch mit andern vielen Phrasen, und das tut

er nicht allein, sondern auch die übrigen Dichter!

Ja, sagte ich, das ist eben auch der Grund, warum

die Tragödiendichter als hochweise Leute uns und

allen überhaupt, die die Politik nach unseren Grundsätzen

treiben, gnädigst zu verzeihen haben, daß wir

ihnen als Lobpreisern der Tyrannis die Aufnahme in

unseren Staat versagen müssen.

Ja, meinte er, ich glaube, sie verzeihen uns gnädigst,

wenigstens die feingesitteten von ihnen.

Sie können ja doch, denke ich, in die übrigen Staaten

ziehen, da die Pöbelhaufen versammeln, schöne,

mächtige und verführerische Schauspielerstimmen engagieren

und dadurch zu ihrem Vergnügen die vernünftigen

Staatsverfassungen zu Tyranneien und Demokratien

herabziehen!

Jawohl.

Nicht wahr, und dazu können sie auch noch Sold

und Ehren empfangen, im höchsten Grade, wie natürlich,

von Tyranneien, im zweiten von der Demokratie?

Je höher aber sie sich in der Stufenleiter der

Staatsverfassungen versteigen, desto mehr nimmt ihr

Ruhm ab, als wenn er vor Beklemmung nicht

Platon: Der Staat 537

fortkommen könnte.

Allerdings.

Doch genug hiervon, sprach ich, wir sind ja von

unserem Thema abgekommen! Laß uns wieder zurückkommen

auf jene schöne, zahlreiche, buntscheckige

und einem immerwährendenWechsel unterworfene

Leibgarde des Tyrannen, und zunächst auf

die Frage, woher er sie ernähren werde.

Offenbar, sagte er, wenn Tempelgüter in dem Staate

vorhanden sind, so verwendet er diese hierzu, bis

wohin sie jedesmal reichen (nach der Mode der Leute,

die ihre liegenden Güter zu Gelde machen, um keine

Steuern zu bezahlen), und erpreßt daher nur geringe

Steuern von dem Volke.

Wie steht’s aber, wenn diese geistlichen Güter ausgehen?

Da werden sich offenbar, sagte er, er, seine Zechbrüder,

seine Freunde und Freundinnen von dem Vermögen

seines »Vaters« ernähren.

Ich verstehe, antwortete ich: das Volk, das ihn erzeugt

hat, wird ihn und seine Getreuen dann zu ernähren

haben.

Mit der größten ihm unausbleiblichen Notwendigkeit,

bemerkte er.

Aber was sagst du dazu? sprach ich weiter. Wenn

das Volk sich sträubte und schriee: es sei nicht erlaubt,

daß ein zur vollen Reife gekommener Sohn sich

Platon: Der Staat 538

von seinem Vater ernähren lasse, vielmehr müsse gerade

umgekehrt der Vater vom Sohn ernährt werden;

nicht habe es ihn deshalb erzeugt und gehoben, damit

es dann, wenn er groß geworden, sein und seiner

Sklaven Sklave werde und ihn sowie seine Sklaven

nebst anderem Gesindel ernähre: es habe im Gegenteil

beabsichtigt, er solle unter seiner Führerschaft es vom

Drucke der Geldsäcke und der sogenannten Gutgesinnten

befreien; und wenn es infolge der jetzigen Erlebnisse

wirklich ihn und seine Getreuen aus dem

Staate sich entfernen heißt, gerade wie ein Vater seinen

ungeratenen Sohn mit seinen lärmenden Zechbrüdern

aus seinem Hause wirft…?

Dann erst werden, bei Zeus, sagte er, dem Volk

gründlich die Augen aufgehen, was es für ein Früchtchen

erzeugt, geherzt und großgezogen hat, und daß

es nun als der schwächere Teil weit Stärkere auszutreiben

beabsichtige.

Was sagst du hiermit? fragte ich.Wird denn der

Tyrann sich erfrechen, gegen seinen »Vater« Gewalt

zu brauchen und, wenn er ihm nicht gehorcht, ihn

züchtigen?

Ja freilich, erwiderte er, und zwar nach Entwindung

der Waffen!

Für einen Vatermörder, fuhr ich fort, für einenWüterich

gegen hilfloses Alter erklärst du also den Tyrannen,

und mit diesemWorte wäre endlich nun die

Platon: Der Staat 539

charakteristische Eigenschaft einer entschiedenen Tyrannenstaatsverfassung

ausgedrückt! Und das Volk

wäre, wie’s im Sprichworte heißt, aus Scheu vor dein

Rauche einer Dienstbarkeit unter Freien in das Feuer

einer Despotie unter Sklavenseelen geraten, hätte statt

jenes gehofften herrlichen und weiten Gewandes der

Freiheit das gröbste und zwickendste Kleid der

Knechtschaft der Sklaven angezogen.

Ja, sagte er, sicher stellen sich diese Früchte ein.

Was nun noch weiter? fragte ich.Wird es eine Ungereimtheit

sein, wenn wir behaupten, vollkommen

dargestellt zu haben erstlich die Entstehungsweise der

Tyrannis aus der Demokratie, zweitens ihre charakteristische

Eigenschaft nach ihrer Entstehung?

Ja, erwiderte er, sie sind vollkommen dargestellt.

Platon: Der Staat 540

Neuntes Buch

Es wäre also, fuhr ich fort, nur noch das tyrannische

Individuum zu betrachten übrig: erstlich nämlich,

wie es sich aus dem demokratischen entwickelt,

zweitens, welchen Charakter es nach abgeschlossener

Entwicklung hat und auf welcheWeise es lebt, elend

oder glückselig.

Ja, sagte er, diese Betrachtung ist noch übrig.

Weißt du, fragte ich, was ich da nun vorher noch

vermisse?

Was denn?

Hinsichtlich der Begierden scheinen wir die Frage

über ihre Qualität und Quantität noch nicht gründlich

genug erörtert zu haben. Ist diese Erörterung nun

mangelhaft, so wird die Untersuchung der noch vorliegenden

Hauptfrage etwas unsicher sein.

Nicht wahr, fragte er, es ist doch noch Zeit?

Allerdings; betrachte daher die Seite, die ich an

ihnen zuvor ins Auge fassen will; sie ist aber folgende:

Unter die vorhin genannten nicht notwendigen

Lüste und Begierden scheinen mir einige zu gehören,

die unbändig jedem sittlichen Gesetze zu widerstreben

scheinen. Jeder Mensch zwar ist nun der Gefahr

ausgesetzt, solche Begierden in sich zu haben; aber

von den Gesetzen sowohl wie von den besseren

Platon: Der Staat 541

Begierden mittels Vernunft unter der Schere gehalten,

verschwinden sie bei einigen Menschen entweder

gänzlich oder bleiben nur in geringer Zahl und geschwächt,

bei anderen dagegen erscheinen sie in

größerer Kraft und Zahl.

Aber was meinst du denn für welche, fragte er,

unter den hier angedeuteten Lüsten?

Die, antwortete ich, welche während des Schlafes

zu erwachen pflegen, wenn nämlich einerseits der eine

Bestandteil der Seele, der Vernunft, Humanität und

Beherrschung jenes begierlichen Teiles in sich begreift,

im Schlafe liegt, und wenn andrerseits der tierische

und wilde Teil der Seele, von Speise oder Trank

angefüllt, sich bäumt und nach Abschüttelung des

Schlafes durchzugehen und seine Triebe zu befriedigen

sucht. Du weißt, daß letzterer dann in solchem

Zustande sich alle möglichen Dinge erlaubt, weil er

nun aller Scham und Vernunft los und ledig ist. Denn

er trägt kein Bedenken, sowohl seiner Mutter, wie er

wähnt, beizuwohnen, als auch jedem anderen Gegenstand

seiner Lust, sei es Gott, Mensch oder Tier; er

trägt kein Bedenken, sich mit jeder Blutschuld zu beladen,

jede Befriedigung seines Gaumens sich zu erlauben,

mit einemWorte: weder vor einem Unverstande

noch vor einer Unverschämtheit zurückzubleiben.

Ganz wahr ist deine Beschreibung, sagte er.

Platon: Der Staat 542

Wenn dagegen jemand, denke ich, sich schon in

bezug auf sein Inneres in gesundem und besonnenem

Zustande befindet und sich zu Bette begibt, nachdem

er erstens den vernünftigen Teil seiner Seele geweckt,

ihn mit schönen Gedanken und Betrachtungen genährt

hat und zu stiller Selbstprüfung gekommen ist; nachdem

er zweitens den begierlichen Teil seiner Seele

weder demMangel noch der Völlerei überlassen hat,

damit er sich ruhig verhält und damit er dem edelsten

Seelenbestandteile keine Unruhe verursacht durch

ausgelassene Freude oder Kummer, daß er im Gegenteil

diesen ganz für sich allein und von allem Körperlichen

gesondert betrachten, erstreben und wahrnehmen

läßt, was er noch nicht weiß, beziehe es sich nun

entweder auf die Vergangenheit oder auf die Gegenwart

oder auf die Zukunft; nachdem, er drittens ebenso

den zornmütigen Seelenteil gedämpft und nicht

etwa vorher mit irgendwelchen Personen in Zornausbrüche

geraten ist und mit aufgeregtem Gemüte einschläft,

sondern nach Einwiegung der zwei niederen

Seelenbestandteile und nachWeckung des edlen dritten,

bei dem sich das Denken befindet, zur Ruhe geht:

so weißt du, daß der Mensch in diesem Zustande

nicht nur am besten dieWahrheit erfaßt, sondern daß

auch dann die Traumgesichter am wenigsten unsittlich

erscheinen.

Ganz vollkommen bin ich allerdings dieser

Platon: Der Staat 543

Meinung, sagte er.

Diese letzteren Sätze haben wir indessen als eine

Abschweifung vorzutragen uns verleiten lassen; was

ich aber tiefer einsehen wollte, ist das: Eine heftige,

wilde und unbändige Gattung von Begierden gibt es

bei jedem von uns Menschen, wenn auch manche gar

ordentliche Leute zu sein scheinen, und hiervon haben

wir dem Gesagten zufolge den offenbaren Beweis in

den Träumen. Ob ich hiermit eineWahrheit sage und

ob du meiner Behauptung beitreten kannst, überlege!

Ja, ich trete ihr bei.

Stelle dir nun noch einmal das nach der Demokratie

geartete Individuum vor, wie wir es charakterisierten:

Es entstand aber demnach dadurch, daß es von Jugend

an von einem sparsüchtigen Vater erzogen wurde, der

allein die auf den Erwerb gerichteten Begierden

schätzte, dagegen die nicht notwendigen und nur auf

Vergnügen und äußere Pracht gehenden für nichts

achtete, nicht wahr?

Ja.

Nachdem aber unser nach der Demokratie geartetes

Individuum mit vornehmeren und von den eben beschriebenen

Begierden erfüllten Herren zusammengekommen

war und aus Haß gegen die Knickerei seines

Vaters sich allem Frevelmut und der Lebensweise

jener Herren überlassen hatte, aber im Besitze einer

besseren Anlage als seine Verführer nach beiden

Platon: Der Staat 544

Seiten gezogen wurde, so stand es in der Mitte beider

Lebensarten, und alles, wonach es jedesmal Lust

hatte, maßvoll versteht sich, wie es damals meinte,

genießend, führt er weder ein schmutzig-geiziges

noch ein alle Gesetze der Ordnung überschreitendes

Leben und ist so aus einem der Oligarchie verwandten

Charakter ein der Demokratie ähnlicher geworden.

Ja, sagte er, das war und ist unsere Ansicht über

einen solchen Charakter.

Stelle dir nun, fuhr ich fort, von einem solchen Individuum,

wenn es bereits älter geworden ist, wiederum

einen Sohn vor, der ebenso in dessen Sitten erzogen

ist!

Ich tue es.

Nun, so denke also auch, daß dieselben vorhin erwähnten

Verführungen um ihn sich begeben, die auch

um seinen Vater sich begaben: daß er zu jeder gesetzwidrigen

Zügellosigkeit sich hinreißen lasse, was aber

von seinen Anführern lauter Freiheit geheißen wird;

daß jenen die Mitte haltenden Begierden der Vater

und die übrigen Verwandten noch einigen Beistand

leisten, daß andererseits jene Gesellen dagegen operieren;

daß endlich jene gewaltigen Schwarzkünstler

und Tyrannenfabrikanten, falls sie auf andere Art den

jungen Menschen nicht mehr in ihren Fesseln zu halten

hoffen können, ihm durch Intrige eine Liebschaft

beibrächten, die dann die Vorsteherin der nichts

Platon: Der Staat 545

verdienenden und das Vermögen nur verwirtschaftenden

Begierden ist, eine recht geflügelte und große

Drohne; oder glaubst du, daß der Eros solcher Leute

etwas anderes sei?

Meines Bedünkens, sagte er, nichts anderes als

dies.

Nicht wahr, wenn nun die übrigen Begierden mit

wohlriechenden Düften, Salben, Kränzen,Weinräuschen

und den in solchen Gesellschaften ausgelassenen

Vergnügungen um jene Liebe herumsumsen, und

wenn sie diese nicht nur bis aufs höchste steigern und

erziehen, sondern dieser Drohne noch den Stachel der

Lust nach Befriedigung des Geschlechtstriebes einsetzen,

dann hat dieser Demagog der Seele schon eine

Leibwache an der Unvernunft und tobt. Und wenn er

etwa noch einige früher auf guten Glauben angenommene

gute und noch Scham empfindende Empfindungen

und Gefühle in seinem Inneren ertappen sollte, so

erwürgt er sie teils, feils verbannt er sie aus seinem

Inneren, bis er sich von der die Begierden im Zaume

haltenden Besonnenheit gereinigt, dafür aber mit

selbstverschuldeter toller Unvernunft angefüllt hat.

Ganz vollkommen, sagte er, beschreibst du die Entstehung

des tyrannischen Individuums.

Nicht wahr, fragte ich, daher heißt auch schon von

alters her wegen dieser Eigenschaft Eros ein Tyrann?

Ja, sagte er, mag sein.

Platon: Der Staat 546

Nicht wahr, mein Lieber, fuhr ich fort, auch der

Trunkenbold hat einen der Tyrannenherrschaft verwandten

Geist?

Freilich.

Und auch der Rasende und Verrückte erst sucht

und hofft nicht nur Menschen, sondern auch Götter tyrannisieren

zu können?

Ja, sicher, erwiderte er.

Ein der tyrannischen Staatsverfassung ähnliches Individuum,

mein Schönster, sprach ich weiter, wird

aber erst vollständig fertig, wenn es entweder durch

angeborene Anlage oder durch Lebensweise oder

durch beides trunksüchtig, ein Liebesnarr und ein

Geisteskranker geworden ist.

Ja, ganz richtig.

Was also erstens die Entstehung eines tyrannischen

Menschencharakters anlangt, so geschieht sie offenbar

auf die besagteWeise; die zweite Frage ist bekanntlich

nun:Wie lebt er?

Das wird wohl, wie es im Spiele heißt, niemand

mir sagen, als du, bemerkte er.

Nun denn, sagte ich, meine Gedanken hierüber sind

diese: Ich glaube nämlich, hierauf werden bei ihnen

Feste, lustige Aufzüge, Schmausereien, Freudenmädchen

und alles dergleichen gehalten, wobei Eros als

Tyrann im Innern wohnt und alle Seelenbestandteile

beherrscht.

Platon: Der Staat 547

Notwendig, sagte er.

Werden nun nicht Tag und Nacht noch viele heftige

Begierden daneben aufsprossen, die gar viel nötig

haben?

Viele freilich.

Wenn einige Einkünfte da sind, so werden sie also

bald erschöpft sein?

Allerdings.

Und hernach gibt’s offenbar Schulden und Vermögensveräußerungen?

Was denn sonst?

Wenn nun aber alles ausgeht, müssen da nicht die

vielen heftigen eingenisteten Begierden ein Gebrüll

anfangen, und müssen diese Menschen dann nicht sowohl

von den übrigen Begierden, als auch ganz besonders

vom Herrn Eros, der alle übrigen wie seine

Söldner anführt, wie von Stacheln getrieben wütend

umherschwärmen und auskundschaften, wer etwas

habe, dem man es mit List oder Gewalt abnehmen

könne?

Ja, sagte er, ganz gewiß.

Notwendigerweise müssen sie also von überallher

zusammenraffen, oder sie werden von schrecklichen

Schmerzen undWehen gezwickt.

Ja, notwendig.

Wie nun bei jenem tyrannischenMenschencharakter

die neu hinzugekommenen Lüste vor den alten den

Platon: Der Staat 548

Vorzug haben und ihnen das Ihrige entreißen wollten,

wird nicht ebenso auch er selbst kein Bedenken tragen,

vor Vater und Mutter, obwohl er jünger ist, den

Vorrang zu haben und sie berauben zu wollen, nachdem

er sein Erbteil, das er sich hatte geben lassen,

durchgebracht hat?

Ja, ohne Zweifel, sagte er.

Wenn die Eltern es ihm aber nun nicht gestatten

sollten, – nicht wahr, so würde er erstlich den Versuch

machen, seine Eltern zu bestehlen und zu betrügen?

Auf alleWeise.

Wenn er es aber nicht vermöchte, so würde er hierauf

sie plündern und mit Gewalt berauben?

Ja, ich glaube es, sagte er.

Wenn aber nun der alte Mann und die alte Frau

sich ihm entgegenstellten und zurWehr setzten, –

würde er da wohl, mein Bester, Scheu und Mäßigung

haben, um keine der ärgsten Tyrannenhandlungen zu

verüben?

Ich meinerseits, antwortete er, prophezeie den Eltern

eines solchen Subjektes gar nichts Gutes.

Nun, bei Zeus, Adeimantos, hältst du gar einen solchen

für fähig, daß er wegen einer erst kürzlich ihm

befreundeten Geliebten, an die er gar nicht durch enge

Bande gebunden ist, seine längst befreundete und

durch die Natur mit ihm verbundene Mutter, oder

wegen eines erst kürzlich befreundeten und gar nicht

Platon: Der Staat 549

mit ihm durch ein enges Band verbundenen jugendlichen

Lieblings seinen abgelebten und durch die Natur

mit ihm verbundenen alten Vater, den ältesten seiner

Freunde, mit Schlägen mißhandelt und sie jenen

dienstbar macht, wenn er sie in demselben Hause zusammengebracht

haben sollte?

Ja, bei Zeus, sagte er, ich halte ihn dessen fähig.

Eine ungeheuer große Glückseligkeit, sagte ich, ist

es also, wenn man einen tyrannischen Sohn erzeugt

hat!

Ja, sagte er, eine gewaltige!

Und wie weiter? Wenn nun das Vater und Mutter

gehörige Vermögen einem solchen Menschen ausgeht,

dabei aber der Schwarm der Lüste in ihm sich ungeheuer

groß angesammelt hat, – wird er da nicht zuerst

an einem Hause dieWand einbrechen oder einem zur

Nachtzeit späten Spaziergänger nach demMantel

greifen und nach diesen Anfängen später einen Tempel

rein ausleeren? Und während aller dieser Verbrechen

werden nun natürlich von seinen erst neulich aus

der Zucht entkommenen und die Leibwache des Eros

bildenden Begierden mit dessen Hilfe jene von Kindheit

über Sittlichkeit und Unsittlichkeit auf guten

Glauben sich angeeigneten Lehren, an denen er bisher

noch hielt, überwunden, von ihnen, die früher sich nur

im Traume während des Schlafes freimachten, als ihr

Inhaber noch unter sittlichen Gesetzen und unter

Platon: Der Staat 550

seinem Vater mit einer noch demokratischen Verfassung

seines Inneren lebte. Aber nachdem von Eros

seine Seele eine tyrannische Verfassung erhalten hat,

wird er nun wirklich wachend immerfort so ruchlos,

wie er früher selten im Traume war, wird er sich keiner

greulichenMordtat, keiner Gaumenbefriedigung

und keiner Schandtat enthalten: es lebt ja in seinem

Inneren tyrannisch der Eros in aller Zügel- und Gesetzlosigkeit,

und da er allein zur absoluten Herrschaft

gelangt ist, so wird er das von ihm besessene

Individuum, wie der Tyrann einen Staat, zu jedwedem

Wagnis führen, um daher sich selbst sowohl wie seinen

geräuschvollen Trabantenschwarm unterhalten zu

können, sowohl den infolge schlechten Umgangs von

außen eingedrungenen als auch den in seinem Inneren

ursprünglich vorhandenen, die aber erst von eben solchen

schlechten Sitten und von ihm selbst losgelassen

und entfesselt wurden. Oder ist dies nicht das Leben

solcher Menschen?

Ja, sagte er, das ist es.

Wenn nun, fuhr ich fort, nur wenige von solchem

Schlage in einem Staate sich befinden und die übrige

Bevölkerung ein vernünftig sittliches Leben führt, so

werden sie auswandern und bei einem anderen Tyrannen

Leibwächter werden oder als Hilfstruppen sich

verdingen, falls Krieg wäre; wenn sie aber in Friedens-

und ruhiger Zeit leben, so richten sie natürlich

Platon: Der Staat 551

daheim in ihrem Staate mancherlei kleine Übel an.

Was für welche meinst du denn?

Zum Beispiel Diebstähle, Einbrüche, Beutelschneidereien,

gewaltsame Kleiderräubereien (in Bädern

oder von Leichen), Tempelräubereien, Seelenverkäufereien;

bisweilen auch werden sie, wenn sie Fertigkeit

der Rede haben, sich zu hinterlistigen und bösartigen

Anklagen, zu falschen Zeugnissen, zu Bestechungen

hergeben.

Nur klein, sagte er, kannst du die Übel nennen,

wenn dergleichen Leute nur wenige sein sollten!

Ja, sagte ich, allerdings sind die von mir klein genannten

Übel im Vergleich zu großen klein, und alle

die hier aufgezählten Übel reichen bekanntlich, wenn

sie neben das einem Staate von einem wirklichen Tyrannen

zugefügte Verderbnis und Elend gestellt werden,

letzterem, wie man zu sagen pflegt, kaum das

Wasser. Denn wenn viele von solchem Charakter in

einem Staate von Geburt da sind und viele andere

auch sich ihnen zugesellen, und wenn diese dann sich

als die Mehrzahl fühlen, – so sind sie es dann sicherlich,

die mit Hilfe des Unverstandes des gemeinen

Volkes den Tyrannen erzeugen, und zwar den, der

ganz besonders von ihnen als Individuum den größten

und stärksten Tyrannen von Leidenschaft in seiner

Seele trägt.

Natürlich wohl, sagte er; denn er ist zum

Platon: Der Staat 552

wirklichen Tyrannen am besten gemacht.

Nicht wahr, falls sich die Leute nämlich gutwillig

unterwerfen; wenn es aber seine Mitbürgerschaft nicht

zugeben sollte, so wird er, wie er vormals Mutter und

Vater Gewalt antat, so auch hier wiederum sein Vaterland,

falls er es vermag, sich mit Gewalt unterwürfig

machen, indem er sich noch neue Helfershelfer zu

den vorigen dazu erwirbt, und er wird nun das ihm

längst befreundeteMutterland, wie die Kreter sich

ausdrücken, und Vaterland im Zustande der Sklaverei

haben und halten. Und das wäre denn das endliche

Ziel der Begierlichkeit eines solchen Individuums.

Ja, sagte er, das ist’s allerdings.

Nicht wahr, sprach ich weiter, im Bürgerstande und

ehe sie zum Herrscherthrone gelangen, zeigen die

eben beschriebenen tyrannischen Individuen folgenden

Charakter? Erstlich, was ihren Umgang betrifft,

so gehen sie entweder nur mit Schmeichlern und mit

Leuten um, die immer bereit sind, auf ihreWinke zu

warten; oder sie selbst, wenn sie etwas bedürfen, machen

schmeichelnde Bücklinge und nehmen alle möglichen

Freundschaftsmienen an, aber nach Durchsetzung

ihres Planes stellen sie sich wieder fremd!

Ja, gar sehr zeigen sie diesen Charakter.

In ihrem ganzen Leben also leben sie mit niemandem

je in wahrer Freundschaft, sondern sie bringen

ihr ganzes Leben hin, indem sie über einen den

Platon: Der Staat 553

Despoten spielen oder einem andren sklavisch kriechen;

wahre Freiheit und Freundschaft aber hat eine

tyrannische Natur in ihrem Leben nicht gekostet.

Ja, allerdings.

Daher werden wir erstlich solchen Leuten ganz

richtig das Prädikat perfid beilegen dürfen?

Jawohl!

Ferner Ungerechtigkeit im allerhöchsten Grade,

falls unsere früheren Bestimmungen über dasWesen

der Gerechtigkeit in Ordnung waren?

Und das waren sie doch! sagte er.

Laß uns also, fuhr ich fort, die Charakteristik des

moralisch schlechtestenMenschen noch einmal rekapitulieren:

seinWesen besteht darin, daß er wachend

so ist, wie der vorhin Beschriebene im Traume war.

Allerdings.

Und nicht wahr, dahin kommt es inWirklichkeit

bei jenem, der von Geburt aus die größten Anlagen zu

einer Tyrannenseele hat und auch auf den Thron einer

unumschränkten Alleinherrschaft gelangt, und je längere

Zeit er auf einem Tyrannenthrone sitzt, um so

mehr wird er so werden?

Notwendig, antwortete Glaukon, der hier wieder

dasWort nahm.

Wer sich, fuhr ich fort, als den moralisch Schlechtesten

gezeigt hat, wird sich an diesem nun auch zeigen,

daß er der Unglückseligste ist? Ferner daß der,

Platon: Der Staat 554

welcher am längsten auf einem Tyrannenthrone gesessen

hat, auch am längsten der Unglückseligste war,

wenn man die Sache im Lichte der philosophischen

Wahrheit besieht? Denn die große Menge hat hierüber

auch eine große Menge Ansichten.

Ja, sagte er, jene Fragen müssen notwendig bejaht

werden.

Nicht wahr, fragte ich nun, das ist erstlich eine ausgemachteWahrheit,

daß das tyrannische Individuum

dem tyrannisch beherrschten Staate ähnlich ist, das

demokratische dem demokratisch verwalteten, und so

weiter?

Ohne Zweifel.

Und nicht wahr, daraus folgt der Satz: In welchem

Verhältnisse ein Staat zu einem anderen hinsichtlich

Tugend und Glückseligkeit steht, in demselben steht

auch ein Individuum zu einem anderen?

Allerdings.

In welchem Verhältnisse steht nun in bezug auf Tugend

ein tyrannisch beherrschter Staat zum philosophisch-

königlich regierten, wie wir ihn in der ersten

Beschreibung hingestellt haben?

Gerade in dem entgegengesetzten, erwiderte er: der

eine ist der beste, der andere ist der schlechteste.

Ich will nicht fragen, fuhr ich fort, welchen von

beiden du so und welchen du so nennst, denn es versteht

sich von selbst; sondern ich frage jetzt nach

Platon: Der Staat 555

ihrem Verhältnisse in bezug auf Glückseligkeit und

Unglückseligkeit: lautet hier dein Urteil ebenso oder

anders? Und lassen wir uns hier nicht bestechen durch

den Anblick der einen Person des Tyrannen und der

wenigen ihn umlagernden Schranzen; sondern bedenke,

daß wir erst den gesamten Staat in Augenschein

nehmen, ja daß wir in jedenWinkel desselben hinabsteigen

müssen, und erst nach solchem Augenscheine

dürfen wir unsere Meinung aussprechen!

Ja, sagte er, diese deine feierliche Aufforderung ist

ganz am rechten Orte; und allerWelt muß es klar

sein, daß ein tyrannisch beherrschter Staat der allerunglücklichste,

dagegen ein philosophisch-königlicher

der allerglückseligste ist.

Nicht wahr, sprach ich weiter, es ist folglich auch

am rechten Orte, wenn ich auch in bezug auf die jenen

beiden Staaten entsprechenden Individuen dieselbe

feierliche Aufforderung tue und verlange, daß nur

jener ein Urteil über sie fällen könne, der imstande ist,

mit dem Blick seines Verstandes in das Gemüt eines

Menschen einzudringen und da eine genaue Besichtigung

anzustellen, und der nicht wie ein Kind beim äußeren

Anblick sich bestechen läßt von der hohen

Rolle der tyrannischen Individuen, die sie gegen die

Außenwelt annehmen: sondern der den durchdringenden

Blick eines reifen Verstandes hat? Wenn ich also

meinte, wir alle müßten hierin auf denjenigen hören,

Platon: Der Staat 556

der erstlich hier ein kompetentes Urteil hat, und der

zweitens mit einer Tyrannenseele unter demselben

Dache gewohnt hat und ihm zur Seite stand sowohl in

seinen häuslichen Handlungen im Verhalten zu seinen

Hausgenossen (wobei er am meisten von seinem theatralischen

Flitterstaat entblößt gesehen werden kann),

als auch gleicherweise in den Momenten wichtiger

Staatsunternehmungen, und wenn wir also einen Augenzeugen

aller dieser Talsachen den Urteilsspruch

verkünden ließen, in welchem Verhältnisse das tyrannische

Individuum in bezug auf Glückseligkeit und

Unglückseligkeit stände, – würde…

Ja, sagte er, auch diese feierliche Aufforderung

würde an ihrem Orte sein.

Wäre es dir nun genehm, fuhr ich fort, wir stellten

uns an, als gehörten wir zu den Richtern, die erstlich

hierin ein kompetentes Urteil haben, und die zweitens

auch mit solchen Individuen bereits Erfahrungen

machten, damit wir eine antwortende Person auf unsere

Fragen haben?

Jawohl.

Wohlan denn, sprach ich weiter, und hilf mir, die

dem Urteilsspruche vorauszuschickende genauere Untersuchung

auf folgendeWeise anstellen: Mit Erinnerung

an die Ähnlichkeit des Staates und des Individuums

schaue bei ihnen jedesmal herüber und hinüber

und berichte uns die Zustände jedes von beiden!

Platon: Der Staat 557

Welche Zustände denn? fragte er.

Wirst du erstlich, sagte ich, um mit dem Staate zu

beginnen, dem tyrannisch beherrschten Staate Freiheit

oder Knechtschaft beilegen?

Im höchsten Grade Knechtschaft, war seine Antwort.

Und doch kannst du in ihm Herren und Freie wahrnehmen.

Nur eine ganz kleineWenigkeit sehe ich davon,

sagte er; die Gesamtheit dagegen, darf man sagen,

und der edelste Teil schmachtet in schmählicher und

unseliger Knechtschaft.

Wenn nun, fuhr ich fort, ein individueller Mensch

diesem Staate ähnlich ist, muß in jenem nicht nach

einer notwendigen Folge dasselbe Verhältnis statthaben?

Muß nicht von Sklavensinn und Niederträchtigkeit

seine Seele gebeugt sein, und müssen nicht jene

Seelenbestandteile, die ursprünglich die edelsten

waren, in Sklaverei sich befinden, während dagegen

der geringste, schlechteste und tollste Teil über jene

den Herrscherstab schwingt?

Ja, notwendig, sagte er.

Wie sieht es also aus? Wirst du die Eigenschaft der

knechtischen Sklaverei oder die der edlen Freiheit

einer solchen Seele beilegen?

Ich meinerseits lege ihr die der knechtischen Sklaverei

bei.

Platon: Der Staat 558

Der in Sklaverei und in Tyrannei sich befindende

Staat kann fürs zweite am allerwenigsten tun, was er

vernünftig will, nicht wahr?

Kein Zweifel.

Sonach wird auch die tyrannisch beherrschte Seele,

wenn von der ganzen die Rede ist, am allerwenigsten

tun können, was sie vernünftig wollen sollte: immer

von einem Stachel fortgetrieben, muß sie immer voll

Schrecken und Reue sein.

Ja, das muß sie.

Fürs dritte: Reich oder arm ist nach notwendiger

Folge der tyrannisch beherrschte Staat?

Arm.

So muß demnach auch die tyrannisch beherrschte

Seele immer arm und heißhungrig sein.

Ja, sagte er.

Viertens: Muß nicht ferner der hier gemeinte Staat

und das ihm entsprechende Individuum auch notwendig

von Furcht erfüllt sein?

Ja, in hohem Grade.

Fünftens: Klagen, Seufzer, Tränen und Herzenskummer,

– wird man die wohl in einem anderen Staate

häufiger antreffen?

Keineswegs.

Was nun wieder das Individuum anlangt, sind nach

deiner Ansicht dergleichen Unheilszustände in einem

anderen häufiger vorhanden als bei dem, das vor

Platon: Der Staat 559

Begierden und Liebschaften den Verstand verloren

hat, d.h. bei dem tyrannischen?

Unmöglich, sagte er.

In Rücksicht auf diese und dergleichenWahrnehmungen

hast du also, glaube ich, den hier in Rede stehenden

Staat unter den Staaten für den unseligsten erklärt?

Und nicht mit Recht? fragte er.

Ja, sicher, antwortete ich; aber was hast du für ein

Urteil andererseits über das tyrannische Individuum

im Hinblick auf eben dieselbenWahrnehmungen?

Daß es unter allen übrigen, sagte er, bei weitem das

unglückseligste ist.

Dieser Ausdruck, bemerkte ich, ist hier noch nicht

am rechten Platze.

Warum? fragte er.

Jener ist, sagte ich, meiner Meinung nach noch

nicht der unglückseligste im höchsten Grade!

Aber wer denn sonst?

Folgender scheint dir vielleicht noch unglücklicher

zu sein als jener…

Welcher?

Wer, fuhr ich fort, von Geburt mit einer Tyrannenseele

begabt kein bürgerliches Leben verlebt, sondern

das Unglück hat und von irgend einem schlimmen Zufall

die Gelegenheit bekommt, zu einem Tyrannenthrone

zu gelangen.

Platon: Der Staat 560

Ja, sagte er, ich vermute aus den vorhergehenden

Andeutungen, daß du recht hast.

Gut, sagte ich, aber in dergleichen Dingen darf man

sich nicht mit Mutmaßungen begnügen, sondern muß

sie noch recht gründlich einer entsprechenden Untersuchung

unterwerfen; denn sie betrifft den allerwichtigsten

Gegenstand in derWelt: Himmel oder Hölle

des Lebens.

Ja, ganz recht, sagte er.

So gib denn acht, ob ich gründlich verfahre: Mich

deucht nämlich, wir müßten den Zustand jenes wirklichen

Tyrannen gründlich einsehen, wenn wir bei unserer

Untersuchung von dem Standpunkte folgender

Leute ausgehen…

Vom Standpunkte welcher Leute denn?

Von dem jedes Einzelnen der Menschen im Privatleben,

die als reiche Leute in Städten eine Menge von

Sklaven besitzen; denn diese haben darin wenigstens

mit den Tyrannen eine Ähnlichkeit, daß sie über viele

herrschen, nur die Zahl ist bei jenen größer.

Ja, das ist der Unterschied.

Dir ist doch bekannt, daß diese Leute ganz getrost

leben und vor ihren Hausgenossen gar keine Furcht

haben?

Was sollten sie auch fürchten?

Gar nichts, erwiderte ich; und du siehst auch die

Ursache hiervon ein?

Platon: Der Staat 561

Freilich, weil ja die ganze Stadt jedem Einzelnen

der Privaten Beistand leisten kann.

Richtig bemerkt, sagte ich; aber wie wird die Sache

in folgendem Falle stehen? Wenn irgend einer der

Götter einen einzigen Mann, der fünfzig oder mehrere

Sklaven hätte, samt Frau und Kindern aus der Stadt

nähme und ihn mit seiner übrigen Habe und seiner

Sklavenzahl in eineWüste versetzte, wo ihm gar niemand

von den freien Menschen im Falle der Not zu

Hilfe kommen könnte: in welcher und in wie großer

Todesfurcht über sich, über Kinder und Frau wird

dann dieser sich deines Erachtens vor seinen Sklaven

befinden?

In der allerärgsten, meine ich, war seine Antwort.

Nicht wahr, er würde in die Notwendigkeit versetzt

werden, nunmehr einigen selbst aus der Zahl der Sklaven

zu schmeicheln, mancherlei Versprechungen zu

machen, die Freiheit zu schenken, und zwar ohne

allen Grund, und müßte nicht er, der Herr, sich als

einen Schmeichler seiner Sklaven bloßstellen?

Ja, sagte er, das müßte er unbedingt tun, oder er

müßte zugrunde gehen.

Wie würde es aber endlich aussehen, fuhr ich fort,

wenn jener Gott noch viele andere als Nachbarn rings

um ihn ansiedelte, die es nicht ertragen könnten, daß

ein Mensch über seinen Mitmenschen den willkürlichen

Herrn zu spielen sich anmaße, sondern, wenn sie

Platon: Der Staat 562

irgend so einen erwischten, mit den äußersten Strafen

dafür an ihm Rache nähmen?

Er würde, sagte er, wohl noch tiefer in dem ärgsten

Elende sich befinden, wenn er ringsum von lauter

Feinden bewacht würde.

Liegt nun nicht in einem ähnlichen Gefängnisse der

mit einem angeborenen Charakter der oben beschriebenen

Art behaftete, von vielen und allerlei Ängsten

und heißen Gelüsten erfüllte Tyrann, während er, von

Natur voll von Vorwitz, allein von allen Bürgern der

Stadt nirgendwohin verreisen noch sein Auge mit dem

Anblicke von Festlichkeiten ergötzen kann, nach

denen bekanntlich die übrigen Freien doch so große

Lust haben, sondern, in seinem Hause vergraben, die

größte Zeit seines Lebens wie einWeib hinbringen

muß, mit Neid im Herzen über die übrigen Bürger,

wenn einer außer Land sich begibt und etwas Herrliches

sieht?

Ja, sagte er, allerdings ist er ein solcher Gefangener.

Nicht wahr, um solche Maße von Übeln leidet ein

Individuum noch mehr, das bei einer moralisch

schlechten, d.h. dem tyrannischen Staate entsprechenden

Verfassung seines Inneren (die du vorhin schon

für das größte Unglück erklärtest) nicht im bürgerlichen

Stande sein Leben verbringt, sondern von irgend

einem Geschicke veranlaßt wird, einen wirklichen

Platon: Der Staat 563

Tyrannenthron zu besteigen und, unfähig, sich selbst

zu beherrschen, über andere zu herrschen sich unterfangen

sollte: was gerade so wäre, wie wenn jemand

mit einem krankenden, seiner selbst nicht mächtigen

Körper nicht im stillen Bürgerleben bliebe, sondern

sich veranlassen ließe, sein Leben in körperlichen

Wettkämpfen und auf dem Schlachtfelde hinzubringen.

Ja, Sokrates, sagte er, ganz treffend und wahr ist

dein Bild hier.

Nicht wahr, Freund Glaukon, fuhr ich fort, das ist

nun erst der unglückseligste Zustand im höchsten

Grade: im Vergleich zu dem von dir für den unglücklichst

Lebenden erklärten Menschen lebt noch weit

unglücklicher die auch auf einem Tyrannenthrone sitzende

Tyrannenseele?

Ja, offenbar, sagte er.

Es ist also in derWirklichkeit, selbst wenn er vor

manchem Auge einen anderen Schein verbreitete, der

auf einem wirklichen Tyrannenthrone sitzende Tyrannenmensch

ein wirklicher Sklave im Dienste der

größten Augendienerei und Sklaverei und ein

Schmeichler gegen die Verworfensten; sodann kann er

seine Begierden durchaus nicht befriedigen: im Gegenteil,

wenn man seine gesamte Seele zu durchschauen

versteht, so ist einem klar, daß er an den meisten

Dingen den größtenMangel leidet, daß er in

Platon: Der Staat 564

Wahrheit arm ist, daß er sein ganzes Leben lang gedrückt,

daß er von dem Stachel seiner Begierden beständig

gefoltert und gepeinigt wird, wofern er ein

Bild der Verfassung des von ihm beherrschten Staates

ist, der er doch ganz gleicht, nicht wahr?

Ja, sicher, sagte er.

Nicht wahr, und zu diesen inneren Seelenqualen

müssen wir nun demManne auch die noch hinzufügen,

welche wir vor seiner Thronbesteigung erwähnten,

daß er nämlich ursprünglich neidisch, perfid, ungerecht,

freundlos, gottlos, jeder Schlechtigkeit Hehler

und Pfleger sein und es infolge seiner Tyrannenschaft

immer mehr als früher werden müsse, lauter

moralische Übel, wodurch er selbst nicht nur der Allerunglücklichste

ist, sondern auch nachher seine Umgebung

dazu macht?

Keiner der Verständigen, meinte er, wird dir widersprechen.

Wohlan denn, sprach ich weiter, und gib nun einmal,

wie z.B. der oberste Kampfrichter beidenWettspielen

tut endlich mir die Entscheidung, wer nach

deiner Ansicht in der Glückseligkeit den ersten Rang

hat, wer den zweiten, und weise sofort den übrigen

nach einander, zusammen fünf an der Zahl, nach deiner

Entscheidung den verdienten Platz an: dem philosophisch-

königlichen, dem timokratischen, dem oligarchischen,

dem demokratischen und dem

Platon: Der Staat 565

tyrannischen Individuum!

Aber diese Entscheidung, sagte er, ist nicht schwer;

denn gerade wie sie aufgetreten sind, so gebe ich

ihnen wie Chören ihren Platz: in welchem Range

einer in bezug auf moralische Tüchtigkeit und

Schlechtigkeit steht, in demselben Range steht er auch

in bezug auf Glückseligkeit und Unglückseligkeit.

Wollen wir nun einen Herold mieten, fuhr ich fort,

oder soll ich selbst diese endliche Entscheidung ausrufen:

»Der Sohn des Ariston erklärte den moralisch

besten und gerechtesten Menschen auch allemal für

den glückseligsten. Unter jenem versteht er aber den,

der das treueste Bild des philosophischköniglichen

Staates und König über seine eigene Begierlichkeit

ist; dagegen ist der moralisch schlechteste und ungerechteste

auch allemal der unseligste; dieser aber ist

andererseits der, der die meisten Anlagen zu einem

Tyrannen hat und sowohl sein Inneres wie auch den

Staat tyrannisch beherrscht.«

Ja, sagte er, dein Ausruf soll gelten.

Oder muß ich, fragte ich, infolge des Resultates unserer

Untersuchung dem Ausrufe deines Urteiles noch

beifügen: »Mögen solche Menschen allen Göttern und

Menschen verborgen bleiben oder nicht?«

Ja, das mußt du, sagte er.

Gut also denn! sprach ich weiter. Da haben wir einmal

den ersten Beweis unseres Satzes; ein zweiter

Platon: Der Staat 566

soll, wenn es dir gefallen sollte, folgender sein…

Welcher ist dies?

Da, wie bekannt, erwiderte ich, auch die Seele

jedes einzelnen Menschen drei Bestandteile hat, gerade

wie ein Staat in drei Stände sich zerlegt, so läßt

dieser psychologische Gesichtspunkt auch noch eine

andere, von der ersten verschiedene Beweisführung

zu.

Welche meinst du denn damit?

Folgende: Da es drei Seelenbestandteile gibt, so ergeben

sich hieraus auch bei mir dreifache Vergnügungen,

für jeden einzelnen Bestandteil eine eigene besondere;

dann ebenso viele Bestrebungen und vorherrschende

Richtungen der drei Seelenbestandteile.

Wie meinst du das? fragte er.

Der eine Seelenbestandteil, lehren wir, ist der,

womit ein Mensch nachWissenschaft strebt; der

zweite, das Zornmütige, wodurch er das Feuer seines

heftigen Gemüts namentlich im Zorn äußert; den dritten

konnten wir wegen seiner Vielgestaltigkeit mit

einem ihm eigentümlichen Namen nicht benennen,

sondern wir gaben ihm den Namen von dem größten

und stärksten Triebe, den er in sich enthielt: der »begehrliche

« heißt er nämlich bei uns wegen seiner Heftigkeit

in den auf Speise, Trank, Liebesgenuß und

sonst auf dergleichen bezüglichen sinnlichen Begierden;

ferner heißt er bekanntlich auch der

Platon: Der Staat 567

»geldgierige«, weil sich durch Geld am meisten befriedigen

lassen dergleichen Begierden.

Und ganz mit Recht, sagte er, heißt dieser dritte

Seelenbestandteil so.

Nicht wahr, wenn wir in bezug auf dessen Lust und

Liebe sagten, daß sie besonders auf den Gewinn gehe,

so würden wir demnach uns auch auf eine hervorstechende

Haupteigenschaft bei diesem Ausdrucke stützen,

um für uns selbst eine Bezeichnung zu haben,

sooft wir diesen Seelenbestandteil ausdrücken wollen,

und wenn wir ihn daher den geld- und gewinngierigen

nennen, so hat diese Benennung ihre Richtigkeit?

Ja, sagte er, ich wenigstens glaube es.

Wie sieht es ferner mit dem feurigen und zornmütigen

Seelenbestandteil aus? Von ihm dürfen wir sagen,

daß die Lust seiner Bestrebung im allgemeinen immer

aufMachthaben, Siegen und Berühmtsein gerichtet

sei?

Ja, sicher.

Wenn wir ihn demnach den sieg- und ehrgierigen

nennten, würde dieser Name wohl treffend sein?

Ja, ganz treffend.

Drittens endlich, in betreff des Seelenteiles, womit

wir lernen, ist doch aller Welt offenbar, daß sein Vergnügen

auf dasWissen der eigentlichen und ewigen

Wahrheit ganz und gar immer hinzielt, und daß diesem

unter jenen Seelenteilen am wenigsten an Geld

Platon: Der Staat 568

und Ruhm gelegen ist?

Bei weitem am wenigsten.

Wenn wir ihn nun den lern- und wißbegierigen

hießen, so würden wir ihm seine charakteristische Benennung

geben?

Allerdings.

Nicht wahr, fuhr ich fort, und die vorherrschende

Richtung hat in den Seelen bei einigen bald dieser,

bei einigen ein anderer jener Seelenbestandteile, wie

es sich eben trifft?

So ist’s, sagte er.

Aus diesen Gründen dürfen wir offenbar nun auch

behaupten, daß es vornehmlich drei Arten von Menschen

gebe: eine wißbegierige, eine siegbegierige,

eine gewinnbegierige?

Ja, gewiß.

Und also auch drei Arten von Seelenvergnügungen,

d.h. jeder jener drei Menschenarten steht eine Art von

Vergnügen zu Gebote?

Ja, gewiß.

Wenn du nun, fuhr ich fort, drei solche Menschen,

der Reihe nach einen jeden einzeln, fragen wolltest,

welche von jenen Lebensarten die vergnügteste sei, –

so weißt du, daß ein jeder die seinige besonders herausstreichen

würde? Der Geldgierige wird behaupten,

daß im Vergleiche mit dem Vergnügen bei dem Gewinnen

das Vergnügen des Geehrtseins und das des

Platon: Der Staat 569

Studierens gar nichts wert sei, ausgenommen wenn

eins davon Geld eintrage.

Richtig, sagte er.

Und was wird der Ehrbegierige sagen? fragte ich.

Wird er nicht das Vergnügen am Gelde für ein niederträchtiges,

und so auch das aus dem Studieren entspringende,

falls nicht eineWissenschaft auch Ehre

mit sich brächte, für Rauch und Tand erklären?

Ja, so geht’s, war seine Antwort.

Und endlich derWißbegierige, fuhr ich fort, wofür

müssen wir glauben, daß der alle übrigen Vergnügen

hält im Vergleich mit dem Vergnügen, dasWesen der

Wahrheit zu erkennen und in einem solchen Gegenstande

immer mit dem Forschen danach beschäftigt zu

sein? Wird er nicht die übrigen Vergnügen von dem

eigentlichen Vergnügen himmelweit entfernt halten?

Und wird er die Vergnügen der anderen nicht in der

Tat nur »notdürftige« nennen, weil er die übrigen gar

nicht brauchte, wenn keine Notdurft dazu zwänge?

Da brauchen wir nicht zu glauben, sagte er, das

müssen wir als Philosophen wohl wissen.

Wenn nun bei solcher Bewandtnis, sprach ich weiter,

die Vergnügungen und die Lebensweise selbst

jeder dieser Menschenarten mit einander in Streit geraten,

ich will nicht sagen in bezug auf die Frage, wer

moralischer und unmoralischer, wer schlechter und

besser lebe, sondern rein hinsichtlich des größeren

Platon: Der Staat 570

subjektiven Vergnügens und geringeren Schmerzes:

wie könnten wir da wissen, wer von ihnen am meisten

recht hat?

Darauf, sagte er, weiß ich keine rechte Antwort zu

geben.

Nun, so sieh einmal die Sache von folgender Seite:

Mit was muß man die Dinge beurteilen, die richtig

beurteilt werden sollen? Nicht etwa mit Erfahrung

sowie mit der Tätigkeit des Geistes und mit Verfahren

durch Begriffe? Oder könnte jemand noch ein besseres

Beurteilungsmittel besitzen als diese hier genannten?

Unmöglich, sagte er.

So gib nun acht: Wenn von den erwähnten drei

Klassen drei Menschen vorhanden wären, – welcher

wird da in den sämtlichen Vergnügungen, von denen

wir sprachen, erfahrener sein? Scheint dir etwa der

Gewinngierige durch das Studium der reinen Wahrheit

erfahrener zu sein in dem aus demWissen entspringenden

Vergnügen, als derWißbegierige in dem

aus dem Gewinnen entspringenden Vergnügen?

Da ist ein großer Unterschied, sagte er: denn bei

demWißbegierigen war von Jugend auf ein unwillkürlicher

Naturzwang vorhanden, sich von den Vergnügungen

seines Gegners einen Geschmack zu verschaffen;

bei dem Gewinngierigen dagegen ist kein

Naturzwang vorhanden, das wahreWesen der Dinge

Platon: Der Staat 571

zu studieren und von dem daraus entstehenden Vergnügen

sich einen Geschmack oder eine Erfahrung zu

verschaffen, wie süß es ist: im Gegenteil, auch bei

allem Fleiß und Eifer würde es ihm doch nicht leicht

fallen.

Bei weitem übertrifft also, sagte ich, der Wißbegierige

den Gewinngierigen an Erfahrung in den beiderseitigen

Vergnügungen.

Ja freilich, bei weitem.

Und ferner, wie verhält er sich in dieser Beziehung

zum Ehrgierigen? Wird er, derWißbegierige, unerfahrener

sein in dem aus dem Geehrtwerden entspringenden

Vergnügen, als jener es in dem vomWeisesein

entstehenden ist?

Nein, sagte er, denn Ehre folgt allen von selbst,

wenn ein jeder sich in der Tätigkeit auszeichnet, der

er sich hingegeben hat: denn so wird z.B. der Reiche

von vielen geehrt, so der physisch Starke, so der Lebens-

und Staatskluge, woraus also folgt, daß, was

das Geehrtwerden anbelangt, alleWelt wohl von dem

daraus entspringenden Vergnügen erfährt, was es für

ein Ding ist; aber von dem aus dem Schauen des wahren

Seins der Dinge hervorgehenden Vergnügen zu

kosten ist keinem anderen möglich als demWißbegierigen.

Was also erstlich Erfahrung betrifft, sagte ich, so

urteilt dieser unter jenen drei Menschen am

Platon: Der Staat 572

richtigsten.

Bei weitem.

Zweitens wird er nur seine überlegene Erfahrung

haben können in Verbindung mit der denkenden Tätigkeit

seines Geistes.

Wie sonst?

Und drittens endlich dasWerkzeug, womit man urteilen

muß, dies befindet sich nicht bei dem Gewinngierigen,

nicht bei dem Ehrgierigen; sondern es befindet

sich nur bei demWißbegierigen.

Was ist das für einWerkzeug?

Mittels Begriffen, sagten wir doch, müsse geurteilt

werden, nicht wahr?

Ja.

Begriffe sind aber vorzüglich bei demWißbegierigen

dasWerkzeug, womit er seinen Beruf erfüllt.

Allerdings.

Nicht wahr, wenn durch Reichtum und Gewinn die

Dinge sich am besten beurteilen ließen, so würde notwendig

das am wahrsten sein, was der Gewinngierige

lobt und tadelt?

Ja, dann ganz notwendig.

Ferner, wenn durch Ehre sowohl wie durch Sieg

und durch physische Mannesstärke, – nicht wahr, in

diesem Falle würde dann das am wahrsten sein, was

der Ehr- und Siegbegierige lobt und tadelt?

Offenbar.

Platon: Der Staat 573

Nicht wahr, dieweil aber nun es durch Erfahrung,

durch denkende Tätigkeit des Geistes und durch das

Vermögen des Verstandes, mit Begriffen zu verfahren,

geschieht, so muß…?

… notwendig, sagte er, das dasWahrste sein, was

der Freund desWissens und der Verstandestätigkeit

in seinem Lobe erhebt.

Unter den drei möglichen Vergnügen also wäre das

jenes Seelenbestandteiles, wodurch wir nachWissen

streben, das allervergnügteste, und das Leben dessen,

in dem von uns Menschen jener wißbegierige Seelenbestandteil

das Regiment führt, auch das allervergnügteste?

Warum sollte es das nicht sein? meinte er. Als

kompetenter Schätzer schätzt ja seine eigene Lebensweise

der denkende Freund desWissens!

Welcher Lebensweise aber, fragte ich weiter, und

welchem Vergnügen weist der Richter den zweiten

Rang zu?

Offenbar dem des Kriegshelden und Ehrgierigen;

denn es steht dem jenesWißbegierigen näher als das

des Geldgierigen.

Den allerletzten Rang also demzufolge dem Vergnügen

des Gewinngierigen.

Wie anders? sagte er.

Dies wären also zwei Beweise hinter einander, und

zweimal hätte der Gerechte über den Ungerechten den

Platon: Der Staat 574

Sieg davongetragen; zum dritten, zu guter Letzt, auf

olympischeWeise dem rettenden und olympischen

Zeus die schuldige Dankspende weihend, sieh nun,

daß das Vergnügen der übrigen Menschenarten, das

des vernünftigen Freundes desWissens ausgenommen,

gar kein echtes, kein reines, sondern nur ein

Schatten von Vergnügen ist, wie ich von einem der

Weisen gehört zu haben glaube. Und dies würde dann

doch die größte und entscheidendste der Niederlagen

sein.

Ja, freilich, aber welchen Beweis meinst du hiermit?

Ich werde ihn, sagte ich, auf folgendeWeise finden,

indem du durch Antworten zugleich suchen

hilfst.

So frage denn! sagte er.

Nun, so antworte mir, sprach ich: Geben wir zu,

daß Schmerz das Gegenteil von Vergnügen sei?

Ja, sicher.

Nicht wahr, auch weder Freude noch Schmerz zu

haben, ist etwas?

Ja, freilich.

Als Mittelding zwischen beiden (Freude und

Schmerz) eine gewisse Pause hinsichtlich dieser Zustände

der Seele? Oder nennst du es nicht so?

Ja, sagte er.

Erinnerst du dich da nicht, fuhr ich fort, der Reden

Platon: Der Staat 575

der Kranken, die sie imMunde führen, wenn sie

krank daniederliegen?

Welcher Reden denn?

Wie doch gar kein Vergnügen über die Gesundheit

gehe; ja vor ihrer Krankheit hätten sie gar nicht gewußt,

daß die Gesundheit das süßeste Vergnügen sei.

Ja, sagte er, ich erinnere mich.

Nicht wahr, auch die, welche von einem heftigen

Schmerz befallen sind, hörst du sagen, daß nichts angenehmer

sei, als wenn der Schmerz aufhört?

Ja.

Auch viele andere ähnliche Lagen der Menschen

nimmst du wohl wahr, bei welchen sie imMomente

des Schmerzes den schmerzenlosen Zustand und die

Ruhe hiervor als das größte Vergnügen preisen, nicht

den Zustand der Freude.

Ja, sagte er, freilich ist dieser Zustand, die Ruhe, in

jenemMomente wohl ein Vergnügen und der Gegenstand

des sehnlichsten Verlangens.

Ferner, wenn einer aufhört, Freude zu empfinden,

so wird ihm bekanntlich die Ruhe vom Vergnügen

auch schmerzlich sein.

Allerdings, sagte er.

Was nach unserer Erklärung von vorhin in der

Mitte von beiden lag, die Ruhe, das wird demnach zuweilen

beides sein, Schmerz und Vergnügen.

Ja, wie es scheint.

Platon: Der Staat 576

Ist es aber nur möglich, daß das, was keines von

beiden ist, beides werde?

Ich meine, nicht.

Noch ein weiterer Grund: Das Vergnügende wie

das Schmerzliche sind doch bei ihrer Entstehung in

der Seele eine Art von Bewegung, oder nicht?

Ja.

Der weder schmerzliche noch vergnügte Zustand,

zeigte der sich licht doch eben als Ruhe und in der

Mitte von beiden befindlich?

Ja, freilich.

Wie kann es nun richtig sein, vernünftigerweise

Schmerzlosigkeit für ein Vergnügen zu halten und

Freudlosigkeit für etwasWiderwärtiges?

Keineswegs.

Dieser Mittelzustand, die Ruhe, fuhr ich fort, ist

also nicht wirklich, sondern scheint nur ein Vergnügen

im Vergleich mit dem Schmerzlichen, und scheint

etwas Schmerzliches im Vergleich mit dem Vergnügenden,

und bei allen diesen Erscheinungen gibt es

mit bezug auf wirkliches Vergnügen gar nichts Reelles,

sondern nur ein eitles Gaukelspiel.

Ja, sagte er, wie wenigstens unsere Schlußweise

hier dartut.

Damit du nicht, sagte ich weiter, noch etwa im Augenblick

an der Meinung hängen bleibst, Vergnügen

und Schmerz hätten von Natur ihrWesen darin, daß

Platon: Der Staat 577

jenes im Aufhören von Schmerz und dieser im Aufhören

von Vergnügen bestehe, so schaue denn nun noch

auf Vergnügungen, die nicht aus Schmerzen entspringen!

Wohin denn soll ich schauen, fragte er, und was für

welche meinst du?

Es gibt deren viele andere, erwiderte ich; besonders

aber kannst du es sehen, wenn du die Vergnügungen

bei den Gerüchen in Betracht ziehen willst. Denn

diese kommen einem ohne vorhergegangenen

Schmerz plötzlich in außerordentlicher Größe und

hinterlassen, wenn sie aufhören, keinen Schmerz.

Ganz richtig, sagte er.

Demnach also dürfen wir uns nicht weismachen,

reines echtes Vergnügen bestehe in Entledigung von

Schmerz, auch nicht, Schmerz bestehe in Entledigung

von Vergnügen.

Nein, das dürfen wir nicht.

Aber, fuhr ich fort, von den durch den Körper zur

Seele gelangenden sogenannten Vergnügungen sind

freilich die meisten und größten von der eben erwähnten

Art, nämlich nichts anderes als gewisse Befreiungen

von Schmerzen.

Ja, freilich sind sie das.

Und nicht wahr, die vor dem Eintreten dieser aus

Erwartung entstehenden Vorfreuden und Vorschmerzen

verhalten sich ebenso?

Platon: Der Staat 578

Ebenso.

Weißt du nun, fuhr ich fort, wie die sämtlichen körperlichen

Vergnügen beschaffen sind und womit sie

die größte Ähnlichkeit haben?

Womit? fragte er.

Du bist doch, sagte ich, der herkömmlichen Meinung,

daß es in der Welt ein Oben, ein Unten und

eine Mitte gibt?

O ja.

Glaubst du nun, es werde jemand, wenn er von dem

Unten zur Mitte emporgebracht würde, etwas anderes

meinen, als daß er nach dem Oben gebracht würde?

Und wenn er in der Mitte stände und hinabschaute,

woher er heraufgefahren, wird er anderswo sich zu befinden

meinen als in dem Oben, wenn er das wahre

Oben noch nicht gesehen hat?

Nein, wahrhaftig, antwortete er, bei Zeus, ich glaube

nicht, daß er eine andere Meinung hat.

Und wenn er, sagte ich weiter, wieder nach Unten

gebracht würde, so würde er auch glauben, nach

Unten gebracht zu werden, und diesmal auch richtig

glauben?

Ohne Zweifel.

Nicht wahr, jene leidigen Erfahrungen müßte er

machen, weil er keine Kunde vom wahrhaft Oben,

Mitten und Unten hat?

Ja, offenbar.

Platon: Der Staat 579

Kann es dir demnach noch auffallen, wenn auch

des wahrenWesens der Dinge Unkundige überhaupt

in vielen anderen Stücken keine gesunden Vorstellungen

haben, insbesondere in bezug auf Vergnügen,

Schmerz und das Mittelding zwischen ihnen sich in

einer solchen Lage befinden, daß sie nur dann, wenn

sie in das Schmerzliche versetzt werden, eineWahrheit

glauben und in der Tat Schinerz empfinden; daß

sie aber, wenn sie von Schmerz in den Mittelzustand

versetzt werden, den festesten Glauben haben, sie

seien bei der Stillung ihrer Lust und Vergnügung angelangt:

daß sie also aus Unerfahrenheit in dem wahren

Vergnügen bei der Vergleichung der Schmerzlosigkeit

mit dem Schmerze sich ebenso täuschen, wie

es Leuten aus Unbekanntschaft mit der weißen Farbe

geht, wenn sie graue gegen schwarze betrachten?

Nein, wahrhaftig, sagte er, ich kann es nicht mehr

auffallend finden; ich würde es vielmehr auffallend

finden, wenn es nicht so wäre.

Bedenke die Sache, fuhr ich fort, nun noch aus folgendem

Gesichtspunkte: Sind nicht Hunger und Durst

gewisse Leerheiten des körperlichen Zustandes?

Was denn sonst?

Und sind nicht Unwissenheit und Unverstand

gleichfalls auch eine Leerheit in bezug auf den Seelenzustand?

Ja, sicher.

Platon: Der Staat 580

Angefüllt würde also sowohl, wer Speise zu sich

nimmt, als auch, wer Verstand bekommt?

Ohne Zweifel.

In welchem Falle hat aber nun Anfüllung in einem

wirklicheren Grade statt: wenn sie mit etwas von höherem

Sein oder wenn sie mit etwas von minder reellem

Sein geschieht?

Offenbar, wenn sie mit etwas von höherem Sein geschieht.

Welche von beiden Hauptlebensbedingungen

scheinen nun nach deiner Meinung des höheren reinen

Seins teilhaftiger zu sein: etwa die wie Brot, Trank,

Fleisch, überhaupt sämtliche leibliche Nahrung; oder

das, was in sich begreift wahre Vorstellung,Wissenschaft,

Vernunfteinsicht und überhaupt wiederum jede

geistige Stärkung! Bilde aber dein Urteil hier auf folgendeWeise:

Das an das immer Gleichbleibende, Unsterbliche

und an die ewigeWahrheit sich Haltende,

das selbst so Beschaffene und in einem solchen Entstehende,

ist das ein wesenhafteres Sein als das mit

dem niemals sich Gleichbleibenden und Vergänglichen

Verwandte, selbst so Beschaffene und auch in

einem solchen Entstehendes.

Ein weit wesenhafteres Sein, sagte er, hat das mit

dem ewig Gleichbleibenden Verwandte.

Ist nun das Sein des nicht Gleichbleibenden teilhaftiger

des ewig wesenhaften Seins als die

Platon: Der Staat 581

Wissenschaft?

Keineswegs.

Ferner teilhaftiger als ewigeWahrheit?

Auch das nicht.

Wenn aber weniger teilhaftig anWahrheit, nicht

auch weniger teilhaftig an ewig wesenhaftem Sein?

Notwendig.

Nicht wahr, man kann demnach überhaupt den Satz

aufstellen: Die auf die Nahrung des Körpers gehenden

Lebenbedingungen sind weniger derWahrheit und

des wesenhaften Seins teilhaftig als die Lebensbedingungen,

die sich andererseits auf die Nahrung der

Seele beziehen?

Ja, bei weitem.

Und glaubst du nicht dasselbe vom menschlichen

Körper selbst im Vergleich mit der Seele?

Ja.

Nicht wahr, daraus folgt, daß das, was sich nur von

Dingen höheren Seins anfüllen läßt und selbst ein höheres

wesenhafteres Sein ist, auch wesenhafter und in

höherem Grade angefüllt wird im Vergleich mit dem,

was sich mit Dingen geringeren Seins anfüllt und

selbst auch ein geringeres Sein ist?

Ohne Zweifel.

Wenn das Angefülltwerden mit dem seiner Natur

Zuträglichen Vergnügen heißt, so muß demnach auch

das wesenhaft und von Dingen höheren Seins

Platon: Der Staat 582

Angefüllte durch wahres Vergnügen eine wesenhaftere

und wahrere Freude gewähren; dagegen kann das

an minder echtem Sein Teilnehmende auch minder

wahr und solid angefüllt werden und daher auch nur

an einem minder haltbaren und minder wahren Vergnügen

teilhaben.

Ja, ganz notwendig, sagte er.

Diejenigen also, welche im Reich des Gedankens

und der geistigen Stärkung Fremdlinge, bei Schmausereien

aber und dergleichen Freuden des Fleisches

immer zu Hause sind, die bewegen sich also nach unserer

Sprache nur nach Unten, von da wiederum nach

der Mitte und fahren in dieser Region ihr ganzes

Leben lang herum; über diese hinaus zu dem wahrhaft

Oben haben sie weder je aufgesehen noch darauf einmal

losgesteuert, haben niemals sich mit dem höheren

wesenhaften Sein wirklich angefüllt, nie ein unvergängliches

und reines Vergnügen gekostet: sondern

nach Art der Rinder immer mit dem Blicke nach

Unten gerichtet, zur Erde und zur Krippe gebückt, liegen

sie nur auf denWeideplätzen, indem sie sonst

nichts tun als sich den Magen anfüllen, sich bespringen,

wegen des gegenseitigen Wegschnappens dieser

Genüsse mit eisernen Hörnern und Hufen sich stoßen,

treten und infolge der Unersättlichkeit ihrer Begierden

sich den Tod antun, eben weil sie mit den Dingen besseren

Seins nicht sich, nicht das bessere Sein ihres

Platon: Der Staat 583

Selbsts, nicht den das wahrhafte Sein festhaltenden

Teil ihrer Seele angefüllt haben.

Ganz wie durch prophetische Eingebung, sagte

Glaukon, schilderst du, Sokrates, das Leben des großen

Sünderhaufens!

Ist hiervon nicht notwendige Folge, daß sie nur

Vergnügen nachlaufen, die, mit Schmerzen gemischt,

nur Trug- und Schattenbilder des wahren Vergnügens

sind und nur durch Nebeneinanderstellung von Freuden

und Schmerzen eine reizende Farbe bekommen,

so daß beide unwiderstehlich scheinen, den Unverständigen

wütende Gelüste zu sich einflößen und ein

Gegenstand des Streites werden, so wie etwa das

Trugbild von der Helena nach dem Berichte des Stesichoros

auch aus Unbekanntschaft mit dem wahren

Originale der Gegenstand des Kampfes wurde?

Ja, sagte er, ganz notwendig muß es so gehen.

Ferner, wie wird’s mit dem zornmütigen Seelenbestandteil

und seinen Vergnügen stehen? Müssen nicht

notwendig zwar andere, aber ähnliche Folgen sich

einstellen, wenn er eben diesem Seelenteile allein

frönt und entweder neidisch aus Ehrgeiz, oder gewalttätig

aus Siegeslust, oder rachsüchtig aus Reizbarkeit,

der Stillung seines Durstes nach Ehre und Sieg, nach

Rache usw. nachrennt, ohne Zuziehung von Vernunft

und Überlegung?

Ja, sagte er, dergleichen Folgen müssen notwendig

Platon: Der Staat 584

auch in bezug auf diesen Seelenbestandteil sich einstellen.

Nach Darlegung der Nichtigkeit der Vergnügen der

zwei niederen Seelenbestandteile, fuhr ich fort, wie

steht es nun mit dem wahren Vergnügen? Dürfen wir

zuversichtlich die Schlußfolgerung ziehen: sämtliche

sowohl auf den gewinn- wie auf den sieggierigen Seelenbestandteil

sich beziehenden Begierden, die unter

Leitung des sittlichen Wesens und der Vernunft und

mit Hilfe dieser nur diejenigen Vergnügen verfolgen

und wählen, die der vernünftige Teil ihnen zeigt, werden

nicht nur die wahrsten Vergnügen erlangen, soweit

es ihnen möglich ist, an der Hand derWahrheit

wahre zu erlangen, sondern auch die ihrer Eigentümlichkeit

entsprechendsten, somit besten, wofern überhaupt

das der Eigentümlichkeit eines jeden Entsprechendste

auch das Beste ist?

Ja, sagte er, unstreitig besteht darin sein Eigentümlichstes.

Wenn also von dem wißbegierigen Seelenbestandteile

die Seele sich samt und sonders leiten läßt und

nicht dagegen sich auflehnt, so kann jeder einzelne

Teil derselben überhaupt seine von der Natur angewiesene

Bestimmung erfüllen, d.h. gerecht sein; sodann

kann ein jeder auch noch dazu die ihm eigentümlichen

Vergnügen genießen, d.h. die möglichst besten

und wahrsten.

Platon: Der Staat 585

Ja, offenbar.

Wenn aber dagegen einer von den übrigen zwei

Seelenbestandteilen die Oberhand gewinnt, so ist die

Folge davon, daß er nicht nur nicht das ihm eigentümliche

Vergnügen findet, sondern daß er auch noch

dazu die übrigen zwingt, ein ihrer Natur fremdes und

unwahres Vergnügen zu verfolgen.

So ist’s, sagte er.

Und nicht wahr, je weiter etwas vonWeisheitsstreben

und Vernunft entfernt ist, um so mehr hat es auch

die besagteWirkung in sich?

Jawohl.

Ist aber nun nicht am weitesten von Verstand und

Vernunft entfernt, was auch von Gesetz und moralischer

Ordnung am weitesten entfernt ist?

Ja, offenbar.

Waren aber nach unserem obigen Beweise die im

Gefolge des Eros und der Tyrannenseele befindlichen

Begierden nicht am weitesten davon entfernt?

Bei weitem.

Am wenigsten aber die des vernünftig königlichen

und sich selbst beherrschenden Individuums?

Ja.

Am meisten wird demnach auch, denke ich, der Tyrann

sowohl von dem an sich wahren als auch von

dem ihm eigentümlichen besten Vergnügen entfernt

stehen, am wenigsten aber der andere, ihm

Platon: Der Staat 586

Gegenüberstehende?

Notwendig.

Daraus folgt nun, fuhr ich fort: Am unvergnügtesten

lebt die Tyrannenseele, am vergnügtesten aber

die vernünftig königliche.

Ja, mit der größten Notwendigkeit.

Weißt du nach diesem Beweise nun auch, fragte ich

weiter, den bestimmten Grad, um wieviel das Leben

einer Tyrannenseele unvergnügter ist als das der vernünftig

königlichen?

Wenn du es mir sagst, war seine Antwort.

Es gibt drei Hauptarten von Vergnügen nach dem

Ergebnis unserer Untersuchung: eine von echten und

zwei von unechten; die Tyrannenseele ist nun dadurch,

daß sie Gesetz und Vernunft absichtlich aus

demWege geht, noch weit über die Grenze der unechten

hinausgegangen und haust dort gewissermaßen

mit den Vergnügen eines Sklaven und gemeinen Söldners.

Und wie weit er nun vom wahren Vergnügen

entfernt ist, kann nun gar nicht leicht ausgedrückt

werden, als vielleicht folgendermaßen…

Wie denn? fragte er.

Der Abstand der Tyrannenseele von dem oligarchischen

Individuum betrug drei; denn in der Mitte von

ihnen stand das der Demokratie ähnliche Individuum.

Ja.

Also wird sie auch, wenn das Frühere wahr ist, mit

Platon: Der Staat 587

einem Schattenbild von Vergnügen leben, welches an

Wahrheit um das Dreifache hinter dem oligarchischen

Menschen steht?

So ist’s.

Aber das der Oligarchie entsprechende Individuum

hatte von dem vernünftig königlichen Charakter

gleichfalls einen Abstand von drei, wenn wir das aristokratische

Individuum (im edelsten Sinne desWortes)

und das philosophisch-königliche als eines setzen.

Ja, der betrug auch drei.

Also, fuhr ich fort, steht der Tyrann in Summa um

das dreimal Dreifache von dem wahren Vergnügen

entfernt.

Es scheint so.

Als Fläche wird also, sagte ich, das Schattenbild

des Vergnügens eines Tyrannen einen dieser Längezahl

entsprechenden Inhalt haben?

Ja, offenbar.

Und wenn man sie potenziert bis zur dritten Vermehrung,

so kommt ganz augenfällig heraus, wie groß

der Abstand ist.

Ja, sagte er, augenfällig wenigstens für einen Rechenmeister.

Nicht wahr, wenn einer umgekehrt die Größe des

Abstandes des vernünftig königlichen Individuums

von dem Tyrannen hinsichtlich der gediegenen

Platon: Der Staat 588

Wahrheit seines Vergnügens mathematisch ausdrücken

wollte, so würde er nach angestellter Multiplikation

finden, daß ersterer siebenhundertundneunundzwanzigmal

vergnügter, der Tyrann aber um eben

diesen Abstand unglücklicher lebe.

Eine ganz unvergleichliche Berechnung der Differenz,

sagte er, zwischen beiden Individuen, dem Gerechten

und dem Ungerechten, in bezug auf Vergnügen

und Schmerz hast du da vorgebracht!

Und doch, sagte ich, eine sowohl richtige wie den

Lebensweisen beider ganz entsprechende Zahl, wenn

jenen Lebensweisen Tage, Nächte, Monate und Jahre

zukommen.

Und die, sagte er, kommen ihnen doch gewiß entsprechend

zu!

Wenn nun der gute und gerechte Mensch den

schlechten und ungerechten in solchem Grade an Vergnügen

übertrifft, um wieviel unendlich mehr muß er

ihn erst an innerer und äußerer Bildung, an moralischem

Adel, an geistiger Stärke übertreffen!

Freilich unendlich, bei Zeus! sagte er.

Gut denn! sprach ich weiter. Da wir nun an diesem

Punkte unserer Aufgabe angelangt sind, wollen wir

auf diejenige Behauptung zurückkommen, die am Anfang

von einem Herrn aufgestellt wurde und auf deren

Veranlassung wir nach langer Untersuchung hierher

zu diesem Resultate gekommen sind. Es lautete aber

Platon: Der Staat 589

jene Behauptung: Unrechttun sei vorteilhaft dem meisterhaft

Ungerechten, wenn er dabei den Schein des

Gerechten habe. Oder lautete sie nicht so?

Ja, so lautete sie.

Nun, sagte ich, dann wollen wir mit jenem Herrn

noch einWort reden, nachdem wir durch unsere Untersuchung

sowohl hinsichtlich des Unrechttuns als

des Rechttuns darüber einig sind, welche eigeneWirkung

jedes von beiden an und für sich hat.

Wie denn? fragte er.

Indem wir in Gedanken ein Bild von der Seele aufstellen,

damit der, welcher jene Behauptung äußerte,

recht augenfällig sieht, was er damit für Dinge behauptet.

Was für ein Bild denn? fragte er.

Eines von solchenWesen, antwortete ich, wie es

solche der Fabel nach vor alters gab, wie z.B. das

Bild von der Chimaira, von der Skylla, vom Kerberos,

und wie noch von vielen anderen gefabelt wird,

daß bei ihnen viele Tiergestalten in eine einzige verwachsen

gewesen seien.

Ja, sagte er, freilich wird so gefabelt.

So schaffe dir denn einmal erstlich eine Gestalt

eines mannigfach zusammengesetzten und vielköpfigen

Ungeheuers, das rundum Köpfe von teils zahmen,

teils wilden Tieren hat, dabei imstande ist, sich in alle

diese Tiere zu verwandeln und auch alle diese Tiere

Platon: Der Staat 590

aus sich zu erzeugen.

Dazu erfordert’s, sagte er, einen erstaunlich geschickten

Schöpfer: da aber indessen ein Gedanke

sich leichter alsWachs behandeln läßt, so soll jenes

Bild in Gedanken geschaffen sein.

So schaffe dir denn zweitens eine Gestalt eines

Löwen, drittens in Menschengestalt einen Engel;

denke dir dabei die erste Gestalt bei weitem als die

größte, die zweite auch der Größe nach als die zweite.

Die zwei letzteren Gestalten, sagte er, sind schon

leichter: sie sind geschaffen!

Diese drei Geschöpfe verbinde nun zu einem, so

daß sie irgendwie mit einander verwachsen sind!

Es ist geschehen, sagte er.

Nun umhülle sie mit der Gestalt eines Einzelwesens,

nämlich mit der eines Menschen, so daß es dem,

der nicht in das Innere zu schauen imstande ist, sondern

bloß auf die äußere Umhüllung sieht, nur als ein

einziges lebendesWesen erscheint, nämlich ein

Mensch.

Die Umhüllung ist in Gedanken geschehen, sagte

er.

So lasse uns denn dem Herrn mit der Behauptung,

diesemMenschen sei Unrechttun vorteilhaft und

Rechttun unzuträglich, bedeuten, daß er hiermit nichts

anderes sage, als es nütze demselben, wenn er durch

Schwelgerei das vielgestaltige Ungeheuer, den Löwen

Platon: Der Staat 591

und das, was zum Löwen gehört, stark machte, wenn

er dagegen den Engel durch Hunger abzehrte und entkräftete,

so daß dieser sich müßte hinschleppen lassen,

wohin jedes von jenen beiden Ungetümen wollte,

und wenn er nicht eines an den anderen gewöhnte und

mit ihm befreundet machte, sondern sie einander sich

zerbeißen, bekämpfen und auffressen ließe.

Ja, sagte er, das würde ganz der Sinn dessen sein,

was der behauptet, der das Unrechttun anpreist.

Und nicht wahr, wer andererseits behauptet, gerechte

Handlungen seien vorteilhaft, der würde damit

sagen, man müsse in Tat undWort sich so betragen,

daß dadurch in jenemMenschen der Engel seiner

Brust immer kräftiger werden und auf die Zähmung

jenes vielköpfigen Ungeheuers seine Sorgfalt verwenden

könne, indem er dem Ackerbauer gleich die guten

Triebe nährt und pflegt, die wilden am Emporwuchern

hindert, an demMut des Löwen sich einen Gehilfen

erzieht, für die Bildung aller Seelenbestandteile zusammen

Sorge trägt, sie untereinander sowohl wie

sich selbst befreundet und in diesem Zustand erhält?

Ja, dies würde andererseits der Sinn dessen sein,

was der behauptet, der die Gerechtigkeit preist.

In jeder Beziehung also würde der Lobpreiser der

gerechten Handlungen haltbare Wahrheiten behaupten,

der der ungerechten dagegen unhaltbare Unwahrheiten.

Denn man mag auf Vergnügen, auf guten Ruf,

Platon: Der Staat 592

auf Vorteil sehen, – so behauptet der Lobredner der

Gerechtigkeit Wahrheit, der Tadler derselben aber gar

nichts Haltbares und tadelt, ohne zu kennen, was er

tadelt.

Nein, sagte er, das kennt er wohl durchaus nicht.

Wir wollen also jenem Herrn mit gutenWorten

eine andere Ansicht beibringen, denn er ist auf dem

Irrwege, ohne zu wissen, was er tut, und wir wollen

an ihn die Frage richten: »O Bester, sollten nicht auch

die moralischen und unmoralischen Handlungen aus

solchen Gründen ihre herkömmliche Geltung bekommen

haben? Haben die moralischen Handlungen einerseits

ihre Geltung nicht darum, weil sie die tierischen

Bestandteile unserer Natur unter den Engel oder

vielmehr unter das Göttliche bringen? Andererseits

die unmoralischen, tragen sie ihren Namen nicht

darum, weil sie den edlen Teil der Seele in die Sklaverei

des wilden bringen? Wird jener Herr Ja dazu

sagen oder Nein?«

Ja, sagte er, wenn er mir folgen wollte.

Kann es also, fuhr ich fort, nach dieser Untersuchung

noch jemanden geben, bei dem es als Vorteil

gelten könnte, mit Ungerechtigkeit Gold zu erhaschen,

wenn dabei der Fall der ist, daß er mit dem Gewinne

des Goldes zugleich das Edelste seines Selbst

in die Dienstbarkeit des Schlechtesten versetzt; Oder

in anderenWorten:Wenn jemand für Gold einen

Platon: Der Staat 593

Sohn oder eine Tochter in die Sklaverei, und zwar in

das Haus wilder und schlechter Menschen, verkaufte,

so wäre dies für ihn kein Vorteil, und wenn er noch

soviel bekäme: wenn er aber erst das Göttlichste seines

eigenen Selbst unter die Knechtschaft des Ungöttlichsten

und Abscheulichsten bringt, ohne daß er es

sich im geringsten dauern läßt, – ist er da nicht unglücklich

und bringt er da für Gold nicht ein bei weitem

noch grausameres Opfer als Eriphyle, die für

ihres Mannes Leben jene bekannte goldene Kette annahm?

Ja, erwiderte Glaukon, ein bei weitem noch grausameres;

denn ich will statt jenes Mannes Antwort

geben.

Nicht wahr, was die einzelnen moralischen Gebrechen

betrifft, so gibst du demnach auch zu, daß sinnliche

Ausschweifung der Begierlichkeit von alters her

aus solchen Gründen als tadelnswert gilt, weil in solchemWandel

jenes böse, große und vielgestaltige

Ungeheuer allzu freies Spiel bekommt?

Offenbar, sagte er.

Ferner: Roher Übermut sowohl wie empfindelnder

Mißmut wird getadelt, wenn der löwenartige und bissige

Seelenbestandteil übertrieben wird und mit der

Vernunft nicht harmonisch gestimmt wird, nicht?

Ja, gewiß.

Weiter: Üppigkeit undWeichlichkeit, werden sie

Platon: Der Staat 594

nicht in Rücksicht der übermäßigen Herabstimmung

und Abspannung eben dieses Seelenteiles getadelt,

wenn sie Feigheit in ihm hervorbringt?

Warum sonst?

Ferner: Die Laster des Schmeichlers und der niederträchtigen

Bedientenseele, werden die nicht getadelt,

weil dann jemand wieder eben jenen Seelenbestandteil,

den stolzen Zornmut, unter das gemeine Ungetüm

bringt, wegen des Geldes und der Freßgierde

jenes Ungetüms ihn treten läßt und von Jugend an gewöhnt,

statt eines Löwen ein Affe zu werden?

Ja, sicher, sagte er.

Stubenhockerei und Handwerksweise, weshalb,

meinst du, bringen sie Schimpf und Schande mit sich?

Wohl wegen etwas anderem, als weil jemand den

edelsten Seelenbestandteil von Geburt schon so

schwach hat, daß er damit die wilden Tiere in sich

nicht beherrschen kann, sondern ihnen damit dienen

muß und nur die Künste für ihren Kitzel und ihre Behaglichkeit

zu lernen vermag?

Ja, offenbar, sagte er.

Nicht wahr, damit auch der unvernünftige gemeine

Mensch unter gleicher Herrschaft stehe wie der vernünftig

edelste, dürfen wir wohl behaupten, er müsse

Untertan sein jenes vernünftig Edelsten, der das Göttliche

als den Herrscher in seiner Brust besitzt? Mit

dieser Behauptung wollen wir jedoch nicht gemeint

Platon: Der Staat 595

haben, der Untertan müsse zu seinem, des Untertanen,

Nachteil beherrscht werden, wie Thrasymachos von

den Beherrschten wähnte: sondern, nicht wahr, wir

lassen uns hierbei von dem Grundsatze leiten, daß es

überhaupt für jeden Menschen das Beste ist, sich vom

Göttlichen und Vernünftigen beherrschen zu lassen,

am allerbesten zwar so, wenn er es als Eigentum in

seinem Inneren hat, im anderen Falle aber, daß es als

Regent von außen ihm vorgesetzt ist, auf daß wir alle

insgesamt so viel als möglich in Gleichheit und Brüderlichkeit

leben, indem wir uns durch ein und dasselbe

göttliche Prinzip lenken und leiten lassen.

Ja, sagte er, und dieser Grundsatz ist richtig.

Ja, auch das positive Gesetz, fuhr ich fort, spricht

deutlich aus, daß es so etwas beabsichtigt, indem es

allen ohne Ausnahme mit seinem Schutze beisteht; es

beabsichtigt dies auch die Kinderzucht, wenn wir den

Kindern nicht freienWillen lassen, bis wir in ihnen,

wie in einem Staate, eine feste Verfassung eingesetzt,

bis wir durch Entwicklung des Edelsten in ihnen mittels

des Edelsten in uns statt unserer Aufsicht einen

ähnlichen Aufseher und Gebieter in ihrer Brust aufgestellt

haben, und dann erst lassen wir ihnen ihre Freiheit.

Ja, sagte er, dieselbe Absicht liegt auch hier zutage.

Auf welcheWeise denn und aus welchem Grunde

könnten wir, o Glaukon, nun noch behaupten.

Platon: Der Staat 596

Unrechttun, Unzucht oder sonst etwas Unsittliches

bringe einen Vorteil, Handlungen, durch die man an

seiner Seele den größten Schaden leidet, wenn man

dabei auch in einen größeren Besitz von Geld oder

sonstiger Macht gelangt?

Auf keineWeise können wir es, war seine Antwort.

Ferner: Wie könnten wir behaupten, es sei ein

Glück, wenn einer beim Unrechttun verborgen bliebe

und keine Strafe dafür zu leiden brauche? Oder leidet

der Verborgenbleibende nicht noch immer mehr Schaden

an seiner Seele, während bei dem, der nicht verborgen

bleibt und gestraft wird, das Tierische gestillt

und gezähmt, das Himmlische entfesselt und überhaupt

die ganze Seele in die beste natürliche Verfassung

gesetzt wird? Und durch den hiermit verbundenen

Gewinn an besonnener Selbstbeherrschung, Gerechtigkeitssinn

und Vernunft erlangt er wohl einen

viel wertvolleren Vorzug als ein Körper, der Kraft,

Schönheit und Gesundheit bekommt, nämlich einen in

eben dem Grade wertvolleren Vorzug, als eine Seele

einen Körper anWert übertrifft?

Ja, sagte er, allerdings.

Nicht wahr, wer Verstand hat, wird demnach mit

Anstrengung aller seiner Kräfte das Leben so einrichten,

daß er erstlich in bezug auf die in denWissenschaften

liegende geistige Nahrung nur diejenigen

Wissenschaften hoch ehrt, die seine Seele zu einer

Platon: Der Staat 597

solchen Verfassung heranbilden, das übrigeWissen

aber gering anschlägt?

Versteht sich, meinte er.

Daß er zweitens, fuhr ich fort, in bezug auf Unterhalt

und Pflege des Körpers diese nicht dem tierischen

und unvernünftigen Gefühle der Lust und Unlust anheimstellt

und danach nur seine Lebensrichtung

nimmt; ja, er sieht dabei nicht einmal die Gesundheit

als das Hauptziel an: er wird größere Körperstärke,

Gesundheit, Schönheit nicht hoch anschlagen, wenn

er nicht zugleich auch an besonnener Selbstbeherrschung

bei ihnen gewinnen sollte; sein Bestreben

wird vielmehr dahin gehen, immer bei der Regulierung

des Körpers von der Vernunft der Seele sich den

Ton angeben zu lassen.

Ja, allerdings, sagte er, wenn er ein echter Musiker

sein will.

Nicht wahr, sprach ich weiter, auch drittens wird er

von der Vernunft der Seele sich den Ton angeben lassen

hinsichtlich der Liebe für Talerkomposition und

Talerklang, und er wird nicht, von der Stimme des

Pöbels verführt, die Masse seines Reichtums ins Unendliche

vermehren und dadurch mit unendlichen

Übeln sich behaften?

Nein, ich glaube nicht, daß er letzteres tut, sagte er.

Sondern, sagte ich, er wird in bezug auf Erwerb

jene vernünftige Verfassung in seinem Inneren zur

Platon: Der Staat 598

Richtschnur nehmen und wohl wachsam sein, damit

er in seinem Inneren keines der dortigen drei Vermögen

in der ihm bestimmten Stellung verrücke, sei es

infolge von Übermaß an Vermögen oder infolge von

Mangel, und er wird also bei solcher Richtschnur hinsichtlich

des Vermögens erwerben und aufwenden,

soweit es nach jener Richtschnur möglich ist.

Ja, gewiß, sagte er.

Was viertens Ehren anlangt, so wird er im Hinblick

auf dieselbe Richtschnur manche annehmen und ohne

Widerwillen genießen, von denen er nämlich mit

Grund annehmen darf, daß sie die Verfassung seines

Inneren vervollkommnen helfen; von welchen er dagegen

Grund hat zu fürchten, daß sie den Bestand jener

Seelenverfassung zerrütten können, denen wird er

ausweichen im Privat- wie im Staatsleben.

Demnach, sagte er, wird er keine besondere Lust

und Liebe daran haben, sich mit den Angelegenheiten

des Staates zu befassen, falls er Rücksicht auf diese

Richtschnur nehmen sollte.

Jawohl, beim Hunde, sagte ich, jawohl hat er Lust

und Liebe dazu in dem für ihn geeigneten Staate,

nicht jedoch in dem, in dem er geboren ist, wenn nicht

ein besonderes Gottesgeschick ihn hierzu bestimmen

sollte.

Ja, ich begreife, sagte er; in dem Staate nämlich,

meinst du, würde er Lust und Liebe daran haben, mit

Platon: Der Staat 599

dessen Gründung wir uns eben beschäftigten, in dem

im Reich der Gedanken liegenden Staate: denn auf

Erden existiert er, glaube ich, nirgends.

Nun, sagte ich, dann ist er doch wohl im Himmel

als ein heiliges Mustervorbild für jeden aufgestellt,

der ihn anschauen und durch seine Anschauung danach

den Haushalt seines Inneren einrichten will; es

liegt aber gar nichts daran, ob er irgendwo existiert

oder noch existieren wird: denn nur mit den Angelegenheiten

dieses Staates allein befaßt er sich, aber mit

keinem anderen.

Ja, selbstverständlich, bemerkte er.

Platon: Der Staat 600

Zehntes Buch

Und in der Tat, hob ich wieder an, überhaupt in

vielen anderen Bestimmungen nehme ich an unserem

Staate wahr, daß wir ihn ganz nach richtigen Grundsätzen

der Vernunft anlegten; insbesondere behaupte

ich das aber in Rücksicht auf jene über die Poesie.

Welche denn? fragte er.

Daß wir sie auf keinerlei Weise aufnahmen, soweit

sie in das Gebiet der Nachahmungspoesie einschlägt;

denn daß diese durchaus nicht aufgenommen werden

darf, das stellt sich meines Bedünkens jetzt noch deutlicher

heraus, nachdem die drei Hauptseelenbestandteile

einzeln besonders in bestimmter Unterscheidung

dargestellt worden sind.

Was willst du damit sagen?

Unter euch gesagt (denn ihr werdet mich doch bei

den tragischen und den übrigen nachahmend darstellenden

Dichtern nicht verraten!), so ist sie offenbar

ein Grundverderben für den denkenden Geist aller, die

alle dergleichen poetische Produkte anhören, ohne ein

Gegengift zu haben an dem gründlichenWissen dessen,

was eigentlich an ihnen ist.

In welcher Beziehung, fragte er, äußerst du denn

diesen Gedanken?

Ja, antwortete ich, obwohl eine von Jugend auf an

Platon: Der Staat 601

Homer mich fesselnde Liebe und Ehrfurcht mich abhält,

zu äußern, was ich denke, es muß einmal heraus!

Denn er ist offenbar von allen diesen feinen Theaterhelden

der Urlehrmeister und Führer. Heraus muß es

darum, was ich über ihn denke; denn eine menschliche

Person darf nicht über dieWahrheit gestellt werden!

Ja, sagte er, allerdings!

So höre denn, oder vielmehr: antworte!

Frage nur!

Nachahmende Darstellung überhaupt, kannst du

mir einen allgemeinen Begriff dessen angeben, was

sie eigentlich ist? Denn ich selbst finde es gar nicht

recht zusammen, was sie eigentlich sein will.

Nun, sagte er, da soll ich es etwa zusammenfinden?

Wäre gar keinWunder, meinte ich; denn mancherlei

schon haben blödere Augen früher gefunden als Leute

mit schärferem Blicke!

Ja, sagte er, das ist der Fall; aber in deiner Gegenwart

könnte ich nicht einmal das Herz fassen, eine

Ansicht auszusprechen, wenn eine solche sich mir

zeigt: drum richte selbst dein Auge darauf!

Wollen wir also von folgendem Standpunkte aus

nach unserer gewöhnlichen Methode die Betrachtung

beginnen? Unser gewöhnlicher Standpunkt ist nämlich,

daß wir eine ideelle Einheit allemal bei jeder Art

von Vielheiten annehmen, denen wir denselben

Platon: Der Staat 602

Namen geben, – oder begreifst du’s nicht?

Ja, ich begreife.

So wollen wir denn auch jetzt, wenn’s gefällt, einige

beliebige Vielheiten annehmen: es gibt z.B. eine

Vielheit von Stühlen und Tischen.

Allerdings.

Aber ideelle Einheiten gibt es von diesen Gerätschaften

nur zwei: eine vom Stuhl, eine vom Tisch.

Ja.

Nicht wahr, nach unserer Gewohnheit drücken wir

uns aus, daß der Fabrikant jeder der beiden Gerätschaften

im Hinblick auf die ideelle Einheit schafft:

der eine Stühle, der andere Tische zu unserem praktischen

Gebrauche; denn die abstrakte ideelle Einheit

davon fabriziert uns keiner der menschlichenWerkmeister;

wie wäre es denn auch möglich?

Auf keineWeise.

Aber jetzt weiter, sieh dir einmal folgenden Fabrikanten

an!

Welchen Namen wirst du ihm geben?

Welchem denn?

Der alle möglichen Dinge fabriziert, die nur immer

jeder einzelne der Künstler hervorbringt.

Von einem außerordentlichenManne sprichst du

da, und von einem, der den Namen einesWundermannes

verdient!

Noch gar nicht! Du wirst ihm gleich noch einen

Platon: Der Staat 603

besseren und höheren Namen geben: denn derselbe

Künstler kann nicht nur alle Gerätschaften bilden,

sondern er bildet auch alle Erzeugnisse der Erde, fabriziert

alle lebendenWesen, alles übrige sowohl als

auch sich selbst, außerdem Erde, Himmel, Götter,

alles am Himmel und im Hades unter der Erde, – alles

fabriziert er!

Ja, sagte er, da sprichst du von einem Erzwundermann

und Tausendkünstler!

Es kommt dir unglaublich vor? fragte ich. Gib mir

nur eine Antwort auf folgende Frage: Soll es ganz und

gar nicht nach deiner Ansicht einen solchen Fabrikanten

geben, oder kann er auf gewisseWeise die genannten

Dinge alle machen, auf gewisseWeise aber

auch nicht? Oder merkst du noch nicht, daß du selbst

auf eine gewisseWeise imstande wärest, alle jene

Dinge zu machen?

Und worin besteht denn dieseWeise? fragte er.

Es hat gar keine Schwierigkeit, erwiderte ich, sondern

läßt sich vielfach und schnell bewerkstelligen,

am schnellsten wohl, wenn du einen Spiegel zur Hand

nehmen und überall herumtragen wolltest: da wirst du

bald eine Sonne machen und sonstige Himmelskörper,

bald dich selbst sowohl wie alle übrigen lebendenWesen,

überhaupt alle eben genannten Kunstund

Naturerzeugnisse.

Ja, freilich, sagte er, dem Scheine nach, aber wohl

Platon: Der Staat 604

nicht inWahrheit!

Ganz gut, bemerkte ich, und recht zupasse kommst

du da mit dieser Antwort unserer Untersuchung! Denn

zu solchen Künstlern, meine ich, gehört auch der

Maler, oder nicht?

Jawohl.

Aber, wirst du, glaube ich, einwenden, seine Fabrikate

seien keine wirklich wahren; und doch fabriziert

auch auf eine gewisseWeise der Maler einen Stuhl,

oder nicht?

Ja, freilich, sagte er, aber auch er nur einen scheinbaren.

Wie sieht’s dagegen mit dem eigentlichen Macher

des Stuhles aus? Nicht wahr, eben stelltest du ja doch

den Satz auf, nicht den allgemeinen ideellen Begriff

davon, in welchem nach unserer Lehre besteht, was

ein Stuhl eigentlich ist, fabriziere er, sondern diesen

oder jenen individuellen Stuhl?

Ja, den Satz stellte ich auf.

Nicht wahr, wenn er macht, was eigentlich nicht

ist, so macht er auch nichtsWesenhaftes, sondern nur

etwas demWesenhaften Ähnliches, dasWesenhafte

aber nicht; daß aber das Produkt des Stuhlmachers

oder das eines anderen handarbeiten den Künstlers

eine vollkommeneWesenheit sei, – wenn das jemand

behauptete, so würde dieser demnach keine Dinge von

Grund undWahrheit vorbringen.

Platon: Der Staat 605

Freilich nein, sagte er, wenigstens nach den Grundsätzen

derer, die sich mit solchen philosophischen

Fragen beschäftigen.

Demnach dürfen wir es nicht auffallend finden, daß

ein solches Produkt im Vergleich mit dem ewig währenden

Sein ein ganz schwaches Sein hat.

Freilich nicht.

Wollen wir nun, sprach ich, an eben diesen Beispielen

den vorhin erwähnten Nachahmer untersuchen,

was er eigentlich ist?

Ja, sagte er, wenn es dir gefällig ist.

Nicht wahr, dreierlei Stühle kommen da heraus?

Ein ursprünglich ideell existierender, den wohl nach

meiner Ansicht wenigstens ein Gott geschaffen hat,

oder wer sonst?

Niemand anders, denke ich.

Zweitens einer, den der Stuhlmacher gezimmert

hat.

Ja, sagte er.

Drittens einer, den der Maler gemalt hat, oder

nicht?

Es ist so.

AlsoMaler, Stuhlmacher und Gott sind drei Meister

für drei Arten von Stühlen.

Ja, drei.

Der Gott nun erstlich hat, sei es, daß es ihm so beliebte,

oder daß er vermöge einer höheren

Platon: Der Staat 606

Notwendigkeit nicht mehr als einen ursprünglich ideellen

Urstuhl schaffen durfte, nur jenen einen eigentlichen

Stuhl gemacht, der der wahre wesenhafte Stuhl

ist: zwei aber oder mehrere dergleichen Stühle sind

nicht geschaffen worden von dem Gotte und werden

auch nicht geschaffen werden.

Warum denn? fragte er.

Weil, erwiderte ich, wenn er auch nur zwei machen

sollte, von neuem darüber eines erscheinen würde,

dessen Urbild wiederum jene zwei an sich trügen, und

dieses neue ideelle Urbild würde dann der wesenhafte

Stuhl sein, und nicht jene zwei.

Richtig, sagte er.

Weil nun diese Unfüglichkeiten, denke ich, der

Gott natürlich wußte, so hat er nur jenes eine ideelle

Urbild von Stuhl geschaffen, weil er inWahrheit

Schöpfer eines wahrhaft wesenhaften Stuhles sein

wollte, aber nicht dieses oder jenes individuell bestimmten

Stuhles, und auch kein individuell bestimmter

Stuhlmacher.

Ja, offenbar.

Wollen wir nun erstlich diesen Gott den Urschöpfer

dieses Dinges oder mit sonst einem ähnlichen

Namen benennen?

Ja, ganz mit Recht, sagte er, dieweil er ja von Uranfang

an dieses ideelle Ding und alle übrigen geschaffen

hat.

Platon: Der Staat 607

Und wie nennen wir zweitens den Zimmerer des

Stuhles? Nicht etwa denWerkmeister davon?

Ja.

Und drittens der Maler, nennen wir etwa auch diesen

den Meister und Schöpfer eines solchen Dinges?

Keineswegs.

Aber was soll der denn nach deiner Erklärung vom

Stuhle sein?

Da scheint mir, erwiderte er, wenigstens der angemessenste

Name der zu sein: Nachahmer des Dinges,

von dem jene dieWerkmeister sind.

Gut! sagte ich. Den Verteidiger des von der wahren

Urschöpfung an erst den dritten Rang einnehmenden

Erzeugnisses nennst du also einen Nachahmer?

Allerdings, war seine Antwort.

Demnach wird auch der Schauspielmacher, wofern

er ein Nachahmer ist, eigentlich nur ein Abbild im

dritten Grade, z.B. von dem Ur- und wahren Könige

geben, und so alle übrigen Nachahmer überhaupt.

Es scheint so.

Über den eigentlichen Begriff des Nachahmers

überhaupt wären wir also einmal im reinen; aber über

den Maler insbesondere gib mir noch Antwort auf folgende

Frage: Scheint er dir jenes ideelle Urbild von

jedem Dinge in der Schöpfung nachahmen zu wollen,

oder die Erzeugnisse der menschlichen Meister?

Die der menschlichen Meister, sagte er.

Platon: Der Staat 608

So wie sie sind, oder sowie sie scheinen? Denn

das ist noch bestimmter anzugeben.

Wie verstehst du das? fragte er.

Auf folgendeWeise: Ein Stuhl z.B., wenn du ihn

von der Seite oder von vorn oder wie immer ansiehst,

hat er da nicht jedesmal eine von der vorigen verschiedene

Gestalt, oder ist eigentlich kein Unterschied

vorhanden, sondern nur der Schein einer Verschiedenheit,

und so hinsichtlich aller Dinge überhaupt?

Ich meine letzteres, sagte er: es ist nur ein Schein

von Unterschied vorhanden, aber kein eigentlicher.

Diesen Punkt nun halte fest im Auge! Für welchen

der beiden Zwecke hinsichtlich jeden Dinges ist die

Malerei vorhanden: für das Nachahmen desWesenhaften,

wie es wirklich ist, oder für das des Scheinenden,

wie es sich im Scheine gibt, d.h. ist sie eine

Nachahmung von Schein oder von wesenhafterWahrheit?

Vom Scheine, antwortete er.

Weit also von der wesenhaftenWahrheit ist offenbar

die Nachahmung entfernt; deswegen macht sie

auch alles mögliche nach, weil sie sich nur mit dem

Oberflächlichsten eines jeden Dinges befaßt, und

dazu noch mit einem Schattenbilde davon. So wird

der Maler in unserem Beispiele einen Schuhmachermeister,

einen Zimmermeister und überhaupt alle übrigen

Meister malen, ohne das geringste von allen

Platon: Der Staat 609

diesen Handwerken zu verstehen, dessenungeachtet

aber wird er, wenn er ein guter Maler ist, durch das

Bild eines Zimmermanns und durch Hinstellung desselben

aus der Ferne Kinder sowie unvernünftige

Menschen zur Verblendung verführen, als wäre es ein

Zimmermann, wie er leibt und lebt.

Ohne Zweifel.

Aber, mein Freund, dies gilt, denke ich, nicht von

demMaler allein; denn von allen dergleichen Leuten,

deren Beschäftigung in die Nachahmung einschlägt,

muß man folgenden Gedanken festhalten: Falls jemand

von einem gewissen Manne berichtete, er habe

in ihm einWesen menschlicher Natur kennengelernt,

das nicht nur alle Künste und Handwerke, sondern

auch von allen übrigenWissenschaften, wovon jede

die Aufgabe eines Einzelnen ist, jeden möglichen

Zweig so gut als irgend einer verstände, so muß man

von einem solchen Berichterstatter annehmen, daß er

ein einfältiger Mensch ist, daß er offenbar auf eine Art

Taschenspieler und Nachahmer geraten war und von

diesem zur Verblendung, jener sei ein Allwisser, verführt

wurde, aus keiner anderen Ursache, als weil

jener Einfaltspinsel nicht imstande ist, zu prüfen, was

wahreWissenschaft, was Unwissenheit, was Nachahmung

ist.

Ja, ganz recht, sagte er.

Nicht wahr, fuhr ich fort, auf der Grundlage dieser

Platon: Der Staat 610

allgemeinen Untersuchung müssen wir nun die besondere

über die dramatische Dichtung überhaupt und

vornehmlich über ihren Führer Homer anstellen, dieweil

wir von einigen Leuten hören, diese Dichter hätten

nicht nur alle Künste, sondern auch alle in das

praktische Menschenleben sowie in die spekulative

Naturphilosophie einschlagendenWissenschaften

inne; denn der gute Dichter müsse natürlich, wenn er

über einen Gegenstand schön dichten wolle, das wissen,

worüber er dichtet, oder er wäre gar nicht imstande

zu dichten. Es muß natürlich nun untersucht werden,

ob jene Leute nicht auf Nachahmer der vorhin

beschriebenen Art geraten sind, von ihnen sich haben

anführen lassen und daher bei Betrachtung ihrer Erzeugnisse

nicht bemerken, daß diese Nachahmer drei

Grade vom wahren Sein entfernt sind, und daß es

einem gar leicht ist, darüber zu dichten, ohne die eigentliche

Wahrheit davon zu kennen (denn Trugbilder

und keine wirklicheWesenheiten stellen ja die Nachahmer

dar); oder ob die Behauptung jener Leute doch

begründet ist und die guten Dichter wirklich einWissen

über die Dinge haben, worüber sie dem Volke

herrlich zu reden scheinen.

Ja, sagte er, allerdings ist das zu prüfen!

Glaubst du nun bei dieser Alternative, es würde

einer, wenn er beides darstellen könnte, sowohl das

nachzuahmende Original wie das Schattenbild davon,

Platon: Der Staat 611

sich im Ernst auf die Erzeugung von Schattenbildern

legen und diese sich zum Ziele seines Lebens setzen

in dem Glauben, als habe er den besten Teil erwählt?

Nein, ich glaube es nicht.

Sondern er würde, denke ich, wenn er denn doch in

Wahrheit von den Dingen, die er alle nachahmt, eine

gründlicheWissenschaft hätte, sich mit mehr Eifer

auf die Heldentaten verlegen als auf die nachahmenden

Schildereien davon, würde eher sich anstrengen,

viele schöne eigeneWerke als Denkmale von sich zu

hinterlassen, würde viel eher der Gepriesene als der

Preisende sein wollen.

Ja, ich glaube, erwiderte er; denn nicht nur die

Ehre, sondern auch der Vorteil sind nicht gleich.

Über manche andere Zweige desWissens wollen

wir nun Homer oder überhaupt jeden anderen der

Dichter nicht zur Rede stellen, wie etwa durch die

Fragen: wenn denn wirklich ein Heilkünstler unter

ihnen und nicht bloß ein Nachahmer heilkundiger

Phrasen gewesen wäre, welche Leute denn da ein

Dichter aus der alten oder neueren Zeit gesund gemacht

haben solle, wie z.B. Asklepios dies getan;

oder welche Schüler er in der Heilkunde hinterlassen

habe, wie z.B. jener Asklepios seine Jünger? Auch

wollen wir die Dichter ferner über die übrigen Künste

nicht fragen, sondern es ihnen hierin hingehen lassen;

aber über die wichtigsten Gegenstände, worüber zu

Platon: Der Staat 612

sprechen sich Homer unterfangen hat, über Kriegsschlachten

und Heeresführung, über Staatsverwaltung

und Menschenbildung, darüber müssen wir pflichtgemäß

ihn durch Vorlegung folgender Fragen examinieren:

»Mein lieber Homer, wenn du denn in bezug auf

geistige Tüchtigkeit nicht etwa gar im dritten Grade

von der Wahrheit entfernt stehst, als ein Schattenbildfabrikant,

wie wir den Nachahmer definiert haben,

sondern nur im zweiten Grade und demnach imstande

sein mußtest, praktisch zu erkennen, welche Lebenseinrichtungen

die Menschen sowohl im Häuslichen

wie im Staatsleben besser oder schlechter machen, so

gib uns Red’ und Antwort, welcher Staat durch dich

besser eingerichtet worden ist, wie z.B. durch Lykurg

Lakedaimon, und wie durch sonst viele andere es

noch viele große und kleine Staaten wurden? Welcher

dagegen rühmt dich als guten Gesetzgeber und seinen

Heiland? So rühmen z.B. Italien und Sizilien Charondas,

wir unseren Solon; wer aber dich?«Wird er

einen angeben können?

Ich glaube nicht, sagte Glaukon; wenigstens wird

keiner angeführt, nicht einmal von den Homeriden.

Nun, da wird wohl aus den Zeiten Homers eines

Krieges gedacht, der unter seinem Kommando oder

auf seinen Rat glücklich geführt wurde?

Gar keiner!

Nun, da werden denn von ihm, als einem

Platon: Der Staat 613

praktischen Kopfe für das Leben, viele geistreiche Erfindungen

in bezug auf Künste und andere bürgerliche

Geschäfte berichtet, wie dies wiederum in dieser Beziehung

von Thales aus Milet und von dem Skythen

Anacharsis geschieht?

Keineswegs so etwas!

Nun denn, wenn demnach Homer kein Held im

Kriegs- und Staatsleben war, so wird doch vielleicht

von ihm erzählt, daß er im Privatleben das Haupt

einer geistigen Bildungsschule bei Lebzeiten für einige

war, die ihm wegen seines lehrreichen Umganges

anhingen und dann an ihre Nachfolger eine gewisse

homerische Lebensregel fortpflanzten, wie z.B. Pythagoras

schon zu seiner eigenen Lebzeit aus diesem

Grunde einen ausgezeichneten Anhang hatte und auch

jetzt noch seine Nachfolger durch ihre pythagoreische

Lebensregel, wie sie sie nennen, als ausgezeichnet

unter den übrigen gelten?

Auch von der Art, sagte er, wird nichts berichtet;

denn der Kreophylos (›Fleischmann‹), o Sokrates, der

Jünger Homers, muß gewiß in Ansehung seiner geistigen

Bildung noch lächerlicher gewesen sein als hinsichtlich

seines Namens, wenn die Berichte über

Homer wahr sind. Es wird nämlich berichtet, daß er

zu seiner eigenen Lebenszeit auf das veranlassende

Beispiel eben jenes seines Jüngers einen sehr geringen

Anhang hatte.

Platon: Der Staat 614

Ja, sprach ich, berichtet wird das freilich; aber,

mein lieber Glaukon, wenn Homer wirklich imstande

gewesen wäre, Menschen geistig zu bilden und moralisch

besser zu machen, als ein Mann, der in dieser

Beziehung nicht nur Nachbildungen zu liefern, sondern

mit praktischem Verstande zu verfahren verstand,

– müßte er da nicht wohl sich viele Anhänger

verschafft haben, und müßte er nicht von ihnen sehr

geehrt und geschätzt worden sein? Können ja doch

ein Protagoras von Abdera, ein Prodikos von Keos

und andre dergleichen mehr durch den Unterricht

ihres Privatumganges ihre Zeitgenossen in den Glauben

versetzen, daß sie weder ihr Haus noch ihren

Staat zu verwalten imstande sein würden, wenn nicht

diese ihre Lehrmeister wären, und wegen dieser ihrer

praktischenWeisheit sind sie so beliebt, daß ihre Anhänger

sie fast auf den Händen herumtragen! Und da

sollen nun einen Homer, als Förderer geistiger Tüchtigkeit

unter seinen Mitmenschen, oder einen Hesiod

die Zeitgenossen haben herumziehen und bänkelsängern

lassen! Ja, würden sie nicht mehr an ihnen als an

dem Geldbeutel gehängt und sie eingeladen haben,

bei ihnen im Hause zu wohnen, und würden sie nicht,

falls die Einladung fruchtlos geblieben wäre, selbst

ihrem Unterrichte auf allen ihrenWegen nachgezogen

sein, bis sie genügend Bildung empfangen hätten?

Ja, sagte er, lieber Sokrates, du scheinst mir

Platon: Der Staat 615

durchaus recht zu haben.

Wir dürfen also als ausgemacht annehmen, daß alle

Künstler in der Nachahmungspoesie, von Homer an

gerechnet, in bezug auf geistige Tüchtigkeit und die

anderen Gegenstände ihrer Darstellung nur nachahmende

Schattenbildkünstler sind und die eigentliche

Wahrheit nicht erfassen; sondern, um in dem Beispiel

von vorhin fortzufahren, der Maler stellt einen Schuhmacher

nur zum Scheine hin, ohne daß er selbst etwas

von der Schuhmacherei versteht noch die Leute, für

die er ihn darstellt, indem diese nur nach den Farben

und Umrissen gucken, nicht wahr?

Ja, allerdings.

Und ebenso dürfen wir natürlich auch von dem dramatisch

darstellenden Dichter sagen, daß er gleichsam

auch nur Farben von dieser und jener Kunst undWissenschaft

in Floskeln und Phrasen auftrage, ohne

selbst davon etwas gründlich zu verstehen als eben

das Nachahmen, so daß es dann anderen ebenso unverständigen

Menschen, die nur den Glanz der Phrasen

begaffen, eine ganz gediegene Darstellung zu sein

scheint, mag es sich nun um Schuhmacherei oder

Feldherrnkunst oder um jede beliebige andere Sache

handeln, wenn es nur in Versen sowie in musikalischer

Takt- und Tonart geschieht: so groß sei der Zauber,

den eben diese musikalische Begleitung von

Natur ausübe! Denn entblößt von dem Farbenglanz

Platon: Der Staat 616

des musikalischen Zaubers und rein nach dem bloßen

Texte vorgetragen, weißt du, glaube ich, selbst, wie

die Erzeugnisse der dramatisch darstellenden Dichter

erscheinen; denn du hast es wohl beobachtet!

Ja, sagte er.

Nicht wahr, fuhr ich fort, sie sehen dann aus wie

die Gesichter jugendlicher, aber nicht schöner Menschen,

wenn sie die Jugendblüte verlieren?

Ein ganz richtiger Vergleich, sagte er.

Komm mit mir jetzt zu einer weiteren Betrachtung:

Das ein Schattenbild äußerlich darstellende Kunstgenie,

der Nachahmer, versteht nach unserem ausgemachten

Satze gar nichts vomWesenhaften, sondern

nur etwas vom Scheine, nicht so?

Ja.

Aber wir dürfen diesen Satz nicht zur Hälfte ausgeführt

lassen, sondern wollen ihn gründlich untersuchen.

Sprich nur! sagte er.

Ein Maler, denken wir, malt sowohl Zaum wie

Gebiß?

Ja.

Es fabriziert sie aber der Sattler und der Schmied?

Jawohl!

Versteht denn nun auch der Maler, welche Eigenschaften

der Zaum und das Gebiß haben müssen?

Oder versteht das nicht einmal der, welcher sie

Platon: Der Staat 617

fabriziert, der Schmied und der Sattler, sondern nur

jener allein, der sie braucht: der Reiter?

Sehr richtig.

Wird’s nun nicht überhaupt so in allen Dingen

sein?

Wie?

Daß es überhaupt bei jedem Dinge drei Wissenschaften

gibt: die des Gebrauches, die der Herstellung,

die der Nachahmung?

Ja.

Nicht wahr, Tüchtigkeit, Schönheit, Richtigkeit

eines jeden Gerätes, lebendenWesens, Handelns bezieht

sich auf sonst nichts anderes als auf den Gebrauch,

wofür ein jedes bestimmt ist, rühre diese Bestimmung

nun von Menschen oder von der Natur her?

Ja, so ist’s.

Mit großer Notwendigkeit folgt also daraus, daß

der Gebrauchende von jedem Gegenstand auch der

Erfahrenste sein und dem Hersteller berichten muß,

welche Exemplare er von dem Gegenstand, den er gebraucht,

gut oder schlecht mit bezug auf den Gebrauch

macht; so berichtet z.B. der Flötenspieler dem

Flötenmacher, welche Flöten im Spielen taugen, und

gibt ihm auf, wie er sie machen soll, und dieser befolgt

seine Vorschriften.

Ja.

Nicht wahr, der erstere berichtet als einWissender

Platon: Der Staat 618

über gute und schlechte Flöten, während letzterer nur

als ein Glaubender die Verfertigung bewerkstelligt?

Ja.

Von einem und demselben Instrumente wird also in

bezug auf Brauchbarkeit und Unbrauchbarkeit der

Herstellende davon nur darum den rechten Glauben

haben, weil ihm derWissende zur Seite steht und er

notgedrungen auf denWissenden hören muß; dagegen

der davon Gebrauch machende Künstler hat dieWissenschaft.

Jawohl.

Der Nachahmer (der Maler) dagegen, – hat der aus

dem Gebrauche eineWissenschaft bezüglich der von

ihm gemalten Dinge, ob sie schön und richtig oder es

nicht sind, oder hat er einen richtigen Glauben infolge

der notwendigen Verbindung mit demWissenden und

der Angabe, wie er die Dinge machen soll?

Keines von beiden.

Der Nachahmer hat also in den Dingen, welche er

nachahmt, in bezug auf Güte und Schlechtigkeit

weder einWissen noch einen richtigen Glauben.

Hiernach nicht, wie es scheint.

Ein großer Gelehrter wäre da der in der Poesie sich

mit nachahmender Darstellung befassende Künstler in

bezug auf dieWissenschaft dessen, worüber er dichtet?

Nein, kein sonderlicher!

Platon: Der Staat 619

Aber dessenungeachtet wird er doch seine Nachahmung

forttreiben, ohne bei dem einzelnen Dinge zu

wissen, inwiefern es unbrauchbar oder brauchbar ist;

sondern er wird nur das nachahmen, was dem großen

und ebenfalls auch keineWissenschaft davon besitzenden

Haufen schön zu sein scheint.

Nichts anderes.

Darüber nun sind wir uns, sollte ich doch meinen,

hinlänglich einig, daß erstlich das Nachahmungsgenie

gar kein ordentlichesWissen besitzt von dem, was es

nachahmt, sondern daß die nachahmende Kunst nur

eine Spielerei und keine ernstliche Beschäftigung ist;

daß zweitens die, welche sich mit dramatisch darstellender

Poesie, sei es in theatralischen Iamben oder

epischen Hexametern befassen, Nachahmer im höchsten

Grade sind.

Allerdings.

Wohlan denn, bei Zeus! fuhr ich fort. In bezug auf

diese Nachahmung ist bereits bewiesen, daß sie mit

einem im dritten Grade von der Wahrheit entfernten

Objekte sich beschäftigt, nicht wahr?

Ja.

Daran knüpft sich nun die weitere Frage: Auf welches

der menschlichen Seelenvermögen ist sie mit der

ihr eigenenWirkungskraft offenbar gerichtet?

Was ist denn das für ein Vermögen, wovon du hier

redest?

Platon: Der Staat 620

Folgendes: eine und dieselbe Größe, in der Nähe

und der Ferne durch das Gesicht wahrgenommen, erscheint

uns wohl nicht gleich?

Nein.

So erscheinen uns dieselben körperlichen Gegenstände

krumm und gerade, je nachdem wir sie in oder

außer demWasser schauen, ferner dieselben gezeichneten

Gegenstände bekanntlich hohl und erhaben

gleichfalls infolge einer bei den Farben statthabenden

Täuschung des Gesichtssinnes, und so hat überhaupt

eine jede sinnliche Verblendung der Art offenbar

ihren Grund in unserer Seele: dieser schwache Teil

unserer Natur ist es nun, auf den die Zeichen- und

Malerkunst, die Gaukelkunst und die vielen übrigen

Taschenspielereien ähnlicher Art es anlegen und kein

Blendmittel unversucht lassen.

Ja, richtig.

Erscheinen nun nicht das Messen, Rechnen und

Wägen gegen jene Sinnentäuschungen als die geeignetsten

Hilfsmittel, infolge welcher nicht der Eindruck

der sinnlichen Erscheinung vom Größeren oder Kleineren

oder Mehreren oder Gewichtigeren in uns das

Urteil regiert, sondern ein Vermögen, das jene sinnlichen

Erscheinungen vorher objektiv zu berechnen, zu

messen und zu wägen verstand?

Jawohl!

Aber dies ist doch nun das Geschäft des

Platon: Der Staat 621

rechnenden Verstandes und Vernunftvermögens in

unserer Seele?

Ja, freilich ist es das Geschäft nur dieses vernünftigen

Seelenvermögens.

Wenn dieses Seelenvermögen des Verstandes aber

die sinnlichen Eindrücke mit seinemMaßstabe prüft

und dann findet, daß diese oder jene Dinge größer

oder kleiner sind als diese oder jene (die die Sinne als

gleich darstellten), oder auch daß Dinge gleich sind

(die jene als verschieden ansehen), so kommen ihm

oftmals über dieselben Gegenstände zugleich mit den

Sinnenwahrnehmungen ganz widersprechende Resultate

heraus.

Ja.

Nicht wahr, nach unseren obigen Grundsätzen ist

es aber unmöglich, daß ein und dasselbe Subjekt über

dieselben Objekte entgegengesetzte Vorstellungen

hat?

Und diese Grundsätze waren richtig!

Das ohne den Maßstab logischer Prüfung Vorstellungen

gewinnende Seelenvermögen ist also nicht

identisch mit dem, das mit dem logischen Maßstabe

solche Vorstellungen gewinnt.

Gewiß nicht.

Da ist aber nun doch das demMessen und Berechnen

den Vorzug gebende Seelenvermögen das edelste?

Platon: Der Staat 622

Allerdings.

Somit gehört das mit diesem inWiderspruch stehende

zu den niedrigen Vermögen in unserer Seele.

Notwendig.

Das war es also, was ich vorhin als Behauptung

aufstellte und durch die Erörterung mit dir zur evidentenWahrheit

bringen wollte, daß nämlich die Malerei

und überhaupt die mit Nachahmung sich abgebende

Kunst nicht nur weit von der Wahrheit entfernt ihr

Wesen treibt, sondern auch nur mit einem gleichfalls

von höherer Geistestätigkeit entfernten Vermögen in

uns Verkehr hat, mit ihm buhlt und liebelt zu einem

Endzwecke, der durchaus kein solider, kein wahrer

ist.

Ganz recht, sagte er.

Als etwas Schlechtes galtet also die Nachahmungskunst

sich mit dem Schlechten unserer Seele und muß

demnach auch nur schlechte Folgen erzeugen.

Ja, offenbar.

Tut dies, fuhr ich fort, bloß die auf den Gesichtssinn

sich beziehende Nachahmungskunst oder auch

die auf das Gehör sich beziehende, die wir bekanntlich

Poesie nennen?

Wahrscheinlich, sagte er, tut’s auch diese.

Laß uns jedoch, sprach ich weiter, nicht bloß einem

von der Malerei hergeleiteten Wahrscheinlichkeitsschlusse

unseren Glauben schenken, sondern laß uns

Platon: Der Staat 623

nun auch behufs eines weiteren Beweises direkt zu

eben dem Seelenvermögen treten, mit dem das Nachahmungsgenie

in der Poesie seinen Verkehr hat, und

laß uns einen eigenen Augenschein nehmen, ob es

schlecht oder edel ist.

Ja, das müssen wir.

Laß uns dabei denn auf folgendeWeise zuWerke

gehen: Die Nachahmungspoesie ahmt, denken wir,

Menschen nach, die gezwungene oder freiwillige

Handlungen verrichten, die durch ihr Handeln entweder

glücklich oder unglücklich geworden zu sein meinen,

und die bei allen diesen Handlungen denn entweder

traurig oder lustig sind; oder sollte es außer diesen

zwei Zuständen noch irgend einen anderen geben?

Nein.

Bleibt nun ein Mensch in allen diesen Lagen in

einer harmonischen Seelenverfassung? Oder wird er

nicht hier bei den Handlungen ebenso uneinig mit

sich und kommt er dabei nicht mit sich selbst in einen

Kampf, wie er hinsichtlich des Gesichtssinnes mit

sich uneinig wurde und entgegengesetzte Vorstellungen

zugleich über dieselben Gegenstände in seinem

Inneren erhielt? Doch ich erinnere mich, wir brauchen

diesen Satz wenigstens jetzt gar nicht mehr mit einander

festzustellen; denn in unseren früheren Unterredungen

haben wir uns über alles dieses geeinigt, daß

unsere Seele zu gleicher Zeit voll tausend solcher

Platon: Der Staat 624

Widersprüche ist.

Ja, richtig, sagte er.

Ja, sagte ich, freilich ist dieser Satz richtig; aber die

Erörterung dessen, den wir damals übergangen haben,

müssen wir jetzt noch notwendigerweise nachholen.

Was für ein Satz ist denn dies? fragte er.

Daß ein vernünftiger Mann, antwortete ich, der

z.B. so ein Unglück habe, daß er einen Sohn oder

sonst etwas sehr Teueres verlöre, dies bei weitem

leichter als die übrigen Leute ertragen werde, – diesen

Satz stellten wir schon früher auf.

Ganz recht.

Hierzu müssen wir aber nun noch den Satz erwägen:

ob es ihn nämlich gar nicht schmerzen wird, oder

ob dies zwar unmöglich wäre, aber er den Schmerz

doch einigermaßen bemeistern könne?

Das letztere, sagte er, wird wohl eher das Richtige

sein.

So antworte mir jetzt zur nunmehrigen Erörterung

jenes Satzes auf folgende Fragen:Wenn er von seinesgleichen

gesehen werden kann, wird er da wohl

den Schmerz eher bekämpfen und bemeistern, als

wenn er in einer Einöde allein für sich ist?

Viel eher, erwiderte er, wenn er gesehen wird.

Ja, in der Einsamkeit wird er, denke ich, kein Bedenken

tragen, manche Klagelaute fahren zu lassen,

worüber er sich schämen würde, wenn sie jemand

Platon: Der Staat 625

hörte, und er wird auch manche Handlungen sich erlauben,

bei welchen einen Zuschauer zu haben ihm

nicht lieb wäre.

Ja, so ist’s, sagte er.

Nicht wahr, was einerseits zumWiderstande ermahnt,

ist Vernunft und Sitte, was aber zuWehklagen

zieht, ist eben der für den Schmerz empfindliche

schwache Teil unserer Seele?

Richtig.

Wenn aber in demMenschen über denselben Gegenstand

ein Zug nach entgegengesetzten Richtungen

entsteht, so müssen wohl notwendig zwei Kräfte zugleich

in ihm tätig sein.

Allerdings.

Nicht wahr, die eine ist bereit, der vernünftigen

Sitte zu folgen, wohin die Sitte ihr Anleitung gibt?

Welche Anleitung denn?

Es lehrt die Sitte wohl, es sei am schönsten, bei

Unglücksfallen möglichst ruhig sich zu verhalten und

nicht dem Ausbruche seines Schmerzes sich zu überlassen:

denn man könne ja erstlich nicht wissen, ob

ein Gut oder ein Übel mit dergleichen Zufällen verbunden

sei: zweitens komme einem etwas Ersprießliches

dabei für die Zukunft nicht heraus, wenn man sie

ungeduldig ertrage: drittens sei keiner der menschlichen

Verluste eines so großen Aufhebens wert; viertens

sei das ewige Ach undWeh dem

Platon: Der Staat 626

Geistesvermögen hinderlich, was in jenen menschlichen

Zufällen augenblicklich zur Hand sein muß.

Welchem Geistesvermögen denn hinderlich nach

deiner Meinung? fragte er.

Dem Vermögen, antwortete ich, bei einem geschehenen

Unfall mit sich vernünftig zu Rate zu gehen

und wie bei einemWürfelwurf nach dem, was liegt,

seine Maßregeln zu treffen, wie der vernünftig berechnende

Verstand nach den obwaltenden Verhältnissen

es für das beste hält, statt wie Knaben nach dem Falle

die wunde Stelle mit der Hand zu halten und immerfort

zu schreien; im Gegenteil soll man die Seele

immer gewöhnen, sobald als möglich an das Heilen

undWiedergutmachen des Falles und derWunde zu

gehen, und man soll durch die Heilkunde die Klagelieder

beschwichtigen.

Ja, sagte er, das wäre gewiß die richtigste Art, mit

welcher jemand den Unglücksfällen begegnen könnte.

Wir räumen also damit ein, daß der beste Teil in

uns dem logisch prüfenden Vernunftvermögen gerne

folgt.

Offenbar natürlich.

Der andere Teil dagegen, der zu den Erinnerungen

an den Schmerz und zumWehgeklage hinzieht und

darin unersättlich ist, – nicht wahr, den werden wir für

unvernünftig, für tat- und ratlos erklären dürfen?

Ja, das dürfen wir.

Platon: Der Staat 627

Der ungeduldig sich gebärdende Teil der Seele liefert

nun bekanntlich Stoff zu vieler und mancherlei

Nachahmung; dagegen die verständig überlegende

und ruhige Sinnesart ist, weil sie sich immer gleichbleibt,

weder leicht nachzuahmen noch durch Nachahmung

leicht begreiflich, besonders für einen Volkshaufen

und für eine bunte Menschenversammlung in

Theatern; denn es wäre die Nachbildung eines ihnen

ganz fremden Seelenzustandes.

Ja, ganz und gar.

Nun hat doch offenbar der für die Nachahmungspoesie

geschickte Dichter zu einer solchen verständig

ruhigen Gemütsart keine ursprünglich angeborene

Anlagen, und seine Kunstgeschicklichkeit kann gar

nicht das Ziel haben, derselben zu gefallen, wofern er

den Beifall bei der großen Mehrzahl davontragen

will; vielmehr hat er nur Anlagen für die zu kläglicher

und ungeduldiger Gebärdung und zu vielfacher Änderung

aufgelegte Sinnesart, weil diese leicht nachzuahmen

ist.

Offenbar.

Nicht wahr, jetzt erst können wir dem poetischen

Nachahmungsdichter mit vollständigem Grunde zu

Leibe gehen und ihn als vollkommenes Seitenstück

zumMaler hinstellen? Denn ihm ja ist jener Dichter

ganz ähnlich erstlich dadurch, daß er im Vergleich

mit der eigentlichen Wahrheit nur schlechte

Platon: Der Staat 628

Scheinerzeugnisse hervorbringt; zweitens ist er ihm

such insofern ganz gleich dadurch, daß er nur mit

einem gleichfalls schlechten Seelenvermögen in uns

verkehrt und nicht mit dem besten. Und so dürften wir

denn nun aus vollkommenen Rechtsgründen ihn nicht

in einen Staat aufnehmen, der eine vollkommene Verfassung

hat und behalten soll, weil er das niedere Seelenvermögen

weckt, nährt und durch dessen Großfütterung

das edle vernünftige verdirbt, geradeso wie

wenn einer in einem Staate die gemeinen schlechten

Kerle zu Machthabern machte, ihren Händen den

Staat überlieferte und die feingesitteteren Edlen zugrunde

richtete; auf gleicheWeise dürfen wir von dem

poetischen Nachahmungsgenie behaupten, daß es in

der Seele jedes individuellen Menschen eine schlechte

Verfassung einführt, indem es dem unvernünftigen

Teile derselben, der z.B. weder das Größere noch das

Kleinere gründlich unterscheidet, sondern dieselben

Objekte bald für groß, bald für klein ausgibt, dadurch

verführerisch zuWillen ist, daß es von ohnehin unwesenhaften

Bildern nur hohle Schattenbilder fabriziert,

die von der eigentlichen wahrenWesenheit ganz weit

entfernt sind.

Allerdings.

Des allergrößten Übels jedoch haben wir die Nachahmungspoesie

noch nicht angeklagt: Daß sie nämlich

sogar auch die anständigen Freunde der Ordnung

Platon: Der Staat 629

und Vernunft, mit Ausnahme einiger ganz wenigen,

zu verderben imstande ist, das ist das allerschrecklichste

Unheil.

Das müßte wohl sein, wenn anders sie solches verübt.

Höre nur und hilf mir jenen Satz beweisen:Wenn

die Besten von uns den Homer oder einen anderen

Dramatiker hören, wie er irgend einen trauernden und

unterWehgeklage eine lange Tirade hersagenden Helden

nachahmend darstellt, oder wie er Helden eine

Jammermusik machen und die Brust sich zerschlagen

läßt, – so weißt du ja wohl, daß wir daran unsere

Freude haben, daß wir mit gänzlicher Hingebung

ihnen mit unserem Mitgefühl folgen, daß wir ganz

ernstlich denjenigen als einen guten Dichter loben, der

uns am stärksten in solchen Gemütszustand versetzen

kann.

Ja, das weiß ich allerdings.

Wenn aber einem von uns ein eigenes Herzensleid

zustößt, so sieht dein Verstand auch wiederum ein,

daß wir in das Gegenteil unsere Ehre setzen, darin

nämlich, ruhig und standhaft sein zu können, überzeugt,

daß dies das Zeichen eines Mannes, jenes aber,

dem wir vormals unseren Beifall zollten, das Zeichen

einesWeibes ist.

Ja, sagte er, das sehe ich ein.

Kann nun, fuhr ich fort, ein solches

Platon: Der Staat 630

Beifallklatschen einem Ehre machen, wenn man beim

Anblicke eines Helden in solchem Zustande, den man

unter seiner eigenen sittlichen Würde hält und dessen

man sich schämen würde, statt des Abscheues Freude

und Lobsprüche äußert!

Nein, wirklich, sagte er, solches Beifallklatschen

kann ich nicht für vernünftig halten.

Wahrlich nicht, sprach ich, zumal wenn du die

Sache von einer weiteren Seite betrachten wolltest!

Von welcher denn?

Wenn du beherzigen wolltest, daß der niedere Teil

unserer Seele, der früher mit Gewalt niedergehalten

wurde und einen Heißhunger hatte, sich einmal recht

satt zu weinen, satt zu heulen und dran zu laben, weil

er seiner natürlichen Beschaffenheit wegen hiernach

verlangen muß, – daß er es dann gerade ist, der von

den erwähnten Dichtern seinen Hunger und seine Lust

gestillt bekommt; ferner daß, während der edelste Teil

in uns, aus Mangel an hinlänglicher geistiger Bildung,

auch aus Mangel an Erziehung, dann in seiner

Obhut über jenen klagsüchtigen Teil nicht so strenge

ist, weil dieser ja doch nur an fremden Leidensgeschichten

seinen Blick weide und es ihm selbst keine

Unehre bringe, einem anderen, seiner Äußerung nach

braven Manne, wenn er auch unangemessen trauert,

seinen Beifall und sein Mitleid zu schenken; ja, daß

der vernünftige Seelenteil daraus gar einen Gewinn zu

Platon: Der Staat 631

ziehen glaubt, nämlich das dort entstehende Vergnügen,

auf das er durch Verachtung all der Dichterei

überhaupt nicht gern verzichten würde. Denn nur wenige,

denke ich, haben die Gabe der vernünftigen

Überlegung, daß man dabei nach einem unwandelbaren

psychologischen Gesetze von den fremden tragischen

Leiden mancherlei für seine eigenen profitiert:

hat man nämlich durch das Schauen jener fremden tragischen

Fälle den Jammerseelenteil großgefüttert, so

ist es dann gar nicht leicht, diesen bei eigenen tragischen

Fällen im Zaume zu halten.

Ja, ganz richtig, sagte er.

Gilt nicht dieselbe Überlegung auch vom Komischen?

Falls du nämlich an Schwanken und Spaßen,

die selbst zu machen du dich schämen würdest, eine

gewaltige Freude hättest und sie nicht als Schlechtigkeiten

verabscheutest, wenn du sie bei einer komisch

nachahmenden Darstellung auf der öffentlichen

Bühne oder auch im Privatkreise anhörtest, – da verübst

du dieselbe Sünde an deiner Seele wie bei den

tragischen Jammerszenen: Dem niederen Seelenvermögen

nämlich, welches bei seiner Lust zu Spaßmacherei

du auch in dieser Beziehung durch die Vernunft,

aus Furcht vor dem Rufe eines Hanswurstes, in

deiner Brust niederhieltest, läßt du dann wiederum die

Zügel schießen; und hast du es dort, ohne es gewahr

zu werden, bis zur bübischen Ausgelassenheit

Platon: Der Staat 632

herangefüttert, so läßt du dich oftmals von ihm in den

eigenen Kreisen über die sittlichen Grenzen hinausreißen,

so daß du ein ganzer Komödiant wirst.

Ja, sicher, sagte er.

Und wird nicht auch von dem Geschlechtstriebe,

von der Zornmütigkeit, überhaupt von allen den begierlichen

Regungen sowohl wie von Empfindungen

von Unlust und Lust in der Seele, die bekanntlich

nach unserer Lehre bei jeder Handlung folgen, selbstverständlich

gelten, daß die Nachahmungspoesie ähnliche

nachteilige Folgen in uns hervorbringt? Denn sie

füttert und tränkt diese Triebe, statt daß sie absterben

sollen; sie macht sie zu unseren Gebietern, statt daß

sie beherrscht werden sollen, auf daß wir besser und

glücklicher statt schlechter und unglücklicher werden.

Ich kann hiergegen nichts einwenden, erwiderte er.

Wenn du daher, mein lieber Glaukon, fuhr ich fort,

wiederum auf Lobpreiser Homers triffst, die da behaupten,

daß dieser Dichter Griechenland gebildet,

daß in bezug auf Staats- und Kriegsregiment sowie

auf Unterrichtung der Menschheit man ihn in die

Hand nehmen und studieren müsse, daß man nach

diesem Dichter sein ganzes Leben einrichten und führen

müsse, – so mußt du ihnen zwar in Liebe und

Freundlichkeit begegnen, als Leuten, die so gut sind,

als sie sein können, mußt auch zugeben, daß Homer

der größte Dichter und der Fürst der Dramatiker ist:

Platon: Der Staat 633

darfst dabei aber nicht vergessen, daß von Dichtkunst

einzig nur Hymnen auf die Götter und Lobgesänge

auf die tüchtigen Männer in unseren Staat aufgenommen

werden dürfen.Wenn du dagegen jene sentimentale

Poesie, sei es in dramatischen Chören oder in epischen

Gesängen, aufnimmst, so wird nur die Empfindung

von Lust und Unlust in dem Staate das Szepter

führen, statt des herkömmlichen Gesetzes und statt

dessen, was allgemein zu allen Zeiten als das Beste

gegolten hat: statt der Vernunft!

Ja, sagte er, sehr wahr!

So weit, sagte ich, unsere Rechtfertigung in betreff

unserer abermaligen Erinnerung über die Nachahmungspoesie,

daß wir sie früher wegen ihrer erwähnten

heillosen Untugenden mit Fug und Recht aus

dem Staate verbannten; denn das objektive Sittengesetz

der Vernunft leitet unsere Überzeugung. Damit

ihr jedoch nicht einfällt, dagegen uns Philosophen der

Härte und Inhumanität anzuschuldigen, wollen wir zu

allem Überflusse dazu bemerken, daß schon von alters

her ein gewisser Streit zwischen der wahrenWissenschaft

und der Poesie besteht. Denn Beweise

davon sind die Phrasen: Es bellt gegen seinen Herrn

ein kläffender Hund; fernen ein Meister in den Windbeuteleien

von Toren; ferner: das die Gottheit meisternde

Volk der Philosophen; ferner: die fein grübelnden

Hungerleider, und noch tausend andere

Platon: Der Staat 634

zeugen von einer uralten Feindschaft beider. Dessenungeachtet

soll von unserer Seite die Erklärung gegeben

werden, daß wir die sentimentale und Nachahmungspoesie

gern mit offenen Armen wieder aufnehmen

wollen, wenn sie nur irgend einen vernünftigen

Grund angeben könnte, weshalb sie in einem

Staate von moralisch vollkommener Verfassung vorhanden

sein müßte, denn wir kennen aus Erfahrung

ihre entzückenden Reize; aber darum dürfen wir eine

gewonnene wahre Überzeugung nicht verraten, denn

es wäre eine Sünde und nicht zu verantworten. Nicht

wahr, auch du, mein Lieber, bist ein Freund der Poesie,

besonders wenn sie dir in der Person des Homer

erscheint?

Ja, sehr.

Ihr ist also das Recht eingeräumt, aus der Verbannung

wieder zurückzukehren, wenn sie sich gründlich

verteidigen können wird, sei es in einem Lied oder in

einer anderen Versart?

Jawohl.

Und dazu wollen wir auch ihren Schutzherren, sofern

sie nicht selbst Dichtergenien sein wollen, sondern

nur Dichterfreunde, die außerordentliche Erlaubnis

geben, für sie eine Verteidigungsrede, aber in verständiger

Prosa, über das Thema zu halten, wie sie

nicht bloß eine Lust, sondern auch ein Vorteil und

nützlich für Staatsverfassungen und das menschliche

Platon: Der Staat 635

Privatleben wäre. Denn unserem Staate ja käme der

Gewinn zugute, wenn sich herausstellen sollte, daß

sie nicht bloß eine Lust, sondern auch nützlich zu sein

scheint.

Ja, sagte er, allerdings wäre der Gewinn auf unserer

Seite.

Wenn sich dieser aber nicht herausstellt, dann müssen

wir es, mein lieber Freund, machen wie die, die

einmal in jemanden verliebt waren;Wie diese nämlich,

wenn sie zur Einsicht kommen, daß die Liebe

nichts taugt, zwar mit Gewalt, aber dennoch sich von

ihr losreißen, so wollen auch wir, weil uns denn von

der in gebildeten Staaten üblichen Erziehungsweise

eine Liebe für die Poesie der vorhin beschriebenen

Art eingepflanzt ist, ihr zwar wohlwollend Gelegenheit

geben, sich als eine Kunst vom edelsten und

wahrsten Gehalte zu erweisen; solange sie aber nicht

imstande ist, sich gegen die von uns vorgebrachten

Gründe völlig zu rechtfertigen, so werden wir sie

nicht anders hören, als indem wir mit dem Resultate

der hier angestellten Untersuchung und mit dieser Art

von Bannspruch uns unverwundbar gegen sie machen

und uns also wohl in acht nehmen, nicht wieder in

jene jugendlich leichtsinnige und nur dem ungebildeten

Volke eigene Liebe zu verfallen. Aus jenem Resultate

entnehmen wir aber nun, daß man auf die Poesie

der beschriebenen Art als einen Gegenstand von

Platon: Der Staat 636

wahrerWesenheit und von wirklichem Gehalte sich

nicht verlegen soll, daß vielmehr der Zuhörer, der um

die moralische Verfassung seines Inneren gewissenhaft

besorgt ist, sich vor ihr wohl in acht nehmen muß

und alle Grundsätze unverbrüchlich festzuhalten hat,

die wir über Poesie hier erörtert haben.

Ja, sagte er, ich stimme dir ganz bei.

Ja, viel, mein lieber Glaukon, sagte ich, viel steht

auf dem Spiele, viel mehr, als du glauben kannst, ob

einer sittlich gut oder schlecht ist, so daß er sich

weder durch Ehre noch durch Geld noch selbst durch

ein Königtum, geschweige denn durch Poesie hinreißen

lassen darf, die Gerechtigkeit und den übrigen

Adel der Seele zu vernachlässigen!

Ja, sagte er, ich stimme dieser deiner Ansicht infolge

unserer bisher dargestellten Gründe bei, und es

tut’s auch wohl jeder andere.

Und doch, fuhr ich fort, haben wir die größten Belohnungen

und ausgesetzten Preise der Tugend noch

nicht dargestellt!

Eine ungeheure Größe, sagte er, denkst du da,

wenn es sonst noch größere gibt als die bereits von

uns besprochenen!

Aber was, fragte ich, könnte in einer so kleinen Lebenszeit

sonderlich Großes einem zuteil werden?

Denn diese ganze Zeit von der Wiege bis zum hohen

Greisenalter ist, mit der Ewigkeit verglichen, nur eine

Platon: Der Staat 637

Spanne lang.

Ja, antwortete er, freilich gar nichts.

Was sagst du nun zu folgendem? Ein unsterbliches

Wesen, soll das wohl für eine solche Spanne Zeit oder

für die Ewigkeit gerungen haben?

Ich wenigstens, sagte er, glaube wohl letzteres;

aber was willst du mit diesem allgemeinen Satze

sagen?

Weißt du denn nicht, fragte ich weiter, daß unsere

Seele unsterblich ist und in Ewigkeit nicht vergeht?

Auf diese Frage antwortete er, mich mit sich verwunderndem

Blicke anschauend:Wahrhaftig, ich

weiß es noch nicht, – und du? Kannst du denn den Beweis

davon liefern?

Wenn ich mir nicht zu viel zutraue, sagte ich; aber

ich glaube, auch du kannst ihn liefern; denn er ist gar

nicht schwer.

Für mich doch, sagte er; drum möchte ich gar zu

gerne jenes »gar nicht Schwere« von dir hören.

Du sollst es hören, sprach ich.

So sprich nur! sagte er.

Du nennst doch, fuhr ich fort, etwas gut und etwas

schlecht?

Allerdings.

Hast du denn nun auch die Ansicht darüber, die ich

habe?

Welche denn?

Platon: Der Staat 638

Daß zerstörend und verderbend alles Übel, daß dagegen

erhaltend und wohltuend das Gute ist.

Ja, sagte er, ich habe diese Ansicht.

Weiter: Nimmst du auch folgenden Satz an? Ein

Übel gibt’s für jedes Ding sowie auch ein Gut: so z.B.

ist das Übel für Augen Augenweh, im allgemeinen für

jeden organischen Körper Krankheit, für Getreide

Brand, für Gehölz Fäulnis, für Eisen und Erz Rost,

und so gibt’s, wie gesagt, fast für alle Dinge ein ursprünglich

eigenes Übel und Leiden.

O ja, sagte er, den Satz nehme ich an.

Nicht wahr, wenn ein Übel der Art einem Dinge

sich ansetzt, so macht es das, woran es sich ansetzte,

nicht nur schadhaft, sondern bewirkt auch endlich

dessen gänzliche Auflösung und Vernichtung?

Allerdings.

Entweder das einem jeden Dinge ursprünglich eigene

Übel und Schädliche vernichtet es, oder wenn dies

es nicht vernichtet, so kann sonst nichts anderes in der

Welt es verderben. Denn einen dritten Fall gibt es

nicht: es kann ja weder das (erhaltende) Gute es vernichten

noch auch das, was weder gut noch übel ist.

Unmöglich, sagte er.

Finden wir also eines der Wesen, wofür es zwar ein

eigenes Übel gibt, das es schlecht macht, ohne es jedoch

vernichtend aufzulösen, so haben wir da den

wissenschaftlichen Beweis, daß es für einWesen

Platon: Der Staat 639

solcher Natur keine Vernichtung gibt?

Ja, sagte er, in diesem Falle offenbar.

Nun, fuhr ich fort, die Anwendung dieser allgemeinenWahrheiten

auf die menschliche Seele! Nicht

wahr, auch für sie gibt’s ein Übel, das sie schlecht

macht?

Ja, sicher, sagte er, zumal jene moralischen Übel,

die wir vorhin namentlich durchgenommen haben:

Ungerechtigkeit, sinnliche Ausschweifung, Feigherzigkeit,

Vernachlässigung des wissenschaftlichen Unterrichtes

und der Erziehung.

Kann nun eines dieser Übel die menschliche Seele

auflösen und vernichten? Vor der Antwort auf diese

Frage gib aber acht, daß wir uns nicht irreführen lassen

durch die Einbildung, daß ein ungerechter und

vernunftloser Mensch, wenn er durch Ertappung auf

einer ungerechten Handlung den physischen Tod findet,

durch die Ungerechtigkeit, als eine Schadhaftigkeit

der Seele, zugrunde gehe; du mußt vielmehr deine

Überlegung so anstellen: Den Körper reibt und zernichtet

des Körpers Schadhaftigkeit, d.h. die Krankheit,

und bringt ihn endlich dahin, daß er als Körper

nicht mehr ist, und so werden überhaupt alle vorhin

genannten Dinge von dem durch sein Anhaften und

Einwohnen verderbenden Übel zum Nichtmehrsein

gebracht; ist es nicht so?

Jawohl!

Platon: Der Staat 640

Wohlan, gib nur acht bei Anwendung desselben

Satzes auf die Seele! Vermag auf dieselbeWeise eine

in der Seele einwohnende Ungerechtigkeit oder ein

anderer Seelenschaden durch sein bloßes Einwohnen

und Anhaften sie zu verderben und ganz aufzuzehren,

bis er sie endlich zum Tode und zur Trennung vom

Körper bringt?

Nein, sagte er, das ist noch gar nicht auf irgend

eineWeise erlebt worden!

Nun ist es aber, fuhr ich fort, nach den vorigen allgemeinen

Sätzen ein logischerWiderspruch, daß die

Schadhaftigkeit eines anderen fremden Dinges ein

Etwas vernichten soll, wenn die eigene Schadhaftigkeit

dieses Etwas nicht vernichten kann.

Ja, ein logischerWiderspruch!

Ja freilich, Glaukon, sprach ich, denn du brauchst

nur zu bedenken, daß wir ebenso z.B. auch nicht

glauben, daß ein menschlicher Körper von der nur

dem Getreide eigenen Schadhaftigkeit zugrunde gehen

müsse, bestehe nun jene Schadhaftigkeit in Ungenießbarkeit

infolge Alters oder Fäulnis oder dergleichen, –

sondern wir denken vernünftigerweise dann so: Wenn

die Schadhaftigkeit des Getreides dem Körper ein unheilbares

Verderbnis beibringt, so gehe der Körper an

einer durch jenes Getreide veranlaßten eigenen Schadhaftigkeit

zugrunde, welche Krankheit heißt; daß aber

von der Schadhaftigkeit des Getreides, als der eines

Platon: Der Staat 641

anderen fremdenWesens, der davon verschiedene

menschliche Körper jemals zerstört werde, also von

einem fremden Übel, welches das eigene nicht in ihm

hervorbringen konnte, – das werden wir niemals behaupten.

Ja, sagte er, ganz vernünftig wäre deine Überlegung!

Nach derselben Schlußweise, fuhr ich fort, dürfen

wir, wenn des Körpers Schadhaftigkeit einer Seele

keine Seelenschadhaftigkeit verursachen kann, uns

auch nicht die Behauptung einfallen lassen, daß eine

Seele von einem fremden Schaden außer ihr ohne das

Dazukommen der ihr eigenen Schadhaftigkeit, d.h.

daß ein ganz verschiedenesWesen durch das Übel

eines ganz von ihm verschiedenen Dinges vernichtet

werde.

Ja, meinte er, logisch ganz richtig.

Wir müssen also die logische Unrichtigkeit dieser

Schlußweise nachweisen, oder wir dürfen, solange sie

unnachgewiesen bleibt, nicht behaupten, daß die

Seele durch ein Fieber, überhaupt durch eine Krankheit,

daß sie durch einen Schwertstreich, selbst wenn

jemand den ganzen Körper in die kleinsten Atome

zerschnitte, deshalb im geringsten vernichtet werde,

bevor nicht einer nachgewiesen haben wird, daß durch

diese körperlichen Leidenszustände sie selbst, die

Seele, ungerechter und unheiliger werde; daß aber von

Platon: Der Staat 642

einem in einem anderenWesen vorhandenen fremden

Übel, ohne daß das jedemWesen eigentümliche Übel

dareinkommt, eine Seele oder überhaupt ein anderes

Wesen vernichtet werden könne, – diese Behauptung

können wir logisch von niemandem zulassen.

Nun, sagte er, das wird doch niemand nachweisen

wollen, daß die Seelen der Sterbenden durch den Tod

z.B. ungerechter werden!

Wenn jemand aber, sprach ich weiter, dennoch unserer

Schlußweise keck ins Messer laufen und behaupten

wollte, daß ein Mensch durch das Sterben

ungerechter werde, um nämlich sich nicht gezwungen

zu sehen, die Unsterblichkeit der Seelen einräumen zu

müssen, – so werden wir, dieWahrheit jener Behauptung

einmal als wahr angenommen, hierauf für erwiesen

halten können, daß die Ungerechtigkeit für ihren

Inhaber geradeso tödlich wie eine Krankheit sei, daß

die von der Ungerechtigkeit Behafteten, je nach dem

Grade ihrer Teilnahme, früher oder später, von nichts

anderem den Tod erleiden als eben von der Ungerechtigkeit

infolge ihrer natürlichen Tötungskraft, und daß

nicht, wie bis auf diese Stunde, die Ungerechten von

einer anderen, außer ihnen befindlichen Macht, von

der der strafenden Gerechtigkeit, ihren Tod finden.

Wahrhaftig, versetzte er, nicht so ganz fürchterlich

würde die Ungerechtigkeit erscheinen, wenn sie für

den damit Behafteten tödlich sein würde; denn eine

Platon: Der Staat 643

Befreiung von bösen Menschen würde sie in diesem

Falle sein. Aber in der Wirklichkeit erscheint sie ganz

als das Gegenteil: hier vernichtet sie, die Ungerechtigkeit,

die andereWelt, wenn sie es vermag, und macht

den damit Behafteten sehr lebenskräftig, und nicht

bloß lebenskräftig, sondern auch wacker bei der

Nacht; so weit ist die Ungerechtigkeit von der Gefahr

entfernt, ihrem Inhaber tödlich zu sein!

Ganz richtig bemerkt, erwiderte ich; denn wenn die

eigne Schadhaftigkeit und Schlechtigkeit nicht mächtig

genug ist, die Seele zu vernichten, so wird offenbar

schwerlich von einem zur Vernichtung eines anderen

ganz verschiedenenWesens bestimmten Übel eine

Seele oder sonst etwas überhaupt vernichtet werden,

mit Ausnahme desWesens, zu dessen Untergang es

ursprünglich bestimmt ist.

Jawohl, schwerlich, sagte er, wie sich offenbar aus

dieser Schlußfolgerung ergibt.

Wenn sie also von gar keinem Übel in der Welt

sich vernichten läßt, weder vom eigenen in sich noch

von einem fremden außer sich, so folgt offenbar mit

unbestreitbarer Gewißheit, daß sie ein ewiges und,

wenn ewiges, unsterbliches Wesen sein müsse.

Ja, sagte er, unbestreitbar.

So weit also dieser Beweis! fuhr ich fort. Hat er

aber seine Richtigkeit, so siehst du ein, daß die Seelen

auch an Zahl ebenso viele bleiben. Denn weder

Platon: Der Staat 644

weniger können ihrer werden, wenn keine zugrunde

geht, noch mehr.Wenn nämlich die unsterblichen

Wesen irgend einer Art mehr werden könnten, so

müßte der Zuwachs offenbar aus dem Bereiche des

Sterblichen geschaffen werden, und so müßte zuletzt

alles unsterblich sein.

Richtig bemerkt.

Aber, sprach ich weiter, an das wollen wir nicht

glauben, weil es den allgemeinen Verstandesgesetzen

widerstreitet, und wollen auch nicht glauben, daß die

Seele, ihrem innersten Wesen nach betrachtet, so ein

Ding sei, in dem nichts als eine große Buntscheckigkeit

des Charakters, eine stündliche Veränderlichkeit

und Inkonsequenz stecke.

Wie meinst du das? fragte er.

Es ist nicht wohl möglich, antwortete ich, daß

etwas ewig ist, was mehrfache Bestandteile hat, ohne

daß diese in der schönsten Harmonie zu einander stehen,

wie sich es jetzt von der Seele herausgestellt hat.

Nein, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht möglich.

Daß die Seele also ein unsterbliches Wesen ist, das

beweisen unbestreitbar sowohl die hier eben als auch

die sonst darüber geführten Untersuchungen; aber was

ihr wirklichesWesen im reinsten Lichte ist, das darf

man nicht an ihr ersehen wollen nach ihrer Verunreinigung

durch die Gemeinschaft mit dem Körper sowie

durch andere verunstaltende Übel: ihr reines Wesen

Platon: Der Staat 645

läßt sich vielmehr nur völlig durch das Auge des vernünftig

forschenden Verstandes erschauen; und mit

diesem Auge wird man ihrWesen viel schöner erblicken,

wird man Gerechtigkeiten und Ungerechtigkeiten,

überhaupt alle vorhin erörterten Tugenden und

Untugenden, klarer in die Augen springend finden.

Die jetzt hier über ihrWesen vorgetragenenWahrheiten

aber stehen im Verhältnisse zu dem Zustande, in

dem sie gegenwärtig auf Erden sich zu erkennen gibt;

wir haben sie jedoch nur in einem Zustande geschaut

wie die, welche den Meergott Glaukos sehen: Nicht

leicht können diese nämlich seines ursprünglichen

Wesens ansichtig werden, weil seine ursprünglichen

Gliedmaßen teils zerschlagen, teils zerstoßen und von

denWellen auf allerlei Weise verunstaltet, teils auch,

weil sie mit anderen, fremden Körpern, wie z.B. mit

Muscheln, Seemoos und Gestein bewachsen sind, so

daß er eher jedemMeerungeheuer gleicht als seiner

ursprünglichen natürlichen Gestalt. Einen solchen von

tausenderlei beschädigenden und verunstaltenden

Übeln herbeigeführten Zustand bietet auch die Seele

hier unserer Betrachtung dar; darum, mein Glaukon,

muß man dahin die Blicke richten!

Wohin? fragte er.

Nach ihrer Wißbegierde, und hier beachte die Objekte

ihres Verlangens und die Qualität ihres geistigen

Verkehrs: dann nimm davon ab, wie sie mit dem

Platon: Der Staat 646

Göttlichen, Unsterblichen und ewigWesenhaften verwandt

ist, und was sie erst werden könnte, wenn sie

einmal jenem Göttlichen usw. mit ungeteilter Kraft

folgt, wenn sie mittels solchen Schwunges aus der

Meerestiefe, worin sie sich jetzt befindet, erhoben und

das Gestein und Muschelwerk von sich abgestoßen

hat, mit dem sie jetzt, weil sie sich nur mir Irdischem

nährt, erdig und steinig ringsum bunt und wild bewachsen

ist, und zwar infolge jener von der Welt als

Glückseligkeit gepriesenen irdischen Genüsse. Und

dann erst würde man ihr wahres ursprüngliches

Wesen sehen können, ob sie vielgestaltig, ob sie eingestaltig,

ob sie so oder so beschaffen ist. Für jetzt

aber haben wir, denke ich wenigstens, ihre im irdischen

Menschenleben sich zu erkennen gebenden Zustände

und Formen gründlich genug dargestellt.

Ja, sagte er, allerdings.

Nicht wahr, sprach ich weiter, hier bei der Beantwortung

unserer zweiten Hauptfrage haben wir uns

überhaupt aller äußeren Rücksichten entledigt, insbesondere

haben wir nicht die baren Belohnungen, nicht

die äußeren Anerkennungen derWelt bei Gerechtigkeit

in Anschlag gebracht, wie dies nach eurer Bemerkung

Homer und Hesiod bei ihren Lobgesängen auf

diese getan haben; sondern wir haben bei der Gerechtigkeit

an und für sich, ohne alle Rücksicht auf Belohnung,

gefunden, daß sie für den Hauptteil des

Platon: Der Staat 647

Menschen, die Seele, das Beste sei, daß sie gerecht

handeln müsse, mag sie nun den Gygesring haben

oder nicht, und zu solchem Ringe noch den Helm des

Pluton dazu!

Sehr wahr bemerkt, sagte er.

Würde es denn also, fragte ich, mein lieber Glaukon,

nunmehr ohne alle Besorgnis einer Verunglimpfung

gegen die Gerechtigkeit und die übrige Geistestüchtigkeit

geschehen können, daß man ihr zu jenen

Vorteilen, die sie an sich hat, noch als Zulage die

ganze Summe und Qualität aller jener baren Belohnungen

wieder zustellte, die sie der Seele von seilen

der Menschen wie der Götter nicht nur im Leben des

Menschen hiernieden, sondern auch nach dessen Ende

darbietet?

Ja, sagte er, allerdings können wir das.

Werdet ihr mir also die Tugendpreise jetzt wieder

zurückgeben, die ihr während der Beantwortung der

zwei Streitfragen über dasWesen und die absolute

Vorzüglichkeit der Tugend euch als Vorsprung hattet

geben lassen?

Was war denn das doch?

Ich habe euch dabei den Vorsprung gegeben, daß

der Gerechte das Ansehen eines Ungerechten und der

Ungerechte das Ansehen eines Gerechten haben solle.

Denn ihr wäret der verständigen Ansicht, daß man,

wenn auch diese Verhältnisse Göttern und Menschen

Platon: Der Staat 648

nicht verborgen bleiben könnten, doch der streng wissenschaftlichen

Untersuchung wegen diese vorläufige

Annahme einräumen müsse, damit das reine Wesen

der Gerechtigkeit, ohne Rücksicht auf Belohnung, im

Vergleiche zum reinen Wesen der Ungerechtigkeit,

ohne Rücksicht auf Strafe, sich endgültig beurteilen

lasse; oder erinnerst du dich nicht mehr?

Es wäre von mir sehr unrecht, bemerkte er, wenn

ich mich dessen nicht mehr erinnerte.

Nachdem nun diese endgültigen Urteile vorliegen,

fuhr ich fort, so mache ich im Namen der Gerechtigkeit

die Rückforderung, daß die wohltätigen Anerkennungen,

die von selten der Götter und Menschen für

sie wirklich statthaben, auch von uns als wirklich vorhanden

zugegeben werden, damit sie auch jene Siegespreise

davontrage, die sie von ihrem äußeren Ansehen

erwirbt und unter ihre Anhänger verteilt, nachdem

sie ausgemachterweise auch die von ihrem inneren

reinen Sein undWesen entspringenden geistigen

Güter verteilt und noch nicht diejenigen getäuscht hat,

die sie im Geist und in derWahrheit angeeignet

haben.

Ja, sagte er, gerecht sind deine Forderungen.

Da werdet ihr mir nun, sprach ich, erstlich dies zurückgeben,

daß der Gottheit gewiß nicht verborgen

bleibt, welchen Charakter jeder von beiden hat?

Ja, sagte er, das wollen wir.

Platon: Der Staat 649

Bleiben sie aber nicht verborgen, so muß der eine

Gott lieb, der andere Gott verhaßt sein, wie wir auch

im Anfange einräumten.

Es ist so.

Werden wir hierauf hinsichtlich des von Gott geliebten

Gerechten nicht weiter zugeben müssen, daß

alle von Gottes Hand kommenden Schickungen ihm

allemal als die möglichst besten zuteil werden, mit

Ausnahme des Falles, daß ihm von einem früheren

Vergehen eine nach der moralischenWeltordnung unabwendbare

Büßung bevorstand?

Jawohl.

Es ist also bei dem gerechten Manne, wenn er in

Armut, Krankheit oder in einem anderen scheinbaren

Übel sich befindet, anzunehmen, daß ihm diese

scheinbaren Übel endlich doch zu irgend einem Gut

ausschlagen werden, in diesem Leben oder nach dem

Tode. Denn offenbar wird von der Gottheit der nicht

verlassen, wer sich eifrig bemühen will, gerecht zu

werden und durch Übung der Tugend Gott ähnlich zu

weiden, soweit es einemMenschen möglich ist.

Ja, sagte er, sicherlich wird ein solcher Mann Gottes

von seinesgleichen nicht verlassen.

Nicht wahr, von dem Ungerechten müssen wir das

Gegenteil von allem dem denken?

Ja, durchaus!

Dieses wären denn einmal die von Seiten der

Platon: Der Staat 650

Gottheit dem Gerechten zukommenden äußeren Siegespreise.

Ja, das sind sie, meines Bedünkens wenigstens,

sagte er.

Wie steht es nun, fuhr ich fort, zweitens mit denen

von menschlicher Seite? Wenn man in dieser Beziehung

das eigentlich wahre Verhältnis ausdrücken soll,

spricht sich das nicht in folgendem Gleichrusse aus?

Geht es nicht den Meistern in der Ungerechtigkeit einerseits

wie allen denWettläufern, die in der Rennbahn

hinunter gut laufen, herauf aber nicht? Zuerst

bei ihrem Auslaufe geht es frisch und munter; aber am

Ende werden sie ein Gegenstand des Spottgelächters,

wenn sie die Ohren bis auf die Achseln hängen lassen

und ohne Siegeskranz davoneilen; die wahren Laufkünstler

dagegen gelangen an das bestimmte Ziel,

empfangen ihre Siegespreise und werden bekränzt. Ist

das nun nicht auch bei den Gerechten meist der Fall?

Am Ende eines jeden Geschäftes, eines jeden menschlichen

Verhältnisses sowie am Ende des Lebens gewinnen

sie das Ansehen in den Augen derWelt und

bekommen auch von Seiten der Menschen die Preise

der Tugend.

Ja, das ist sicher meist der Fall.

Wirst du nun nichts dagegen haben, wenn ich von

solchen Gerechten da behaupte, was du deinerseits

von den Ungerechten behauptetest? Denn ich werde

Platon: Der Staat 651

doch nun behaupten dürfen, daß die Gerechten, wenn

sie älter geworden sind, in ihrem Staate die Ämter

haben, wenn sie wollen, daß sie aus einer Familie heiraten,

aus welcher sie wollen, daß sie ihre Töchter

verehelichen, an wen sie wollen, und überhaupt alle

äußeren Vorteile, die du von deinen Ungerechten behauptest,

behaupte ich nun von meinen Gerechten.

Und andererseits werde ich doch auch von Ungerechten

sagen dürfen, daß die meisten von ihnen, wenn sie

auch in den früheren Jahren unentlarvt bleiben sollten,

am Ende ihrer Laufbahn erwischt und zuschanden

werden; daß sie im späteren Alter im Elende leben;

daß sie von Mitbürgern wie Fremdlingen bittere Mißhandlungen,

Peitschenhiebe und alles andere erleiden,

dessen Aufzählung nach deiner Aussage allerdings

etwas plump lautet: alle diese Qualen denke auch von

mir aufgezählt gehört zu haben, in der Überzeugung,

daß sie den Ungerechten widerfahren; aber sieh zu, ob

du nicht gegen diese meine Behauptung noch etwas

einzuwenden hast!

Gar nichts, sagte er; denn deine Behauptungen sind

gerecht.

Das wären also, fuhr ich fort, die äußeren Preise,

Belohnungen und Geschenke, die dem Gerechten

schon in diesem Leben auf Erden von Göttern und

Menschen außer jenen inneren Gütern zuteil werden,

die die Gerechtigkeit an sich schon gewährt.

Platon: Der Staat 652

Ja, sagte er, herrliche und sichere Belohnungen!

Diese hier erwähnten Resultate, sprach ich weiter,

sind nun doch nichts, weder an Menge noch an

Größe, im Vergleich mit jenen, die beide (den Gerechten

und den Ungerechten, Tilgend und Laster)

nach dem Tode erwarten. Aber diese letzteren Folgen

nach dem Tode muß man auch noch hören, damit

jeder von beiden seine vollständige Auszahlung von

dem erhält, was unsere Untersuchung ihm zu verkünden

schuldig ist.

O rücke doch damit heraus! sagte er. Denn keine

anderen Dinge in der Welt würde ich lieber hören!

Ich werde jedoch, sagte ich, keine Erzählung eines

Freundes von Mären, wie Alkinoos einer war, sondern

eines Mannes von Ehren berichten, von Er, dem

Sohne des Armenios, eines Pamphyliers von Geburt.

Dieser war einst in einer Kriegsschlacht gefallen, und

als nach zehn Tagen die Leichname bereits verwest

aufgehoben wurden, ward er noch unversehrt gefunden;

nach Hause gebracht, lebte er im Augenblicke

seiner Bestattung am zwölften Tage auf dem Scheiterhaufen

wieder auf, und nach seinemWiederaufleben

erzählte er die Dinge, die er im Jenseits gesellen habe.

Er sprach aber wie folgt: Nachdem seine Seele aus

ihm gefahren, sei er mit vielen anderen gewandelt,

und sie seien an einen wunderbaren Ort gekommen,

wo in der Erde zwei nahe an einander stoßende

Platon: Der Staat 653

Öffnungen gewesen seien, und am Himmel gleichfalls

oberhalb zwei andere ihnen gegenüber. Zwischen diesen

Öffnungen seien nun Richter gesessen: diese hätten

allemal, nachdem sie ihren Urteilsspruch getan,

den Gerechten befohlen, denWeg rechts und durch

den Himmel zu wandern, nachdem sie ihnen zuvor

vorn ein Zeichen von beurteilten Taten angehängt; die

Ungerechten aber hätten sie nach der Öffnung zur linken

Hand, und zwar nach unten (unter die Erde), verwiesen,

und auch diese hätten ihre Zeichen, aber hinten,

anhängen gehabt über alles das, was sie verübt

hätten. Als nun auch er vorgekommen sei, hätten sie

ihm bekannt gemacht, er müsse den Menschen ein

Verkündiger des Jenseits werden, und sie hätten ihn

aufgefordert, alles an diesem Orte zu hören und zu

schauen. Da habe er denn nun gesehen, wie nach der

einen Öffnung in dem Himmel (rechter Hand) und

nach der andern in der Erde (linker Hand) die Seelen

abgegangen seien, nachdem sie jedesmal ihren Urteilsspruch

vernommen hätten; aus den beiden anderen

neben jenen beiden seien aus der in der Erde Seelen

hervorgekommen voll Schmutz und Staub, aus der

im Himmel dagegen seien andere, von jenen verschiedene,

reine Seelen herabgestiegen. Und die jedesmal

ankommenden Seelen hätten den Anschein gehabt, als

kämen sie von einer langenWanderung, wären sehr

vergnügt auf der bekanntenWiese angelangt und

Platon: Der Staat 654

hätten wie zu einer festlichen Versammlung sich hingelagert.

Die mit einander Bekannten hätten sich gegenseitig

begrüßt, und die aus der Erde Angekommenen

hätten bei den andern sich um die Verhältnisse

des Jenseits erkundigt, und die aus dem Himmel

Kommenden hätten jene gefragt, wie es bei ihnen herginge.

Da hätten sie nun einander erzählt, die einen

klagend und weinend, indem sie sich erinnerten, wie

große und was für Leiden und Anblicke sie auf der

Wanderung unter der Erde gehabt hätten (dieWanderung

dauere nämlich tausend Jahre); die anderen dagegen

aus dem Himmel hätten von ihremWohlergehen

erzählt und von dem unbeschreiblich Schönen, das sie

geschaut hätten. Die vielen Dinge nun, o Glaukon, die

er gesehen, ausführlich zu erzählen, erforderte eine

lange Zeit; die Hauptsache aber, jagte er, sei dies: Für

alle Ungerechtigkeiten, die nur jeder einzelne an

einem verübt gehabt, dafür habe er wegen jeder einzelnen

eine besondere Strafe bekommen, nämlich

wegen eines jeden Vergehens eine zehnfache (d.h.

jede einzelne Strafe dauert hundert Jahre, weil dies

das Maß des menschlichen Lebens sei), so daß man

für eine ungerechte Handlung eine zehnfache Strafe

entgelte. So hätten diejenigen, die dadurch, daß sie

Städte oder Heere verraten und in Knechtschaft gestürzt

oder sonst ein großes Unglück mit angefangen

hatten, eines mehrfachen Todes schuldig waren, für

Platon: Der Staat 655

jede einzelne aller dieser Taten zehnfache Peinen bekommen;

und waren sie andererseits Urheber einiger

Wohltaten, auch gerecht und fromm, so empfingen sie

auch dafür ihren Preis nach demselben Maßstabe. In

bezug auf die, welche, sobald sie geboren waren,

nicht lange lebten, erzählte er auch mancherlei, was

aber hier der Erwähnung nicht wert ist. Für Ruchlosigkeit

und Ehrfurcht gegen Götter und Eltern sowie

für eigenhändigen Mord gibt es seiner Erzählung nach

eine Vergeltung in größeremMaßstabe. So stand er

nämlich, wie et sagte, neben einem anderen, der von

einem anderen gefragt wurde, wo Ardiaios der Große

sei. Dieser Ardiaios aber war in einer Stadt Pamphyliens

schon damals vor tausend Jahren Tyrann gewesen,

hatte seinen greisen Vater und seinen älteren Bruder

ermordet und natürlich auch noch viele andere Freveltaten

verübt, wie die Sage ging. Jener Gefragte nun,

wie er sagte, habe geantwortet: »Er ist nicht hierher

gekommen«, habe er gesagt, »und wird auch wohl gar

nicht hierher kommen. Denn wir sahen unter anderen

schrecklichen Schauspielen auch dieses: Nachdem wir

nahe bei der Öffnung und im Begriffe waren, nach

Ausstehung aller übrigen Leiden, herauszutreten, da

erblickten wir jenen Ardiaios auf einmal nebst vielen

anderen, meistenteils Tyrannen: es waren nämlich

darunter auch solche, die nichts mit dem Staate zu tun

gehabt, aber zu den größten Verbrechern gehörten.

Platon: Der Staat 656

Als diese meinten, daß sie nun heraussteigen könnten,

da gestattete es die Öffnung nicht, sondern ließ jedesmal

ein Gebrüll hören, wenn einer von diesen in ihrer

Seelenverderbnis Unheilbaren oder einer, der noch

nicht hinlänglich gebüßt hatte, herauszutreten wagen

wollte. Da waren nun«, sagte er, »gleich wilde und

feurig aussehende Männer bei der Hand, die jenen

Laut verstanden, einige ergriffen und wegführten; dem

Ardiaios aber und andern banden sie Hände, Füße

und Kopf zusammen, warfen sie nieder, schunden sie

recht, schleiften sie hernach aus demWege und marterten

sie auf Dornhecken herum; dabei deuteten sie

den jedesmal Vorbeigehenden an, weswegen sie dies

erlitten, und daß sie abgeführt würden, um in den Tartaros

geworfen zu werden.« Und so sei denn, sagte er,

unter vielen und allerlei ihnen widerfahrenen Furchtbarkeiten

am größten gewesen jene Furcht, es möchte

in dem Augenblicke, da man herausstiege, jenes Gebrüll

entstehen, und mit der größten Freude sei ein

jeder, wenn es geschwiegen habe, herausgetreten.

Die Strafen und Büßungen seien also denn etwa

von der erwähnten Art gewesen; die ihnen andererseits

gegenüberstehenden Belohnungen beständen in

folgenden: Nachdem nämlich die jedesmal Ankommenden

auf jenerWiese sieben Tage zugebracht, hätten

sie sich an dem achten aufmachen und von hier an

weiterwandern müssen, und da wären sie dann am

Platon: Der Staat 657

vierten Tage in eine Region gekommen, wo man von

oben herab einen durch den ganzen Himmelsraum

über die Erde hin ausgebreiteten geraden Lichtstrom

gesehen habe, wie eine Säule, ganz dem Regenbogen

vergleichbar, aber heller und reiner. Nach einer Tagreise

wären sie nun da hineingekommen und hätten

dort mitten in jenem Lichte gesehen, wie die äußersten

Enden der Himmelsbänder am Himmel angebracht

seien; denn nichts anderes als jener Lichtstreif

sei das Land des Himmelsgewölbes, wie etwa die verbindenden

Querbänke an den Dreiruderern, und halte

so den ganzen Himmelskreis zusammen; an jenen

Enden aber sei die Spindel der Notwendigkeit angebracht,

durch welche Spindel alle möglichen Sphären

bewegt würden; daran seien nun Stange und Haken

aus Stahl, der Wirtel aber habe aus einer Mischung

von Stahl und anderen Metallarten bestanden. Die Beschaffenheit

diesesWirtels sei nun folgende gewesen:

Die äußere Gestalt sei so gewesen, wie sie der Wirtel

bei uns hat; man muß sich jedoch seiner Erzählung

nach ihn so vorstellen, als wenn in einem großen und

durch und durch ausgehöhltenWirtel ein anderer eben

solcher kleinerer eingepaßt wäre, so wie man Gefäße

hat, die in einander passen; und auf dieselbeWeise

muß man sich noch einen anderen dritten, vierten und

noch vierWirtel ineinander gepaßt denken. Denn acht

Wirtel seien es insgesamt, die ineinander lägen und

Platon: Der Staat 658

ihre Ränder von oben her als Kreise zeigten und um

die Stange nur eine zusammenhängende Oberfläche

eines einzigenWirtels darstellten; jene Stange sei

aber durch den achten mitten ganz durchgezogen. So

habe nun der erste und äußerste Wirtel den breitesten

Randkreis, der sechste den zweiten, den dritten der

vierte, den vierten der achte, den fünften der siebente,

den sechsten der fünfte, den siebenten der dritte, den

achten der zweite. Der des größtenWirtels sei nun

buntfarbig, der des siebenten am glänzendsten, der

des achten erhalte seine Farbe von der Beleuchtung

des siebenten, der des zweiten und fünften seien einander

sehr ähnlich und zwar gelblicher als jene, der

dritte habe die weißeste färbe, der vierte sei rötlich,

der zweite aber übertreffe anWeiße den sechsten.

Wenn nun so die ganze Spindel sich herumdrehe, so

kreise sie zwar in demselben Schwünge; während des

Umschwunges des Ganzen aber bewegten sich die

sieben inneren Kreise langsamer, in einem dem Ganzen

entgegengesetzten Schwünge. Am schnellsten von

ihnen gehe aber der achte; den zweiten Rang der

Schnelligkeit hätten zugleich mit einander der siebente,

sechste und fünfte; den dritten im Umschwünge,

wie es ihnen geschienen, habe der vierte Kreis gehabt;

den vierten der dritte, und den fünften der zweite. Gedreht

aber werde die Spindel zwischen den Knieen der

Notwendigkeit. Auf ihren Kreisen aber säßen oben

Platon: Der Staat 659

auf jeglichem eine sich mit umschwingende Sirene,

welche eine Stimme, jedesmal einen zum Ganzen verhältnismäßigen

Ton, hören läßt: aus allen acht insgesamt

aber erschalle eine Harmonie. Rings aber säßen

drei andere Gestalten in gleicher Entfernung von einander,

eine jede auf einem Throne, nämlich die Töchter

der Notwendigkeit, die Parzen, in weißen Gewändern

und mit Kränzen auf dem Haupte: Lachesis, Klotho

und Atropos, und sängen zu der Harmonie der Sirenen;

Lachesis besänge die Vergangenheit, Klotho

die Gegenwart, Atropos die Zukunft. Und Klotho berühre

von Zeit zu Zeit mit ihrer rechten Hand den äußeren

Umkreis der Spindel und drehe sie mit, Atropos

ebenso die inneren Umkreise mit der linken, Lachesis

aber berühre abwechselnd die inneren und äußeren

mit beiden Händen.

Sie hätten nun, nachdem sie angekommen seien,

alsbald sich zur Lachesis begeben. Da habe eine Art

von Prophet sie in eine Reihe gestellt; er habe hierauf

aus dem Schoße der Lachesis Lose und Lebensmuster

genommen, sei damit auf eine hohe Bühne gestiegen

und habe da also geredet: »Es spricht die Jungfrau

Lachesis, die Tochter der Notwendigkeit: Eintägige

Seelen! Es beginnt mit euch eine andere Periode eines

sterblichen und todbringenden Geschlechts; nicht

euch erlost das Lebensverhängnis, sondern ihr wählt

euch das Geschick. Sobald einer gelost hat, so wähle

Platon: Der Staat 660

er sich eine Lebensbahn, womit er nach dem Gesetze

der Notwendigkeit vermählt bleiben wird. Die Tugend

ist aber unabhängig von jedem Herrn: von ihr erhält

ein jeder mehr oder weniger, je nachdem er sie in

Ehren hält oder vernachlässigt. Die Schuld liegt an

dem, der gewählt hat. Gott ist daran schuldlos.« Auf

dieseWorte habe er die Lose auf sie hin geworfen.

Ein jeder habe nun das neben ihm liegende Los aufgehoben,

nur er selbst nicht; ihm habe er es nicht gestattet.

Wer es aber aufgehoben habe, dem sei klar gewesen,

die wievielste Stelle er bekommen habe. Hierauf

habe er sogleich die Muster der Lebensweisen vor sie

auf den Boden gestellt in weit größerer Anzahl als die

der Anwesenden. Da hätte es denn allerlei gegeben:

Lebensweisen von allen Tieren und auch, versteht

sich, alle menschlichen. Darunter hätten sich nun unumschränkte

Tyrannenherrschaften befunden, zum

Teil lebenslängliche, zum Teil auch solche, die mitten

im Leben verloren gehen und mit Armut, Verbannung

und mit dem Bettelstab endigen. Auch hätten sich

darunter befunden Lebensweisen von wohlangesehenen

Männern teils durch Gestalt, Schönheit und außerdem

durch körperliche Stärke und Kampftüchtigkeit,

teils ihrer Geburt und der Vorzüge ihrer Ahnen

wegen; ferner ebenfalls Lebensweisen solcher, die in

den genannten Rücksichten unansehnlich waren, und

ebenso habe es sich mit denWeibern verhalten. Eine

Platon: Der Staat 661

Seelenrangordnung habe aber nicht dabei stattgefunden,

weil es eine unbedingte Notwendigkeit ist, daß

eine Seele, welche eine andere Lebensweise wählt,

auch eine andere wird. Im übrigen seien die Lebensweisen

durcheinander gemischt und teils mit Reichtum

oder Armut, teils mit Krankheit, teils mit Gesundheit

verbunden; manche lägen auch zwischen den

genannten Zuständen in der Mitte. Hier ist nun offenbar,

mein lieber Glaukon, für den Menschen die allergrößte

Gefahr. Und deshalb muß man besonders dafür

sorgen, daß jeder von uns mit Hintansetzung aller anderen

Wissenschaften nach jener besonders trachte

und forsche, wodurch er zu erfahren und zu finden imstande

ist, wer ihm die Geschicklichkeit und dieWissenschaft

beibringen könnte, eine gute und schlechte

Lebensweise zu unterscheiden und aus den jedesmal

wählbaren überall die bessere herauszuwählen, dabei

auch wohl in Anschlag zu bringen alle unsere obigen

Lehren, gegenseitige Vergleichungen und Bestimmungen

in bezug auf die vorzügliche Lebensweise; ferner

zu wissen, was Schönheit, mit Armut oder Reichtum

gemischt, tut, und bei welcher Beschaffenheit der

Seele sie Gutes oder Schlimmes bewirkt; was ingleichen

edle Geburt und niedere Abkunft, was stille Zurückgezogenheit

und Staatsbeamtenstand, was körperliche

Kraft und Schwäche, was Gelehrtheit und

Ungelehrtheit, was fürWirkungen überhaupt

Platon: Der Staat 662

dergleichen ursprüngliche Eigentümlichkeiten der

Seele und ihre dazu erworbenen Eigenheiten tun,

wenn sie mit einander vermischt werden. Und so kann

man erst nach Erwägung aller dieser Umstände imstande

sein, mit Berücksichtigung der eigentlichen

Natur der Seele bei seiner Wahl die schlechtere und

bessere Lebensweise zu unterscheiden und dabei diejenige

einerseits die schlechtere zu nennen, welche die

Seele dahin bringt, daß sie ungerechter wird, die bessere

andererseits diejenige, die sie immer mehr gerecht

macht. Um alles übrige wird man dabei sein

Herz unbekümmert lassen; denn wir haben gesehen,

daß dies sowohl für das Leben als auch nach dem

Tode die beste Wahl ist. Darum muß man eisenfest an

dieser Meinung hängen, bis man in die andereWelt

kommt, und darf auch dort von Reichtum und dergleichen

Übeln nicht sich erschüttern lassen; ingleichen

muß man auch auf seiner Hut sein, daß man nicht auf

Tyrannenherrschaften und sonstige Geschäfte der Art

verfällt und dadurch viele unheilbare Übel verübt,

sich selbst aber eben dadurch noch weit größere zuzieht.

Man verstehe vielmehr in Beziehung auf jene

Lebensbeschäftigung die mittlere Laufbahn zu wählen

und sowohl in diesem Leben hier als in dem ewigen

der Zukunft die Extreme an beiden Seiten nach Kräften

zu vermeiden; denn so wird ein Mensch am glücklichsten.

Platon: Der Staat 663

Und so habe denn auch damals, lautet die Botschaft

aus jenerWelt, jener Prophet sich ausgedrückt:

»Auch den, der zuletzt hinzutritt, aber mit Vernunft

wählt und mit Anstrengung aller Kräfte der Tugend

lebt, erwartet ein Leben, mit dem er zufrieden sein

kann, und das nicht schlecht ist. Darum sei weder der

erste bei derWahl unachtsam, noch lasse der letzte

seinen Mut sinken!« Auf dieseWorte habe der, sagte

er, welcher zuerst gelost habe, in großer Hast sich die

größte Tyrannenherrschaft gewählt; mit Unverstand

und ehrsüchtigem Heißhunger sei er bei seiner Wahl

verfahren, nicht mit reiflicher Erwägung aller obwaltenden

Umstände, und darum habe er übersehen das

damit unzertrennliche Geschick, das Essen seiner eigenen

Kinder und sonstiges Unheil. Nachdem er aber

mit der Zeit seineWahl reiflicher überlegt hätte, da

habe er sich darüber die Haare gerauft und gejammert

und nicht die Vorerinnerung des Propheten bedacht;

denn er habe von seinem Unheil nicht sich die Schuld

gegeben, sondern dem Schicksale, den Göttern und

eher allem in der Welt als sich selbst. Er sei aber

einer von denen gewesen, die aus dem Himmel gekommen,

habe in einer geregelten Verfassung sein erstes

Leben vollbracht und sei tugendhaft nur durch

Gewöhnung, nicht durch wahreWissenschaft (Philosophie)

gewesen. Man könne daher behaupten, daß

die aus dem Himmel Kommenden gar nicht die

Platon: Der Staat 664

geringste Zahl seien, die durch dergleichen Dinge geangelt

würden, weil sie in Mühseligkeiten unerfahren

wären, während die meisten aus der Erde Anlangenden

nicht so hastig ihreWahlen machten, weil sie sowohl

an ihrer eigenen Person als auch durch Beobachtung

anderer Erfahrung von Leiden und Mühseligkeiten

haben. Daher denn, und auch vom Zufall des

Loses, die meisten Seelen einenWechsel von

Schlechtem und Gutem erführen. Sonst könnte jemand,

wenn er jedesmal, sooft er in dieses Leben

käme, sich mit Ernst derWahrheit befleißigte, und

wenn ihm dann das Los zur Wahl nicht unter den letzten

falle, nach den Ankündigungen jenerWelt ziemlich

gewiß sein, daß er nicht nur hienieden glücklich

sein, sondern daß er auch seine Wanderung aus dieser

in jeneWelt und aus der dortigen in diese wiederum

zurück auf keinem unterirdischen und rauhen, sondern

auf einem glatten und himmlischenWege machen

würde. Dieses Schauspiel nämlich, sagte er, sei sehenswert

gewesen, wie jede Seele sich ihre Lebensweise

gewählt habe; denn der Anblick habe Mitleid,

Lachen und Bewunderung erregt. Meist hätten sie

nach der Gewohnheit ihres früheren Lebens ihreWahl

getroffen. So hätte man z.B. die einst dem Orpheus

gewesene Seele das Leben eines Schwanes wählen

sehen, indem sie aus Haß gegen das weibliche Geschlecht

wegen des von ihm erlittenen Todes von

Platon: Der Staat 665

keinemWeibe habe wollen geboren werden; die des

Thamyris hätte man das einer Nachtigall wählen

sehen. So habe man dagegen von einem Schwan gesehen,

daß er sich durch dieWahl eines Menschenlebens

umgestaltet habe, und noch andere sangreiche

Vögel, wie natürlich. Die zwanzigste Seele habe sich

das Leben eines Löwen gewählt: und dies sei die des

Telamoniers Aias gewesen, welche sich durchaus gesträubt

habe, wieder ein Mensch zu werden, weil sie

noch immer an dasWaffengericht gedacht habe. Hierauf

sei die Seele Agamemnons herangekommen: auch

diese habe aus Haß gegen das Menschengeschlecht

wegen der von ihm erfahrenen Leiden das Leben eines

Adlers eingetauscht. In der Mitte der Losenden sei

Atalante gewesen, und da sie große Ehren eines

kampfverständigen Mannes gesehen, habe sie nicht

dabei vorübergehen können, sondern habe dieses Los

genommen. Nach dieser habe man die Seele des Epeios

von Panope in die Gestalt einer ränkevollen Frau

übergehen sehen.Weit unter den letzten hätte man

den Possenreißer Thersites erblickt, während er die

Natur eines Affen annahm. Aus Zufall sei die Seele

des Odysseus die letzte bei der Losung gewesen und

wäre nun auch herangetreten, um zu wählen: im Andenken

an die früherenMühen und Gefahren sei sie

von allem Ehrgeize ledig gewesen, sei lange herumgegangen

und habe nach dem Leben eines von

Platon: Der Staat 666

Staatsgeschäften entfernten Privatmannes gesucht; mit

Mühe habe sie es endlich gefunden, wo es von allen

übrigen verachtet gelegen habe, und sie habe bei dessen

Anblick gesagt, daß sie ebenso bei ihrer Wahl

verfahren wäre, wenn sie auch als erste zu losen gehabt

hätte, und habe es darauf mit großer Freude zu

sich genommen. Gleichermaßen seien außerdem auch

Tiere in Menschen übergegangen, und auch eine Gattung

in die andere: die unbändigen in wilde und die zu

bändigenden in zahme, und so seien überall Verwandlungen

vorgegangen.

Nachdem nun alle Seelen so ihre Lebensweisen gewählt

hatten, so seien sie in der Ordnung, wie sie gelost

hätten, zur Lachesis geschritten; jene habe nun

einem jeden den Genius der von ihm erwählten Lebensweise

zum Beschützer seines Lebens und zum

Vollstrecker seiner Wahl mitgeschickt. Dieser Genius

habe nun seine Seele zunächst zur Klotho gebracht

und unter ihre denWirbel der Spindel treibende Hand

geführt, um das Geschick, welches jene gelost, zu befestigen.

Nachdem er diese berührt hatte, habe er

seine Seele alsbald zur Spinnerei der Atropos geführt,

um ihren angesponnenen Faden unveränderlich zu

machen. Von hier sei er nun stracks unter den Thron

der Notwendigkeit getreten. Und als er nach dem Vorgange

der übrigen durch diesen hindurchgegangen

wäre, seien sie sämtlich durch furchtbare Hitze und

Platon: Der Staat 667

Stickluft hindurch auf das Feld der Vergessenheit gekommen.

Da sei nun nichts von Bäumen und allem

dem gewesen, was die Erde trägt. Hier hätten sie sich

nun nach schon angebrochenem Abend an dem Flusse

Sorgenlos gelagert, dessenWasser kein Gefäß zu halten

vermöge. Notwendig müßten nun freilich alle ein

gewisses Maß von diesemWasser trinken; die aber

durch Vernunft sich nicht wahren ließen, tränken über

jenes Maß, und wer immerfort davon tränke, der vergesse

alles. Nachdem sie sich nun niedergelegt hatten

und Mitternacht gekommen war, sei ein Ungewitter

und ein Erdbeben entstanden, und plötzlich seien sie

dann wie Sternschnuppen der eine dahin, der andere

dorthin gefahren, um ins Leben zu treten. Er selbst

habe nun nicht von jenemWasser trinken dürfen; aufweiche

Art undWeise er jedoch wieder in seinen Körper

gekommen sei, das wisse er nicht, sondern nur so

viel, daß er des Morgens auf einmal die Augen aufgemacht

und sich auf dem Scheiterhaufen liegend gefunden

habe…

Und so, mein lieber Glaukon, ist denn dieser Mythos

erhalten worden und ist nicht untergegangen, und

er wird vielleicht auch unsere Seelen retten, wenn wir

ihm nämlich folgen; wir werden dann glücklich über

den Fluß Lethe setzen und uns an unserer Seele nicht

besudeln.Wenn wir daher meiner Meinung folgen, so

wollen wir fest daran halten, daß die Seele unsterblich

ist und alle möglichen Übel überlebt und alles Gute bekommen könne, wollen immer denWeg nach oben

im Auge haben, wollen mit vernünftiger Einsicht auf

allen unseren Wegen Gerechtigkeit üben. Und so werden

wir mit uns selbst befreundet sein und mit den

Göttern, sowohl in diesem Leben als auch dann, wenn

wir den Kampfpreis dafür davontragen, den wir wie

siegreiche Kämpfer überall einsammeln, und werden

sowohl hienieden als auch in der von uns beschriebenen

tausendjährigen Wanderung glücklich sein.